Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn | |
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an das weibliche die Lust, die sie zusammenführt; durch ihre Vermittlung erfolgt Begattung und Zeugung. Die Neugeborenen sind zunächst mit nichts anderem so bekannt wie mit ihr, da sie an der Lust ihre Freude haben und ihr Gegenteil, den Schmerz, hassen; deshalb fängt das Kind bei der Geburt zu weinen an, wie es scheint, aus Schmerz über die Kälte; denn aus einem sehr warmen, ja feurigen Räume, dem Mutterschosse, wo es lange geweilt, kommt es plötzlich hinaus an einen kühlen und ungewohnten Ort, an die Luft, ist erschrocken und liefert durch sein Weinen den klarsten Beweis, dass es Schmerz empfindet und über den Schmerz unwillig ist. 162 Ferner, behaupten sie, trachtet jedes Lebewesen nach Lust als dem notwendigsten und wichtigsten Strebeziel, und am meisten der Mensch; denn die anderen erstreben sie nur mittels des Geschmacks und des Zeugungsorgans, der Mensch dagegen auch vermittelst der übrigen Sinne, da er allen Sehenswürdigkeiten und jedem Ohrenschmaus nachgeht, die den Ohren und Augen Genuss zu bereiten vermögen. 163 Noch sehr viel mehr wird zum Lobe dieser Empfindung gesagt und zum Beweise, dass sie mit den Lebewesen eng verbunden ist; [58.] aber das Gesagte erklärt zur Genüge, warum die Schlange anscheinend menschliche Laute hervorbrachte. Deshalb, scheint mir, hat auch der Gesetzgeber in den Spezialgesetzen, da wo er über die Tiere schreibt, die wir geniessen dürfen oder nicht dürfen, den sogenannten „Schlangenbekämpfer“ besonders gelobt (3 Mos. 11,22) – es ist dies ein Kriechtier, das „oberhalb der Füsse Schenkel besitzt, mit denen es am Erdboden hüpft“ (3 Mos. 11,21) und sich emporhebt, wie das Heuschreckengeschlecht überhaupt –. 164 Der „Schlangenbekämpfer“ scheint mir nämlich nur ein Sinnbild der Enthaltsamkeit zu sein, die einen endlosen Kampf und unversöhnlichen Krieg gegen Unmässigkeit und Wollust führt; denn die Enthaltsamkeit liebt ganz besonders Einfachheit und Genügsamkeit und was zu einem ernsten und heiligen Leben nötig ist, die Lust dagegen liebt übertriebene Geschäftigkeit und grossen Aufwand, die in der Seele und im Körper Ueppigkeit und Verweichlichung verursachen, wodurch das sündhafte Leben entsteht,
Philon: Ueber die Weltschöpfung (De opificio mundi) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1909, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloOpifGermanCohn.djvu/63&oldid=- (Version vom 9.9.2019)