Irrende Seelen
[2]
Band XXV.
Irrende Seelen
Kriminal-Roman
von
Walter Kabel
Leipziger Kriminalbücherverlag
Vor meinen Blicken verschwamm alles in einer grauen Nebelflut. Mein Herzschlag stockte. Minuten dauerte es, bis ich mich endlich wieder aufzuraffen vermochte. Und doch wollten meine Augen das Furchtbare noch immer nicht glauben. Mein Geist sträubte sich gegen die entsetzliche Erkenntnis, klammerte sich an leere Hoffnungen, an die Möglichkeit einer Sinnestäuschung. Große Schweißperlen traten mir auf die Stirn, meine[1] Hände bebten. Und in dieser Verfassung stierte ich unverwandt auf die eine Karte, die über mein Schicksal entschieden hatte.
Es war Tatsache. Es blieb Koeur-As, das mein Partner bei diesem frevelhaften Glücksspiel aufgedeckt hatte und das jetzt zwischen uns auf der dunklen Platte des Tisches lag.
Die Stimme Lautenborns weckte mich endlich vollständig aus dieser halben Betäubung. „Ich bin bereit, Ihnen Revanche zu geben, Heiking,“ sagte er geschäftsmäßig. „Soll ich mischen?“
„Danke – ich habe genug.“ Meine Stimme muß ganz verändert geklungen haben. Denn Lautenborn schaute mich jetzt beinahe argwöhnisch forschend an. Ich erriet seine Gedanken. Er fürchtete, daß ihm sein Gewinn verlorengehen könnte! Und wie recht hatte er damit. Wo sollte ich wohl die Summe hernehmen, die ich heute wieder dieser wahnwitzigen [6] Leidenschaft, diesem traurigen Erbteil meines Vaters geopfert hatte? – –
Der frühere österreichische Leutnant, der jetzt hier in Berlin sein luxiöses Leben durch Einnahmen bestritt, von denen niemand recht wußte, aus welcher Quelle sie flossen, und der trotzdem in unserem Klub eine gewisse Rolle zu spielen verstand, rechnete jetzt meine Bons, die ich in Ermangelung baren Geldes schließlich hatte ausstellen müssen, zusammen und reichte mir dann den Zettel über den Tisch hin.
„Achttausendzweihundertundfünfzig Mark sind’s, Heiking. Ich muß Sie leider schon bitten, da ich es augenblicklich auch recht knapp habe, mir die Summe in der unter uns üblichen Zeit von achtundvierzig Stunden zugehen zu lassen.“
Er hatte sich erhoben und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an.
„Unmöglich, Lautenborn, unmöglich!“ preßte ich mühsam zwischen den Zähnen hervor. „Gewähren Sie mir wenigstens eine Woche Aufschub.“
Auf des Leutnants hoher Stirn erschien eine senkechte Falte. Mit einem Ruck zog er die Weste seinem Smoking-Anzuges zurecht und sagte, während sein linkes, weit aufgerissenes Auge mich durch das Monokel drohend anfunkelte. –
„Bedaure, Herr Heiking. Jeder ist sich selbst der Nächste. Sie haben ja reiche Verwandte hier in Berlin. Ihrem Onkel Grunert ist es doch zum Beispiel ein Leichtes, Ihnen mit ein paar braunen Lappen unter die Arme zu greifen.“
Dann zog er seine goldene Kapseluhr und ließ den Deckel springen.
[7] „Beinahe drei. Ich bin müde. N’abend also.“ Und, indem er ein Gähnen markierte, verließ er das elegante Spielzimmer, wo nur noch wir beide bis jetzt ausgehalten hatten.
Wie im Traum schaute ich um mich. Unsinnige Gedanken durchzuckten mein Hirn, Gedanken, vor denen ich zurückbebte und die sich mir trotzdem immer wieder aufdrängten. Wie, wenn ich Lautenborn nacheilte und meinem Schicksal durch einen Gewaltstreich eine andere Wendung gab? – Ein Plan mit allen in Blitzeseile raffiniert ausgeklügelten Einzelheiten tauchte vor meinem Geiste auf. – Niemand wußte, wieviel ich zum Schluß an meinen Partner verloren hatte, niemand. Und ein Verdacht würde nie auf mich fallen, wenn ich –
Eine Stimme riß mich empor.
„Herr Heiking, ich werde das Licht ausdrehen müssen.“ – Es war einer der Klubdiener, der sich mir lautlos genähert hatte.
„Sie haben recht, Franz. Es ist spät geworden.“
Ich faßte in die Tasche und drückte dem alten Mann ein Dreimarkstück, eines meiner letzten, in die Hand. –
Dann stand ich auf dem Bürgersteig der stillen, vornehmen Straße des Berliner Westens, in der der Klub „Konkordia“ die erste Etage eines riesigen Steinkastens von Mietshaus innehatte, und blickte unschlüssig vor mich hin. Sollte ich nach Hause gehen und zu schlafen versuchen –? – Wohl ein zweckloses Beginnen! Mit den Gedanken, den Vorwürfen, die immer wieder auf mich einstürmten, mit dieser [8] Verzweiflung im Herzen würde ich ja doch bis zum Morgen wach liegen und grübeln – grübeln – über Dinge, die nicht mehr zu ändern waren. – Langsam, seelisch und körperlich völlig gebrochen, schritt ich langsam von dannen dem Nollendorfplatz zu. Und wieder begann da mein Denken jenes gefährliche Spiel mit allerlei bunten Plänen, die mein Hirn mit erschreckender Leichtigkeit gebar und – die ich ja doch nie, nie ausführen würde. Mochten in mir auch noch so viel verbrecherische Instinkte schlummern, diesen bei vielen so kurzen Schritt vom Gedanken zur Tat, würde ich nie vollbringen. Dazu fehlten mir der Mut, die Kaltblütigkeit und jene eiserne Energie, die der, der den Kampf gegen die Gesellschaftsordnung aufnimmt, nicht entbehren kann. Und unwillkürlich rollte sich jetzt wieder wie schon so oft mein bisheriges Leben in einer Reihe von wechselnden Bildern vor mir ab, wieder versuchte ich das Rätsel zu lösen, weshalb gerade mir die Natur diese krankhafte Neigung für alles, was wider die menschlichen Rechtsbegriffe lief, mitgegeben hatte. Schon in meiner frühesten Jugend als kleiner Junge hatte ich mir heimlich aus der Bibliothek meines Vaters gerade die Werke herausgeholt und in irgend einem Winkel verborgen mit fiebernden Pulsen durchflogen, die sich mit den Schattenseiten menschlicher Charakterveranlagung beschäftigten. Da gab es zum Beispiel die Übersetzung eines französischen Werkes mit dem Titel „Berühmte Verbrecher“, das ich unzählige Male las und an dessen Schilderungen raffiniert ersonnener Untaten sich mein Kinderherz förmlich berauschte. Und diese merkwürdige Leidenschaft blieb auch trotz der zunehmenden Erfahrung und Bildung [9] in mir wach. Als ich dann regelmäßig Zeitungen zu lesen bekam, war niemand über die neuesten Morde, Hochstablerstreiche und Diebstähle so gut unterrichtet wie ich. Mein Taschengeld legte ich ausschließlich in Büchern an. Ich besaß eine Bibliothek, in der nur Kriminalromane und kriminalwissenschaftliche Werke zu finden waren. Meine Freunde verspotten mich wegen dieser Manie, meinte Eltern lächelten harmlos darüber. Und gerade die letzteren hätten weitsichtiger sein, hätten sich rechtzeitig sagen müssen, daß solche auffallenden Neigungen bei einem heranwachsenden jungen Menschen notwendig auf eine abnorme Charakterzusammensetzung schließen ließen, die mit allen Mitteln zu unterdrücken ihre Pflicht gewesen wäre.
Meine Eltern – Das Bild meiner Mutter, jener stillen, bleichen, verhärmten Frau mit den stets vom Weinen geröteten Lidern, steht mir noch so unheimlich lebendig vor den Augen. Dazu mein Vater, der die halben Nächte regelmäßig außer dem Hause zubrachte und den ich nur als äußerst heftigen, leicht aufbrausenden Menschen in der Erinnerung habe. Wie oft hat meine Mutter mich, selbst als ich bereits in den obersten Klassen des Gymnasiums saß, in ihrer Verlassenheit an sich gezogen und an meiner Brust sich ausgeweint. Bei einer solchen Gelegenheit erfuhr ich, daß mein Vater ein Spieler war, daß wir tief in Schulden steckten und nur die Mildtätigkeit unserer reichen Verwandten uns noch über Wasser hielt.
Das sind meine Jugenderinnerungen. Kein froher Lichtstrahl in all diesen Jahren. Nichts als das graue, düstere Bild des Elends, nichts als Tränen, [10] heftige Szenen, Klagen und Vorwürfe, die unser Heim mit ansahen.
Dann bezog ich die Universität. Gering war der Wechsel, den ich von Hause bezog, so gering, daß ich mir durch Stundengeben etwas dazu verdienen mußte. Neidisch schaute ich auf meine glücklicheren Kommilitonen, die, die bunte Mütze schief auf dem Haupt und das dreifarbige Band über der Brust, ihr Leben, ihre Jugend sorgenlos genossen. Und damals war es, als die erste Versuchung an mich herantrat. In dem lieblichen Jena, diesem Städtchen, in dem der Bruder Studio noch immer die Hauptrolle spielt, unterrichtete ich den Sohn eines Kommerzienrats. Bald wußte ich in dessen Privatwohnung so gut Bescheid, daß ich bei günstiger Gelegenheit ohne besondere Gefahr einen Plan hätte zur Ausführung bringen können, der sich mir förmlich aufdrängte und der mir endlich zu dem verholfen haben würde, was ich bei meiner unbefriedigten Genußsucht für das Begehrenswerteste im Leben hielt: Geld – Geld –! – Ich wußte, wo der Kommerzienrat sein Bargeld aufbewahrte, wußte genau den Tag, wo die Villa von allen Bewohnern verlassen war – und bebte doch im letzten Augenblick zurück, rannte hinaus in die grünen Berge Thüringens, flüchtete vor mir selbst, vor dieser teuflischen Stimme in meinem Innern, die mich zu verbrecherischem Tun verleiten wollte –. Damals – und später noch oft, so oft! – siegte das Bessere in mir, behielten noch die edleren Regungen die Überhand. – Oder – war’s doch nur Feigheit, die mich immer wieder in solchen Stunden der Anfechtung zurückschrecken ließ vor dem Äußersten –? War’s nur das Gefühl, die Überzeugung, [11] daß mir für ein derartiges Vorgehen gerade die notwendigsten Eigenschaften fehlten? – Jedenfalls blieben all diese Pläne nichts als unnütze Produkte meinem überreizten Hirns –.
Dann kam kurz nacheinander der Tod meiner Eltern. Ich stand allein da. Mein juristisches Studium mußte ich aufgeben. Ein entfernter Vetter meines Vaters, der Direktor einer großen Aktiengesellschaft war, brachte mich als Volontär bei einem Bankhause an, wo ich jetzt nach sieben Jahren glücklich zu einem Gehalt von monatlich zweihundert Mark aufgestiegen bin. Zweihundert Mark –! Ein Tropfen auf einen heißen Stein, als ich dann zu dem wurde, was ich heute bin: Ein Spieler, ein gewerbsmäßiger Spieler, der zumeist vom Pech verfolgt wird und der schon unzählige Male dem Manne, der seine schützende Hand über mir hält, Besserung gelobte, – demselben Manne, von dem ich nach Lautenborns Ansicht ohne Schwierigkeit Tausende erhalten könnte. – Ich habe sie schon erhalten. Zu oft schon bin ich an Onkel Grunert mit derartigen Bitten um Geld herangetreten. Ich weiß, daß er sein Wort hält. Und letztens, vor einem Monat, hat er mir erklärt, er würde mir auch nicht mehr mit einem Pfennig aushelfen. Ganz ruhig sagte er mir das. Nicht unfreundlich, da er wohl selbst ahnt, von wem ich diese sinnlose Leidenschaft geerbt habe. Vielleicht bedauert er mich im stillen sogar. Nur auf Hilfe habe ich bei ihm nicht zu rechnen. Das weiß ich nur zu gut –.
Und jetzt –! In achtundvierzig Stunden soll ich achttausendzweihundertundfünfzig Mark besorgen –! Ich muß es – muß, sonst bin ich unmöglich in den [12] Kreisen, in denen ich verkehre, sonst wird man mich meiden als einen Entehrten!
Ich lachte bitter auf. – Entehrt! Vor mir selbst bin ich das seit langem. Und doch klammere ich mich mit aller Verzweiflung an die Möglichkeit, wenigstens noch weiter nach außen hin das zu scheinen, was ich in Wahrheit längst nicht mehr bin: ein anständiger Mensch! – Alles in mir sträubt sich dagegen, mich von der Gesellschaft als einen Wortbrüchigen beiseite schieben zu lassen. Spielschulden – Ehrenschulden! Auch eine dieser verrückten Normen, die in dem ungeschriebenen Ehrenkodex der sogenannten Gesellschaft stehen, dieser Gesellschaft, in der der Schein regiert, nichts anderes. Sonst hätte Herbert von Lautenborn ja von ihr längst in Acht und Bann getan sein müssen!
Gab es denn für mich kein Mittel, diesen Schein zu wahren, keine Möglichkeit, mich weiter über Wasser zu halten –? Wieder umtanzten meine Gedanken jetzt wie düstere Gespenster die sich mir bietenden Aussichten, auch dieses Mal irgend einen Weg zur Rettung zu finden – irgend einen, mochte er noch so verwerflich sein.
Ich ging gerade an einem der hellerleuchteten Nachtcafés dicht am Nollendorfplatz vorüber. Musik, ein leichter Walzer, schallte mir entgegen. Wie wenig paßten diese frohen Lebensgenuß preisenden Töne zu dem, was mich bewegte! Wie bittere Ironie klang das Jubeln der Geigen, die schmeichelnde Melodie. –
Und doch zog es mich hinein unter die frohe Menge, in diese Luft, die von süßlichen Wohlgerüchen und Zigarettenrauch erfüllt war. Ich wollte nicht länger allein sein, wollte nicht. – Diese wilde Verzweiflung, [13] die mein Herz immer wieder auf dem Wege durch die stillen, nächtlichen Straßen schmerzhaft zusammengepreßt hatte, wollte ich loswerden, und wenn’s auch nur für Stunden war –.
Langsam durchschritt ich die Reihen der weißen Marmortischchen, nach einem freien Platz mich umsehend.
„He – Heiking!“
Der, der mich anrief, saß in einer Fensternische mit einem zweiten Herrn zusammen. Beide waren im demselben Bankinstitut wie ich beschäftigt. Trotzdem mir ziemlich fremd geblieben und herzlich unsympathisch als gewissenlose Streber.
Nur zögernd, keineswegs angenehm überrascht, ging ich auf sie zu.
„Setzen Sie sich, Heiking,“ meinte der korpulente Werner und zog einen Stuhl herbei. „Also auch noch auf der Tour?“ sagte er dann grinsend. „Wohl wieder so’n kleines Jeu gemacht, wie –?“
Ich schaute ihn überrascht an.
„Wie kommen Sie gerade darauf?“ fragte ich kühl.
„Nun – ein Geheimnis ist es gerade nicht mehr, daß Sie ebenfalls zu den Mitgliedern des harmlosen literarischen Klubs Konkordia gehören“, entgegnete er, die letzten Worte besonders betonend.
Der Kellner, der nach meinen Wünschen fragte, überhob mich einer Erwiderung. Nachdem ich mir Kaffee und ein paar Zigaretten bestellt hatte, begann ich ein anderes Gesprächsthema. Aber Werner ließ nicht locker. Ich glaubte die helle Schadenfreude in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als er jetzt anscheinend wohlwollend und voller Teilnahme fragte.
[14] „Wissen Sie auch schon, Heiking, daß der Chef heute vormittag mit unserem ersten Prokuristen über Sie gesprochen hat?“
Ich ahnte Böses, beherrschte mich aber dennoch und sagte gleichgiltig –.
„So –?! – Ist mir nicht weiter interessant.“
„Vielleicht doch. Es handelte sich nämlich darum, daß der Chef die Absicht hat, Ihnen zu kündigen, weil ihm etwas von Ihren Spielverlusten zu Ohren gekommen ist. Er soll geäußert haben, er könne Spieler in seinem Institut nicht brauchen.“
„Jetzt fühlte sich auch Moschner, mein anderer Kollege, verpflichtet, mir auch seinerseits einen Hieb zu versetzen.
„Ja, Heiking, und der Prokurist hat zu unserem Kassierer noch gesagt, Sie würden sicher entlassen werden, trotzdem Ihr Onkel mit unserem Alten so gut befreundet ist.“
Am liebsten hätte ich diese beiden Burschen ins Gesicht geschlagen, die mit so offenbarer Schadenfreude mir diese Neuigkeit mitteilten. Ich wußte, daß ich unter den Angestellten unserer Bank auch nicht einen Freund besaß, da ich als früherer Akademiker durch Beziehungen zu alten Bekannten von der Universität her in ganz anderen Kreisen verkehrte und den Umgang dieser berechnenden, einseitigen Zahlenmenschen nach Möglichkeit mied. Daß man mich aber mit so offenbarem Übelwollen verfolgte, hatte ich doch nicht geahnt.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, erhob ich mich, zahlte und verließ ohne Gruß das Lokal. Wieder stand ich auf der Straße, wieder schritt ich langsam, die Hände in die Palotottaschen vergraben, in [15] tiefem Sinnen dahin. – Auch das noch –! Auch noch Entlassung drohte mir! – Und ich Narr hatte noch vor einer halben Stunde gehofft, mir vielleicht von meinen Kollegen das Geld zur Begleichung meiner Spielschulden zusammenborgen zu können! – Welch’ eine Nacht, – welch’ eine Nacht!! Sicher die, die über meine Zukunft entschied. Bis jetzt war ich noch ehrlich geblieben – was die Welt so „ehrlich“ nennt. Bis jetzt –!
Ich stand am Wendepunkt meines Lebens, das fühlte ich. Die nächsten achtundvierzig Stunden mußten die Entscheidung bringen.
Mit kühner Berechnung erwog ich alle ferneren Schritte. Der Kündigung mußte ich zuvorkommen. Das war das Nächste. Ich durfte nicht entlassen werden, schon um mir nicht die Möglichkeit zu zerstören, irgendwo eine andere Stellung zu finden.
Kaum war ich mir darüber klar geworden, als ich auch schon meine Schritte beschleunigte und meiner Wohnung zueilte. Dort angelangt zündete ich meine Lampe an, nahm einen weißen Bogen vor und schrieb dem Bankdirektor, daß ich um meine Entlassung bäte, da ich einen anderen Beruf zu ergreifen beabsichtigte. Zum Schluß fügte ich die Bitte hinzu, mir bei Verzicht auf mein Gehalt einen sofortigen Urlaub zu gewähren. Dieser Brief ging noch in derselben Stunde an seine Adresse ab. Nun hatte ich auch diese Brücke hinter mir abgebrochen. Nun begann vielleicht der zweite Abschnitt meines Lebens, vielleicht jene absteigende Bahn, die – in Schande und Schmach enden konnte, nein, enden mußte, wie bei allen, die sich durch ihr Tun und Lassen selbst als vogelfrei erklären. –
Ich schlief den Rest dieser Nacht fest und traumlos. Erst die helle Sonne, die mein Zimmer in eine Fülle von Licht tauchte, weckte mich. – Eine halbe Stunde später war ich mit meiner Toilette fertig und machte mich dann auf den Weg zu einem alten Bekannten, der sein Anwaltbureau in der Nähe des Kriminalgerichts in Moabit aufgeschlagen hatte. Vielleicht half Zunker mir aus der Verlegenheit. Auf ihn setzte ich meine letzte Hoffnung.
„Der Herr Rechtsanwalt ist geschäftlich nach Warschau gereist,“ erklärte mir der Bureauvorsteher auf meine Frage höflich.
„Und wann kommt er zurück?“
„Das ist unbestimmt. In drei bis vier Tagen.“
Ich fühlte nicht einmal Enttäuschung bei diesem Bescheid. Das Schicksal wollte es nicht anders. Ich sollte den neuen Weg beschreiten, sollte werden, was ich längst in Gedanken war – ein Verbrecher, einer, der den Kampf gegen die Gesellschaftsordnung mit aller Schlauheit, mit allen Mitteln des gebildeten Mannes führen wollte.
Daran, noch ins Geschäft zu gehen, wo man mich heute trotz meines Entlassungsgesuches sicher noch erwartete, dachte ich nicht. Gemächlich ging ich die Turmstraße hinunter. Ich wollte mich bei dem warmen Herbstwetter auf eine Bank unter die alten Bäume des Moabiter Tiergartens setzen und Pläne schmieden. Irgend etwas würde mir schon einfallen, irgend etwas –. Es gab ja so viele Möglichkeiten, [17] zu Geld zu kommen, für den, den die Strafgesetze nicht mehr schrecken.
Und dann – dann erblickte ich Marga Benrath, die eben aus dem Postamt in der Turmgasse herauskam, bleich, mit matten Bewegungen, den Kopf tief gesenkt.
Sie bemerkte mich nicht, überquerte die Straße und bog in einen der ersten Wege des kleinen Tiergartens ein. Eine Laune war’s von mir, daß ich ihr folgte. Keine Absicht lag meinem Tun zu Grunde, als ich sie dann auch weiter heimlich beobachte, wie sie sich auf eine Bank niederließ und einen Brief, den sie halb zerknüllt in der Hand gehalten hatte, immer wieder überlas. Ihre Mienen drückten dabei eine solche Verzweiflung aus, die gerungenen Hände, ihr stierer, trostloser Blick sprachen von so bitterer Herzensnot, daß heißes Mitleid in mir aufstieg. Schon längst hatte ich geahnt, das dieses liebliche, stille Geschöpfchen ein trauriges Geheimnis zu verbergen habe, daß ihr ganzes, von tiefer Melancholie zeugendes Wesen auf eine besondere Ursache zurückzuführen sein müsse. Marga Benrath, die Nichte der Gattin meines Onkels Grunert, war, wie mir Tante Johanna im Vertrauen mitgeteilt hatte, von ihren auf einem pommerschen Gute lebenden Eltern nur zu dem Zweck für längere Zeit zu den Berliner Verwandten geschickt worden, damit sie in der Großstadt etwas Zerstreuung und Aufheiterung fände, da man befürchtete, die Einsamkeit des Landlebens würde ihren Gemütszustand, diese Neigung zu traurigem Vorsichhinbrüten, noch mehr verschlimmern. Daß ich jetzt mit aufrichtiger Teilnahme, verborgen hinter dem Stamm einer alten, verwitterten Eiche, Zeuge [18] von Margas tiefer Verzweiflung wurde, brachte mich diesem trotz seiner Melancholie selten anziehenden, eigenartig schönen Kinde noch näher. Bereits damals, als ich Marga zum ersten Male gegenüberstand, hatte ich sofort eine unerklärliche Sympathie für sie empfunden und mich ihr daher bei unserem häufigen Zusammentreffen im Hause meines Onkels so eifrig gewidmet, daß Tante Johanna, die eine ausgesprochene Neigung zum Ehestiften hatte, sich anscheinend schon allerlei Hoffnungen hingab, die auf nichts anderes sich richteten, als aus uns beiden ein Paar zu machen. Mir selbst war dieser Gedanke, um das schöne Mädchen zu werben, wohl auch gekommen. Aber ebenso schnell hatte ich ihn auch wieder verworfen, so schwer mir auch dieser Verzicht wurde. Ich mit meinen merkwürdigen Charakteranlagen, mit dieser krankhaften Sucht nach verbrecherischem Tun durfte nie und nimmer daran denken, ein Weib für immer an mich zu fesseln, und nun gar noch ein Wesen, wie Marga, die mir mit ihren traurigen, wehen Augen und diesen Leidensfalten um den Mund wie eine Heilige erschien. Nein, mochte auch sonst meine Seele die dunkelsten Schattenseiten aufweisen, so verderbt, so gewissenlos war ich doch nicht, um dieses reine Geschöpf mit hineinzuziehen in meine unsichere Zukunft. Und aus diesem Grunde hatte ich auch meine Verwandten in der letzten Zeit absichtlich gemieden. Ich mußte verhüten, daß dieses Gefühl stiller Sympathie, das uns mit feinen Fäden verband, sich zu einem anderen, stärkeren Empfinden auswuchs, denn auch Marga hatte mir deutlich gezeigt, wie sie auch in mir einen gleichgestimmten Charakter gefunden zu haben glaubte, hatte mir gelegentlich ein [19] Vertrauen bewiesen, welches sie nicht lediglich dem entfernten Vetter – eigentlich war’s ja kaum mehr Verwandtschaft zu nennen! – entgegenbrachte.
Noch immer saß sie mit verzweifelt ins Weite gerichteten Augen regungslos auf der stillen Bank. Ich wußte nicht recht, ob ich sie ansprechen sollte. Vielleicht kam ich ihr in der Stimmung, in der sie sich befand, ungelegen. Und doch trieb mich das Mitleid mächtig zu ihr hin. Schon wollte ich mich auf einem Umwege ihrem Platze nähern, als sie sich erhob und langsam weiterging. Ich sah noch, wie sie den Brief in kleine Stücke zerriß und die Schnitzel bald hier, bald dort unter die den Boden bedeckenden welken Blätter warf. Dann entschwand sie meinen Blicken.
Unbekümmert um die verwunderten Blicke der Vorübergehenden begann ich die Fetzen des Briefes zu sammeln. Oft mußte ich mit meinem Spazierstock das Laub auseinanderscharren, um ein winziges, verwehtes Stückchen hervorzusuchen. Endlich glaubte ich auch das letzte gefunden zu haben. Sorgfältig verwahrte ich alles in meiner Brieftasche. Daheim wollte ich das Schreiben dann in Ruhe zusammensetzen und entziffern.
Ich schaute nach der Uhr. Kurz vor Zwölf. Das war so die Zeit, wo Lautenborn sich zu erheben pflegte. Ich kam ohnehin auf dem Nachhausewege an seiner Wohnung vorüber und konnte wenigstens den Versuch machen, ob er mir vielleicht heute die Rückzahlungsfrist verlängern würde.
Ich fuhr also mit der Stadtbahn von Schloß Bellevue bis zur Station Zoologischer Garten und von dort weiter mit der elektrischen Straßenbahn [20] zum Nollendorfplatz. Als ich so an der Flurtür der zweiten Etage des neuen, hochherrschaftlichen Hauses, in dem Lautenborn zwei elegant möblierte Vorderzimmer bewohnte, läuten wollte, trat gerade des früheren Leutnants Wirtin, eine verwitwete Geheimrätin heraus, die mich dann auf meine höfliche Bitte einließ, da ich ihr als häufiger Besucher ihres Mieters von Ansehen gut bekannt war. Die Tür zu Lautenborns Vorderzimmer lag etwa in der Mitte des langen Korridors. Der hier ausgespannte, dicke Plüschläufer machte meine Schritte völlig unhörbar, so daß ich lautlos bis vor die betreffende Tür gelangte, hinter der ich ziemlich deutlich ein paar erregte Stimmen vernahm. Ich zögerte auch nicht einen Augenblick, den Lauscher zu spielen.
Jetzt vernahm ich Lautenborns etwas schrille Kommandostimme, die heftig hervorstieß –.
„Sie haben eben den Bogen von Anfang an überspannt, Schwechten! Hätten Sie nicht gleich Tausende verlangt, so wäre diese Geldquelle für uns noch weiß Gott wie lange geflossen.“
Darauf drinnen ein hämisches Lachen und die Antwort -.
„Sie wird schon wieder berappen, haben Sie keine Angst, mein Lieber. Wenn auch nicht augenblicklich, so doch später.“
Erst nach einer Weile wieder Lautenborns Entgegnung –.
„Trotz alledem bleibt’s ein elendes Geschäft. Ich fürchte fast, das Mädel entzieht sich uns mal durch – durch einen dummen Streich.“
Vorsichtig schlich ich zur Korridortüre zurück, schlüpfte hinaus und zog sie hinter mir ganz leise [21] ins Schloß. Erst nach einer Weile klingelte ich dann. Ein Stubenmädchen mit weißem Häubchen und Tändelschürzchen öffnete.
„Herr Leutnant von Lautenborn zu Hause?“
„Ich werde nachsehen gehen. Bitte einen Augenblick zu warten.“
Lautenborn empfing mich ziemlich reserviert. Sein Besucher wurde mir als „Herr Schauspieler Schwechten“ vorgestellt.
Selten habe ich einen Menschen gesehen, der im ersten Moment so sehr den Eindruck untadeliger Männerschönheit machte wie dieser Schwechten. Erst später merkte ich dann, daß in seinen dunklen Augen bisweilen ein Ausdruck von Unaufrichtigkeit und Hinterlist aufblitzte, der zu denken gab, besonders wenn man wie ich, kurz vorher das merkwürdige Gespräch zwischen ihm und Lautenborn belauscht hatte. Trotzdem – dieser schlanke Schauspieler mit dem wie aus Stein gemeißelten Charakterkopf eines römischen Imperators und den blitzenden, leidenschaftlichen Augen eines Fanatikers mußte auf Frauen ungemein wirken. Vermochte doch auch ich mich nur schwer dem berückenden Reiz seiner Persönlichkeit zu entziehen. Die leichte, geradezu graziös-geistvolle Art, mit der er jetzt die Unterhaltung führte, seine scheinbare Bescheidenheit und das bestrickend liebenswürdige Lächeln im Verein mit den selten abgerundeten, ruhigen Gesten, die seine Worte begleiteten, – all das hätte wie gesagt auch mich fraglos in Bann geschlagen, wenn ich eben nicht diese zeitweise unruhig und unstät flimmernden Augensterne, dieser heimlich beobachtende Blick die wahre Natur des Mannes enthüllt haben würden.
[22] Schwechten, der mit feinem Gefühl des vielerfahrenen Menschen wohl merken mochte, daß mich ein besonderer Zweck zu Lautenborn geführt hatte, verabschiedete sich vielleicht nach einer Viertelstunde, sehr zu meiner Freude.
Alls wir dann allein waren, kam ich sofort auf unsere Angelegenheit zu sprechen. Da der Leutnant mich in der Nacht plötzlich sehr formell mit „Herr Heiking“ angeredet hatte, ließ ich ebenfalls den bisherigen vertraulichen Ton fallen.
„Herr von Lautenborn, Sie dürften wohl ahnen, was mich zu Ihnen führt?“ begann ich formell.
„Ich möchte Sie nochmals bitten, mir für die Begleichung meiner Spielschuld acht Tage Zeit zu gewähren,“ fuhr ich fort. „Mir fällt es nicht ganz[2] leicht, innerhalb der Kavalierfrist unseres Klubs die Sache zu ordnen.“
Er zuckte die Achseln. Wieder stand auf seiner Stirn die senkrechte Falte des Unmuts.
„Bedauere wirklich unendlich, mein lieber Herr Heiking. Ich muß in den nächsten Tagen für längere Zeit verreisen und brauche daher das Geld sehr notwendig. Es würde mir leid tun, wenn Ihnen die Besorgung der kleinen Summe Schwierigkeiten bereiten sollte.“
„Kleine Summe!“ Ich lachte wirklich hell auf. Denn das konnte von Lautenborn ja nur Hohn sein.
„Sie scheinen meine pekuniäre Leistungsfähigkeit doch gewaltig zu überschätzen,“ sagte ich ironisch. „Mir stehen leider keine so geregelten Einkünfte zur Verfügung wie Ihnen.“
Der Hieb saß. Die Falte auf Lautenborns Stirn vertiefte sich merklich.
[23] „Wie habe ich diese letzte Bemerkung zu verstehen, Herr Heiking?“ fragte er herausfordernd.
„Wie Sie wollen,“ entgegnete ich kalt, nahm meinen Hut und verließ mit knapper Verbeugung das Zimmer.
In einem billigen Restaurant am Nollendorfplatz aß ich zu Mittag. Als ich meine Rechnung dann bezahlt hatte, blieben mir noch genau zwölf Mark übrig. Dennoch befand ich mich eigentlich in selten guter Stimmung. Nur ein Gedanke bedrückte mich: die Erinnerung an mein Zusammentreffen mit Marga Benrath. An meine eigene verzweifelte Lage dachte ich nicht mehr.
Es war ungefähr drei Uhr nachmittags, als ich in meinem bescheidenen Junggesellenheim, das aus einem Zimmer und Kabinett bestand, anlangte. Das erste, was mir in die Augen fiel, war ein Brief meiner Tante Johanna Grunert, der auf der Platte meines Schreibtisches lag. Tantes Handschrift war unverkennbar. So sorgfältig, so abgezirkelt schrieb nur sie in ihrer schönen, gleichmäßigen Handschrift eine Briefadresse. Ich schnitt den Umschlag auf, zog die blaßrosa Karte mit dem sattgrünen Monogramm J. G. links oben in der Ecke heraus und las:
[24] Das war doch einmal eine freudige Überraschung! Also hatten Grunerts mich doch noch nicht ganz vergessen. Die schriftlichen Einladungen waren mir von dieser Seite in letzter Zeit recht spärlich ins Haus geliefert. Onkel hatte mir meine häufigen Anleihen doch wohl etwas verargt und wollte unseren Verkehr daher ein wenig einschränken. Daß Tante Johanna einig und allein diese Einladung durchgesetzt hatte, war für mich zweifellos. Ich kannte ihr gutes Herz. Und mir brachte sie eine geradezu überschwengliche Freundlichkeit entgegen, vielleicht, weil ihr der einzig Sohn in frühen Jahren gestorben war und ein Spiel des Zufalls mir eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grunertschen Familientyp gegeben hatte.
Außerdem faßte ich diese Gelegenheit, in der Familie der Verwandten den Abend zubringen zu können, aber auch von der praktischen Seite auf. Acht Uhr – das hieß zum Abendessen. Ich sparte also einige Mark, was mir sehr willkommen war. Und dann – Onkel Grunert machte es die größte Freude, wenn er beim Skat, der solche kleinen intimen Gesellschaften zu beschließen pflegte, gewann und mir nachher seinen Gewinn und noch einen Goldfuchs darüber heimlich in die Hand drücken konnte.
Schnell schrieb ich also eine Rohrpostkarte mit einer Zusage und ließ sie durch meine Wirtin auf das nächste Postamt bringen.
Dann zündete ich mir gemächlich eine Zigarre, an, nahm meine Brieftasche hervor und breitete die Schnitzel des Briefen, die ich vormittags so mühsam [25] zusammengelesen hatte, vor mir auf die Schreibtischplatte aus.
Doch – welch herbe Enttäuschung wartete meiner! Gleich zu Beginn dieser meiner kleinen Arbeit merkte ich zu meinem Erstaunen, daß die Papierstückchen auch nicht eine Spur von Schriftzügen aufwiesen.
Im ersten Augenblick war ich so vollkommen überrascht, daß ich schon dachte, Marga Benrath müsse tatsächlich einen unbeschriebenen Umschlag und Briefbogen zerrissen haben. Dann fiel mir aber sofort ein, daß ich ja beim Aufheben der Papierschnitzel deutlich auf einigen der Stückchen einzelne Wortfragmente in blauer Tinte gesehen hatte. Ein Irrtum war in dieser Beziehung aufgeschlossen.
Wo aber waren die Schriftzeichen geblieben? – Die Lösung war einfach genug. Der Absender des Briefes hatte zu seiner Mitteilung eben eine der sogenannten sympathetischen Tinten benutzt, die entweder nur durch eine bestimmte Behandlung sichtbar werden oder aber nach gewisser Zeit wieder verschwinden. Jetzt wußte ich auch, weswegen Marga die Schnitzel des für sie doch fraglos überaus wichtigen Schreibens so achtlos fortgeworfen hatte.
Da ich in der Chemie zu wenig bewandert war, um die Schriftzüge durch das passende Mittel wieder zum Vorschein bringen zu können, suchte ich mir aus meinem Konversationslexikon den über „Tinte“ handelnden Artikel heraus und studierte ihn sorgfältig durch. Leider fand ich darin über sympathetische Tinten sehr wenig gesagt. Schließlich begann ich auf eigene Faust zu experimentieren. Ich zündete meine Petroleumlampe an und hielt eines [26] der Papierstückchen gegen den heißen Zylinder, – in der Hoffnung, daß vielleicht die Wärme die Schriftzeichen sichtbar machen würde. Alles umsonst. Nacheinander legte ich einige der Stückchen in Essig, auch in scharfe Salz- und Alaunlösung. Es half nicht. Auch nicht ein einziger Strich erschien auf dem Papier. Endlich gab ich meine Bemühungen auf, legte die Schnitzel sorgfältig in einen Umschlag und diesen wieder in das Konversationslexikon bei dem Buchstaben „T“. Dort waren die Fragmente des geheimnisvollen Schreibens vorläufig am sichersten aufbewahrt. Später, vielleicht schon morgen, wollte ich ein paar der Papierstückchen dann einem bekannten Chemiker, der in einer Fabrik pharmazeutischer Präparate beschäftigt war, mit der Bitte zuschicken, die Schnitzel zu untersuchen und mir die Behandlungsmethode zu nennen, mit deren Hilfe ich den Brief für mich entzifferbar machen könnte.
Den Rest des Nachmittags brachte ich dann damit zu, mit der elektrischen Straßenbahn von einem der mir bekannten Geldverleiher zum anderen zu fahren, um ein Darlehen aufzunehmen. Diese Versuche blieben jedoch ebenso resultatlos wie die mit dem zerrissenen Brief. Ich konnte diesen Männern doch unmöglich das Versprechen zum Unterpfand geben, daß ich in der nächsten Nacht bei der über mir wohnenden alten Dame einbrechen wollte, deren Reichtum bekannt war und deren Pretiosen, wie ich durch das Geschwätz meiner Wirtin erfahren hatte, im Vorderzimmer in einer Schublade eines alten Vertikos aufbewahrt wurden.
Als ich nach dieser ergebnislosen Rundvisite gegen halb acht Uhr in meine Wohnung zurückkehrte, [27] war ich fester denn je entschlossen, meinen heute vormittag gefaßten Plan auch wirklich in dieser Nacht zur Ausführung zu bringen. Es war dies die letzte Möglichkeit, mir das zu bewahren, worauf ich so[3] großen Wert legte: meine Ehre, die ich verlieren würde, wenn ich meine Spielschulden diesem Glücksritter von Lautenborn nicht bezahlte, diese Ehre, die nichts war wie ein löchriger Schein, und die ich mir doch erhalten wollte, weil ich damals noch auf das Urteil der Gesellschaft mehr gab als auf die Stimme meines Herzens, die nicht ganz zum Schweigen zu bringen war, und mir zuraunte: Vertraue dich deinem Onkel ehrlich an und gib diese Freunde auf, die dich ins Verderben gezogen haben. Und diese Freunde waren die Mitglieder der „Konkordia“, des harmlosen literarischen Vereins, wo trotzdem jede Nacht Tausende von Mark im Glücksspiel umgesetzt wurden.
Zehn Minuten vor acht begrüßte ich Tante Johanna, die mir herzlich, wie immer, die Hand drückte.
„Das ist nett von dir, Fred, daß du etwas früher kommst,“ sagte sie mit ihrer gütigen Stimme und zog mich neben sich auf das steiflehnige Sofa in dem strahlend hellen Salon, dessen ganze Deckenbeleuchtung brannte. „Onkel ist noch nicht ganz mit der Toilette fertig, und Marga wollte noch schnell zur Post, um einen eiligen Brief an eine Freundin aufzugeben. So können wir noch ein [28] Weilchen plaudern. – Wie geht es dir denn, mein Junge?“
„Vorzüglich, Tante. Danke für gütige Nachfrage.“
„Du siehst aber gar nicht gut aus. Die Schatten unter deinen Augen wollen mir nicht gefallen. Freilich – deine Gesichtsfarbe ist recht frisch. – Hast du jetzt eigentlich schweren Dienst?“
„Seit heute gar keinen,“ erwiderte ich ohne jede Verlegenheit.
Sie stutzte. „Wie soll ich das verstehen, Fred? – Gar keinen?“
„Sehr einfach. Ich habe heute meine Stellung bei Gebrüder Stöckig, Bankgeschäft, Mohrenstraße 128, aufgegeben,“ sagte ich scherzend.
Jetzt schrak sie doch zusammen. „Aber wozu denn das? – Ich begreife dich nicht? …
Und mißbilligend wiegte sie ihr ehrwürdiges, graues Haupt hin und her.
„Ich möchte ins Ausland, Tante,“ suchte ich mich herauszulügen. „Ein Bekannter will mir in Kairo eine besser bezahlte Stelle besorgen.“
„Will – will! Also noch etwas ganz unsicheres. Da hättet du doch wenigstens so lange warten sollen, bis du fest engagiert bist. – Onkel wird das nicht sehr gefallen. Du weißt ja, er ist ohnehin nicht ganz gut auf dich zu sprechen … Doch – lassen wir das. Du mußt ja am besten wissen, was du tust.“
Sie begann jetzt von Marga Benrath zu reden, von den Sorgen, die ihr das seltsame Wesen ihrer Nichte bereite.
„Nun ist das Kind doch hier zu uns nach Berlin [29] gekommen, damit wir sie aufheitern sollen,“ klagte sie leise. „Alles haben wir versucht, alles … Wir sind mit ihr ins Theater gegangen, in Konzerte, haben ihretwegen auch ein paar Gesellschaften gegeben – der Erfolg gleich Null! Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, bin mit meiner Kunst zu Ende. Heute zum Beispiel war Marga vormittags allein in der Nationalgalerie. Und wie kam sie heim? Völlig erschöpft, blaß wie der Tod. – Einige der Gemälde hätten sie so tief erschüttert, gab sie mir auf meine teilnehmenden Fragen zur Antwort.“
Und nach einer Weile flüsterte sie mir ganz leise und in schmerzlichstem Ton zu:
„Ich bin überzeugt, Fred, daß das Mädchen irgendein geheimer Kummer drückt, daß sie irgend etwas zu verbergen hat, was ihre Seele unausgesetzt foltert. Ich habe sie schon so oft gebeten, sich mir anzuvertrauen, habe mich abends zu ihr auf den Rand ihres Bettes gesetzt und geschmeichelt, gebeten und wieder gebeten. – Nichts – nichts. Ihre Augen blieben trocken. Und doch hörte ich es ihrer Stimme an, in welchem Aufruhr sich in solchen Momenten ihr Inners befand. Mühsam preßte sie die Worte heraus, die meine Zweifel zerstören, mich beruhigen sollten. – Fred, könntest du denn nicht vielleicht bei ihr etwas ausrichten?“ fügte sie zögernd hinzu. „Ich weiß, daß sie dich gern mag, daß sie häufiger von dir spricht, als von all den anderen Herren, die sie hier kennengelernt hat. Marga ist doch ein hübsches Mädchen, dazu noch vermögend. Nähere dich ihr doch … Möglich, daß die Liebe ihr endlich den Mund öffnet.“
[30] Meine ganz sichere Unverfrorenheit war dahin. Nur dieses Thema nicht, nur dieses nicht, das mir nichts als Folterqualen brachte!
Und so erwiderte ich denn kühl und mit deutlicher Zurückhaltung, während es in meinem Herzen so ganz anders aussah:
„So leid es mir auch tut, liebe Tante, in dieser Beziehung kann ich dir wirklich nicht helfen. Marga wird mir nie so nahe stehen, daß ich es wagen könnte, sie nach der Ursache ihres heimlichen Leides zu fragen.“
Tante Johanna verstand mich. „Schade – schade, ihr hättet wirklich gut zueinander gepaßt,“ meinte sie bedauernd. „Und für dich wäre es auch recht gut gewesen, Fred, wenn du erst gewußt hättest, für wen du arbeitest und schaffst.“
In demselben Augenblick erschien Marga in der breiten Flügeltür, die zu dem nebenanliegenden Damenzimmer führte.
Noch nie hatte sie so vorteilhaft ausgesehen wie heute. Von dem kurzen Gange nach dem Postamt waren ihre sonst so bleichen Wangen leicht gerötet. Ihr süßes, liebreizendes Gesichtchen unter der Fülle des dunklen Haares erinnerte lebhaft an eines jener Pastellgemälde des französischen Meisters Pelvoux, der all die schönen Frauen des galanten Zeitalters Ludwigs XIV. mit seinem Stift verewigt hat.
Ganz gebannt von so viel Lieblichkeit, starrte ich sie eine Weile wortlos wie eine Erscheinung an. Unter meinen bewundernden Blicken stieg ihr jetzt deutlich die helle Glut in die Wangen.
„Aber Vetter Ferdinand, Sie tun wirklich so, als ob Sie mich heute zum erstenmal[4] sehen,“ versuchte [31] sie zu scherzen, indem sie näherkam und mir ungezwungen die Hand zum Gruße entgegenstreckte.
„Beinahe haben Sie recht, Marga,“ sagte ich mit einer Verbeugung, die eine Huldigung für ihre eigenartige Schönheit ausdrücken sollte.
„Inwiefern?“ fragte sie in leichter Verwirrung.
„Ersparen Sie mir bitte die Antwort, Marga.“
Der ernste Ton meiner Erwiderung machte sie aufmerksam. Forschend schauten ihre graublauen Rätselaugen mich an. Unsere Blicke begegneten sich zum erstenmal in einer Weise, die uns das Blut schneller durch die Adern jagte. Ich fühlte es an dem leisen Zittern ihrer Hand, die ich noch immer zwischen meinen Fingern hielt.
Verwirrt senkte sie dann den Blick zu Boden und zog ihre Rechte sanft aus der meinen. Aber sie sprach kein Wort weiter über das, was ich ihr eben gesagt hatte. –
Mein Onkel, ein kleiner, beweglicher Herr mit grauem Spitzbart, dem niemand seine vierundsechzig Jahre ansah, ließ sich, als auch wir uns dann begrüßten, nicht im geringsten anmerken, daß zwischen uns so etwas wie eine leichte – von seiner Seite ja nur zu berechtigte – Verstimmung bestand. Bald erschienen auch die übrigen Gäste, die mir bereits bekannt waren: der alte Professor Hunzinger, der wie immer seinen bereits recht blanken Gehrock anhatte, das Justizratsehepaar Wendel und ein Rechtsanwalt Müller, der sich durch seine genialen Verteidigungsreden in Strafsachen in kurzer Zeit einen Namen gemacht hatte, und zugleich Syndikus der Aktiengesellschaft war, deren Direktorposten mein Onkel innehatte.
[32] Müller, ein Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren, der aber noch wie ein junger Korpsbursch aussah, führte Marga zu Tisch. Ich selbst hatte den Platz zu ihrer Rechten.
Marga war heute ausnahmsweise gesprächig und offenbar in selten froher Stimmung. So verlief denn auch die Mahlzeit in angeregter Unterhaltung, bei der sich nur Müller meiner jungen Verwandten, für meinen Geschmack wenigstens, allzu eifrig widmete. Sollte dies etwa ein neuer Bewerber um Margas Hand sein? Sollte Tante Johanna hier etwa wieder eine ihrer kleinen Heiratskuppeleien in die Wege leiten? … Fast schien es mir so. Daß meine gute Laune unter diesen Umständen – so töricht es auch war – sehr bald völlig einfror und ich den gewohnten Schlußskat schon sehnlich herbeiwünschte, um nur nicht weiter Zeuge von Müllers offensichtlicher Kurmacherei sein zu müssen, war nur zu verständlich.
Endlich hob Tante Johanna die Tafel auf. Onkel Grunert konnte jetzt nicht schnell genug zu seinem ersehnten Spielchen kommen.
„Fred, du mußt schon auf die Gesellschaft der Damen verzichten und dich mit Hunzinger und mir abplagen,“ meinte er, als er mir die Zigarrenkiste hinhielt.
„Aber gern, Onkel. – Nur eine Bitte. Höher wie einen halben Pfennig den Point gehe ich nicht.“
Der Professor klopfte mir jovial auf die Schulter, während er sich gleichfalls eine der Importen herauslangte.
„Angenommen, lieber Freund, angenommen. Wir spielen ja auch nur des Vergnügens halber.“
[33] Trotzdem fand ich noch, ehe wir uns in dem eichengetäfelten Herrenzimmer an den Spieltisch setzten, Gelegenheit, ein paar bedeutsame Worte mit Marga zu wechseln. Tante Johanna hatte mich gebeten, Marga beim Einschenken der Liköre behilflich zu sein, und bei dieser Veranlassung machte ich absichtlich eine Bemerkung, um mir darüber Gewißheit zu verschaffen, ob der geheimnisvolle Brief wirklich für sie von so schwerwiegender Bedeutung gemacht hatte.
Als ich die neue Flasche Hennessy-Kognak Dreistern entkorkte, sagte ich so nebenbei:
„Wenn mich meine Augen nicht allzusehr getäuscht haben, Cousine, so waren Sie heute vormittag in Moabit in der Turmstraße.“
Die Wirkung dieser Worte war stärker als ich erwartet hatte. Nur durch mein jongleurartig schnelles Zugreifen rettete ich das Tablett mit den hohen Kelchgläsern, das Marga in den Händen hielt, vor einem für die darauf befindlichen Gegenstände verderblichen Fall auf den Parkettfußboden. Jeder Blutstropfen war aus dem Gesicht meiner Verwandten gewichen. Mit entsetzten Augen starrte sie mich an, zunächst unfähig, ein Wort hervorzubringen. Dann schaute sie sich scheu um, ob auch niemand uns belauschte.
„Verraten Sie mich nicht, Fred, ich bitte Sie inständig darum,“ stieß sie jetzt leise hervor. Und – sagen Sie mir die Wahrheit: Sie haben … noch mehr gesehen! Ich merke das an Ihrem Gesichtsausdruck, lese das aus Ihren forschenden Blicken.“
„Seien Sie außer Sorge, Marga,“ beruhigte ich [34] sie, ihr offen in das blasse Gesichtchen schauend. „Ich werde schweigen, auch über den Brief, den Sie mit so wilder Verzweiflung in den Mienen auf der Bank in den Parkanlagen lasen.“
Sie lehnte halb bewußtlos an dem hohen, reich geschnitzten Eichnbüfett. Ihre ganze Haltung drückte die trostloseste Ermattung aus. Aufs neue sprach ich ihr begütigend zu. Ich hatte ihre Hand ergriffen und streichelte unwillkürlich ihre bebenden Finger.
„Marga, wollen Sie mir nicht Vertrauen schenken?“ bat ich, ihre Hand heftig drückend. „Vielleicht kann ich Ihnen helfen … Sehen Sie, auch Tante ist Ihr merkwürdiges Wesen schon aufgefallen. Das kann doch so nicht weiter gehen. Sie verzehren sich ja bei diesen steten Bemühungen, Ihr Geheimnis, daß auch ich nicht kenne, vor aller Welt zu verbergen.“
Doch ablehnend, in höchster Mutlosigkeit offenbar, schüttelte sie den Kopf.
„Mir kann niemand helfen, niemand. Und wenn Sie Erbarmen mit mir haben, Fred, so sprechen Sie niemals mehr von dieser Sache, nie wieder.“
„Gut, wie Sie wünschen, Marga. – Und nun nehmen Sie das Tablett und kommen Sie. Sonst könnte unsere lange Abwesenheit auffallen.“
Bei der nun folgenden Skatpartie hatte ich ein geradezu unglaubliches Glück. Trotzdem richtete ich es geschickt wieder so ein, daß Onkel gewann. Ich wußte ja, welche Freude ihm das machte.
Erst gegen elf Uhr rechneten wir ab. Onkel Grunert hatte wirklich als einziger von uns ein Plus zu verzeichnen und strich schmunzelnd seinen Gewinn von 6,85 Mark ein.
[35] „Und nun wollen wir uns doch auch noch etwas den Übrigen widmen,“ meinte er, die Karten in die Presse legend.
Professor Hunzinger ging voraus in den Salon. Und diese Gelegenheit benutzte Onkel, um mir wortlos ein Zwanzigmarkstück in die Hand zu drücken, das ich ebenso wortlos in die Westentasche schob. Der Spender liebte es nicht, wenn man diese kleine Schlußszene der Skatpartie irgendwie beachtete.
Da Onkel in seiner bekannten Ordnungsliebe nun auch noch die Aschenbecher und die Biergläser zur Seite stellen wollte, nahm ich ihm die kleine Mühe ab und war daher bald allein in dem großen Herrenzimmer, dessen auf den Balkon hinaufführende Tür wir geöffnet hatten, um dem Zigarrenrauch Abzug zu verschaffen.
Als ich den Spieltisch abgeräumt hatte, trat ich auf den Balkon hinaus, um einen Augenblick die frische Nachtluft einzuatmen. Während ich noch auf die nächtliche Straße mit ihren blinkenden Laternenreihen hinabschaute, vernahm ich plötzlich hinter mir im Zimmer die Stimmen Rechtsanwalt Müllers und meines Onkels. Die vor der Tür hängenden Portieren verbargen mich vollkommen, so daß ich aufmerksam gemacht durch ihre Unterhaltung, näher trat und durch einen Spalt in den Vorhängen hindurchlugte.
„Die Sache hätte doch aber Zeit gehabt, lieber Müller,“ sagte Onkel Grunert jetzt, der ein Päckchen Banknoten in der Hand hielt. „Sie hätten das kleine Darlehen ruhig noch behalten können.“
Müller lächelte. „Ob das Geld bei mir im Schrank liegt oder bei Ihnen, Herr Generaldirektor, [36] bleibt sich gleich. Am nächsten Ersten hätte ich’s ja ohnedies zurückzahlen müssen.“
„Wie Sie wollen, lieber Müller.“ Damit entschwand Onkel mir für einen Moment aus dem Gesichtskreis, den ich durch den Spalt übersehen konnte, erschien aber sofort wieder mit einem dicken Band eines Konversationslexikons in der Hand, den er jetzt vor sich auf den Tisch legte. Dann sagte er scherzend:
„Wenn Sie nun ein verkappter Gentleman-Einbrecher wären, so könnten Sie sich bequem in den Besitz meines Bargeldes setzen. Hier dies Lexikon, das so harmlos zwischen den übrigen auf dem Bücherbrett steht, ist nämlich meine Geheimkasse, eine hohle Atrappe in Buchform, wie Sie sehen. – Ein feiner Gedanke, wie …? – Da kann ein Spitzbube lange suchen, ehe er das Versteck findet.“
„Wahrhaftig! Eine glänzende Idee! In dem harmlosen Band liegen die Banknoten sicherer als in dem stärksten Tresor.“
„Freilich – freilich! Und die Hauptsache, – man hat es nicht nötig, sich so ein eisernes Ungetüm von Geldschrank ins Zimmer zu stellen. In diese Atrappe geht reichlich so viel hinein, wie ich für den Hausbedarf vorrätig haben muß. Alle meine sonstigen Papiere liegen gut behütet in meinem Safe der Deutschen Bank.“
Gleich darauf entfernten sich die beiden wieder, nachdem Onkel das Buch an seinen Platz zurückgestellt hatte.
Was in meinem Innern in der nächsten Minute vorging, ist schwer zu schildern. Dort lag nun, wenige Schritte von mir entfernt, das Mittel, mit [37] dem ich mir mit einem Schlage aus meiner bedrängten Situation heraushelfen konnte. Immer weiter spann ich diesen Gedanken aus, - immer weiter.
Als ich den Salon vorsichtshalber, um keinen Verdacht zu erregen, vom Korridor aus wieder betrat[5], sah ich Müller mit Marga in eifrigem Gespräch neben dem Flügel stehen. Und in diesem Augenblick, wo ich merkte, wie verzückt des sonst so kühlen, berechnenden Anwalts Blicke auf Margas liebreizendem Gesicht ruhten, krampfte sich mir das Herz in wilder Eifersucht zusammen. Da fühlte ich zum ersten Male, daß ich dieses rätselhafte Weib liebte, da überkam mich zum ersten Male aufrichtige, bittere Reue über mein verfehltes Leben … Und – hätte ich nur einen Weg gewußt, der mich aus dem Sumpf, in dem ich lebte, herausgeführt haben würde, ich wäre ihn gegangen, und wenn er mir noch so dornenvoll erschienen wäre … Zu spät – zu spät …! Dem verrufenen Spieler, dem, der vor sich selbst schon so tief gesunken war, bot sich nur eine Möglichkeit, um wenigstens scheinbar vor der Welt als … anständiger Mensch weiterbestehen zu können …
Still setzte ich mich in einen der Plüschsessel etwas abseits von den anderen und beteiligte mich nur durch ein gelegentliches, kurzes Ja oder Nein an der allgemeinen Unterhaltung.
Nach einer Weile kam dann Tante Johanna und nahm dicht neben mir auf einem Hocker Platz.
„Fred, sieht Marga heute nicht wirklich vorzüglich aus?“ begann sie leise. „Das Chiffon-Kleid habe ich ihr bei Herpich ausgesucht. Wie gefällt es dir?“
[38] „Sehr gut!“ Das war auch meine ehrliche Meinung.
Nach einer Weile sagte Tante dann etwas unsicher: „Kennst du eigentlich Müller etwas näher, Fred? Ich meine sein Privatleben. – Ich möchte mich aus bestimmten Gründen darüber informieren.“
Die Gründe waren für mich sonnenklar. Bisher hatte Tante für Müller nur recht geringes Interesse gehabt, trotzdem er sehr viel bei ihnen verkehrte. Sie sah in ihm den Bewerber um Margas Hand.
Ich konnte mich daher nicht enthalten, etwas ironisch zu lächeln:
„Liebes Tantchen, ich glaube, du gibst dich trügerischen Hoffnungen hin,“ sagte ich eifrig, sie offen anschauend. „Marga wird nie einen Mann aus sogenannten praktischen[6] Gesichtspunkten zum Gatten wählen. So weit glaube ich sie doch schon zu kennen. Und lieben, lieben kann sie Müller kaum. Dazu ist er doch zu sehr Aktenmensch. Eine Natur wie Marga verlangt mehr von dem, dem sie sich fürs Leben bindet.“
Sie blickte mich ganz verwirrt an. Dann stahl sich ein feines Lächeln um ihren Mund. Und sich ganz nahe zu mir hinüberbeugend, meinte sie, indem sie ihre Hand leicht auf meinen Arm legte:
„Lieber Junge, jetzt hast du dich verraten. – Widersprich nicht! Du gönnst Marga dem andern nicht, – das ist es. Gestehe es nur ruhig ein. Mir kannst du dich doch anvertrauen …“
Eine verräterische Röte stieg mir jetzt ins Gesicht, die es mir noch schwerer machte, meine Neigung [39] für Marga auch weiterhin abzuleugnen. Und plötzlich erwiderte ich, ohne recht zu wissen, wie mir die Worte über die Lippen kamen:
„Und wenn ich Marga liebte, Tante, was könnte das helfen?! Du kennst am besten meine Fehler, meine Schwächen, weißt, daß ich am allerletzten Mann wäre, der zur Ehe taugte. – Brechen wir daher dieses Gespräch ab, bei dem nie etwas Nützliches herauskommen kann.“
Doch so schnell gab sie mich noch nicht auf. „Du bist noch jung, Fred, kannst dich ändern. Wir, Onkel und ich, betrachten deine Leidenschaft für das Spiel mit milden Augen, haben schon oft gesagt, daß diese … diese erbliche Belastung vielleicht ganz unterdrückt werden würde, wenn einmal eine andere, noch stärkere Leidenschaft, eben die Liebe, sich deiner bemächtigte.“
Als ich schwieg, fuhr sie begütigend fort: „Erhoffen wir das Beste von der Zukauft, Fred. Schau nicht so trostlos darein. Ich habe so eine Ahnung, als ob sich in nächster Zeit schon alles zum Guten wenden wird.“ Und dann nach einer kurzen[7] Pause: „Wir, Marga und ich, gehen morgen vormittag mit den beiden Mädchen ins W.sche Kaufhaus[8]. Ich muß nämlich wieder einmal unsere beiden dienstbaren Geister neu einkleiden. Wenn du Zeit hast, schieße dich uns doch an. Du bist jetzt dein freier Herr.“
Wie ein Ruck war’s durch meinen Körper gegangen. Ein Wink des Schicksals …! Morgen vormittag würde also in der Wohnung für Stunden niemand anwesend sein. Denn auch Onkel war ja [40] von morgens an bis in den späten Nachmittag hinein außerhalb beschäftigt …!
Die eine Sekunde, in der mir diese Gedanken durch den Kopf schossen, war entscheidend. Mit kühler Berechnung antwortete ich daher:
„Sehr gern komme ich mit. Wir können uns dann ja vor dem Haupteingang des Kaufhauses treffen. Bestimme bitte die Zeit, mir paßt es zu jeder Stunde. Ich habe nur noch morgen früh eine Privatangelegenheit zu erledigen. Dann bin ich frei.“
„Gut. Sagen wir also um ein halb elf. Nachher können wir noch, wenn das Wetter gut ist, eine Spazierfahrt durch den Tiergarten machen. Ich sehe das bunte Herbstlaub so sehr gern.“ –
Die beiden an einem Ringe befestigten Schlüssel, die draußen am Rahmen der Korridortür hingen, wanderten kurz nach dieser Unterredung in einem günstigen Augenblick in meine Tasche.
Ihr Verschwinden fiel natürlich auf, als gegen zwölf Uhr allgemein aufgebrochen wurde und das Stubenmädchen uns unten die Haustür öffnen sollte. Onkel beruhigte sich aber schnell in dem Gedanken, daß sie nur verlegt sein könnten, und gab dem Mädchen sein eigenes Schlüsselbund mit, um uns hinauszulassen.
Ich schlief schlecht in jener Nacht. In meiner Seele stritten die verbrecherischen Instinkte in verzweifeltem Kampf gegen das Gute.
Wie zerschlagen kleidete ich mich am Morgen an, [41] uneinig, was ich tun sollte. Den Kaffee ließ ich unberührt stehen. Eine sich von Minute zu Minute steigernde Nervosität trieb mich ruhelos im Zimmer umher. Ich versuchte die Morgenzeitung zu lesen, kam aber kaum über den ersten Artikel hinweg. Hätte ich nur weitergeblättert …! Vieles wäre anders geworden …! – Anders – das wohl; aber ob besser, günstiger für meine Zukunft, ist die Frage.
Die kleine Stutzuhr auf dem Kamin, ein letzter Rest der Habe meiner Eltern, schlug zehn. Sinnend stand ich am Fenster und schaute auf die asphaltierte Straße hinab, wo Kinder mit fröhlichem Eifer die kleinen Peitschen handhabten, daß die rollenden bunten Holzkegel weite Sprünge durch die Luft machten. Mein Denken wanderte zurück in meine eigene freudlose Jugend. War ich nicht schon immer ein vom Schicksal Gezeichneter gewesen, ein von den Freuden der Welt Ausgeschlossener?! Warum wehrte ich mich jetzt so sehr dagegen, mich ganz denen anzuschließen, die ihre eigenen, dunklen Wege gingen …? Warum eigentlich …? Etwa weil ich ehrlich bleiben wollte Margas wegen?!
Ich lachte bitter auf. Marga würde in meiner Lebensrechnung nie eine Rolle spielen, durfte es nicht …! – Und dieses Verzichtenmüssen wandelte urplötzlich mein ganzes Wesen. Eine starre Ruhe kam über mich.
Meiner Schreibtischschublade entnahm ich die kleine, scharfgeladene Repetierpistole und schob sie in die Brusttasche meines Jacketts. Lebend sollte man mich nicht fangen, wenn ich entdeckt wurde. – Dann zog ich einen langen Ulster an, den ich sehr selten trug, und drückte mir einen breitrandigen, [42] hellgrauen Hut auf den Kopf, der seit Jahren unbenutzt in meinem Kleiderschrank lag.
Ungesehen verließ ich meine Wohnung, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß die Treppe leer war. In einer Seitenstraße kaufte ich mir bei einem Optiker eine billige, blaue Brille und setzte sie sofort auf. Dem Verkäufer erzählte ich so nebenbei, daß mir der Arzt geraten habe, dunkle Gläser zu tragen, da meine Augen stark angegriffen seien. Eine Viertelstunde später befand ich mich auf dem dem Hause meiner Verwandten gegenüberliegenden Bürgersteig und warf im Vorübergehen einen prüfenden Blick in das elegante Treppenhaus. Am meisten hatte ich den Portier zu fürchten, der mich von Ansehen gut kannte. Trotzdem – es mußte gewagt werden. Entschlossen schritt ich auf das Haus zu und drückte gegen die Eingangstür, die gewöhnlich verschlossen zu sein pflegte. Ich hatte Glück. Die Tür gab nach. Mit zur Seite gedrehtem Kopf eilte ich an der Portierloge vorüber und die Treppe hinauf. Niemand begegnete mir. In der zweiten Etage angelangt, zog ich den Ring mit den Schlüsseln hervor, öffnete, schlüpfte hinein, drückte hinter mir die Tür wieder zu, steckte den Schlüssel von innen ins Schloß und drehte ihn einmal herum, um vor jeder Überraschung sicher zu sein. Ähnlich schützte ich mich auch an der Tür des Kücheneingangs, indem ich hier die Sicherheitskette vorlegte, da ich den Schlüssel nicht fand.
Mit leisen Schritten kehrte ich in die vorderen Gemächer der großen Wohnung zurück, deren acht Räume sämtlich nach der Straße hinaus lagen, da das Gebäude ein Eckhaus war.
[43] Onkels Arbeitszimmer war das der Eingangstür am nächsten liegende. Ich mußte also die sämtlichen Räume passieren, bevor ich dorthin gelangte. Überall standen die Flügeltüren weit offen.
Jetzt schlug ich den schweren, türkischen Vorhang zur Seite und … blieb im Türrahmen wie versteinert stehen. Mein Herzschlag stockte. Wahnsinniges Entsetzen packte mich. Ich wollte fliehen und doch hafteten meine Füße wie gebannt am Boden …
Denn mitten auf dem Teppich vor dem kleinen Rauchtischchen lag die starre, regungslose Gestalt eines Mannes, hell beschienen von der Sonne, die durch die Scheiben der Balkontür in breiten Strahlen hereinflutete.
Minutenlang stand ich so da, ohne ein Glied zu rühren. Ich konnte meine Augen nicht von dem Toten wenden, stierte ihm wie hypnotisiert in das bleiche Gesicht, das mir so merkwürdig bekannt vorkam.
Dann ein Gedanke, eine blitzschnelle Erinnerung an den gestrigen Vormittag. Ein Bild tauchte vor mir auf: Lautenborns Zimmer, darin ein Mann mit einem selten schönen, wie aus Stein gemeißelten Charakterkopf, der so geistreich, mit so spielender Leichtigkeit zu plaudern verstand …
Der Tote konnte nur der Schauspieler Schwechten, der Freund Lautenborns, sein. Ein Irrtum war ausgeschlossen …
Diese Erkenntnis gab mir mit einem Schlage meine Ruhe zurück. Nachdem ich die erste Bestürzung überwunden hatte, näherte ich mich kaltblütig dem Toten und beugte mich über sein Gesicht, [44] um mir den kleinen, blutigen Fleck an der linken Stirnseite genauer zu betrachten, der mir sofort aufgefallen war. Kein Zweifel, dieser Fleck war nichts anderes als eine Schußwunde. Nur wenige Tropfen Blut bemerkte ich, dafür aber auf der weißen Haut rund um die Wunde einen größeren, strahlenförmigen Kreis schwarzer Pünktchen - ohne Zweifel Pulverteilchen, die der aus nächster Nähe abgefeuerte Schuß in die Haut getrieben hatte.
Ohne Scheu erfaßte ich jetzt die Hand der Leiche. Meine Vermutung fand ich bestätigt. Diese Hand war noch warm. Also konnte der Schuß Schwechten erst vor kurzer Zeit niedergestreckt haben. Der Schuß, den wer abgefeuert hatte, wer …? Lag hier Selbstmord vor oder ein Verbrechen …? – Ich schaute mich im Zimmer um. Meine Blicke suchten die Waffe, aus der die Kugel gekommen war. Und ich entdeckte sie wirklich. Unter dem umgeschlagenen Paletot des Toten lag sie; nur ein kleines Stück des Laufes ragte hervor. Ich besah mir diesen Revolver, billige Dutzendware, genauer. Er schien völlig neu zu sein. Denn auf der Unterseite des Laufes fand ich noch die mit einer besonders hellen Tinte geschriebene Preisaufzeichnung 9 Mark. Dahinter die beiden lateinischen großen Buchstaben F. G., die offenbar das Firmenzeichen des Waffenhändlers.
Nachdem ich den sechsschüssigen Revolver, in dessen Kammer fünf scharfe Patronen und eine leere Hülse steckten, wieder an dieselbe Stelle gelegt und auch wieder mit dem zurückgeschlagenen Paletot halb bedeckt hatte, drängten sich mir wie unwillkürlich all die Fragen abermals auf, die mir schon vorhin [45] beim ersten Anblick der Leiche blitzartig gekommen waren.
Ich wußte genau, daß Schwechten mit meinen Verwandten nie etwas zu tun gehabt, geschweige denn bei ihnen verkehrt hatte. Sonst wäre doch wenigstens einmal sein Name bei irgendeiner Gelegenheit erwähnt worden. Wie kam er also hier in ihre Wohnung? Welche Absichten hatten ihn hierhergeführt? Und warum hatte er sich dann in diesem Zimmer selbst entleibt – eine Folgerung, die den[9] Umständen nach die einzig richtige schien? – – Ich fand mich in diesem Labyrinth nicht zurecht, so sehr ich auch über eine Lösung nachgrübelte. War er etwa hier in derselben Absicht eingedrungen wie ich? Und hatte er sich dann erschossen, als er mich die Korridortür öffnen hörte und nun alles verloren gab? – Vieles sprach für diese Annahme. Und doch auch wieder so manches dagegen. Hätte ich zum Beispiel nicht den Schuß hören müssen? Hätte hier im Zimmer nicht noch der Geruch der Pulvergase bemerkbar sein müssen, da ich doch, falls meine Ansicht zutraf, sofort nach dem Selbstmord diesen Raum betreten hatte …?
Ich sann und sann vergaß darüber ganz meine eigene, jetzt doppelt gefährliche Lage. Wie, wenn ich hier entdeckt wurde? Wie sollte ich beweisen, daß ich unschuldig war? – Und dieser Gedanke war es, der mich nun zu schnellem Handeln trieb.
Eilig zog ich die Bände des Lexikons aus dem Büchergestell hervor und warf sie achtlos auf den Boden, bis ich den richtigen, die Buchatrappe mit dem kostbaren Inhalt, gefunden hatte. Die Banknoten und drei schwere Geldrollen wanderten in [46] meine Taschen. Dann verließ ich das Zimmer durch die Tür nach dem Korridor und schloß leise die Flurtür auf. Ein neuer Gedanke … Ich kehrte nochmals zurück, schob den Ring mit den beiden Schlüsseln in die Tasche des Toten und machte mich hinaus, schritt ohne besondere Hast um die Ecke und trat in die nächste offene Haustür, wo ich mir die blaue Brille abnahm, die ich in einen dunklen Winkel schleuderte. Eine Autodroschke brachte mich hierauf in kürzester Zeit nach meiner Wohnung. Und in einer zweiten fuhr ich dann keine fünf Minuten später dem Zentrum Großberlins, der Leipziger Straße, zu.
Es war genau elf Uhr, als ich vor dem Hauptportal des W.schen Kaufhauses ausstieg und nun die Suche nach den beiden Damen begann, die ich eine halbe Stunde ungalanterweise vergeblich auf mich hatte warten lassen. Aber umsonst schaute ich mich in der Abteilung für Kleiderstoffe, wo ein geradezu lebensgefährliches Gedränge herrschte, nach bekannten Gesichtern um. Wie ich diese aussichtslosen Bemühungen gerade aufgeben wollte, sprach mich das Grunertsche Stubenmädchen, der ich noch gestern abend gnädig ein Markstück in die Hand gedrückt hatte, an und teilte mir mit, daß die gnädig Frau und das gnädige Fräulein sich in dem Erfrischungsraum im Zwischenstock begeben hätten, da Fräulein Benrath plötzlich von einem ohnmachtsähnlichen Schwächezustand befallen worden wäre.
Sofort begab ich mich ebenfalls dorthin. Margas Zustand schien höchst bedenklich. Mit matter Bewegung reichte sie mir die Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Ihr Gesicht mit den dunklen Ringen [47] um die matten Augen war krankhaft bleich. Und ihre Finger, die für einen Augenblick in den meinen ruhten, bebten wie im Fieber und waren unnatürlich heiß.
„Ein Glück, daß du da bist, Fred,“ empfing mich Tante Johanna, sichtlich aufatmend. „Wir müssen Marga sofort nach Hause bringen.“
Doch diese erhob wie abwehrend die Hand.
„Tante, liebe Tante, nicht nach Hause,“ stieß sie flehend hervor. „Frische Luft brauche ich, nichts weiter. Wir wollen ein Stück gehen … oder fahren.“
„Wie du willst, Kind. Richtiger wäre es freilich, du legtest dich zu Bett, und wir ließen einen Arzt holen. Wie sehr du mit deinen Nerven herunter bist, habe ich erst heute gesehen. Ich werde mit Onkel sprechen, und dann können wir zusammen ein Sanatorium im Süden aufsuchen. Mir wird eine kleine Erholungsreise auch ganz gut tun.“
Marga trank noch den Rest ihres Gläschens Portwein aus und ließ sich dann, von Tante und mir geführt, willenlos durch das Menschengewühl auf die Straße hinausgeleiten, wo wir sofort das nächste Auto bestiegen und über den Leipziger Platz in der Richtung nach dem Tiergarten davonfuhren.
Völlig teilnahmslos hockte Marga in ihrer Ecke, während Tante Johanna und ich sie vergeblich aufzuheitern versuchten. Auf all unsere besorgten Fragen hatte sie stets dieselbe Antwort:
„Mir fehlt wirklich nichts. Nur sehr matt fühle ich mich.“
Schließlich konnte Tante doch nicht länger an [48] sich halten. In offenbarer Erregung sagte sie, ihre Worte dabei an mich wendend:
„Ich begreife nicht, daß Marga noch immer den Anschein erwecken will, als ob dieser Schwächeanfall ganz plötzlich und ohne jede äußere Veranlassung aufgetreten sei. Ich weiß nicht, wie ich diesen Mangel an Vertrauen auffassen soll. Habe ich[10] mich nicht wahrhaftig Margas in geradezu mütterlicher Weise angenommen, habe ich nicht alles getan, um ihre trüben Stimmungen zu verscheuchen?! -Und was ist der Erfolg?! Sie bleibt verschlossen, quält sich weiter mit irgendeinem Geheimnis herum, dessen eventuelle nachteilige Wirkungen für sie vielleicht spielend aus der Welt zu schaffen wären!“
Und indem sie jetzt Margas Rechte zärtlich zwischen ihre Hände nahm, fuhr sie fort: „Kind, soll ich dir sagen, was ich über diesen heutigen nervösen Anfall denke …? - Dich hat der Bettler erschreckt, der, kurz bevor wir ausgingen, an der Vordertür klingelte und dem du öffnetest. Denn als du wenige Augenblicke später unser Schlafzimmer betratest, warst du leichenblaß, taumeltest fast und konntest mir auf meine Frage, ob Besuch gekommen sei, zunächst keine Antwort geben. Wenn ich dir diese meine Vermutung nicht gleich mitteilte, so geschah[11] es nur, um dich zu schonen. Jetzt müssen wir[12] aber endlich Klarheit haben. Ich werde noch heute an deine Eltern telegraphieren und bitten, daß deine Mutter schleunigst herüberkommt. Dann werden wir beraten, was geschehen soll.“
Unwillkürlich hatte ich Margas Gesichtszüge scharf beobachtet, als Tante so eindringlich auf sie [49] einsprach. Und so konnte es mir nicht entgehen, daß ihre krankhaft blassen Wangen noch um einen Schatten bleicher wurden und sie wie betäubt die Augen schloß, als Tante den Besuch des angeblichen Bettlers erwähnte. Und in demselben Augenblick schoß mir auch eine entsetzliche Ahnung durch den Kopf. Ich dachte an den Toten in Onkels Arbeitszimmer. Meine Gedanken brachten blitzschnell diesen rätselhaften Vorfall mit Marga Benraths heutiger Verstörtheit in Verbindung, eilten weiter und weiter, schlossen sich zu Kombinationen zusammen, die mir mit einemmal die Anwesenheit des Schauspielers in der Wohnung meiner Verwandten zu erklären schienen …
Scheu blickte ich zu Marga hinüber. Noch immer lag sie mit geschlossenen Augen in den Polstern, den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Und jetzt stahlen sich langsam zwei schwere Tropfen hinter ihren Lidern hervor. Ein Bild so unendlichen Jammers war es, daß sich mir das Herz förmlich zusammenkrampfte.
Auch Tante war auf Margas totenähnliches Aussehen aufmerksam geworden. Schnell entschlossen rief sie mir zu:
„Fred – nach Hause! Sage dem Chauffeur Bescheid. Das Kind ist ja schon wieder einer Ohnmacht nahe.“
Ein furchtbarer Schreck durchzuckte mich. – Nach Hause – dorthin, wo neues Entsetzen, neue Aufregungen uns erwarteten, wo fraglos schon die inzwischen heimgekehrten Mädchen Lärm geschlagen hatten, da sie den Hintereingang durch die vorgelegte Sicherheitskette versperrt fanden, und man [50] dann, zweifellos irgend etwas Besonderes argwöhnend, die Wohnung durchsucht hatte und dabei die Leiche gefunden haben mußte – dorthin sollte ich Marga bringen lassen, dorthin …?! Das war unmöglich, durfte nicht sein – auf keinen Fall!
„Mir ist ja bereits viel besser,“ sagte sie, sich mit einem schwachen Versuch zu einem Lächeln zwingend, und fügte hastig hinzu: „Du glaubst ja gar nicht, wie wohl mir die frische Luft tut, Tante. Wenn ich für einen Augenblick die Lider geschlossen hielt, so geschah es nur deswegen, weil ich mich ganz dem Genuß dieser erquickenden Herbstluft hingeben wollte. Im Kaufhause war es ja so drückend heiß.“
Und doch merkte ich, daß all diese Worte von einer bebenden Angst durchzittert waren, daß Marga mir, während sie diese Sätze mühsam formte, einen Blick zuwarf, der mir zuzurufen schien: „Hilf mir, laß mich nicht im Stich …!“
Tante Johanna zögerte noch. Als nun aber auch ich es lebhaft befürwortete, unsere Spazierfahrt noch weiter auszudehnen, gab sie nach.
Diese letzte Szene hatte meinen anfänglich noch so unsicheren Verdacht, Margas heutige Hinfälligkeit müsse mit dem Tode des Schauspielers Schwechten irgendwie in Zusammenhang stehen, nur noch verstärkt. Unwillkürlich beschäftigte ich mich im Geiste immer wieder mit diesem Problem. Jetzt war ich der Schweigsame von uns dreien geworden. Denn die beiden Damen kamen bald in ein Gespräch, das von Margas Seite mit absichtlicher Lebhaftigkeit geführt wurde.
Inzwischen führte uns das Auto die Charlottenburger Chaussee und die Heerstraße entlang [51] bis auf den schmalen Autoweg, der den Grunewald in der Richtung nach Wannsee zu durchschneidet. Nach kurzer Verständigung mit meinen Begleiterinnen gab ich dem Chauffeur die Weisung, durch den Grunewald bis zum Teufelssee und von dort die Straße über Bahnhof[13] Eichkamp zurück nach Berlin zu fahren, und zwar in mäßigem Tempo.
So vergingen mit dem halbstündigen Aufenthalt, den wir in der Försterei am Teufelsee zu einem kleinen Imbiß benutzten, fast drei Stunden, bevor wir vor dem Hause meiner Verwandten in der stillen, vornehmen Straße des Westens wieder anlangten. Marga hatte sich in dieser Zeit tatsächlich fast vollkommen wieder erholt, was mich etwas voreilig zu dem Glauben brachte, meine sämtlichen Mutmaßungen in bezug auf Marga und den Toten oben in Onkels Arbeitszimmer seien verfehlt gewesen. Doch der angstvolle, halbirre Blick, mit dem Marga dann neben mir die breite Treppe zur zweiten Etage emporstieg, ihre stoßweisen Atemzüge und ihre fast von Stufe zu Stufe zunehmende Blässe zeigten wieder deutlich, daß mein Verdacht nur zu wohl begründet war.
Oben vor der Korridortür lehnte Marga sich kraftlos, offenbar wieder mit einer Ohnmacht kämpfend, gegen die Wand.
Während Tante den Drücker der elektrischen Glocke in Bewegung setzte, flüsterte ich Marga kaum vernehmlich zu: „Mut – Mut, ich halte zu Ihnen, komme, was kommen mag!“
Nie werde ich den Blick vergessen, mit dem sie mir daraufhin ins Gesicht sah. Ungläubiges [52] Hoffen, tiefe Dankbarkeit und ein Rest von wahnwitziger Angst war darin …
Dann öffnete das Stubenmädchen die Korridortür und empfing uns sofort mit den jammernden Worten:
„Gnädige Frau – ein Unglück – ein Unglück!“
Doch hinter ihr ertönte schon meinem Onkels Stimme, barsch und rauh:
„Halten Sie den Mund, Lisbeth! – Marga,“ wandte er sich dann an diese, „geh’ bitte sofort auf dein Zimmer und bleibe vorläufig dort. Geh’, Kind, geh’ – später erkläre ich dir alles.“
„Kommt hier in den Salon,“ bat Onkel dann Tante und mich, ohne uns Zeit zu lassen, unsere Sachen abzulegen.
Nachdem Onkel uns in großer Aufregung berichtet hatte, welch furchtbare Entdeckung der Portier, der von den Mädchen herbeigeholt war und der die Hintertür schließlich gewaltsam aufgesprengt hatte, bei der Durchsuchung der Wohnung in dem einen Zimmer gemacht hatte, fuhr er fort:
„Man hat mich natürlich sofort telephonisch herbeigerufen. Ich traf zusammen mit der Polizei ein, die jetzt noch drüben in meinem Zimmer beschäftigt ist. Die Leiche wird jedoch sehr bald abgeholt werden. Der Wagen ist schon bestellt.“
Tante Johanna, die längst in den nächsten Sessel gesunken war und deren Gesicht ich noch nie so verstört gesehen habe, fand jetzt endlich die ersten Worte.
„Und – du – du kennst den – Toten nicht?“ fragte sie ihren Gatten mit bebender Stimme.
[53] „Keine Ahnung, Johanna. Man hat jedoch in seiner Brieftasche Papiere gefunden, die auf den Namen eines Schauspielers Schwech… Schwech… richtig … Schwechten, Ewald Schwechten, lauten. – Nun sei hübsch brav, Johanna, und rege dich nicht weiter auf. – Fred, führe die Tante in ihr Zimmer und leiste ihr Gesellschaft. Und teilt Marga auch das Nötige mit. Ich muß wieder zu den Herren von der Polizei zurück.“
Marga nahm die Nachricht von dem grauenvollen Funde mit einer Gleichgültigkeit entgegen, die die Tante fraglos lediglich auf ihren leidenden Zustand zurückführte. Sehr bald entschuldigte sie sich dann, um sich in ihrem Fremdenzimmer auf dem Diwan auszuruhen. Auch Tante Johanna fühlte nach diesem plötzlichen Schreck das Bedürfnis, allein zu sein. Sie bat mich noch, der Köchin zu bestellen, daß das Mittagessen erst um vier Uhr angerichtet werden solle, und entließ mich mit einer letzten kummervollen Bemerkung über die Schlechtigkeit der Welt und diesen schmerzlichen Abschluß unserer so schönen Autofahrt.
Im allgemeinen schwärme ich nicht für die Küchenregionen. Heute machte ich eine Ausnahme. Der Auftrag Tante Johannas kam mir sogar sehr gelegen. So hatte ich doch einen stichhaltigen Grund, die beiden Mädchen, die bereits seit einer stattlichen Reihe von Jahren bei meinen Verwandten dienten, in ihrem kleinen, blitzsauberen Reich aufzusuchen. [54] Nachdem ich Beate, der bereits recht würdigen, korpulenten Köchin, Bescheid gesagt hatte, ließ ich mich mit der aufgeweckteren Lisbeth, die ich stark im Verdacht hatte, daß sie ihren harten Teint der Nachhilfe von Puder verdankte, in ein Gespräch über die Vorgänge des heutigen Tages ein.
Das gewandte Mädchen erzählte mir dann mit größter Weitschweifigkeit alles, was sie erlebt hatte. Ich ließ sie ruhig reden, während ich, an den Eisschrank gelehnt, eine Zigarre rauchte.
„Wann gingen Sie eigentlich heute vormittag von Hause fort?“ fragte ich dann, als ihr Redestrom endlich abebbte.
„Punkt zehn Uhr. – Nicht wahr, Beate, es war doch gerade zehn, als die gnädige Frau uns nach vorn rief?“ wollte sie ihre Angabe noch von der Köchin bestätigt haben.
„Stimmt genau,“ meinte diese, ohne sich in ihrer Beschäftigung, der Zubereitung irgendeiner Remouladensauce, stören zu lassen.
„Gingen Sie mit Beate die Vorder- oder die Hintertreppe hinab?“ forschte ich weiter.
„Vorne – natürlich! Wenn wir gut angezogen sind, gestattet uns die gnädige Frau stets den Herrschaftsaufgang[14] zu benutzen.“
„Sind Sie nun vielleicht beim Verlassen des Hauses einem Menschen begegnet, der Ihnen irgendwie auffiel?“
„Nein, Herr Heiking. Nur dem Portier. Der brachte gerade an der Nachtbeleuchtung der ersten Etage etwas in Ordnung.“
„Und dann gingen Sie beide mit der gnädigen [55] Frau und Fräulein Benrath nach der nächsten Haltestelle der Elektrischen, nicht wahr?“
„Mit der gnädigen Frau allein, Herr Heiking. Das gnädige Fräulein hatte ihre Handtasche vergessen und lief noch einmal an der Haustür zurück, um sie zu holen.“
Mich durchzuckte es wie ein Schlag. Also traf auch diese meine Vermutung zu. – Doch äußerlich blieb ich ebenso gelassen wie vorher.
„Na, Ihr seid mir eine nette faule Gesellschaft,“ meinte ich scherzend. „Laßt Fräulein Benrath die Treppen klettern und bleibt hübsch bequem unten.“
„Ne, das stimmt nicht, Herr Heiking,“ protestierte die Köchin jetzt eifrig, während sie ihre Remouladensauce rührte. „Die Lisbeth wollte dem gnäd’jen Fräulein schon den Gang abnehmen. Aber sie wollte ja nicht und sagte der Lisbeth, sie müsse die Tasche erst suchen, wir möchten nur nach der Haltestelle vorausgehen.“
„Na, na – ich machte ja auch nur Spaß, Beate. – Wie seid Ihr eigentlich mit diesem Besuch zufrieden? Ist Fräulein Benrath nett?“
„Sehr, Herr Heiking,“ erklärte Beate mit Überzeugung. „Man merkt, daß Fräulein Marga vom Lande kommt. Die geniert sich nicht, auch mal tüchtig mit anzufassen.“
„Ja, und das Fremdenzimmer bringt sie sich stets selbst in Ordnung, ganz und gar, macht sogar auch die Betten,“ pflichtete Lisbeth fast begeistert bei. „Und gar nicht stolz, Herr Heiking, gar nicht. So ganz anders wie Fräulein von Lotberg, die kein Wort mit einem spricht und dann nach vierwöchigem Besuch zwei Mark Trinkgeld gibt.“
[56] „So – so! Na – und dann fuhret Ihr alle vier zusammen ins W.sche Kaufhaus, was?“
„Ja, nachdem wir zwei Bahnen, die 61 und 24, hatten vorüberfahren lassen müssen. So lange dauerte es, bis Fräulein Benrath wiederkam. Die gnädige Frau war schon ganz unruhig, weil Fräulein Marga doch noch kurz vorher so schlecht gewesen war. Wir dachten schon, dem Fräulein sei wieder was passiert. Und wirklich, sie sah auch zum Bejammern elend aus, als sie dann endlich erschien. Kaum vorwärtsschleppen konnte sie sich. Aber zu Hause bleiben wollte sie doch nicht.“
„Habt Ihr denn nun wenigstens nachher im Kaufhaus ordentlich eingekauft?“ lenkte ich das Gespräch in andere Bahnen.
„O ja. Die gnädige Frau ist ja so gut. Für jeden von uns Stoff zu drei Kleidern,“ riß Beate wieder das Wort an sich.
„Da könnt Ihr ja lachen! – Nebenbei, Lisbeth, legen Sie noch ein Gedeck mehr auf. Ich bleibe zu Tisch hier. – Addio, meine Damen …“ –
Damit verließ ich die Küche und begab mich über den Korridor in den Salon, mit der ausgesprochenen Absicht, womöglich von einem der Polizeibeamten in Erfahrung zu bringen, wie diese über den merkwürdigen Fall dachten.
Das Glück war mir hold. Im Salon fand ich Onkel im Gespräch mit einem Herrn vor, der mir als Kriminalkommissar Hiller vorgestellt wurde. Zum erstenmal sah ich mich einem Vertreter dieser besonderen Spezies von Mensch gegenüber, die in unzähligen Romanen, guten und schlechten, eine hervorragende Rolle spielt.
[57] Kommissar Hiller, mit dem ich – leider! – später noch recht häufig in Berührung kommen sollte, war eine schlanke Erscheinung mit blassem, glattrasiertem Gesicht, dessen Züge nichts Besonderes zeigten – mit Ausnahme der Augen. Diese waren es einzig und allein, die aus dem Manne eine Persönlichkeit machten und ihm überall schnell eine gewisse Überlegenheit sichern mußten. Dunkel und groß, hatten sie die Fähigkeit, die innersten Gedanken ihres Besitzers wie in einem vortrefflichen Spiegel widerstrahlen zu lassen. Sie verliehen dem Gesicht einen eigenen Reiz. Ihre andere, hauptsächlichste Eigenschaft lernte ich erst später kennen …
Ich hatte mich, nachdem Onkel mich mit dem Kommissar bekannt gemacht hatte, in einen Sessel gesetzt und hörte dem Gespräch der Herren, ohne weiter zu fragen, ob ihnen das angenehm war, interessiert zu. Sie behandelten gerade die Frage, wie Schwechten in den Besitz der Schlüssel gelangt sein könnte.
„Ihres Personals sind Sie sicher, Herr Generaldirektor?“ fragte der Kommissar jetzt, indem er in sein Notizbuch blickte, in das er verschiedene Bemerkungen eingetragen zu haben schien.
„Vollkommen. Beide Mädchen dienen seit sieben Jahren bei uns.“
„Es wäre doch immerhin möglich gewesen, daß vielleicht eines der Mädchen zu Schwechten, der als ziemlich gewissenloser Weiberheld bekannt ist, in näheren Beziehungen gestanden und er sich so gelegentlich die Schlüssel verschafft hätte,“ meinte Hiller erklärend.
„Ausgeschlossen, wirklich ganz ausgeschlossen.“
[58] „Dann bleibt noch die zweite Frage offen, Herr Generaldirektor: woher hat Schwechten erfahren, daß Sie Ihr Geld gerade in der Buchatrappe liegen hatten? – Haben Sie vielleicht irgend jemand in dieses kleine Geheimnis eingeweiht?“
Onkel Grunert sann nach. Dann zuckte er plötzlich leicht zusammen.
„Hm, da fäll mir eben ein, daß ich gestern abend aus besonderer Veranlassung unserem Syndikus Rechtsanwalt Müller die[15] Buchatrappe zeigte. – Das dürfte aber wohl kaum von Wichtigkeit sein.“
„Von Wichtigkeit ist in solchem Falle alles. Damit will ich aber nicht etwa gesagt haben, daß Schwechten seine Kenntnis dem als Strafverteidiger rühmlichst bekannten Anwalt verdankt. Außerdem läßt sich ja sehr schnell feststehen, ob Müller und Schwechten sich überhaupt gekannt haben.“
Er machte dabei eine neue, fraglos stenographische Eintragung in sein Notizbuch.
Ich hielt es für ganz angebracht, diesen Moment zu benutzen, um in das Gespräch einzugreifen.
„Würden Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit haben, Herr Kommissar, und mir kurz mitteilen, wie Sie sich diese rätselhafte Auffindung der Leiche des Schauspielers hier in der Wohnung meines Onkels erklären?“ bat ich zuvorkommend. „Sie werden es begreifen, daß die Sache mich als Verwandten lebhaft interessiert.“
„Aber gewiß. – Der Tatbestand ist einfach genug, wenn man zunächst von allen Nebenumständen absieht. In dem Zimmer dort wird heute gegen halb ein Uhr mittags die Leiche eines Mannes mit [59] einer Schußwunde in der Stirn entdeck. Später wird festgestellt, daß aus der Buchatrappe etwa 12 000 Mark geraubt sind. Diesem Geld wird bei dem Toten nicht gefunden. Dafür enthalten seine Taschen zwei Schlüssel, die zu der Haus- und der Korridortür hier passen. Ferner Ausweispapiere, die auf den Namen Ewald Schwechten lauten. Dicht neben der Leiche lag ferner ein Revolver, der Schwechten den Tod gebracht haben dürfte.“
„Also Selbstmord?“ warf ich ein.
Hiller schüttelte den Kopf. „Die Annahme trifft nicht zu. Der Schuß, der den Schauspieler niederstreckte, ist mindestens aus ein Meter Entfernung abgefeuert worden. Das zeigt deutlich der Streuungskegel der Pulverrückstände, die in die Stirn des Toten miteingedrungen sind. Ein Selbstmörder hält sich die Waffe dicht an die Stirn und nicht so weit wie in diesem Falle vom Kopfe ab. Auf die letztere Art würde sich nur ein Kunstschütze treffen können, falls er eben einen Arm besitzt, der, die Hand abgerechnet, eine Länge von einem Meter hätte. Und solche Gliedmaßen findet man nur bei einem Riesen. Schwechten hat aber nur gute Mittelgröße. – Nein, hier liegt Mord vor, vielleicht auch nur Totschlag. Jedenfalls ist der Schauspieler absichtlich von einer dritten Person erschossen worden.“
„Aber wer ist denn dieser geheimnisvolle Dritte, der doch mit Schwechten zugleich in die Wohnung eingedrungen sein muß?“ war meine nächste, so naheliegende Frage.
„Sie sind der Wahrheit mit dieser Bemerkung ziemlich nahe gekommen, Herr Heiking,“ meinte der Kommissar anerkennend. „Auch ich bin der Überzeugung, [60] daß der Schauspieler gemeinsam mit einem Dritten diesen Diebstahl geplant und auch ausgeführt hat. Als beide dann die Banknoten aus der Atrappe mühelos herausgenommen hatten, sind sie wahrscheinlich über der Teilung der Beute in Streit geraten. Und da hat der Genosse Schwechtens sich eben durch einen Mord den ganzen Raub gesichert.“
„Die Lösung leuchtet mir vollkommen ein. – Nur bleibt noch klarzustellen, woher die beiden Einbrecher die Schlüssel sich besorgt und wie sie in Erfahrung gebracht hatten, daß die Wohnung heute vormittag leer war, und daß Onkel sein Geld in der Buchatrappe zu verwahren pflegte. Und das sind, so scheint es mir wenigstens als Laien, recht harte Nüsse.“ Mein Ton hatte vielleicht zum Schluß doch etwas zu spöttisch geklungen. Jedenfalls warf mir der Kommissar jetzt einen Blick zu, in dem deutliches Erstaunen, sogar etwas wie Mißtrauen zu lesen war.
Ich fühlte, daß ich eben eine Dummheit gemacht hatte und suchte diesen schlechten Eindruck schnell zu verwischen, indem ich eifrig fortfuhr:
„Freilich, die Spitzbuben können ja das Haus beobachtet und so gesehen haben, wie die beiden Damen und die Mädchen mit der Elektrischen fortfuhren. Und die Schlüssel – die mag jemand vom Personal gerade verloren haben, als Schwechten oder dessen Genosse hinter der Betreffenden herging. Die weitere Feststellung, zu welcher Wohnung das Schlüsselpaar gehörte, war dann auch nicht allzu schwierig. Man brauchte ja nur der Verliererin zu folgen und Erkundigungen einzuziehen, wo sie in Dienst stand. – Allerdings – für den letzten Punkt, den Verrat [61] des geheimen Tresors, finde auch ich keine Erklärung.“
Auffallenderweise enthielt sich Hiller jeder Erwiderung. Schon während meiner letzten Sätze hatte er wieder eifrig in seinem Notizbuch geschrieben, scheinbar gar nicht mehr auf das achtend, was ich sprach. Dafür hielt aber Onkel Grunert mit seinem Beifall nicht zurück.
„Das hast du eben geradezu glänzend entwickelt, Fred! Allerhand Achtung vor deiner Fähigkeit, derartige Möglichkeiten herauszutüfteln. – Was meinen Sie dazu, Herr Kriminalkommissar?“
„Ich bin ebenfalls überrascht,“ entgegnete Hiller kühl mit undurchdringlichem Gesicht. „Für einen Laien bedeuten diese Kombinationen, die uns Ihr Herr Neffe eben entwickelte, wirklich eine Leistung.“
Hiller wandte sich dann an Onkel mit der Bitte, die beiden Mädchen herbeizurufen, an die er einige Fragen richten wolle.
„Nur um zu sehen, welchen Eindruck sie auf mich machen,“ fügte er hinzu. „Außerdem – es könnte doch auch sein, daß eines der Mädchen, zum Beispiel das Stubenmädchen, einmal beim Staubwischen in Ihrem Zimmer den wahren Zustand des Lexikonbuches durch einen Zufall entdeckt hat, Herr Generaldirektor.“
„Auch diese Möglichkeit können wir getrost ausschalten,“ meinte Onkel mit Überzeugung. „Den Mädchen ist es streng untersagt, mein Zimmer zu betreten. Rein gemacht wird dort nur, wenn meine Frau dabei ist. Das hat seinen guten Grund. Ich kann nicht immer, wenn ich abends noch spät arbeite, alle Papiere und darunter befinden sich häufig [62] Schriftstücke von großer Wichtigkeit – sofort wieder fortpacken. Deshalb habe ich diesen Befehl gegeben, eben um einer geschäftlichen Spionage, die gerade in unserem Betriebe sehr zu fürchten ist, vorzubeugen.“
„Trotzdem muß ich auf meiner Bitte bestehen, Herr Generaldirektor,“ entgegnete Hiller sehr dienstlichen, wenn auch höflichen Tones. „Und zwar möchte ich die Mädchen ohne Zeugen vernehmen. Am einfachsten ist es wohl, wenn ich mich zu diesem Zwecke in die Küche verfüge – mit Ihrer Erlaubnis natürlich.“
„Aber bitte …! – Fred, sei so gut und führe den Herrn Kommissar.“ –
Als ich dann allein in den Salon zurückkehrte, war meinte erste Frage:
„Ist eigentlich die Leiche schon fortgeschafft, Onkel?“
„Gott sei Dank, ja! – Eine scheußliche Geschichte! Ich bin überzeugt, daß jetzt schon die Zeitungsverkäufer aus der Friedrichstraße meinen Namen in Zusammenhang mit diesem ermordeten Schwechten ausschreien und – glänzende Geschäfte machen. So was zieht ja! Blut will die Menge sehen!“
Dann ging Onkel auf ein anderes Thema über, das mir recht wenig angenehm war – auf mein plötzliches Ausscheiden aus dem Geschäftspersonal der Bank. Auch ihm gegenüber brachte ich dasselbe Märchen von dem guten Bekannten vor, der mir in Kairo eine Stellung besorgen wolle.
„Wozu operierst du eigentlich mit solchen durchsichtigen Ausreden, Fred,“ meinte er, mich scharf fixierend. „Dein Chef hat mich heute morgen antelephoniert [63] und mir rundheraus gesagt, daß er – einen Spieler nicht weiter gebrauchen könne und dich deswegen entlassen wollte. Dieser Entlassung bist du zuvorgekommen. Stimmt’s?“
„Leider!“ Die Art meines Onkels, mit Menschen umzuspringen, entwaffnete mich auch heute wieder.
„Und was nun?“ fragte er nach einer Weile.
Ich umging eine direkte Antwort.
„So ganz … gelogen habe ich doch nicht, Onkel,“ suchte ich mich zu verteidigen. „Ich will wirklich ins Ausland. Hier … hier wird nie etwas aus mir.“
Traurig wiegte er seinen grauen Kopf hin und her.
„Das Spiel, das unselige Jeu!“ meinte er seufzend. „Ich habe wahrhaftig Geduld genug mit dir gehabt. Gelohnt hast du mir meine Bemühungen schlecht. Trotzdem - noch ein letztes Mal will ich für dich einspringen. In unserer Filiale in Windhuk brauchen wir einen Kassierer.“ Er betonte das letzte Wort besonders. „Du siehst, ich setze immer noch in dich das Vertrauen, daß du dich zum Guten durchringen wirst. Zeige dich dessen wert. Am 1. Dezember geht die „Woermann“ von Bremen ab. Mit der reist du. Komm morgen zu uns ins Bureau, damit wir den Anstellungsvertrag abschließen.“
Und diesen Mann mit dem goldenen, gütigen Herzen hatte ich bestohlen …?! – Nie war ich mir jämmerlicher, nie verachtenswerter vorgekommen als in diesem Augenblick, wo ich vergebens nach Worten suchte, um ihm zu danken.
[64] Doch er wehrte meine Dankesbezeigungen kurz ab.
„Laß das, Fred. Beweise mir durch die Tat, daß heute ein neues Leben für dich begonnen hat. Das wird mich am meisten freuen. - Noch eins: hast du Schulden? - Du sollst hier nicht fortgehen, ohne auch in dieser Hinsicht reinen Tisch gemacht zu haben.“
Ich zögerte … Sollte ich ihm meine Spielschulden beichten, diese Spielschulden, die ich … mit seinem Gelde hatte bezahlen wollen, mit gestohlenem Gelde …?
Eine Lüge wollte mir nicht über die Lippen. Und hastig, um meinen Entschluß nicht zu bereuen, gestand ich ihm, daß ich letztens an den Leutnant von Lautenborn 8250 Mark verloren hätte, die ich bis heute bezahlen müßte.
Ruhig hörte er mich an. Dann sagte er nur:
„Und woher gedachtest du diese Summe zu besorgen[16]?“
Ich schwieg, schaute zu Boden, während mir das Blut in einer starken Welle ins Gesicht schoß.
Schon fürchtete ich, daß Onkel die Wahrheit ahnte. Erleichtert atmete ich erst auf, als er dann wieder zu sprechen begann:
„Leutnant von Lautenborn …?! Also an den? – Hast du die heutige Morgenzeitung schon durchgesehen, Fred?“
„Nein, Onkel.“ Eine Zentnerlast fiel mir vom Herzen. Die Gefahr war vorüber.
„Nun, dann kannst du auch nicht wissen, daß der Klub Konkordia in der vergangenen Nacht durch die Kriminalpolizei ausgehoben und … Lautenborn [65] als Falschspieler verhaftet ist. Ich habe diesen Artikel mit vielem Interesse heute morgen auf der Fahrt nach dem Bureau gelesen. Ein Stettiner Kriminalbeamter, den niemand von den Mitgliedern der Konkordia kennen konnte, hat sich unter der Maske eines Budapester Großkaufmanns vor vier Wochen in den Klub einführen lassen. Und dem ist die Entlarvung Lautenborns geglückt, der nebenbei nie in seinem Leben Offizier gewesen ist und ebensowenig von Lautenborn heißt. Die Polizei vermutet in ihm einen internationalen Hochstapler, der seit langem für das Zuchthaus reif ist. Deine Spielschulden sind also hiermit getilgt. – Und sonst hast du keine Verbindlichkeiten?“
Ich kam nur noch dazu, den Kopf zu schütteln, denn in demselben Moment erschien der Kommissar in der Tür zum Salon.
Es war doch ein halb fünf geworden, als wir uns endlich zu Tisch setzen konnten. Kommissar Hiller hatte auch noch mit Tante Johanna eine kurze Unterredung gehabt, bevor er sich verabschiedete. Auf Margas Vernehmung verzichtete er, da ihm gesagt wurde, daß die junge Dame sich von den Folgen eines nervösen Schwächeanfalls noch nicht ganz erholt habe.
Bei der Mahlzeit herrschte eine ziemlich gedrückte Stimmung, was nach den Vorfällen dieses Tages nicht weiter wundernehmen konnte. Marga war eigentlich noch die gesprächigste von uns und [66] befand sich in einer seelischen Verfassung, die ein Eingeweihter, wie ich, nur als „verfeinerten Galgenhumor“ bezeichnen konnte. Tante rührte die Speisen nicht an. Der Schreck war ihr so auf die Nerven gefallen, daß sie fraglos längere Zeit gebrauchen würde, um über diese furchtbaren Eindrücke hinwegzukommen. Rührend war es mitanzusehen, wie besorgt mein Onkel um ihr Wohlergehen sich zeigte. Diese beiden alten Leutchen hatten sich trotz der dreißigjährigen Ehe im Verkehr untereinander einen geradezu herzlichen, zärtlichen Ton bewahrt.
„In dieser Wohnung, in der ich mich so wohl fühlte, werde ich nie wieder froh werden, nie wieder,“ meinte Tante Johanna aufseufzend. „Stets werde ich daran denken, daß dort in deinem Zimmer, lieber Rudolf, der Ermordete gelegen hat. Wenn nur unser Mietskontrakt nicht noch zwei Jahre laufen würde! Sonst möchte ich wirklich sofort umziehen.
„Aber, liebes Kind, der Kontrakt darf uns doch nicht abhalten, einen Wohnungswechsel vorzunehmen, wenn dieser zu deinem Wohlbefinden nötig ist,“ wandte Onkel eifrig ein. „Geld spielt doch in solchem Falle keine Rolle. Außerdem ist es ja auch leicht möglich, daß wir die Wohnung anderweit vermieten.“
„So unrecht hast du nicht,“ erklärte Tante, sofort mit Freuden diesen Gedanken aufnehmend. „Jedenfalls will ich mich gleich morgen nach einer passenden Gelegenheit für uns umsehen. Denn auch dir wird dein Arbeitszimmer verleidet sein, Rudolf, nicht wahr? – Außerdem, wir wohnen ja jetzt hier bereits acht Jahre, und in nächster Zeit müßte doch alles renoviert werden. Und so recht herrschaftlich ist die Etage nach den heutigen Ansprüchen auch [67] nicht mehr. Einen Fahrstuhl vermisse ich bisweilen schon recht sehr. Man merkt, daß man alt wird.“
Onkel streichelte ihr zärtlich die welke und doch so zarte, wohlgepflegte Hand.
„Alt! Du und alt …!“ protestierte er lächelnd. „Wer noch so unermüdlich wie du den ganzen Tag über auf den Beinen ist, wer sich noch so vielseitige Interessen bewahrt hat, der ist nie und nimmer alt – höchstens … in gesetzteren Jahren.“
„Besonders, wenn man die Sechzig überschritten hat!“ meinte Tante Johanna mit leiser Wehmut. Und fügte dann hinzu:
„Also sind wir hinsichtlich des Wohnungswechsels einig, nicht wahr?“
„Gewiß. – Du hast ja jetzt in Marga eine liebe Begleiterin bei der Suche nach dem neuen Heim. Und Fred, der erst Anfang Dezember den neuen Posten in Windhuk antritt, kann euch ja ebenfalls bei dieser Aufgabe unterstützen.“
Unwillkürlich hatte ich meine Cousine bei dieser Neuigkeit, die ihr ja ganz überraschend kommen mußte, schärfer angesehen. Und trotzdem sie mit dem Rücken gegen das Fenster saß und ich den Ausdruck in ihren Mienen daher nicht recht genau beobachten konnte, glaubte ich doch ein leises Erschrecken aus ihrem Antlitz herauslesen zu können.
Tante hatte sich überrascht mir zugewandt.
„Also bist du auf Onkels Vorschlag eingegangen, lieber Junge? – Das freut mich aufrichtig. Nur – schon im Dezember sollst du fort? Dann haben wir dich ja kaum noch fünf Wochen hier.“
„Fünf Wochen sind eine lange Zeit, wenn man nichts zu tun hat,“ meinte ich, ohne jedoch meine [68] Arbeitsfreudigkeit herausstreichen zu wollen. „Ich werde mich währenddessen insofern in meinen neuen Wirkungskreis einzuarbeiten suchen, als ich mir ein Spezialwerk über unsere südwestafrikanische Kolonie beschaffen und mich über die dortigen Verhältnisse informieren will.“
„Sehr verständig, Fred, sehr verständig!“ erklärte Onkel, mir mit dem frisch gefüllten Weinglase zuprostend. „Und wenn dir noch Zeit übrigbleibt, so kannst du ja einmal als Amateurdetektiv an diesem rätselhaften Fall, in den du als Verwandter von uns ja indirekt mitverwickelt bist, deine kriminalistischen Fähigkeiten erproben. Theoretisch mußt du ja in dieser Hinsicht recht gut vorgebildet sein.“ Ich merkte nur zu wohl den feinen, aber sicher nicht böse gemeinten Spott, der in diesen Sätzen lag. Onkel spielte hier fraglos auf meine Leidenschaft für kriminalwissenschaftliche Schriften an.
„Die Absicht habe ich auch tatsächlich,“ entgegnete ich etwas vorschnell. „Und ich hoffe sogar bestimmt, das Geheimnis, das ohne Zweifel hinter diesem Morde steckt, aufdecken zu können.“
Kaum waren diese Sätze heraus, als ich es auch schon bitter bereute, sie ausgesprochen zu haben. Denn jetzt sah ich genau, daß Marga plötzlich wie von einem Schwindel gepackt die Augen schloß und schlaff in ihren Stuhl zusammensank.
Um wieder gut zu machen, was ich in meiner Gedankenlosigkeit verfehlt hatte, setzte ich schnell hinzu:
„Man kann ja auch gar nicht wissen, ob hier nicht doch ein Selbstmord vorliegt und ob nicht schließlich ein Unschuldiger für den Tod Schwechtens [69] verantwortlich gemacht wird. Und das will ich verhüten. Die Behörde hat sich schon so oft geirrt.“
Die Wirkung dieses von mir absichtlich derart gefaßten Nachsatzes trat augenblicklich ein. Marga öffnete die Augen, richtete sich auf und trank hastig ihr Glas leer. Über den Rand des grünen Römers aber flossen unsere Blicke für einen Moment in stummer Zwiesprache ineinander. Dankbarkeit, stilles Hoffen lag in Margas Blick. Genau so hatte sie mich am heutigen Tage schon einmal angeschaut. – Und ich nahm mir vor, alles daran zu setzen, um den ohnehin so rätselhaften Tatbestand noch mehr zu verwirren. Marga mußte gerettet werden, mußte. – Denn daß sie und niemand anders in dem Drama in Onkels Zimmer eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte, davon war ich nie so überzeugt wie in diesem Augenblick. –
Onkel Grunert hatte mich erstaunt angeblickt, als ich so völlig ernsthaft von meinem Entschluß sprach, diesem Kriminalfall mehr als nur oberflächliche Aufmerksamkeit zu schenken. Jetzt sagte er daher mit ungläubiger Stimme:
„Wie, Fred, du willst also tatsächlich meine natürlich nur scherzhaft gemeinte Aufforderung von vorhin in die Tat umsetzen? Und weiter, eigentlich muß man ja aus deinen Bemerkungen entnehmen, daß du dir über die Geschehnisse hier bereits ein Urteil gebildet hast, und zwar ein ganz anderes als die Polizei?!“
„Vielleicht, Onkel. – Dringe jedoch bitte nicht weiter in mich. Ich werde mich über diese meine speziellen Gedanken hinsichtlich dieses Mordes, wenn es sich überhaupt um einen solchen handelt, erst [70] dann äußern, wenn ich Gewißheit habe. Vielleicht allerdings auch nie, eben dann, wenn ich einsehe, daß meine Vermutungen unzutreffend sind und ich daher fürchten muß, mich durch deren Bekanntgaben zu … blamieren.“
Ich merkte, daß Onkel meine Absichten noch immer nicht ernst nahm. Er lächelte so eigentümlich vor sich hin. „Vorsichtig bist du, das muß man dir lassen,“ meinte er. „Sich die Rückzugslinie rechtzeitig zu decken, ist auch eine Feldherrnkunst.“
Dann wurde der Nachtisch, eine süße Speise mit Fruchtsauce, aufgetragen. Und alter Gewohnheit gemäß verstummte das Gespräch, so lange Lisbeth noch im Speisezimmer zu tun hatte. Nachher schien niemand Lust zu haben, die Unterhaltung wieder zu beginnen.
Dann hob Tante Johanna die Tafel auf.
„Wie denkst du darüber, Marga, wenn du noch mit Fred einen kleinen Spaziergang machtest,“ fragte sie, als sie ihre Nichte beim Mahlzeitsagen auf die Stirn küßte. „Schaden kann dir die frische Luft nicht. Oder fühlst du dich noch zu matt zum Gehen?“
„Keineswegs. Aber vielleicht hat Fred etwas anderes vor.“
„Wirklich nicht, mir wird es ein Vergnügen sein,“ beeilte ich mich zu versichern. Denn dieses Alleinsein mit Marga kam mir sehr gelegen.
So wanderten wir denn zehn Minuten später nebeneinander die Motzstraße entlang dem Nollendorfplatze zu. Absichtlich sprach ich vorläufig über ganz gleichgültige Dinge. Als wir dann unschlüssig, wohin wir uns wenden sollten, vor dem neuen Gebäude der Cines-Lichtspiele standen, machte ich meiner [71] Begleiterin den Vorschlag, mit der Untergrundbahn bis Bahnhof Heerstraße zu fahren und dann diesen imposanten Verkehrsweg ein Stück in der Richtung nach Spandau hin zu verfolgen.
„Zur Rückfahrt können wir ja ein Auto nehmen,“ fügte ich hinzu, um jede Einwendung, die Tour könne ihr zu anstrengend werden, von vornherein abzuschneiden. Denn hier im Gewühl des großstädtischen Verkehrslebens hätte ich es nie wagen können, das mit Marga zu besprechen, was zwischen uns ins reine gebracht werden mußte, in unser beider Interesse.
Nur zögernd willigte sie ein. Aber noch im letzten Augenblick, als ich eben die Fahrkarten lösen wollte, sagte sie ängstlich: „Wird es draußen im Freien nicht zu dunkel werden? Es ist schon so spät.“
„Die Heerstraße ist bis weit hinter Westend taghell erleuchtet,“ beruhigte ich sie, und forderte zwei Billetts. Ich ahnte ja – sie fürchtete das Alleinsein mit mir aus anderen Gründen, fürchtete meine Fragen, die ihr neue Qualen bereiten würden und die ich doch nicht unterlassen konnte.
Dann waren wir allein auf dem linken Fußgängerweg der breiten, nach dem Truppenübungsplatz Döberitz führenden Straße. Nur selten begegnete uns ein Spaziergänger oder ein Trupp Arbeiter, die ihrem Heim zustrebten.
An vielen kleinen Anzeichen merkte ich, daß Margas Nervosität von Sekunde zu Sekunde stieg. Mit krampfhafter Lebendigkeit suchte sie das Gespräch in Fluß zu halten.
Schließlich vermochte ich doch nicht länger mit [72] dem zurückzuhalten, was mein ganzes Denken in Anspruch nahm.
„Marga,“ sagte ich leise, als gerade ein vorüberratterndes Lastautomobil sie zu kurzem Schweigen gezwungen hatte, „spielen wir doch keine Komödie voreinander. Wir beide sollten nach diesen Tagen doch besseres zu tun haben, als uns mit solchem Ballsaalgesprächen zu langweilen. – Haben Sie mir wirklich nichts, gar nichts anzuvertrauen, Marga – mir, der ich Ihnen hier nochmals verspreche, daß ich treu zu Ihnen halten will bis zum … Äußersten.“
Ihr Kopf sank noch tiefer. Und der breitkrempige Winterhut mit der bei jedem Schritt taktmäßig wippenden Feder verbarg mir jetzt ihr Gesicht so weit, daß ich nur gerade noch die Spitze ihrer schmalen, rassigen Nase und die Stirnwelle ihres reichen Haares sah. Eine ganze Weile wartete ich vergeblich auf Antwort. Dann klang es leise, kaum vernehmlich zurück:
„Lassen Sie doch diese unselige Geschichte ruhen, Fred, bitte, bitte.“ Und noch leiser fügte sie hinzu, so zögernd, daß ein jeder das Unwahre dieser Äußerung herausgemerkt hätte. „Im Grunde geht uns der … der Unglücksfall doch gar nichts an.“
Im ersten Augenblick war ich so betroffen von dieser Antwort, daß ich ihren Sinn gar nicht rechte begriff. Dann verstand ich alles. Marga wollte ihre Taktik ändern. Das durfte nicht sein! Zu viel stand für sie und mich dabei auf dem Spiel. Die Möglichkeit, daß die Polizei doch noch die Wahrheit aufdeckte, war immerhin vorhanden. Bisweilen hilft ein Zufall ja so merkwürdig schnell [73] den Behörden auf die rechte Fährte. Und sollte ich warten, bis dieser Zufall eintrat und ich nichts mehr ändern konnte an dem, was dann kommen mußte …?! – Niemals, niemals!
Und so sagte ich, während ich unwillkürlich meinen Arm in den ihren schob und sie sanft an mich zog, beschwörenden Tones:
„Marga, meinen Sie denn wirklich, ich hätte den Blick nicht verstanden, den Sie mir heute im Treppenflur zuwarfen, als Sie halb ohnmächtig an der Wand lehnten und ich Ihnen zuflüsterte, Sie könnten auf meine Hilfe bauen, diesen Blick, in dem tiefe Dankbarkeit wie ein befreiender Schimmer aufleuchtete …? Glauben Sie, ich hätte nicht sehr bald erraten, weshalb Sie sich auf unserer Spazierfahrt heute vormittag so sehr dagegen sträubten, allzu schnell in das Haus unserer Verwandten zurückzukehren?“
Und dann setzte ich alles auf eine Karte, gedachte sie geschickt zu überrumpeln …
„Ich weiß, daß Schwechten der Bettler war, der Sie so sehr erschreckte, weiß, daß Sie ihn in Onkels Zimmer einließen und dort verbargen, um nachher nochmals dorthin zurückzueilen, weil Sie … Ihr Handtäschchen angeblich vergessen hatten.“
Der Erfolg dieser Worte war ein anderer, als ich erwartet hatte. Mit einem Ruck befreite sie sich von mir, trat zur Seite und sagte hocherhobenen Kopfes:
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Fred. Und nochmals bitte ich Sie, verschonen Sie mich mit Andeutungen, deren Sinn ich nicht begreife und [74] auch gar nicht begreifen will. Ich bin müde, kehren wir um.“
Einen Moment war ich nahe daran, an mir selbst irre zu werden, und die mir bereits Vorausgeeilte mit wenigen Schritten einholend, sagte ich mit Nachdruck:
„Möge nie der Tag kommen, Marga, wo Sie es bereuen, heute hier die hilfreiche Hand eines aufrichtigen Freundes zurückgestoßen zu haben. Daß ich trotzdem weiter über Ihnen wachen werde, können Sie mir nicht verwehren.“
Keine Antwort. Schweigend gingen wir bis zum Bahnhof Heerstraße nebeneinander her. Und erst im Untergrundbahnzuge, wo das stille, in sich gekehrte Paar nur aufgefallen wäre, begann sie wieder von Dingen zu plaudern, die sicher uns beiden in dieser Stimmung mehr als gleichgültig waren.
Ich brachte Marga bis an die Haustür und verabschiedete mich dann. Als ich bereits den kleinen Vorgarten durchquert hatte, rief sie mich nochmals zurück. Sofort war ich wieder neben ihr.
„Sie wünschen?“
„Fred – ich –“ Sie suchte nach Worten. Im Schein des Laternenlichtes sah ich, daß ihre Augen feucht schimmerten. Und in ihren Mienen spiegelte sich deutlich ein schwerer Seelenkampf wider.
„Haben Sie doch Vertrauen zu mir, Marga,“ bat ich wieder, um ihr ein Geständnis, das erlösende Wort leicht zu machen.
Es sollte nicht sein. Plötzlich wandte sie sich um, stieß die Tür auf und flüchtete eilig die Treppe empor.
[75] Traurig schaute ich ihr nach. Was hatte ich alles von diesem Alleinsein mit Marga gehofft, und was hatte ich erreicht? Nichts, nichts!
Mutlos schritt ich meiner Wohnung zu. Sieben Uhr abends war es, als ich in meinem bescheidenen Junggesellenheim anlangte.
Was nun? – Ein plötzlicher Gedanke. Wahrhaftig, über der Sorge um Marga hatte ich meinte eigenen Angelegenheiten völlig vergessen.
Sorgfältig überzeugte ich mich, ob die Vorhänge vor meinen Fenstern auch ganz dicht schlossen. Dann verriegelte ich meine Tür und hängte zur Vorsicht über das Schlüsselloch mein Taschentuch.
In dem kleinen Kabinett stand zu Füßen des Bettes mein Reisekoffer. Den öffnete ich jetzt, nahm eine kleine, unter Wäschestücken verborgene Stahlkassette heraus und stellte sie in mein Zimmer auf den Schreibtisch. Den Schlüssel dazu trug ich an meiner Uhrkette.
Jetzt erst fielen mir all die Schwierigkeiten ein, die mit der Rücksendung des meinen Onkel so schändlicher Weise gestohlenen Feldes verknüpft waren. Wie sollte ich es nur anstellen, daß auch nicht die Spur eines Verdachtes auf mich als den Absender fiel? Wie sollte ich besonders die beiden Geldrollen verpacken, die ich den Banknoten beifügen mußte? Es ging nicht anders, ich mußte den Raub, bei dessen Anblick mir jetzt die Röte heißer Scham ins Gesicht stieg, als Paket irgendwo aufgeben.
Eine Pappschachtel, in der ich einmal ein Paar Stiefel zugeschickt erhalten hatte, glaubte ich für meine Zwecke am besten geeignet. Den Firmenaufdruck [76] und alle sonstigen Merkmale, die irgendwie zum Verräter hätten werden können, kratzte ich mit dem Messer aus. Dann wickelte ich die Banknoten in einige neue weiße Bogen Schreibpapier und drückte das Bündel in die Schachtel hinein.
Ebenso vorsichtig verfuhr ich auch weiter, so daß ich, als das Paket bis auf die Adresse fertig war, annehmen konnte, nichts verabsäumt zu haben, um meine Person vor einer Entdeckung zu schützen.
Die Adresse herzustellen, war eine zeitraubende Arbeit. Ich besaß einen Typendruckapparat, wie er in jeder Schreibwarenhandlung für billiges Geld zur Zusammensetzung eines beliebigen Stempels zu haben ist. Mit Hilfe der einzelnen Gummitypen brachte ich die Adresse endlich zustande, die wie mit einer schlechten Schreibmaschine geschrieben aussah. Die Hauptsache – in meiner eigenen Handschrift stand auch nicht ein Wort darauf.
Dann suchte ich mir aus meinem Kleidervorrat[17] eine alte Lodenpelerine heraus, hing sie um, stülpte den grauen, breitrandigen Filzhut, den ich vormittags bei meinem schmachvollen Streich getragen hatte, auf den Kopf und verließ mein Zimmer. Nicht genug damit, trieb ich die Vorsicht sogar so weit, in der nächsten Straße ganz schnell in eine gerade vorbeikommende leere Autodroschke zu springen und dem Kutscher irgend eine Hausnummer der Potsdamerstraße zuzurufen. Kaum hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt, als ich auch schon durch das Fensterchen in der Hinterwand zurückschaute. Ich bemerkte nichts auffälliges. Schon wollte ich mich beruhigt in die Polster fallen lassen, als ich weit hinten einen an der Bordschwelle des Bürgersteiges [77] gerade unter einer Laterne stehenden Herrn erblickte, der eifrig einem Taxameter zuwinkte. Doch schon bog mein Auto um die nächste Ecke. Vor uns war die Bahn frei. In sausender Fahrt rasten wir dahin. Ich atmete erleichtert auf. Selbst wenn jener Herr ein Kriminalbeamter gewesen war, ich mußte ihm entschlüpft sein.
Von der Potsdamer Straße fuhr ich mit einer Straßenbahn weit nach Schöneberg hinein. Und hier wagte ich es dann, das Paket auf dem nächsten Postamt aufzugeben.
So weit ich mein Verbrechen überhaupt noch gutmachen konnte, hatte ich es getan. Ich wurde ruhiger, als ich mich des gestohlenen Geldes wieder entledigt hatte. Noch etwas hatte ich zu besorgen, bevor die Zeit des Geschäftsschlusses da war. Mein Geld hatte ich bis auf den geringen Rest von fünf Mark ausgegeben. Ich mußte mir fürs erste irgendwie zu helfen suchen. Und so trug ich meine goldene Uhr, ein Geschenk Onkel Grunerts, zum Pfandleiher.
Ich nickte nur. – – 45 Mark –!! Und vorgestern hatte ich noch Tausende verspielt! – Mir war’s, als ob jene Zeit mit ihrem sinnlosen Tun weit, weit hinter mir lag. Zuviel neue, eindrucksvolle Ereignisse hatten sich zwischen das Einst und das Jetzt gedrängt. Ich wußte, ich war ein anderer geworden in dem Augenblick, wo mir die Erkenntnis aufdämmerte, daß ein armes, gepeinigtes Weib in einer Herzensnot denselben Pfad beschritten hatte, auf den ich aus freventlichen Leichtsinn gedrängt worden war – den des Verbrechens! Wußte, daß meine Liebe zu Marga, meine Angst um ihr Schicksal mit einem Schlage mein Herz von all den [78] Schlacken befreit hatte, die fortzuräumen ich vorher nie die Energie finden konnte. Und diesem Gefühl der Erlösung, das mich gerade hier in dem Laden des Pfandleihers mit so überzeugender Mächtigkeit überkam, erfüllte mich mit froher Zuversicht und spiegelte mir Bilder einer glücklichen, geläuterten Zukunft vor, Bilder, in denen Marga immer und immer wieder auftauchte.
In einem nahen einfachen Restaurant, wo mich kein Mensch kannte, nahm ich mein bescheidenes Abendessen ein und ging dann zu Fuß den weiten Weg durch die stiller und stiller werdenden Straßen nach Hause. Die Hoffnung schritt neben mir, ich träumte mit offenen Augen weiter meine Träume des Glücks.
Und was fand ich daheim auf meinem Schreibtisch vor, was versetzte mich wieder zurück in die Gegenwart mit ihren Schrecken, die zu bannen mir vielleicht doch die Kraft, die Verschlagenheit fehlen würden –?!
– – eine Vorladung zu morgen neun Uhr früh auf das Polizeipräsidium war’s. „In einer Ermittelungssache“ stand darüber. Weiter nichts –.
Eine Stunde später warf ich am Reichtagsufer das Kästchen mit den Gummitypen, auch den Stempel, in die Spree. Diesen Gegenständen folgte der graue Filzhut, den ich unter der Pelerine versteckt mitgenommen hatte. So glaubte ich alles beseitigt zu haben, was mir Gefahr bringen konnte.
Nach einer größtenteils schlaflos verbrachten Nacht erhob ich mich bereits zu früher Stunde, kleidete mich an, trank Kaffee und machte mich dann zu Fuß auf den Weg nach dem Alexanderplatz, wo der Riesenbau des Polizeipräsidiums mit seiner mächtigen Front drohend emporragt. Ich hoffte, daß der Spaziergang, der mich vom Westen, dem neuen Wohnviertel Berlins, stundenweit durch die Straßen bis in jene Stadtteile führte, wo man noch kleine, verräucherte Häuschen, die Überbleibsel einer längst entschwundenen Zeit, antrifft, wenigstens etwas erfrischen würde. Aber dieses Gefühl völliger geistiger und körperlicher Erschlaffung wollte nicht weichen. Vielleicht war die Ungewißheit vor dem Kommenden daran schuld. Immerfort zermarterte ich mir den Kopf, zu welchem Zweck man mich in jenen düsteren Bau bestellt habe, von dem aus der Kampf gegen das Verbrechen in seiner vielfachen Gestalt mit all’ den unzähligen Mitteln, die der Polizei zu Gebote stehen, geleitet wird. Was konnte man von mir wollen, was –? In welcher Sache war ich vorgeladen? Handelte es sich um den entlarvten Falschspieler Lautenborn – und dies hoffte ich ja! – oder etwa um den geheimnisvollen Tod Schwechtens? War etwa schon jener von mir befürchtete Zufall der Behörde zu Hilfe gekommen und sollte ich nun behilflich sein, die noch losen Fäden zu einem Netz zu vereinen, in dem man die zu fangen gedachte, der jetzt all meine sorgenden Gedanken gehörten –?
Ich vermochte mir hierüber keine Klarheit zu verschaffen, so sehr ich auch alle Möglichkeiten nach [80] jeder Seite hin beleuchtete und gegeneinander abwog.
Zimmer 92, auf dem ich mich einfinden sollte, lag im Hofgebäude. Ich mußte verschiedentlich fragen, ehe ich vor die richtige Tür gelangte, an der ein weißem Pappschild mit einer gedruckten Aufschrift hing.
Ich las – las nochmals. Leuchtende Sternchen tanzten mir vor den Augen; ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß auf die Stirn trat.
Kriminalkommissar Hiller“. So sehr ich auch wünschte, daß ich mich verlesen hätte, so oft ich auch von neuem hinblickte, die Aufschrift blieb.
Kein Zweifel – der Fall Schwechten war’s, bei dessen Aufklärung ich mithelfen sollte! Der Kampf begann –. Aber in welch’ trauriger Verfassung mußte ich ihn aufnehmen –? So gut wie wehrlos! Heute, in diesem Zustande, mußte ich mich ja verraten. Mein Hirn würde heute nie und nimmer die blitzschnelle Gedankenarbeit leisten, die dazu gehörte, um mich durch all die Fragen, die meiner warteten, glücklich hindurchzuwinden. – Nie[18] und nimmer! Würde mich nicht schon mein verstörtes Aussehen verraten, mein unsicherer, ängstlicher Blick, meine nervös zuckende Hand – –? Und ich, der schon vor dieser Vernehmung zurückbebte, der nicht die Tatkraft besaß, sich aufzuraffen, ich verblendeter Tor hatte noch gestern morgen gedacht, dem Gesetz, der Gesellschaft den Krieg erklären zu können –!! Welcher Wahnwitz war das gewesen, welch lächerliche Selbstüberschätzung! – –
Unschlüssig stierte ich noch immer auf den einen Namen hin. Sollte ich umkehren, mich durch Krankheit entschuldigen lassen – –? Und was würde [81] dann geschehen? Hiller käme zu mir in meine Wohnung – –, und nichts änderte sich, nichts –!
Dieser Kelch ging nicht an mir vorüber, ich mochte versuchen, was ich wollte.
Und dann saß ich dem Kommissar in dem nüchternen, nach Aktenstaub und Zigarrenqualm riechenden Zimmer gegenüber.
Er hatte mich mit gemessener Liebenswürdigkeit, wenn auch nicht unfreundlich, begrüßt.
„Legen Sie nur ab, Herr Heiking,“ hatte er gesagt und auf den Kleiderständer in der Ecke gezeigt. „Unsere Unterredung dürfte doch eine ganze Weile dauern, und hier im Zimmer ist’s ziemlich warm.“
Nun erwartete ich, daß er beginnen sollte. Aber er ließ sich Zeit. Das breite Fenster hatte er im Rücken, während mich das durch den großen Fensterspiegel verstärkte Tageslicht unbarmherzig hell beschien. Nur der mit Papieren bedeckte Tisch trennte uns.
Hiller blätterte in einem dünnen Aktenstück, das nur aus wenigen zusammengesetzten Blättern bestand. Dieses Warten bereitete mir Folterqualen. Meine Hände wurden feucht vor innerer Erregung. Unruhig veränderte ich alle Augenblicke meine Stellung auf dem harten rohrgeflochtenen Stuhl. Schießlich vermochte ich diese Pein der Ungewißheit nicht länger zu ertragen.
„Verzeihung, Herr Kriminalkommissar, in welcher Sache soll ich eigentlich vernommen werden? Auf der Ladung stand nichts näheres darüber.“ Das sollte recht harmlos klingen, und doch merkte ich, wie seltsam gepreßt diese Worte sich über meine Lippen drängten.
[82] Hiller schaute auf. Seine Augen waren fast freundlich, als er dann gelassen fragte:
„Sollten Sie das nicht wissen, Herr Heiking?“
Ich nahm all meinen Mut zusammen, all meine Verstellungskunst.
„Sie haben recht,“ erwiderte ich, seinem Blick ruhig begegnend, „es kann sich ja nur um den Falschspieler Lautenborn handeln.“
Wie sehr hatte ich doch gestern diese Augen unterschätzt, die sich jetzt förmlich in die meinen einborten mit einem Ausdruck, der etwas so Bezwingendes an sich hatte, daß mir plötzlich die helle Röte ins Gesicht schoß und ich verlegen den Kopf senken mußte, so sehr ich auch gegen diese verräterischen Anzeichen ankämpfte und meine scheinbar gleichgültige Haltung zu bewahren suchte. Unter dem Banne dieser Augen war ich machtlos, vollkommen machtlos.
Und dann antwortete Hiller, indem er sich wieder über sein Aktenstück beugte: „Gewiß – über Lautenborns alias Mellschewskis – denn letzteres ist sein richtiger Name, wie wir jetzt festgestellt haben, Falschspielerkünste wollen wir uns unterhalten.“
Wie von Bergeslast befreit atmete ich auf. Nur um Lautenborn gings also! Zuversichtlicher blickte ich daher wieder zu dem Kommissar hinüber, der sich jetzt in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und einen Bleistift spielend durch die Finger zog.
„Ja, über Mellschewski – wenigstens vorläufig, Herr Heiking,“ sagte er dann langsam, als ob er seine letzte Äußerung richtigstellen wollte. Und abermals saugte sich sein forschender Blick in meinen Mienen fest, abermals schien er mir auf dem Grunde der Seele lesen zu wollen.
[83] Und dieses eine Wort, dieses für mich so schwerwiegende „vorläufig“ verwandelte meine schnell aufgetauchte Hoffnungsfreudigkeit wieder in eine wilde Jagd von nur zu begründeten ängstlichen, wirren Gedanken. Jetzt merkte ich, die Szene, die der Kriminalkommissar hier in seiner überlegenen Ruhe mit mir aufführte, war nichts als ein grausames Spiel, um auch den letzten Rest von Widerstandskraft in mir lahmzulegen, ein richtiges „Katze und Maus-Spiel“, bei dem ich das bedauernswerte Opfer darstellte.
Und nun kamen die Fragen Schlag auf Schlag, oft scheinbar ohne jeden Zusammenhang, und doch sicher jede einzelne schlau berechnet.
„Sie haben häufig mit Mellschewski allein hasardiert?“
Schon diese erste Frage zeigte mir, wie gut der Kommissar über die Vorgänge[19] in der Konkordia unterrichtet war. Freilich - damit hatte ich von vornherein gerechnet. Es war eben nur zu sehr bekannt, daß ich zu den eifrigsten Besuchern der Klubräume gehörte, und fraglos hatten schon Vernehmungen von anderen Mitgliedern stattgefunden.
„Sechs oder sieben Mal,“ erwiderte ich offen.
„Stets mit Verlust?“
„Zweimal gewann ich kleinere Summen.“
„Was spielten Sie?“
„Vingt et un zumeist, auch Meine Tante Deine Tante.“
„Mit wem war dieser Lautenborn befreundet? Können Sie darüber etwas angeben, Herr Heiking?“
„Bedaure. Ich bin mit ihm fast nur im Klub zusammengewesen.“
[84] „Gehörte der Schauspieler Schwechten ebenfalls zu den Mitgliedern der Konkordia?“
„Nein. – Wenigstens habe ich ihn nie im Klub angetroffen.“
„Kannten Sie Schwechten persönlich?“
Zum erstenmal zögerte ich mit der Antwort. Das war töricht. Weshalb sollte ich denn nicht zugeben, daß ich ihn bei Lautenborn kennengelernt hatte …?
„Ja, aber nur ganz oberflächlich,“ erwiderte ich schnell. „Ich traf ihn einmal bei Lautenborn. Und dort wurde ich ihm vorgestellt.“
„Welchen Eindruck machte Schwechten auf Sie?“
„Seine Person übte einen eigenartigst Zauber auf mich aus. Trotzdem lag etwas in seinen Augen, das mich wieder abstieß.“
„Waren Sie des öfteren in Melschewskis Wohnung?“
Ich dachte einen Augenblick nach. „Nur zweimal, soweit ich mich besinne.“
„Und wann zum letztenmal.“
„Vorgestern um die Mittagsstunde,“ entgegnete ich der Wahrheit gemäß.
„Zu welchem Zweck?“
Ich stutzte unwillkürlich. Die Frage hatte ich nicht erwartet. Sollte Heller auch bereits von meinen letzten Spielverlusten etwas erfahren haben? Woher aber nur? Ich hatte doch zu keinem Menschen darüber gesprochen, und Lautenborn würde sich ebenfalls gehütet haben, das Ergebnis unseres damaligen Spielchens auszuplaudern! – Vielleicht wollte der Kommissar mich auch nur aushorchen, [85] ohne etwas Bestimmtes zu wissen. Ich suchte ihn also mit einer nichtssagenden Antwort abzufinden.
„Einen Zweck verfolgte ich mit diesem Besuche nicht. Ich kam gerade an Lautenborns Haus vorüber und wollte mal nachsehen, wie es ihm ging.“
„So …?!“ Der Ton sagte mir genug. Hiller bezweifelte die Wahrheit dieser meiner Erklärung, fuhr trotzdem aber fort, ohne weiter darauf einzugehen.
„Einer der Klubdiener hat ausgesagt, Sie hätten mit Mellschewski in einer der letzten Nächte bis drei Uhr morgens gespielt. Wieviel haben Sie damals verloren? Und wie gedachten Sie, Ihre Spielverluste zu tilgen?“ …
Jetzt erst fiel es mir wie Schuppen von den Augen, jetzt erst merkte ich, daß es hier nicht allein galt, Marga zu schützen, sondern daß es sich weit mehr um meine eigene Sicherheit handelte. Fraglos hegte Hiller irgendeinen Verdacht, daß meine Person bei dem Diebstahl des Geldes aus dem Arbeitszimmer meines Onkels irgendwie beteiligt war, fraglos …! Und dann – dann schoß mir urplötzlich ein neuer Argwohn durch den Kopf, der ja bei der ganzen Sachlage nur zu berechtigt war: hielt man mich etwa gar für den Mörder Schwechtens … mich? Dann befand ich mich in einer geradezu furchtbaren Situation …! Wie sollte ich meine Unschuld beweisen, wenn ich nicht den wahren Tatbestand aufdeckte…?! Und das – nein, das würde ich nie tun, nie und nimmer!
Hillers Stimme schreckte mich auf, diese sich stets gleichbleibende Stimme, die jetzt sagte: „Sie sind plötzlich sehr blaß geworden. Ist Ihnen nicht gut? [86] – Darf ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser anbieten?“
„Nur ein augenblicklicher Schwindelanfall … Ich leide häufiger daran,“ stieß ich matt hervor.
Und gierig trank ich das Glas leer. –
Weiter ging dann die Qual. Mein Feind kannte kein Erbarmen.
„Also, Herr Heiking, wie war’s denn nun mit dem letzten Spielverlust?“ fragte er nochmals.
„Genau kann ich die Summe nicht angeben. Wir wollten, da wir unbar gespielt hatten, unsere Bons erst am folgenden Tage aufrechnen.“
„So …?! Dürfte Sie in dieser Beziehung Ihr Gedächtnis nicht etwas im Stich lassen? - Gestern nachmittag sprachen Sie zu Ihrem Herrn Onkel doch von 8250 Mark, die Sie verloren hätten!“
Ich atmete schwer. Und unfähig, diese Marter länger aufzuhalten, rief ich verzweifelt:
„Ja – es waren 8250 Mark …! – Aber nun erklären Sie mir endlich, was diese Fragen bezwecken …?! Sonst antworte ich überhaupt nicht mehr …!“
„Das würde mir leid tun, denn dann müßte ich Sie verhaften,“ meinte Hiller, mißbilligend den Kopf schüttelnd. Und setzte in freundlich überredendem Tone hinzu:
Nehmen Sie doch Vernunft an, Herr Heiking. Ich muß die Wahrheit herausbekommen, was gestern in der Wohnung Ihres Herrn Onkels passiert ist. Und ich werde diesen Fall auch aufklären, glauben Sie mir! Wäre es da nicht besser, Sie legten ein unumwundenes Geständnis ab?“
[87] „Ich habe nichts zu gestehen,“ erwiderte ich dumpf.
„Ihr Aussehen, Ihr ganzes Verhalten straft Sie Lügen. – Doch – wie Sie wollen …! – Gedenken Sie, meine Fragen auch fernerhin zu beantworten oder nicht?“
„Soweit ich dazu imstande bin, ja!“
„Aber – versuchen Sie es nicht nochmals mit Ausflüchten! Ich weiß mehr, als Sie ahnen. Sie verschlimmern sonst Ihre Lage unnötig.“
Das war deutlich. Aber trostloser, als meine Stimmung schon war, konnte sie nicht mehr werden.
„Besitzen Sie einen hellbraunen, langen Ulster aus flockigem Stoff?“ begann der Kommissar wieder.
Was hätte Leugnen geholfen?! – Ich sah, ich entging dem Verhängnis nicht mehr.
So nickte ich nur ganz mechanisch.
„Und wann haben Sie dieses Kleidungsstück zum letztenmal getragen?“
„… Gestern – gestern vormittag.“
Die Kehle war mir wie ausgetrocknet. Ich konnte die Worte nur noch mühsam hervorquälen.
Der.Kriminalkommissar beugte sich jetzt weit über den Tisch. Seine dunklen, lebhaften Augen richteten sich mit einem Ausdruck von warmer Teilnahme auf mich.
„Herr Heiking,“ sagte er langsam und fast gütig, „für einen Verbrecher halte ich Sie nicht. Und doch stehen Sie in dem Verdacht, bei dem im Hause Ihres Onkels verübten Morde irgendeine Rolle gespielt zu haben. Ich rate Ihnen jetzt nochmals, verhehlen Sie mir nichts, was Sie darüber wissen. [88] Sie werden ja wohl schon aus meinen Fragen herausgemerkt haben, daß Ihr gestriger heimlicher Besuch bei Ihren Verwandten entdeckt ist. – Sprechen Sie …! In welcher Absicht waren Sie in der Wohnung Ihres Onkels, bevor Sie sich mit den Damen des Haus dann im W.schen Kaufhause trafen?“
Ich blieb still. Meine Angst war einer bitteren Verbissenheit gewichen. Mochte die Polizei doch versuchen, die Wahrheit herauszufinden. Ich würde fortan schweigen, und keine Macht der Welt sollte mich zum Reden zwingen, – wenigstens so lange nicht, bis ich wußte, daß ich durch meine Antworten nicht auch Marga mit in diesen unseligen Kriminalfall hineinzog.
Eine Weile verstrich. Hiller wartete geduldig. Dann, als er einsah, wie nutzlos seine Vorstellungen gewesen waren, drückte er auf den auf der Tischplatte befestigen Knopf der elektrischen Klingelleitung.
Nach einigen Minuten – der Kommissar hatte inzwischen ein anderes Aktenstück durchgesehen und sich jetzt nicht weiter um mich gekümmert – erschien ein Schutzmann in blauer Dienstlitewka und fragte nach Hillers Befehlen.
„Sehen Sie unten im Wartezimmer nach, ob Frau Menking bereits da ist,“ befahl Hiller kurz. „Die Dame möchte sich dann sofort herbemühen.“
Der Schutzmann verschwand wieder. –
Menking –? Menking –? – Der Name klang mir so bekannt. Wo hatte ich ihn doch nur schon gehört –?! War’s etwa Lautenborns Wirtin? Oder … – Plötzlich kam ich auf das Richtige: [89] Menking hieß ja die ältere, kinderlose Witwe, die Grunerts Flurnachbarin war und die die zweite, kleinere Wohnung von fünf Zimmern in derselben Etage innehatte. Ich war der Dame einige Male auf der Treppe begegnet, wenn ich zu meinen Verwandten ging. – Was hatte der Kommissar vor? Wollte er mich vielleicht Frau Menking gegenüberstellen? Hatte diese mich etwa gesehen, wie ich in dem braunen Ulster und mit der Brille vor den Augen hinter der Grunertschen Korridortür verschwand? –
Es klopfte. Die alte, vornehm aussehende Dame trat ein. Hiller hatte sich erhoben und ihr zuvorkommend einen Stuhl an den Tisch gerückt.
„Gnädige Frau,“ begann er dann, „Sie haben uns gestern abend einen für uns sehr wichtigen Brief zugeschickt, woraufhin wir Sie dann ersuchten, sich heute hier einzufinden. Ich möchte Ihnen dieses Schreiben nochmals vorlesen, damit Sie vielleicht noch hinzufügen können, was Ihnen inzwischen noch eingefallen ist.“
[90] mir zum ständigen Aufenthalt dient und das die rechte Seitenwand mit dem nebenliegenden Raume der Nachbarwohnung gemeinsam hat. Diese Wand ist ziemlich stark, so daß Geräusche nur selten hindurchdringen. Trotzdem hörte ich gestern kurz nach zehn Uhr einen deutlichen Knall in jenem Zimmer der Grunertschen Wohnung, den ich auf das Umfallen irgendeines Möbelstückes zurückführte. Etwa eine halbe Stunde später befestigte ich dann gerade an meiner Korridortür mit Hilfe von Fischleim das kleine Leinenläppchen, das das Guckloch der Tür von innen verdeckt und das sich losgelöst hatte, als ich Schritte auf der Treppe vernahm und nun ganz unwillkürlich einen Blick durch das Guckloch in den Flur warf. Ich bemerkte einen schlanken, in einen hellbraunen, aus flockigem Stoff gefertigten Ulster bekleideten Herrn, der bis zur Grunertschen Korridortür ging und sich dort anscheinend vorsichtig nach allen Seiten umschaute. Gerade durch dieses fast ängstliche Umherspähen fiel mir der Fremde auf. Leider rief mich in demselben Moment eines meiner Mädchen an. In der kurzen Zeit, die ich dazu brauchte, die Frage des Mädchens zu beantworten, war der Fremde verschwunden. Ich hörte jedoch noch deutlich das Einschnappen des Türschlosses, so daß ich überzeugt war, der Fremde müsse sich jetzt in der Grunertschen Wohnung befinden. Wer ihm geöffnet hat, beziehungsweise auf welche Art er eingedrungen ist, vermag ich nicht anzugeben. Jedenfalls hat der Unbekannte nicht geläutet. Das hätte ich hören müssen. – Da ich die kleine Arbeit inzwischen vollendet hatte, begab ich mich in mein Zimmer zurück, ohne mich weiter um den Betreffenden zu kümmern.
[91] Ich wußte ja damals noch nicht, daß in der Grunertschen Wohnung niemand von den Herrschaften und Dienstboten zu derselben Zeit anwesend war. Sonst hatte ich natürlich sofort Lärm geschlagen. Diese meine Beobachtungen – der Knall im Nebenzimmer und das Verschwinden des Herrn im braunen Ulster in der Tür meiner Nachbarn – gewannen erst eine erhöhte Bedeutung, als mir dann Näheres über den bei Grunerts aufgefundenen Toten bekannt wurde. In dem Bericht der gestrigen Abendzeitung fand ich erwähnt, daß die Grunertschen Damen sowie die beiden Mädchen die Wohnung bereits gegen zehn Uhr vormittags verlassen hätten und die Köchin und das Stubenmädchen erst gegen ein halb eins zurückgekehrt wären. Ferner war in der Beschreibung des ermordeten Schwechten ein hellgrauer, kurzer Sportpaletot genannt, den dieser angehabt hatte, als ihn die tödliche Kugel traf. Diese beiden Einzelheiten brachten mich notwendig auf die Vermutung, daß sich während der Abwesenheit meiner Nachbarn zwei Männer Zutritt zu der Wohnung verschafft hatten – eben der Schauspieler und der von mir beobachtete Fremde im braunen Ulster. Da ich diese Tatsache für ziemlich wichtig halte, werde ich diesen Brief sofort durch einen Boten an das Präsidium übermitteln lassen. Falls meine mündliche Vernehmung notwendig sein sollte, stelle ich mich im Interesse der baldigen Anfklärung des Falles der Behörde gern zur Verfügung.
So lautete der in das dünne Aktenstück eingeheftete Brief, dessen Inhalt ich mit wildklopfendem Herzen in mich aufnahm. – … Der Herr im braunen Ulster …!! – Also war all meine Vorsicht durch einen Zufall zunichte gemacht worden! Nun brauchte die Polizei nur bei mir eine Haussuchung abhalten und den im Schrank hängenden Ulster finden, dann war ich verloren, rettungslos verloren! Wenn sich mir nur noch eine Gelegenheit bieten würde, ihn zu beseitigen …! Und – warum hatte ich es nicht schon gestern getan, als ich den auffallenden hellgrauen Hut und das Typenkästchen in die Spree schleuderte …? Warum?! Weil ich mich gestern noch der Hoffnung hingab, daß ein brauner Ulster ein zu häufiges, zu alltägliches Kleidungsstück sei, um mir gefährlich werden zu können …!
Der Kommissar wandte sich jetzt mit höflicher Verbeugung an die Geheimrätin.
„Gnädige Frau, hätten Sie also Ihrem Schreiben noch etwas hinzuzufügen?“
„Allerdings. Ich vergaß gestern in der Eile anzuführen, daß der von mir auf dem Treppenpodest unserer Etage beobachtete Fremde eine Brille mit dunklen Gläsern und einen großen, grauen Filzhut trug.
„So, das ist ja sehr interessant. – Und – könnten Sie sich vielleicht auch darüber äußern, ob [93] der Mann jung oder alt war und ob er einen Bart – Schnurrbart oder Vollbart hatte?“
„Der Fremde war entschieden noch jung, mittelgroß und besaß einen kleinen blonden Schnurrbart,“ erwiderte die Geheimrätin eifrig. „Ein Irrtum ist in dieser Hinsicht ausgeschlossen. In unserem Treppenhause ist es ausnahmsweise sehr hell, und ich habe das Gesicht des Mannes trotz des Schlapphutes ganz deutlich gesehen.“
Hiller hatte wieder den Bleistift in die Hand genommen und betrachtete jetzt scheinbar prüfend dessen Spitze, während er langsam, einzelne Worte besonders hervorhebend, sagte:
„Gnädige Frau, hat der Herr, der links neben Ihnen sitzt, Ähnlichkeit mit dem Fremden im braunen Ulster?“
Die Geheimrätin, die mich nur bei ihrem Eintritt mit einem flüchtigen Blick gestreift hatte, schaute mich daraufhin schärfer an. Und unwillkürlich wandte ich ihr nun mein volles Gesicht zu, indem ich mir alle Mühe gab, ihren forschenden Augen ruhig zu begegnen. Für mich hing ja so unendlich viel von dem Ausfall dieser Gegenüberstellung ab.
Nur kurze Zeit dauerte dieses gegenseitige Anstarren, dann erklärte die Dame mit einem leisen Lächeln dem Kommissar, der uns inzwischen scharf gemustert hatte:
„Gewiß, bekannt kommt mir der Herr wohl vor. Wenn ich nicht irre, ist es ein Verwandter des Generaldirektors Grunert. Jedenfalls bin ich ihm in unserem Hause schon begegnet. – Ob eine Ähnlichkeit mit jenem Fremden besteht, vermag ich nicht zu entscheiden.“
[94] Hiller, dessen Pflicht es jetzt eigentlich gewesen wäre, mich der Geheimrätin vorzustellen, schien diese Höflichkeitsform absichtlich unterlassen zu wollen. Ich befand mich daher in der peinlichsten Lage. Denn daß meine Anwesenheit hier im Zimmer des Kommissars und dessen letzte, so auffallende Frage einen besonderen, für mich wenig ehrenvollen Zweck hatte, mußte sich die Dame selbst sagen. So kostete ich denn zum erstennmal das niederdrückende Gefühl aus, als ein unter schimpflichem Verdacht Befindlicher am Pranger zu stehen …! Nur zu schnell hatte sich meine Ahnung erfüllt, daß mein neuer Lebensweg in Schimpf und Schande endigen würde.
Der Kommissar hatte seine Taschenuhr gezogen und nach der Zeit gesehen.
„Würden Sie so liebenswürdig sein, gnädige Frau, und unten im Wartezimmer noch einen Augenblick Platz nehmen,“ wandte er sich an die Geheimrätin. „Ich werde Sie später wieder herauf bitten lassen. Sie dürften jedoch in spätestens einer Viertelstunde entlassen werden können.“ –
Ich war mit Hiller abermals allein. Er hatte sich erhoben, kam auf mich zu und lehnte sich mir gegenüber an den Tisch, die Arme über der Brust verschränkend.
„Geben Sie jetzt zu, jener Fremde gewesen zu sein, Heiking?“ fragte er streng.
Meiner krankhaft gespannten Aufmerksamkeit entging es nicht, daß er die Anrede „Herr“ mir gegenüber bereits für überflüssig hielt. Seiner Ansicht nach war ich also schon vollkommen überführt. Aber gerade diese seine Sicherheit rüttelte nochmals meine letzte Widerstandskraft wach.
[95] „Nein!“ Und feindselig blickte ich dabei zu ihm auf.
„Schade. Dann müssen wir also wirklich mit Ihnen die Maskerade vornehmen und Sie so herausstaffieren, wie jener Mann ausgesehen hat, den die Geheimrätin gestern durch das Guckloch beobachtete.“
Ich verstand ihn nicht sofort.
„Jetzt dürften meinem beiden Unterbeamten mit der Haussuchung in Ihrer Wohnung nämlich bereits fertig sein und den braunen Ulster mitgebracht haben,“ fuhr er fast drohend fort. „Ein grauer Filzhut und eine Brille mit dunklen Gläsern läßt sich leicht beschaffen. Ich denke, die Geheimrätin wird Sie, wenn Sie diese drei Gegenstände anlegen, sicher wiedererkennen.“
Einer Ohnmacht nahe sank ich auf meinem Stuhl völlig zusammen. In meinen Ohren brauste das Blut, ein Zittern durchlief meinen Körper.
Und dazu Hillers ironische Stimme:
„Sie scheinen wieder einen Schwindelanfall zu haben …! – Hier – trinken Sie nur. –“
Ich trank wirklich. In langen, gierigen Schlucken goß ich das mir gereichte Glas Wasser hinab.
Hiller ließ mir noch etwas Zeit, mich zu sammeln. Dann fragte er:
„Nun, Heiking, wie ist’s jetzt mit einem Geständnis … – Ich denke, Sie haben eingesehen, daß weiteres Leugnen unmöglich ist. Damit Sie aber nicht denken, daß ich Sie in eine Falles gelockt habe, werde ich sofort die Beamten heraufbeordern, die sich in Ihrer Wohnung etwas genauer umgesehen haben.“
[96] Er ging an den Telephonapparat, der an der Wand neben dem einfachen Bücherschrank hing, und gab die nötigen Befehle.
Die beiden Kriminalschutzleute erschienen sehr bald. Einer von ihnen hatte tatsächlich meinen Ulster über dem Arm.
„Haben Sie sonst noch etwas von Wichtigkeit gefunden, Winter?“ fragte Hiller den älteren der beiden Leute.
„Einige Aufzeichnungen über Hasardspiele und die verschiedenen Gewinnchancen. Dann in einem Lexikonband verborgen diesen Briefumschlag, der freilich nur unbeschriebene Papierschnitzel enthält.“
Ich zuckte zusammen. – Hiller, der mein Erschrecken nur zu gut bemerkt hatte, meinte jetzt mit leisem Vorwurf:
„Aber Winter …! Sie hätten sagen sollen –‚scheinbar unbeschriebene Papierschnitzel‘! Denn wer wird wohl Papierstückchen, die keine Bedeutung haben, in einen Umschlag tun und in einem Buch verstecken …!?“
Und nach kurzem Nachdenken:
„Also in einem Lexikon lag der Umschlag. Hm – haben Sie vielleicht nachgesehen, an welcher Stelle?“
„Gewiß, Herr Kommissar. In dem Bande mit dem Buchstaben T, und zwar bei dem Artikel über Tinte.“
„Na, da haben wir’s ja …! – Lassen Sie die Sachen nur hier, Winter. – So – weiter wäre nichts …“
Die Beamten verschwanden wieder. –
[97] Hiller lehnte noch immer mir gegenüber an der breiten Seite des Tisches.
„Wie ist’s nun, Heiking …? Zur Einsicht gekommen?“ fragte er gleichmütig. Er war ja jetzt seines Sieges gewiß.
„Es gibt viele, die einen braunen Ulster besitzen,“ stieß ich verzweifelt hervor. Es war ein[20] lächerlicher Versuch, mich herauszuwinden aus dieser Schlinge, in der ich bereits gefangen war.
„Stimmt! Aber nur Sie haben gestern abend einen grauen Filzhut am Reichstagsufer in die Spree geworfen, nur Sie, sonst keiner der anderen Besitzer eines braunen Ulsters,“ meinte er gelassen. „Und das sagt genug!“
Also auch dieser Vorgang war beobachtet worden …! Kein Zweifel – schon gestern hatte die Polizei mich heimlich überwachen lassen. Und dann dachte ich an jenen Herrn, der so eifrig dem Taxameter zugewinkt hatte, als ich mit dem Auto plötlich davonfuhr. Meine Vermutung war also richtig gewesen: der Mann hatte mir auf den Fersen bleiben wollen …! Vielleicht war’s mir geglückt, ihn abzuschütteln, vielleicht … Wenn nicht, dann wußte der Kommissar auch bereits, daß ich das Paket an Onkel Grunert abgeschickt hatte, daß ich … der Dieb war …! – Darüber mußte ich mir Klarheit verschaffen, unbedingt. Ich mußte versuchen, alles aus dem Kommissar herauszulocken, was er wußte. Wie sollte ich auch sonst mein ferneres Verhalten ganz in Margas Interesse einrichten, wenn ich in dieser Hinsicht noch weiter im Dunkeln tappte …! – Und daher sagte ich mit leidlicher Fassung:
„Gut, ich werde Ihnen alles gestehen, Herr [98] Kommissar, wenn Sie mich darüber aufgeklärt haben, auf welche Weise sich der Verdacht gerade auf mich gelenkt hat.“
„Das ist doch mal ein vernünftiges Wort, Heiking,“ nickte mein Widersacher zufrieden. „Ich habe keinen Grund, Ihren Wunsch nicht zu erfüllen. – Hier, trinken Sie noch einen Schluck Wasser. Sie sehen wirklich jämmerlich blaß aus.“
Ich lehnte jedoch ab, war viel zu gespannt auf das, was ich hören würde.
Hiller schlug bequem ein Bein über das andere und begann dann in leichtem Plauderton, als ob er einem ganz Unbeteiligten ein Erlebnis aus seiner Praxis erzählte.
„Sie wissen, ich vernahm gestern nachmittag auch die beiden Dienstboten Ihres Onkels in der Küche. Von den beiden Mädchen erfuhr ich nun – und das bestätigte mir auch Ihre Frau Tante später –, daß Sie sich mit den Damen um ein halb elf Uhr vor dem W.schen Kaufhause verabredet hatten, aber erst eine halbe Stunde später erschienen waren. Allein für sich genommen blieb diese Tatsache noch völlig harmlos. Sie gewann jedoch schon ein anderes Aussehen, als ich dann weiter von Ihrer Frau Tante erfuhr, daß vorgestern abend bei Ihren Verwandten eine kleine Abendgesellschaft stattgefunden hatte, an der Sie ebenfalls teilnahmen, und daß Sie bei dieser Gelegenheit von Ihrer Tante aufgefordert waren, sich den Damen bei dem beabsichtigten Besuch des Kaufhauses anschließen. Sie wußten also, daß die Wohnung am Vormittag von zehn Uhr ab leer sein würde. Selbstverständlich habe ich dies alles auf eine Weise aus den Dienstboten [99] und der Frau Generaldirektor herausgeholt, daß niemand merken konnte, was ich mit meinen Fragen eigentlich bezweckte. Dann, als ich aus der Küche kam, schon erfüllt von einem leisen Argwohn gegen Sie, hörte ich vom Korridor aus teilweise das Gespräch mit an, welches Sie mit Ihrem Onkel führten. So wurde mir bekannt, daß Sie Spielschulden, recht beträchtliche sogar, in nächster Zeit begleichen sollten. Den Einwurf Ihrer Verwandten, woher Sie das Geld zur Tilgung denn hätten beschaffen wollen, ließen Sie unbeantwortet. Ihrem Onkel fiel das nicht weiter auf. Mir allerdings.“
Hiller machte eine kleine Pause.
„Wir suchten nun den zweiten Einbrecher, der meiner anfänglichen Theorie nach mit Schwechten gemeinsam den Raub ausgeführt und den Schauspieler nachher erschossen hatte. Rätselhaft erschien es, wie Schwechten in den Besitz der beiden Schlüssel gelangt war und woher er die Kenntnis von dem Geldversteck Ihres Onkels erhalten haben konnte. Da dachte ich eben, nachdem ich die Dienstboten verhört hatte, Zeuge der Unterhaltung geworden und von Ihrer Frau Tante noch eingehender über mancherlei unterrichtet war, unwillkürlich an Sie, dem über 8000 Mark zur Bezahlung von Spielschulden gefehlt hatten, der genau wußte, daß zu bestimmter Zeit die Wohnung verlassen war und der wahrscheinlich wußte, daß der Schlüsselring dicht neben der Tür hing und die Buchatrappe stets größere Summen enthielt. Und mit diesen Gedanken verließ ich gestern gegen 1/45 Uhr das Haus Ihrer Verwandten, bereits fest entschlossen, Sie sofort heimlich beobachten zu lassen. Grund genug war ja dazu vorhanden. [100] Ich nahm an, daß Sie die Schlüssel eingesteckt und dann mit Schwechten den Plan verabredet hatten, der ja der ganzen Sachlage nach so gut wie gar keine Gefahr bot. Weiteres hoffte ich dann durch Ihre Observierung herauszubringen.
Gegen sechs Uhr abends bezog also ein Beamter in Zivil den Posten vor Ihrem Hause, einen zweiten beorderte ich vor das Ihres Onkels. Dem Ihnen vor der Tür gesetzten Aufpasser entzogen Sie sich aber nachher auf recht anerkennenswerte Weise, indem Sie schnell in ein Auto sprangen und davonfuhren. Gegen halb neun abends erschienen Sie wieder in Ihrer Wohnung, um sie bald darauf abermals zu verlassen. Dieses Mal blieb Ihnen mein Beamter jedoch auf der Spur und wurde so Zeuge, wie Sie den Hut und einen zweiten Gegenstand in die Spree warfen. Kurz darauf erhielt ich schon die Meldung von diesem Vorfall. Inzwischen war auch der Brief der Geheimrätin eingetroffen. Um die Sachlage zu klären, ließ ich Sie beide für heute vorladen. Daß Sie kein reines Gewissen hatten, merkte ich sehr bald. Sie sind ein schlechter Schauspieler. Und jetzt – jetzt sitzen Sie eben fest.“
Ich konnte nicht länger an mich halten.
„Meinen Sie etwa, ich bin der Mörder des Schauspielers?!“ rief ich mit ehrlicher Entrüstung.
Hiller zuckte die Achseln. „Das weiß ich noch nicht genau. Eigentlich nehme ich es nicht an. Ich habe meine Ansicht über diesen Kriminalfall nach dem, was die Geheimrätin aussagte, etwas korrigieren müssen. Doch nun lassen Sie mich einmal fragen: Hatten Sie mit Schwechten den Einbruch gemeinsam geplant?“
[101] „Nein. Ich bin mit Schwechten nur zweimal in meinem Leben zusammengetroffen. Das erste Mal bei dem jetzt als Falschspieler entlarvten Lautenborn alias Mellschewski und dann gestern vormittag in der Wohnung meines Onkels. Das ist die Wahrheit.“
Hiller nickte mir beinahe freundlich zu.
„Glaube ich gern. Wenn Sie lügen, fühlt man das sofort heraus. Und nun – was wollten Sie in der Verkleidung bei Ihrem Onkel?“
Auf diese Frage war ich vorbereitet.
„Über diesen Punkt verweigere ich die Aussage,“ erklärte ich bestimmt: „Ich habe Gründe dafür, die die Behörde nichts angehen. Im übrigen werde ich alles mitteilen, was ich weiß.“
Hiller schaute mich durchdringend an. Und jetzt plötzlich hatte ich auch die Kraft, seinen Blick ruhig auszuhalten, trotzdem ich eben bewußt die Unwahrheit gesprochen hatte.
Der Kommissar schien über diese meine Weigerung nicht weiter ungehalten zu sein. Offenbar grübelte er jetzt darüber nach, aus welcher Veranlassung ich gerade diese eine Frage ausgeschaltet wissen wollte. Dann meinte er, während seine dunklen Augen an mir vorbei zu dem Briefumschlag hinglitten, der die weißen Papierschnitzel enthielt und neben dem Ulster auf einem Stuhle lag:
„Vielleicht gibt uns der Inhalt jenes Kuverts dort den Aufschluß, den Sie mir vorenthalten wollen. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich[21] annehme, daß die Papierstücke Fragmente eines Briefes sind, der mit einer später von selbst wieder verschwindenden Tinte geschrieben war.“
[102] Dieser Moment war für mich von höchster Bedeutung. Ich wußte ja nichts über den Inhalt dieses Schreibens, wußte nur soviel, daß er auf Marga einen geradezu niederschmetternden Eindruck gemacht hatte. Schweigen durfte ich nicht – auf keinen Fall, sonst hätte ich die Rolle aufgeben müssen, die ich mir hier zu spielen vorgenommen hatte.
Daher antwortete ich jetzt, ohne mit der Wimper zu zucken –.
„Ob Ihre Vermutung zutrifft, Herr Kommissar, weiß ich nicht. Vorgestern früh brachte mir den Brief ein Junge, der sich sofort wieder davonmachte. Ich wunderte mich schon sehr, daß auf dem Umschlag keine Adresse stand. Als ich dann den Briefumschlag heranzog, war er leer wie jetzt. Ich hielt die Sache zunächst für einen schlechten Scherz, zerriß den Bogen daher und schleuderte die Schnitzel in meinen Papierkorb. Erst später dachte ich daran, daß der Brief vielleicht mit einer sogenannten sympathetischen Tinte geschrieben sein könne. Ich habe alles mögliche versucht, um die Schrift sichtbar zu machen. Es gelang mir nicht. Sie können bei meiner Wirtin nachfragen, Herr Kommissar. Die wird Ihnen bestätigen, daß ich mir Salz, Essig und Alaun von ihr ausgebeten habe. Ich hoffte, mit Hilfe dieser einfachen Mittel die Schriftzüge hervorrufen zu können.“
„Und Sie haben keine Ahnung, wer der Absender des Briefes ist?“ fragte Hiller eifrig, der in meine Angaben keinerlei Zweifel zu setzen schien.
„Wirklich nicht! Nicht einmal eine Vermutung,“ entgegnete ich fest.
[103] „Haben Sie denn nie vorher einen derartigen Brief erhalten?“
„Nein – nie.“
„Merkwürdig. Da wollen wir doch gleich die Brieffragmente mal unserem Chemiker, der speziell auf solche Dinge eingearbeitet ist, vorlegen lassen.“
Er läutete und reichte dann dem kurz darauf erscheinenden Schutzmann den Umschlag.
„Sehen Sie nach, ob Doktor Köhler in seinem Bureau ist. Wenn ja, dann soll er sofort die in diesem Kuvert befindlichen Papierstücke auf verborgene Schriftzeichen hin untersuchen. Die Sache eilt. Warten Sie gleich auf Bescheid, falls der Doktor anwesend ist.“
Als der Beamte gegangen war, wandte Hiller sich wieder mir zu.
„Dann wollen wir inzwischen das andere erledigen. Haben Sie den Ring mit den beiden Schlüsseln an sich genommen oder nicht?“
„Nein,“ behauptete ich mit aller Bestimmtheit. „Wir könnten uns die Sache aber wesentlich vereinfachen, Herr Kommissar. Ich werde Ihnen genau mitteilen, was sich in der Wohnung meiner Verwandten damals zugetragen hat. Dann können Sie sich die einzelnen Fragen sparen.“
„Erzählen Sie.“
„Als ich gegen 1/211 Uhr vor der Korridortür anlangte und gerade läuten wollte, wurde diese plötzlich geöffnet. Ich sah mich Schwechten gegenüber, der bei meinem Anblick entsetzt zurückprallte, sich aber schnell wieder faßte und die Tür wieder ins Schloß drücken wollte, um mir den Zutritt zu versperren. Ebenso schnell hatte ich jedoch meinen Fuß [104] in den Türspalt gestellt und drängte mit ganzer Kraft nach. Es gelang mir auch, Schwechtens Widerstand zu überwinden. Der von mir derart Überraschte war jetzt mit einem Satz in dem gleich linker Hand liegenden Arbeitszimmer meines Onkels verschwunden. Ich stürzte ihm nach und versperrte ihm den Weg. Es folgte ein kurzer Wortwechsel. Ich verlangte Aufschluß, was er hier in der Wohnung meiner Verwandten zu suchen habe. Er wurde unverschämt, griff dann plötzlich in die Tasche und riß einen Revolver hervor. Doch bevor er noch auf mich anschlagen konnte, hatte ich ihn umfaßt. Ein wildes Ringen begann. Er war der Stärkere, ich der Gewandtere. Mit einem Male hatte ich den Revolver in der Hand, sprang zurück und drohte ihm, ihn niederzuschießen, falls er nochmals auf mich eindringen würde. Nun verlegte er sich aufs Bitten. Er wollte ja seinen Raub gern herausgeben, ich möchte ihn nur laufen lassen. Und dabei zog er aus der Tasche die Banknoten und die Geldrollen hervor und legte sie auf den kleinen Mitteltisch, auf dem, wie Sie vielleicht auch bemerkt haben werden, eine große antike Vase aus Gußeisen steht. Da ich irgend eine Hinterlist ahnte, war ich auf meiner Hut. Und wirklich –. Im Moment hatte er die Vase ergriffen und wollte sie mir ins Gesicht schleudern. Ich kam ihm zuvor, hob die Waffe, schoß –. Langsam knickte er zusammen, die Vase im Sturz fallen lassend. Sie ging nicht in Scherben, da der Teppich den Fall milderte.
Was dann geschah – ich tat es ganz mechanisch, ohne klare Gedanken, nur von dem Wunsche beseelt, jeden Verdacht von mir abzulenken. Gewiß – ich [105] hatte ja aus Notwehr gehandelt. Wie sollte ich dieses aber beweisen –? Furchtbare Angst überfiel mich beim Anblick des starren leblosen Körpers. Und diese Furcht raubte mir die klare Überlegung.
Ich stellte die Vase auf den Tisch zurück, steckte das Geld zu mir und legte den Revolver neben die Leiche, damit es den Anschein erwecken sollte, als habe Schwechten Selbstmord verübt. Dann floh ich wie ein gehetztes Wild davon, eilte nach Hause, zog mich um und fuhr ins W.’sche Kaufhaus.
Weiter habe ich nichts hinzuzufügen. Alles übrige wissen Sie bereits.“
„Wahrscheinlich klingt Ihre Geschichte – aber auch nur wahrscheinlich,“ meinte er. „Aus welchem Grunde z. B. wollten Sie an der Flurtür läuten? Sie wußten doch, daß niemand in der Wohnung war!“
„Diese Frage berührt demselben Punkt, über den ich jeden Aufschluß verweigere. Und nichts wird mich in dieser Beziehung zum Sprechen bringen.“
Der Kommissar krauste unmutig die Stirn.
„Seien Sie vernünftig, Heiking. Wozu wollen Sie zu verheimlichen suchen, was doch sonnenklar ist. Sie beabsichtigten eben in der Wohnung Ihrer Verwandten dasselbe zu tun, was Schwechten dorthin geführt hatte. Das Geld lockte Sie, mit dem Sie Ihre Spielschulden bezahlen wollten. Denn daß Lautenborn bereits enttarnt war, erfuhren Sie ja erst nachmittags von Ihrem Onkel.“
„Glauben Sie, was Sie wollen,“ sagte ich gleichgültig.
„Sie scheinen sich bereits sehr sicher zu wähnen,“ meinte Hiller ironisch. „Ich werde Ihnen bald beweisen, [106] daß Ihre Schilderung jener Vorfälle noch mehr schwache Stellen hat. – Was taten Sie z. B. mit dem Gelde, das Sie nach Schwechtens Tode mit sich nahmen?“
„Ich habe es gestern abend meinem Onkel zurückgeschickt und dabei einen beliebigen Namen als Absender auf der Paketadresse angegeben.“
„Ach – nun verstehe ich. Sie hatten das Paket unter der Pelerine verborgen, als Sie in das Auto sprangen, um etwaigen Aufpassern zu entgehen.“
„Allerdings.“
Hiller strich sich jetzt nachdenklich das Kinn.
„Sie wollen also wirklich behaupten. Schwechten erschossen zu haben?“ fragte er, mich scharf fixierend.
„Ja.“
„Und wie stimmt diese Ihre Behauptung zu den Beobachtungen, die die Geheimrätin gemacht hat?! Die Dame will doch den Schuß gleich nach zehn Uhr gehört haben, und Sie sind erst gegen 1/211 Uhr mit Schwechten in dem Arbeitszimmer aneinandergeraten!“
„Von einem Schuß sprach die Dame nicht, nur von einem Knall. Und den kann auch eine zuschlagene Tür verursacht haben.
Der Kommissar war wieder unsicher geworden. Er mochte sich sagen, daß diese meine Vermutung nicht so ganz von der Hand zu weisen war.
In demselben Augenblick trat der Schutzmann mit dem Briefumschlag ins Zimmer.
„Herr Kriminalkommissar, die Frau Geheimrat Menking läßt fragen, ob sie noch gebraucht wird.“
„Die habe ich wirklich ganz vergessen!“ entfuhr es Hiller. „Bestellen Sie nur, daß ich ihr für ihre [107] wertvolle Unterstützung danken lasse. Sie kann gehen. – Hat Doktor Köhler die Schrift hervorgerufen?“
„Jawohl. Mit Hilfe von Eisenchlorid.“
„Gut.“
Wieder begann mein Herz jetzt in rasenden Schlägen zu klopfen, wieder fühlte ich kalten Schweiß auf meine Stirn treten. Denn der Brief konnte ja mit einem Schlage mein fein ersonnenes Lügengewebe zerreißen – –. Nur ein einziges verräterisches Wort brauchte er zu enthalten, und der Kommissar würde alles durchschauen –.
Hiller hatte sich inzwischen an seinen Schreibtisch gesetzt und das Blatt, auf dem die richtig aneinandergefügten Schnitzel aufgeklebt waren, vor sich hingelegt. Seine Augen flogen gespannt über die Zeilen hin. Dann schaute er auf.
„Kennen Sie vielleicht diese Handschrift,“ fragte er und reichte mir das Blatt hin. „Lesen Sie auch gleich den Inhalt.“
Ich tat’s. Die Buchstaben tanzten mir vor den Augen. Ich wurde kaum fertig mit den wenigen Zeilen.
Dann folgte die ebenfalls zusammengesetzte Adresse des Briefumschlages:
[108] Mein Herzchlag beruhigte sich schnell. Die Gefahr war vorüber. Und doch, welch wertvolle Erkenntnis hatte mir dieser Brief gebracht. Jetzt begriff ich endlich den inneren Zusammenhang all dieser Ereignisse, bei denen Marga eine so bemitleidenswerte Rolle spielte, jetzt wurde mir klar, was jenes von mir belauschte Gespräch zwischen Lautenborn und Schwechten für eine Bedeutung gehabt hatte. Marga war in die Hände von Erpressern geraten und der Schauspieler hierbei der Hauptschuldige. Von ihm mußte auch dieses Schreiben herrühren, einzig und allein von ihm … Arme Marga, wie mußte man dich gefoltert haben, ehe du zum äußersten schrittest, wie sehr …! –
Ich gab dem Kommissar das Blatt zurück.
„Die Handschrift habe ich nie gesehen,“ erklärte ich mit dem Tone, den nur die Wahrheit uns verleiht. „Ich halte diese[22] großen gemalten Buchstaben für absichtlich verstellt,“ fügte ich hinzu.
„Dasselbe nehme ich auch an. Mellschewskis Schrift ist es also nicht?“
Ich zuckte die Achseln. „Das vermag ich nicht zu sagen. Ich habe Lautenborn nur Zahlen und seinen Namen schreiben sehen – auf den Bons beim Spiel.“
„Und doch kann das Schreiben nur von ihm herrühren und sich auf Ihre Spielschulden beziehen,“ meinte er eifrig. „Oder haben Sie eine andere Auffassung von diesem merkwürdigen Brief mit der sonderbaren Adresse?“
Unsere Unterredung wurde jetzt im leichten Plauderton geführt wie ein harmloses Gespräch unter guten Bekannten.
[109] Ich machte eine zweifelnde Geste. „Wie soll ich das entscheiden?! Jedenfalls ist Ihre Ansicht aber die annehmbarste – ganz fraglos.“
„Man könnte Mellschewski ja auf den Kopf zusagen, daß er der Absender ist,“ spann Hiller seine Gedanken weiter aus. „Aber er wird natürlich alles ableugnen. Höchstens eine Schriftvergleichung wäre erfolgversprechend.“
„Verlohnt sich all diese Mühe überhaupt?“ erwiderte ich gleichmütig. „Der Brief spielt in meiner Angelegenheit doch gar keine Rolle.“
„Das ist schon richtig. Nur dürfen Sie nicht vergessen, daß das Schreiben leicht als Erpressungsversuch ausgelegt werden kann. Denn Spielschulden erkennt das Gesetz nicht als einklagbare Forderung an.“ –
„Von dieser Seite betrachtet, gewinnt der Brief allerdings an Bedeutung,“ stimme ich zu. Und dann fragte ich, als Hiller nachdenklich vor sich hinschaute:
„Was soll nun eigentlich mit mir werden, Herr Kommissar? – Brauchen Sie mich noch oder kann ich gehen.“
Plötzlich war er wieder ganz Beamter.
„Bedaure. Wenn Sie nicht eingestehen, was Sie in der Wohnung Ihres Onkels wollten, kann ich Sie nicht entlassen. Außerdem ist der Tatbestand auch noch so ungeklärt, daß ich Verdunkelungen verhüten muß.“
Ein heißer Schreck durchzuckte mich. Schon glaubte ich gewonnenes Spiel zu haben, und nun sanken alle meine Hoffnungen wieder in ein Nichts zusammen.
[110] Wollen Sie mich etwa … verhaften, Herr Kommissar?“ rief ich aufspringend. „Aus welchem Grunde wohl? Bei mir liegt kein Fluchtverdacht vor. Ich werde mich jederzeit wieder der Polizei zur Verfügung stellen!“
Hiller blieb kalt. „Sie vergessen, daß Ihr Renkontre keinen Zeugen hatte,“ sagte er streng. „Weiter, daß erst aufgeklärt werden muß, ob die Geheimrätin sich hinsichtlich des Knalles wirklich getäuscht hat. Trotzdem will ich jedoch erst meinem Abteilungsvorstand Bericht erstatten und dessen Entscheidung einholen.“
Unter Bewachung eines Schutzmannes – denn nur zu dem Zweck konnte Hiller den Beamten ins Zimmer gerufen haben – blieb ich zurück.
Eine Viertelstunde verging. Dann war mein Schicksal entschieden.
Ich wurde in eine der Zellen für Untersuchungsgefangene des Polizeigefängnisses gebracht – war ein Gefangener.
Durch den Schließer, der mich nach Erledigung der üblichen Aufnahmeformalitäten fragte, ob ich mich selbst beköstigen wolle oder sonst noch besondere Wünsche habe, ließ ich mir Schreibmaterial besorgen. Ich wollte Onkel Grunert das Vorgefallene selbst mitteilen.
Leicht wurde mir dieser Brief nicht, den ich [111] ja mit äußerster Vorsicht abfassen mußte. Immer wieder erhob ich mich und durchschritt unruhig den engen Raum, dessen graugetünchte Wände und vergitterte Fenster mein Denken derart in Fesseln schlugen, daß ich mir notdürftig die einzelnen Worte zusammensuchen mußte.
War es menschlich nicht vollkommen begreiflich, daß ich auch diesem Manne gegenüber, von dem ich nur Gutes erfahren hatte, meine verwerflichen Absichten, die mich zu jener Stunde in sein Heim gelockt hatten, verschwieg und ihm nur dasselbe angab, was ich dem Kommissar gegenüber als Geständnis bezeichnet hatte und das doch nichts als raffiniert ausgeklügelte, von der höchsten Verzweiflung geborene Lügen waren …?! Und war es nicht ebenso verständlich, daß ich meinem Briefe die dringende Bitte zum Schluß hinzufügte, mich hier nicht aufzusuchen, um das Peinvolle meiner Situation nicht noch mehr zu erhöhen?! – An Tante Johanna und Marga fügte ich herzliche Grüße hinzu, mit der Einschränkung – „falls sie überhaupt noch von einem Menschen etwas wissen wollen, den man in Verdacht eines so schweren Verbrechens hat“. Im übrigen unterließ ich jede Phrase, jede Überschwenglichkeit, führte nur in überzeugender Weise aus, daß ich lediglich in der Notwehr gehandelt hätte und daher über kurz oder lang doch freigelassen werden müsste, falls eben nicht der mir sehr ungünstige, unklare Tatbestand Schwierigkeiten heraufbeschwören würde, die meine Lage verschlechterten.
Mehrmals überlas ich den Brief aufs genaueste, nachdem ich ihn beendigt hatte. Ich war zufrieden. Marga mußte daraus die tröstende Gewißheit entnehmen, [112] daß ihr keinerlei Gefahr drohe, und daß ich gewillt sei, diese für mich wenig gefahrvolle Komödie in ihrem Interesse weiterzuspielen.
Dann klingelte ich nach dem Gefängniswärter und übergab ihm den offenen, adressierten Brief, der ja erst, bevor er dem Empfänger zugestellt wurde, von dem die Untersuchung führenden Kommissar durchgesehen werden mußte.
Als der Schließer verschwunden war, setzte ich mich auf den einzigen Stuhl, den es in meiner Zelle gab, und ging im Geiste nochmals die Ereignisse dieses Tages durch. Und da überkam mich plötzlich ein tiefes, tiefes Glücksgefühl. Ein gütiges Geschick hatte ja alles noch zum Besten gewendet. Trotz meiner krankhaften Angst vor der Unterredung mit dem Kommissar, trotz meiner völligen Verstörtheit war es mir doch gelungen, als Sieger aus diesem mit den schärfsten Waffen der List und Verschlagenheit geführten Kampf hervorzugehen. Ich hatte mein Wort, das ich gestern Marga gegeben, getreulich gehalten, sogar bis zur äußersten Konsequenz. – Welche Wandlung war doch mit mir in diesen letzten zwei Tagen vor sich gegangen! Nur einen einzigen Schritt war ich von dem rechten Wege abgewichen, und schon hatte eine höhere Macht dafür gesorgt, daß ich wieder zurückgedrängt wurde auf die Straße, auf der ich bisher mit meinem von so wunderlichen Wünschen, so krankhaften Neigungen zu verbrecherischen Tun erfüllten Herzen gewandelt war … Nur ein einziger Schritt abseits war es gewesen - und schon hatte ich am Rande eines Abgrundes gestanden, der mich für immer zu vernichten drohte. Ich wußte – nie mehr würde ich der [113] Stimme der Versuchung unterliegen, nie mehr … Ich war geheilt für alle Zeiten …
Ich war müde geworden. Jetzt kam der Rückschlag nach dieser furchtbaren Nervenanspannung. Schon halb im Schlaf entledigte ich mich meiner Stiefel, hing das Jackett über die Stuhllehne und warf mich auf das Bett.
Wirre Träume durchjagten mein Hirn. Ich sah Marga Arm in Arm mit Rechtsanwalt Müller die Heerstraße nach Spandau zu entlang wandern, sah ihr lachendes Gesicht, mit dem sie zu ihm aufschaute.
Ich lag Onkel Grunert zu Füßen und flehte um Vergebung, weinte, daß mir die Tränen über die Wangen liefen. Er zeigte mit der Hand nach der Tür. Verachtung, Schmerz, Enttäuschung las ich aus seinem lieben, alten Antlitz … „Dieb – Dieb,“ hörte ich ihn rufen, Schandfleck unserer Familie!“ … – Schwechten mit dem roten Blutfleck auf der Stirn trat in meine Zelle. Sein bleiches Totengesicht war zu einem furchtbaren Grinsen verzerrt … Er beugte sich über mich, tiefer und tiefer. Ich wollte mich erheben, wollte fliehen. Wie gelähmt lag ich da. Und dann flüsterte mir seine vor Wut heisere Stimme krächzend zu: „Nie wird Marga dein, nie … Sie gehört mir, mir allein …“ Seine Finger umkrallten meinen Arm … Mit einem Schrei des Entsetzens fuhr ich empor, riß die Augen auf …
Vor mir stand Kriminalkommissar Hiller.
„Sie scheinen schwere Träume gehabt zu haben,“ sagte er ernst. „Vielleicht erlebten Sie im Traum das Drama nochmals, wie es sich in Wirklichkeit abgespielt hat.“ Er betonte dieses „in Wirklichkeit“ [114] so auffallend, daß ich schnell wieder ganz Herr meiner Sinne wurde.
Nur um die aufsteigende Verlegenheit zu verbergen, schaute ich nach der Uhr, der billigen Nickeluhr, die ich einst als Knabe getragen und jetzt wieder hervorgesucht hatte. Es war vier. – Drei Stunden hatte ich also geschlafen, drei Stunden lang hatten die Traumgesichte mich geschreckt und genarrt.
Und dann begann Hiller, während seine leuchtenden Augen mein Gesicht nicht losließen:
„Mittags hat die Sektion der Leiche Schwechtens stattgefunden. Auf meinen speziellen Wunsch so schnell. Ich wollte Gewißheit haben, wie der Schußkanal verläuft.“
Schon wieder kroch mir eisige Angst zum Herzen. War’s denn noch - noch nicht genug der Qual …!
Da fuhr die harte Stimme schon fort:
„Ich gebe Ihnen jetzt nochmals den Rat, Heiking, lassen Sie alle weiteren Bemäntelungsversuche. Ich will die Wahrheit wissen: wie starb Schwechten?“
Ein wilder Trotz bäumte sich plötzlich in mir auf. Wo ich den Mut hernahm, weiß ich nicht. Aber ich schrie in einem Tone, daß Hiller fast zurückfuhr.
„Fragen Sie den Toten doch selbst, wenn Sie mir nicht glauben. Ich weiß nichts mehr! Spannen Sie mich meinetwegen auf die Folter, und Sie werden doch nichts anderes zu hören bekommen!“
Hiller, mit seiner durch die berufliche Tätigkeit geschärften Menschenkenntnis mochte wohl einsehen, daß das, was er eben erlebt hatte, nicht das verzweifelte Aufbäumen eines schuldbeladenen Herzens sein konnte.
[115] Sein Ton war ein anderer, als er jetzt langsam mit Betonung fragte:
„Stand Ihnen Schwechten wirklich in aufrechter Haltung gegenüber, als Sie den Schuß auf ihn abfeuerten? – Besinnen Sie sich genau.“
„Ja – hoch aufgerichtet. Und in der erhobenen Hand hielt er die schwere Vase wurfbereit,“ erklärte ich ohne lange Überlegung. – Wie hätte ich es auch wagen dürfen, meine erste Aussage jetzt wieder zu ändern …!
Wie Keulenschläge kamen Hillers nächste Worte:
„Sie lügen! Sie haben Schwechten erschossen, als er wehrlos am Boden lag!“
Ich war aufgesprungen.
„Beweisen Sie mir das!“ rief ich hohnlachend, kaum mehr meiner Sinne mächtig. – „Also ein Mörder, ein gewöhnlicher Mörder sollte ich sein! –“
„Zunächst wollen wir das Märchen von der drohend geschwungenen Vase abtun,“ sagte er eisig. „Ich war soeben bei Ihren Verwandten und habe mit deren Zustimmung den Versuch gemacht, ob die gußeiserne Vase wirklich einen Fall aus solcher Höhe aushält. Sie ging in Scherben. Und dabei ließ ich sie nur aus Schulterhöhe auf den Teppich aufschlagen. Niemals wäre sie also ganz geblieben, wenn sie der erhobenen Hand des von der tödlichen Kugel Ereilten entglitten wäre – niemals!“
Ich vermochte nichts zu erwidern, nichts …
„Und nun zu dem Ergebnis der Sektion,“ fuhr Hiller fort. „Die Kugel, die in die linke Stirnhälfte oberhalb des Auges eingedrungen ist, hat ihren Weg etwas schräg nach unten genommen und wurde in der Schädelwand des Hinterkopfes an einer [116] Stelle gefunden, die fünf Zentimeter tiefer liegt als der Einschuß. Nur ein Riese von drei Meter Längen hätte dem Ermordeten eine solche Wunde beibringen können! Niemals ein Mann wie Sie, der etwa dieselbe Größe wie Schwechten hat. – Was sagen Sie nun?!“
Ich blieb stumm. In meinem Kopf war nur ein dumpfes Brausen, in meinen Ohren ein Klingen und Singen des jagenden Blutstroms.
Hiller lachte jetzt kurz auf.
„Heute vormitiag habe ich mich wahrhaftig von Ihnen nasführen lassen …! Ich hatte Sie unterschätzt. Sie verstanden sich geradezu genial herauszulügen und immer den Eindruck hervorzurufen, als wären Sie vor Angst keines klaren Gedankens fähig. Und wie gut hat Ihr Hirn dabei gearbeitet … wie gut! Nun hat’s mit dieser Verteidigungsart jedoch ein Ende – ein für allemal. – Soll ich Ihnen erklären, wie ich mir jetzt den Verlauf der Ereignisse am gestrigen Vormittag vorstelle, nachdem Ihre schöne Notwehrtheorie endgültig erledigt ist? – Der Diebstahl war von Ihnen und Schwechten, den Sie genauer gekannt haben müssen, geplant worden, nachdem Sie am Abend vorher beobachtet hatten, daß Ihr Onkel von Rechtsanwalt Müller siebentausend Mark in Banknoten zurückerhielt und diese in die Buchatrappe legte. – Sie sehen, auch das habe ich jetzt herausbekommen. Und für mich steht es fest, daß Sie auf dem zu dem Arbeitszimmer Ihres Onkels gehörigen Balkon standen, als das kleine Geschäft zwischen den beiden Herren geregelt wurde. Dann nahmen Sie die beiden Schlüssel an sich, die ja so handlich an der Korridortür hingen. Das [117] Stubenmädchen besinnt sich nämlich genau, daß die Schlüssel sich noch kurz vor Ankunft der ersten Gäste an Ort und Stelle befanden, da es noch schnell im Korridor Staub wischte und dabei auch über die weißlackierte Flurtür mit dem Tuche hinfuhr, wobei der Schlüsselring vom Nagel herunterfiel. Und vier Stunden später waren die Schlüsse dann spurlos verschwunden … – Ja, ja, mit der Zeit klärt sich alles auf. Jetzt weiß ich auch, warum Sie uns damals im Salon Ihres Onkels so haarklein auseinandersetzten, daß doch leicht einer der Dienstboten die Schlüssel verloren und ein Fremder sie gefunden haben könne. Sie wollten mich eben von der richtigen Fährte abbringen! – Die Schlüssel hatten Sie also. Und dann mußte Schwechten am nächsten Vormittag als erster in die Wohnung eindringen, während Sie ihm nach einer Weile in Ihrer Verkleidung folgten. Er öffnete Ihnen die Tür und ließ Sie ein. Bei der Teilung der Beuten kam es dann zum Streit, zum Kampf. Schwechten stolperte vielleicht, taumelte zu Boden, und die Gelegenheit benutzten Sie, um ihn niederzuknallen. So müssen die Dinge sich abgespielt haben, müssen …! Denn diese Theorie, die ich ja gestern nachmittag schon Ihrem Onkel und Ihnen im Salon als die wahrscheinlichste entwickelt und von der mich dann nur die Beobachtungen der Geheimrätin und Ihr listiges Spiel abgebracht haben, diese Theorie beantwortet auch überzeugend die eine Frage, auf die Sie schlauerweise bisher jede Auskunft verweigerten: was Sie in Ihrer Maskerade in der Wohnung Ihres Onkels wollten!“
Hiller machte eine kleine Pause. Ich hatte unlängst [118] den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Und doch fühlte ich seine Blicke wie sengende Strahlen auf meinem bleichen Gesicht.
Als der Kommissar dann weiter sprach, war das Triumphierende aus seiner Stimme verschwunden. In freundlich überredendem Ton suchte er mich zu einem ehrlichen Geständnis zu veranlassen. Aber soviel er auch auf mich einredete, ich schwieg hartnäckig. Was hätte ich auch noch sagen sollen …?! Nur die Wahrheit, die allein Marga und ich wußten, würden den Kommissar eines Besseren überzeugt haben. Und diese Wahrheit durfte nicht über meine Lippen kommen, oder aber ich hätte die Geliebte preisgeben, hätte erklären müssen, auf welche Weise die Papierschnitzel in meinen Besitz gelangt waren, daß ich den Toten bereits in dem Zimmer vorfand, daß Schwechten Marga gekannt haben müsse, daß er nichts als ein gemeiner Erpresser war, … und all das andere, woraus ich die Überzeugung geschöpft hatte, daß der Schauspieler durch die Hand eines Weibes gestorben war …
Mit kurzem Gruß verließ Hiller die Zelle. –
In welchem Zustande blieb ich zurück …?! Wegen Totschlags …?! Vielleicht winkte mir das Zuchthaus, vielleicht kam’s noch schlimmer. Ein geschickter Staatsanwalt konnte ja nur zu leicht aus den wider mich zeugenden Beweisen auch eine Anklage auf Tötung mit Vorsatz und Überlegung, auf Mord, herauskonstruieren. Das verwerflichste aller Verbrechensmotive – Habsucht, Geldgier – war ja vorhanden …!
Mein Hirn, überladen mit soviel Befürchtungen kaum mehr fähig, folgerichtig zu denken, fand [119] keine Erklärung. Immer fester nistete sich nur in meinem Geiste die wahnsinnige Angst ein, daß Marga sich ein Leid antun könne. Und ich saß hier eingesperrt zwischen den grauen Mauern, war machtlos konnte nichts als abwarten, abwarten.
Ruhelos durchquerte ich wieder den engen Raum, vier Schritte hin, vier Schritte zurück.
Dann draußen Männerschritte, die auf dem mit Fliesen belegten Boden des Ganges in dieser Stille so aufreizend dröhnten. Die Riegel meiner Zellentür wurden zurückgeschoben. . Rechtsanwalt Müller stand vor mir.
„Nun sagen Sie nur, was machen Sie denn für Geschichten, mein lieber Herr Heiking,“ begann der vielgesuchte Verteidiger vertraulich.
Ich blieb bei dem, was ich bereits dem Kommissar gegenüber zugestanden hatte. Nach einer halben Stunde etwa verabschiedete sich Müller offenbar ziemlich mutlos, wenn er mir dies auch zu verbergen suchte. Er wollte am nächsten Tage wiederkommen.
In meinen Erinnerungen wird mir ein Tag stets unvergeßlich bleiben, stets werde ich mich auf seine geringsten Einzelheiten besinnen, auf jedes Wort, das an ihm gesprochen wurde … Man sagt immer, daß traurige Seeleneindrücke bedeutend nachhaltiger sind als freudige. Vielleicht deswegen, weil ein gütiges Geschick der Mehrzahl der Menschen allzu viel Trübes erspart und glückliche Stunden uns Erdenwandlern reichlicher zugeteilt sind als trübe. Ich selbst kann jenen Satz nicht unterschreiben. Der zweite [120] Tag meiner Untersuchungshaft mit seinen beglückenden Überraschungen wird stets in meinem Gedächtnis als etwas Besonderes turmhoch alle anderen Erinnerungen überragen.
Ich war spät aufgestanden und saß noch beim Frühstück, als der Schließer in Begleitung eines Schutzmannes erschien. Dieser brachte mich dann über die langen Korridore treppauf treppab in ein kleines Zimmer, in dem nichts als eine Bank vor dem vergitterten Fenster stand.
Kaum hatte ich diese enge Stube, die wohl nur ein Teil eines größeren Zimmers war, betreten, als sich auch schon die niedrige Tür in der Wand öffnete und Kommissar Hiller sich zu mir gesellte. Er begrüßte mich auffallend freundlich, wobei er mich auch wieder mit „Herr Heiking“ anredete, was mir sofort auffiel.
Dann fuhr er mit leichter Verlegenheit fort:
„Offenbar stehen wir dicht vor einer für Sie günstigen Wendung in dieser Untersuchungssache, Herr Heiking. Vor etwa zehn Minuten ließ sich Fräulein Marga Benrath bei mir melden und teilte mir mit, daß sie in dem Fall Schwechten wichtige Enthüllungen zu machen habe. Ich möchte nun das Geständnis der Dame – denn um ein solches scheint es sich zu handeln – in Ihrer Gegenwart entgegennehmen. Bleiben Sie also bitte hier und verhalten Sie sich völlig still. Sie werden jedes Wort hören und können auch durch das Guckloch hier bequem den Nebenraum überblicken. Das Zimmer ist besonders für diese Zwecke eingerichtet, wie Sie sehen.“
Und dann trat Marga in den Nebenraum [121] ein. Ganz dicht lag mein Auge an der kleinen Öffnung in der Wand.
„Gnädiges Fräulein, ich bin bereit …“, mahnte Hiller in zartfühlender Weise.
Marga schreckte zusammen. Langsam hob sie den Kopf, langsam, tonlos kamen die Worte ihr über die Lippen:
„Ich möchte Ihnen zunächst die Vorgeschichte dieses unseligen Ereignisses erzählen, Herr Kommissar. Des besseren Verständnisses halber. Vor nunmehr drei Jahren wurde ich von einer Pensionsfreundin, deren Vater Major und Kommandeur des in Kolberg stehenden Infanterie-Bataillons war, eingeladen, den Sommer bei ihr in dem ja auch als Seebad berühmten Städtchen zu verleben. In Kolberg lernte ich dann eines Tages einen Schauspieler kennten, der am dortigen Sommertheater für die eine Saison engagiert war and dessen ganze Persönlichkeit auf mich, das siebzehnjährige, weltunerfahren Mädchen sofort einen tiefen Eindruck machte.
Bei einer unsrer Zusammenkünfte – ich hatte mich in meiner Backfischnaivität schwärmerisch in den Schauspieler verliebt – stellte mir Ewald Schwechten, so hieß der jugendliche Liebhaber der Sommerbühne, dann seinen Freund vor, der angeblich österreichischer Baron und Offizier sein sollte. Damals glaubte ich dies in meiner Harmlosigkeit natürlich ohne weiteres. Baron von Lautenborn war es dann, der uns beide „zum Andenken“ des öfteren in allerhand zärtlichen Stellungen photographierte. Bei diesen Photographien blieb es leider nicht. Ich schrieb Schwechten vielmehr auch die glühendsten Liebesbriefe, in denen so manche Stelle vorkam, [122] denen eine andere Deutung zu geben war. Er verstand es ja auch so vortrefflich, mich völlig in Sicherheit zu wiegen. Immer wieder redete er mir vor, er habe die beste Aussicht, an eine Hofbühne engagiert zu werden, und dann wolle er offen vor die Meinen hintreten und um mich werben. Und ich unerfahrenes Ding glaubte das alles, ließ mich in meiner Blindheit immer weiter von ihm aushorchen, so daß er bald über unsere Familienverhältnisse fast ebenso gut Bescheid wußte, wie ich.
„So vergingen die acht Wochen, die für den Besuch bei meiner Freundin vorgesehen waren,“ begann Marga wieder. „In der letzten Zeit hatte sich meine schwärmerische Liebe für den Schauspieler jedoch bedeutend abgekühlt. Alle Welt erzählte sich von seinen Liebesabenteuern, an die ich natürlich nicht glauben mochte, die aber doch die ersten Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Neigung zu mir wachwerden ließen. Dazu kam, daß ich gleich von Anfang an trotz meiner törichten Backfischseligkeit von ihm stets eine gewisse unbestimmte Scheu empfunden hatte. Und von Tag zu Tag noch mehr, ohne daß ich dafür einen Grund hätte angeben können. Als wir dann Abschied voneinander nahmen, bat ich ihn flehentlich, mir meine Briefe und auch die Photographien auszuhändigen. Er tat es nicht, gebrauchte vielmehr allerhand Ausflüchte, die ich als solche sehr bald erkannte. Meine Angst wuchs. Ich wurde dringender, weinte, beschwor ihn verzweifelt, meinem Wunsche zu willfahren. Da gab er scheinbar nach und versprach mir – auf sein Ehrenwort! – all die Sachen sofort zu verbrennen.
Monatelang ließ Schwechten nun nichts von [123] sich hören. Schon glaubte ich für immer von ihm befreit zu sein, als meine Vertraute, die Frau des Inspektors, mir eines Tages im Spätherbst heimlich einen Brief zusteckte. Darin schilderte mir Schwechten in bewegten Worten seine durch Krankheit entstandene augenblickliche Notlage und fügte die Bitte hinzu, ich möchte ihm mit fünfhundert Mark aushelfen, die er mir im Frühjahr wiedergeben würde. Ihm war nämlich bekannt, daß ich von meiner Großmutter väterlicherseits im Jahre vorher ungefähr 25 000 Mark geerbt hatte, die mein Vater mich selbst verwalten ließ. Dies alles hatte ich ihm, und manches andere noch, in meiner blinden Vertrauensseligkeit damals in Kolberg mitgeteilt.
Ich will mich kurz fassen. Bereits nach einem Monat traf ein zweiter Brief von Schwechten ein, wieder aus Berlin. Wieder verlangte er Geld – jetzt 1000 Mark, da er seine Stimme entdeckt habe und sich zum Opernsänger ausbilden lassen wolle. In meiner Angst sandte ich ihm auch diese Summe. Und so ging es fort, bis ich ihm vor sechs Wochen das Letzte meines Kapitals hingab, gezwungen durch seine Drohungen, die immer unverblümter geworden waren und schließlich darin gipfelten, er werde, falls ich ihm nicht blindlings gehorche, meine Briefe und die Photographien meinem Vater zuschicken.
Dann lud mich Tante Grunert zu sich nach Berlin ein. Meine Eltern, die ja nicht ahnen konnten, welchen Grund meine zunehmende Melancholie, mein trauriges Dahinvegetieren hatten, hofften von dem Aufenthalt in der Reichshauptstadt das Beste. Hier sah ich Schwechten nach fast dreijähriger Trennung [124] wieder. Ich erklärte ihm, daß ich ihm nichts weiter geben könne, da ich nichts mehr besäße, beschwor ihn unter Tränen, mir nicht auch ferner das Leben zur Hölle zu machen. Als vollendeter Heuchler suchte er jetzt alles so hinzustellen, als ob nur die Macht der Verhältnisse ihn zu diesem Vorgehen gedrängt habe. Ja, er besaß sogar die Frechheit, auf seine alten Rechte zu pochen, wollte auf diesem Spaziergang durch den stillen Grunewald zärtlich werden und mich an sich ziehen. Voll Abscheu stieß ich ihn zurück. Als wir uns trennten, rief er mir noch zu, daß für mich stets ein Brief von ihm auf dem Postamt Turmstraße unter der Chiffre „XYZ Kolberg“ lagern werde, wenn ich eine leere Berliner Ansichtskarte zugeschickt bekäme.
Acht Tage ließ er mich in Ruhe. Dann traf die erste dieser Karten ein. Ich holte mir den Brief ab, in dem er von mir wieder 1000 Mark forderte.
In meiner Ratlosigkeit ließ ich einen Tag nach dem andern verstreichen, ohne ihm zu antworten. Und dann kam wieder eine dieser Ansichtskarten, die nichts als eine Adresse enthielten. Wieder holte ich mir den Brief ab, las ihn auf einer Bank im Moabiter Tiergarten, zerriß ihn und warf die Schnitzel achtlos weg, da ich ja wußte, daß die Schrift sehr bald wieder verschwunden sein würde. Das war auch eine von den raffinierten Vorsichtsmaßregeln Schwechtens, all seine Briefe an mich mit einer Tinte zu schreiben, die nach einer bestimmten Anzahl von Stunden unsichtbar wurde. Schwechten drohte mir in jenem Schreiben, er würde mich meinen Verwandten gegenüber bloßstellen, falls ich das Geld nicht schleunigst herbeischaffte.
[125] Völlig gebrochen kehrte ich von diesem Ausgang zu meinen Verwandten zurück. Gegen Abend schrieb ich Schwechten Antwort und brachte den Brief selbst auf die Post. Ich bat ihn mit Ausdrücken, die einem Stein hätten Erbarmen einflößen müssen, um einen Aufschub und versprach alles zu versuchen, um die verlangte Summe zu besorgen. – Am folgenden Vormittag brach dann das Unglück herein. Als sich gerade Tante und die beiden Mädchen zu dem verabredeten Besuch des Warenhauses fertig machten und daher nicht öffnen konnten, läutete es an der Vordertür. Ahnungslos eilte ich hin, um nachzusehen, wer Einlaß begehrte. Entsetzt prallte ich zurück, als ich Schwechten erkannte. Er ließ sich nicht abweisen. In meiner wahnsinnigen Angst führte ich ihn in Onkels Arbeitszimmer, das ja dicht neben der Korridortür liegt, verbarg ihn hier hinter der Draperie, die eine Ecknische verdeckt, und flüsterte ihm zu, daß ich versuchen würde, unter irgend einem Vorwand zu Hause zu bleiben. Dann könnten wir alles erledigen.
Vielleicht dachte er, daß ich das Geld bereits in meinem Besitz hätte und ihm aushändigen würde. Jedenfalls nahm er meinen Vorschlag an und verhielt sich in seinem Versteck völlig ruhig. Ich aber kehrte in Tantes Ankleidezimmer zurück und erklärte, es sei nur ein Bettler gewesen, der eben geläutet habe. Meine Verstörtheit fiel meiner Verwandten zwar auf, ich wußte mich jedoch geschickt herauszureden, so daß sie keinen Argwohn schöpfte. In meiner Fremdenstube riß ich dann schnell aus meinem Koffer den Revolver heraus, den ich mir erst kürzlich hier in Berlin in der Absicht gekauft hatte, [126] nötigenfalls die Waffe gegen mich selbst zu richten, – falls eben Schwechten einmal seine Drohungen wahr machen und die Geschehnisse jener Kolberger Zeit verraten würde.
Dann brachen wir auf. Unten an der Haustür eilte ich nochmals zurück, um angeblich mein Handtäschchen zu holen. Tante gab mir ihren Korridorschlüssel und ging inzwischen mit den beiden Mädchen zur nächsten Haltestelle der Elektrischen voraus. Ich war kaum fähig, die Treppen emporzusteigen, in so furchtbarer Erregung befand ich mich. Endlich stand ich Schwechten in Onkels Arbeitszimmer gegenüber, endlich durfte ich ihm all meine Verachtung, all meinen Haß rücksichtslos ins Gesicht schreien. Die Revolvermündung hielt ihn in Schach. Er mochte ahnen, daß seine letzte Stunde geschlagen hatte, verlegte sich jetzt aufs Bitten, schwor mir mit allen möglichen Eiden zu, daß er mir die Briefe und Bilder zurücksenden und nie mehr meinen Weg kreuzen würde.
Ich ließ mich überlisten –. Plötzlich sprang er zu und schlug mir mit der Faust den Revolver aus der erhobenen Hand. Die Waffe prallte hart auf den Boden auf, entlud sich von selbst und die Kugel traf Schwechten, der bei diesem Überfall nach vorne getaumelt war, in die Stirn. Noch ein paar Zuckungen, dann lag er entseelt zu meinen Füßen.
Wie von Furien gejagt stürmte ich davon.
Wie ich jenen Vormittag überstanden habe, wie mein jagendes Herz, mein überreiztes Gehirn den Ansturm all dieser wahnwitzigen Angstanfälle ertragen konnte – ich werde es nie begreifen. Und in dieser Lage, als ich tatsächlich nahe daran war, [127] den Verstand zu verlieren, hat der Mann schützend seine Hände über mir gehalten, der jetzt hier unter falschem Verdacht gefangen sitzt. Fred Heiking ahnte den wahren Sachverhalt, und seine ermutigenden Worte waren es, die mir wenigstens etwas meine Fassung wiedergaben. Als ich dann später sah, daß auf mich keinerlei Argwohn fiel, nahm ich mir vor, auch fernerhin zu schweigen. Vergebens hat Fred Heiking mich gebeten, ich soll Vertrauen zu ihm haben und ihm die Wahrheit eingestehen. Ich brachte es nicht über mich. Trotzdem hat er sein Versprechen gehalten und sich sogar soweit für mich geopfert, daß er sich ruhig verhaften ließ und durch klug ersonnene Lügen den Schein weiter aufrechterhielt, als habe er Schwechten in der Notwehr erschossen.
Dieses Opfer, Herr Kommissar, konnte ich nie und nimmer annehmen – selbst nicht von dem Manne, der, wie ich sehr wohl weiß, mich aufrichtig liebt und dessen Liebe ich – weshalb soll ich diese nicht gestehen! – ebenso herzlich erwidere. In der verflossenen, schlaflosen Nacht habe ich mich zu dem nicht leichten Entschluß durchgerungen, endlich mein Geheimnis preiszugeben.“
Da litt es mich nicht länger in meinem Versteck. Ich riß die niedrige Tür auf, trat vor.
„Marga,“ rief ich, „Marga, du bleibst mein, und wenn alles um uns zusammenbricht.“
Sie war aufgesprungen. Und dann flog sie mit einem Jubelschrei in meine ausgebreiteten Arme. Fest drückte ich sie an mich, ganz fest. –
Eine halbe Stunde später durften wir gemeinsam [128] das Polizeipräsidium verlassen. Der Sektionsbefund – die sonderbare Richtung des Schußkanals ließen Margas Angaben vollkommen glaubwürdig erscheinen. Es lag daher kein Grund vor, sie zurückzuhalten. Da Hiller fraglos absichtlich mir gegenüber jede Frage vermieden hatte, wie die beiden Schlüssel neben die Leiche gelangt waren, und ich mithin meinen Diebstahl nicht einzugestehen brauchte, gab man auch mir die Freiheit wieder, obwohl es ja noch genug dunkle Punkte in diesem Drama auszukitten gab, bei deren Klarstellung ich leicht in neue Schwierigkeiten hätte geraten können. Aber der Kommissar zeigte bei dieser Gelegenheit, daß er nicht nur Beamter, sondern auch Mensch war. –
Am Nachmittag desselben Tages berichtete ich dann meinen Verwandten und Marga meine schwere Verfehlung. Ich fand schnelle, gütige Verzeihung. Und Tante Johanna hatten wir es dann zu danken, daß auch Margas Eltern ihr einziges Kind, das für die eine in[23] jugendlicher Unerfahrenheit begangene Torheit so hart gestraft worden war, in Liebe wieder aufnahmen. –
Meine Abreise nach Windhuk wurde nun doch bis zum Januar verschoben. Am 3. dieses Monats führte der Dampfer „Kaiser“ der Woermann-Linie ein seliges junges Paar seiner neuen Heimat entgegen. –
Was ich weiter erlebte, gehört nicht mehr in diese Aufzeichnungen hinein. Nur eines will ich noch sagen zum Schluß: daß ich an Margas Seite ein volles, restloses Glück gefunden habe.
Errata (Wikisource)
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- ↑ Zeile in der Vorlage verrutscht
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- ↑ Vorlage: kurkurzen
- ↑ Ergänzt – siehe Seite 46.
- ↑ Vorlage: dem
- ↑ Falsche Zeile in der Vorlage: nun erst davon. Unbeachtet trat ich auf die Straße
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