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Vertrauen bewiesen, welches sie nicht lediglich dem entfernten Vetter – eigentlich war’s ja kaum mehr Verwandtschaft zu nennen! – entgegenbrachte.

Noch immer saß sie mit verzweifelt ins Weite gerichteten Augen regungslos auf der stillen Bank. Ich wußte nicht recht, ob ich sie ansprechen sollte. Vielleicht kam ich ihr in der Stimmung, in der sie sich befand, ungelegen. Und doch trieb mich das Mitleid mächtig zu ihr hin. Schon wollte ich mich auf einem Umwege ihrem Platze nähern, als sie sich erhob und langsam weiterging. Ich sah noch, wie sie den Brief in kleine Stücke zerriß und die Schnitzel bald hier, bald dort unter die den Boden bedeckenden welken Blätter warf. Dann entschwand sie meinen Blicken.

Unbekümmert um die verwunderten Blicke der Vorübergehenden begann ich die Fetzen des Briefes zu sammeln. Oft mußte ich mit meinem Spazierstock das Laub auseinanderscharren, um ein winziges, verwehtes Stückchen hervorzusuchen. Endlich glaubte ich auch das letzte gefunden zu haben. Sorgfältig verwahrte ich alles in meiner Brieftasche. Daheim wollte ich das Schreiben dann in Ruhe zusammensetzen und entziffern.

Ich schaute nach der Uhr. Kurz vor Zwölf. Das war so die Zeit, wo Lautenborn sich zu erheben pflegte. Ich kam ohnehin auf dem Nachhausewege an seiner Wohnung vorüber und konnte wenigstens den Versuch machen, ob er mir vielleicht heute die Rückzahlungsfrist verlängern würde.

Ich fuhr also mit der Stadtbahn von Schloß Bellevue bis zur Station Zoologischer Garten und von dort weiter mit der elektrischen Straßenbahn

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Walther Kabel: Irrende Seelen. Leipziger Kriminalbücherverlag, Werner Dietsch Verlag, Leipzig 1919, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Irrende_Seelen.pdf/19&oldid=- (Version vom 1.8.2018)