Drei Bücher von der Kirche/I. Von der Kirche

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II. Von den Kirchen »
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I.
Von der Kirche.




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1. Wir sind zur Gemeinschaft und zur Kirche geboren.


 Eine Landschaft, welche mit dem zauberischesten Pinsel der Natur entnommen und mit täuschender Wahrheit auf die Leinwand niedergelegt ist, läßt unbefriedigt, sie sei so schön sie wolle, wenn nicht irgendwo auf ihr die Gestalt des Menschen angebracht ist. Es ist eine wunderbare Wehmuth und Bangigkeit, welche den Menschen ergreift, wenn er sich von seines Gleichen verlaßen sieht, und wäre es auch nur auf einem Bilde. In einem natürlicher Weise noch viel höheren Maße empfindet der Mensch jene bange Wehmuth beim Anblick menschenleerer Gegenden in der Natur. Ja, je schöner die Gegend ist, in welcher wir unsers Gleichen nicht finden, desto peinigender ist uns die Einsamkeit. Zur Wüstenei noch eher, als zum Paradiese stimmt Menschenleere. Alle Reiche der Welt sind dem Einsamen kein Ersatz der Gesellschaft. Enger, als ein Gefängnis, wird der weite Erdboden dem Verlaßenen und Einzelnen. Von Anfang her ist der Mensch so beschaffen, daß er allein nicht glücklich sein kann.

 Ich will mehr sagen. Alleine könnte der Mensch nicht einmal selig sein. Wird mirs unerträglich, von Gottes Höhen in wunderbare Thale und Gelände hinzuschauen, ohne durch mein Ach der Freude einen gleichen Ton in einer verwandten Brust zu erwecken; wie viel weniger werde ich alleine in ewige Seligkeiten schauen können, ohne mich nach einem Genoßen umzusehen. Kein Auge hat je gesehen, kein Ohr hat je gehört, auch ist in keines Menschen Herz gekommen, was Gott | denen bereitet hat, die Ihn lieb haben. Ich weiß es, daß mir die Verheißung ewigen Lebens unbegriffener ist, als Adam die Drohung des Todes trotz dem, daß er in seiner Natur für den Tod noch nichts Verwandtes hatte, während ich dem Leben schon verwandt bin und seine Erstlinge genieße. Ich weiß, was ich zu sagen wage, aber ich wage es doch: „Eine ewige Seligkeit, ein unermeßlicher Freudenhimmel, und darin Einer, nur Einer, seis auch ich selber! Nein! Alleine möchte ich nicht einmal selig sein!“

 Zwar spricht David: „Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“ Im Jammerthale der Welt, ja im dunkeln Thale des Todes behauptet er, an Seinem Gott genug zu haben. Und man könnte deshalb sagen: „Sollte einer nicht im himmlischen Paradiese um so viel mehr genug haben, wenn er nur seinen Gott hat? Ist nicht völlig selig, wer des Anschauens Gottes genießt und einsam ist mit Ihm?“ So könnte man sagen. Aber dennoch bleibe ich bei meiner Behauptung. Ja, ich will den Einwand selber steigern, um dann doch nur meine Behauptung zu steigern.

 Ich will den Einwand steigern. Es ist ein seltenes Erdenglück, mit Christo eine Stunde so ganz allein zu sein, daß alle Gedanken, alle Begierden, alle Freuden der Seele in Ihm ungestört ruhen, und uns ER, nur ER gegenwärtig ist. Wie mancher lebt, der nie eine solche Stunde, nie eine halbe, nie eine Viertelstunde gefunden hat. Immer verfolgt ihn sein eigenes Ich; nimmer verläßt ihn die Manchfaltigkeit der Welt; er wird seines Daseins nicht los, und die Freude des Alleinseins mit Gott, um die er betet, bleibt ihm ein unerreichtes Ziel. – Wenn nun einer Seele nach so vielen Kämpfen, der Welt und ihres eigenen Schattens und Gedankens los zu werden, endlich der Sieg, und durch bittre Todesstunden der Eingang zum ewigen Leben gelingt, und Der erscheint, „den diese Seele liebte, noch eh sie Ihn gesehn,“ wenn Er sie an seine Brust nimmt und sie Sein genießt von Ewigkeit zu Ewigkeit: sollte einer solchen Seele noch etwas fehlen, sollte sie nicht vollkommen selig sein?

 Ich habe den Einwand gesteigert – und wiederhole dennoch meine | Behauptung, die eben dadurch selbst gesteigert erscheint. Versuchs nur zu denken, peinige dich, es zu wollen, es wird doch nicht gehen. Alleine mit Christo kannst Du nicht selig sein. ER und Seine ewige Seligkeit sind eine bei weitem zu schwere Last für Eine Seele, die niemand ihres Gleichen nahe hat. Das herrliche „wenn ich nur Dich habe“ Davids bleibt in allen seinen Würden; aber es widerstrebt meiner Behauptung nicht im mindesten. Sich selbst zum Troste beim Glück und im Haß der Gottlosen spricht er es Ps. 73, 25 f., aber nicht der Meinung, daß er bei Gott völlig alleine, auch ohne die Gemeinschaft bleiben wollte, die er haben konnte und sollte. Nicht minder brünstig, als im 73. Ps. ruft er Ps. 42.: „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Waßer, so schreit meine Seele, Gott, zu Dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?“ Aber in demselben Psalme v. 5. bezeugt er auch: „Ich wollte gerne hingehen mit dem Haufen und mit ihnen wallen zum Hause Gottes, mit Frohlocken und Danken, unter dem Haufen, die da feiern.“ Daraus erkennt man deutlich, daß er eine einsame Seligkeit und Gemeinschaft mit Gott Ps. 73 nicht wünscht, daß sein „nur Dich“ ihn zunächst und um jeden Preis nur von den Gottlosen scheiden will, daß er eine selige Gemeinschaft mit andern Menschen recht wohl erkennt und kennt, ja sich nach ihr sehnt.
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 Es kann auch nicht anders sein. Und ob einer schon alles Ernstes wünschte, mit Gott ewig allein zu sein; so würde es doch nicht erfüllt werden können. Denn gleichwie der HErr keine Erde nur für Einen Menschen geschaffen hat, so hat er auch keinen Himmel nur für Einen Menschen geschaffen. Es gibt keine einsame Erde und keinen einsamen Himmel, und wer eine völlige, seis zeitliche, seis ewige Trennung von allen Menschen wünschen kann, in dem ist die Liebe nicht, die aus Gott ist, sondern ein finstrer, hochmüthiger Haß beide Gottes und der Menschen. Nicht geistlich, sondern teufelische Unnatur ist es, eine Erde, einen Himmel oder gar Gott für sich allein haben zu wollen. Es ist allen Menschen, so schlimm wir sind, doch ein Verlangen nach dem HErrn HErrn, unserm Gott, eingeboren; „wir sind zu Ihm geschaffen, | und unser Herz hat keine Ruhe, bis es ruht in Ihm.“ Aber auch ein Verlangen nach Gemeinschaft mit andern Menschen ist uns eingeboren, und es tritt gerade dann am meisten hervor, wenn wir den HErrn bereits gefunden haben. Die Bekehrung zum HErrn macht die Einsamen gesellig.

 Es gibt viele Gemeinschaften auf Erden; aber es befriedigt keine den dürstenden Sinn, als Eine, gleichwie auch jede Gemeinschaft nur eine misverstandene Weissagung und ein mehr oder minder vollkommener Schattenriß jener Einen von Gott gewollten, von Gott zur Ewigkeit berufenen Gemeinschaft ist. Diese eine Gemeinschaft ist die Kirche Gottes, die Gemeine der Heiligen. Zu unserer vollkommenen Seligkeit gehört die Kirche, zu unserer vollkommenen Seligkeit ist sie auch gestiftet, wird sie auch erhalten und in immer reicherer Zahl zum ewigen Leben vollendet. Gemeinschaft ist Liebe, Liebe ohne Gemeinschaft ist ein Traum aus dem unmöglichen Reiche der Unmöglichkeit. Die Kirche ist die von Gott gestiftete ewige Gemeine und Gemeinschaft auserwählter Seelen untereinander und mit IHM. In ihr ist die gottwohlgefälligste Liebe, die jede andere Liebe verklärt. Die Kirche ist der schönste Liebesgedanke des HErrn, in welchem sich Seine eigene Menschenliebe und die Liebe zu Seinem Sohne mit enthülltem Antlitz zeigt. Gottes schönste Herrlichkeit ist Liebe – in der Kirche offenbart Er Liebe über Liebe, offenbart sie allen ihren Gliedern, den Lebenden, den Sterbenden, den Seligen, – von nun an bis in Ewigkeit. In der Kirche singt und sagt man auch von dieser Herrlichkeit Gottes, die da Liebe heißt. In der Kirche ist darum nicht allein unsere Seligkeit, sondern auch Gottes vollkommener Preis, Gottes Herrlichkeit. Gottes Ehre, wie unsere Seligkeit vollendet sich also in der Kirche. Die Kirche ist Vollendung, – hier wird alles erst, was es soll. Die Kirche ist Vollendung, – und was ist vollendet ohne sie?

 Siehe die Kirche! Sie ist der Gegensatz der Einsamkeit, – selige Gemeinschaft! Millionen Seliger und Gläubiger, die da selig werden, – und unter ihren Lobgesängen der HErr! – Nicht mehr einsam, sondern durchdrungen, befriedigt, – ja selig ist Der, welcher Einer ist unter | den Millionen, deren jeder Christum ganz und völlig und mit Ihm Himmel und Erde hat!


2. Die Gemeinschaft der Kirche ist Eine hier und dort.


 Daß ich nicht allein bin, daß ich nicht alleine walle, daß mit mir zugleich eine Gemeine Gottes durch das Jammerthal pilgert, ist mir ein so erfreuender, heimatlicher Gedanke. Mitten in der öden Wüste dieses Lebens kann mir schon dieser Gedanke alles Leid in Vergeßenheit bringen. Nun aber ist die Gemeinschaft der Heiligen kein bloßer Gedanke, sondern unumstößliche Gewisheit. Ich weiß aus Gottes Munde, daß ich nicht allein bin, daß ich „zum Hause Gottes walle unter Haufen, die da feiern.“ Ob ich sie kenne, diese Haufen, ob ich die einzelnen Pilgrime mit Namen nennen kann oder nicht, was liegt daran? „Der HErr kennt die Seinen,“ und aus Seinem Munde weiß ichs, daß ihrer eine große Schaar ist aus allen Geschlechtern. Wie sollte ich Ihm nicht trauen? Ja, meine Augen liefern mir den Nachweis zu dem, was ich aus Gottes Munde weiß. Denn ich sehe ja um mich her in näheren und ferneren Kreißen so manche Menschen, welche ich für Gottes Kinder zu halten gute Gründe habe. Ich weiß es freilich nicht mit göttlicher Gewisheit, aber mit einer fast zuversichtlichen Wahrscheinlichkeit, daß der und jener unter meinen Freunden ein ewig gewonnenes Gotteskind ist.

 Des freue ich mich oft von Herzen, aber leider, meine Freude bleibt auch nicht ohne Schmerz. Denn der Tod zehntet unter den mir theuern Seelen. Wie Lichter verlöschen, verlischt einer um den andern in der leuchtenden Schaar meiner Freunde, die verlaßenen Stellen bezeichnen dunkle Flecke, und selten tritt ein anderer Stern an die verlaßene dunkle Stelle. Das wirkt Schmerz und Sehnsucht!

 Doch ich vergeße nicht, daß nur meinen Augen entschwunden, nur auf höhere, mir entlegenere Stellen des göttlichen Reiches vorgerückt sind die Brüder, die ich meine, – und was ich so schmerzlich empfinde, ist nur der selige Fortschritt der Zeit meiner Brüder zur schönen Ewigkeit, | nur ihre Vollendung, nur die Wahrnehmung, daß sie glücklicher sind, als ich, daß ich im Elend zurückgelaßen bin, während sie vor meinen Augen die Pforten des ewigen Sieges und Triumphes erreicht haben. Daß auch mein Lichtlein hier verlöschen, daß auch mir – vielleicht recht bald – die Pforte ewigen Triumphes geöffnet wird, daß ich schon vor der Pforte stehe, ist mir ein großer Trost. Aber es gibt einen größeren. Jener sterbende Gelehrte verlangte, um wohl zu sterben, einen großen Gedanken. Ich weiß einen Gedanken, der mächtig genug ist, so Sterbende, wie Lebende über die Kluft des Todes hinwegzuheben.

 Der Gedanke, welchen ich rühme, ist dieser:

Die da leben im HErrn – und die in Ihm außer dem Leibe wallen gehen, – die da pilgern, die daheim sind, – die da glauben, die da schauen, sind nicht zwei getrennte Heerden Gottes, sondern Eine, Eine vor dem HErrn, Eine nach ihrer eigenen Erkenntnis; – und was sie trennt, ist etwas Vergängliches, das täglich mehr hinweggeräumt wird: ein müdes Auge, das nicht schaut, – ein Stab, der zerbricht, – ein Leib, der hinfälliger ist, als Stab und Stecken. Was sie vereint, ist mehr und größeres, als was sie trennt.

 Vielleicht sprichst Du: „das ist nichts neues.“ Aber ich habe auch nicht gesagt, daß es etwas neues sei. Große Gedanken werden nicht in der letzten Stunde der Welt geboren, sondern der HErr gönnt sie Seiner Kirche von Anfang. Neu und falsch ist einerlei, wenn es von Dingen gesagt wird, deren man nicht entrathen kann. Alles Unerhörte in Dingen der Religion verdient Mistrauen. – Auch mir war der Gedanke dem Klang nach lang bekannt, als er mir neu wurde dem Verständnis nach, – und man kann Dinge lebenslänglich wißen, ohne sie zu verstehen. Glaubst Du das?

 Am schönsten finde ich den Gedanken von der Einen Kirche hier und dort schon von dem heiligen Verfaßer des Hebräerbriefes ausgesprochen. Cap. 12, 22 ff. lesen wir: „Ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend | Engel, – und zu der Gemeine der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollkommenen Gerechten, und zu dem Mittler des neuen Testamentes JEsu, und zu dem Blut der Besprengung, das da beßer redet, denn Abels.“ – Hier sehen wir wie in einem Gesichte die ganze Kirche. Wie vor unsern Augen erhebt sich der Berg Zion. Seinen Gipfel krönt die himmlische Stadt Jerusalem. Drinnen ist um Gott und Seinen Christus her die triumphirende Kirche, bestehend aus vielen tausend Engeln, aus der Gemeine der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, aus den Geistern der vollkommenen Gerechten, welche außer dem Leibe wallen. Und den Berg hinan, dem Gipfel zu, zur Stadt, die gebaut ist, daß in ihr die Stämme zusammenkommen sollen, wandelt ein unabsehbarer Zug noch mit dem Leibe bekleideter Menschen. Etliche sind dem Gipfel und den Thoren der Stadt schon so nahe, daß sie bereits das Morgenroth der Ewigkeit bestrahlt, während andere noch weit unten am Fuße des Berges gehen, noch in irdisches Dunkel eingehüllt sind, noch keinen Strahl der Ewigkeit auf der Stirne haben. Sie gehören aber doch alle schon zur Stadt auf dem Berge, zum himmlischen Jerusalem; denn ihnen, den Lebendigen, ruft der Apostel zu: „Ihr seid gekommen zum Berge Zion etc.“ Sie haben auch schon ihren „Wandel, ihr Bürgerrecht, ihre Wohnung“ drin. Der pilgernden Kirche ganzes Ziel ist jenseits, hier eilt sie davon, dort ist ihr Bleiben; sie fühlt sich gleichen Looßes mit denen, die da überwunden haben, sie ist mit ihnen Eine ewig verbundene Schaar.

 Was trennt uns nun, die wir pilgern und streiten, von denen, die daheim sind und triumphiren? Gewis, nur wenig! Sähen wir uns in der Verbindung mit Zion, in welcher uns der Apostel darstellt, so würden wir es für ein Kleines halten, daß wir pilgern und streiten. Ja, es ist so gar alles am Schauen gelegen, daß wir, wenn wir sähen, weder pilgern, noch streiten würden, so wenig als die Engel, die mitten unter uns pilgern und streiten, aber dabei Gott schauen und Seine Herrlichkeit.

|  Also es gibt eine ewige Kirche, theils hier, theils dort befindlich. Hier wird sie immer kleiner, dort wird sie immer größer, weil immer mehr der wallenden, streitenden Schaar zu ihrem Volke versammelt werden! Dieser ewigen Kirche möchte ich angehören! – Als ich jung war, hab ich manche Freundschaft und Gemeinschaft ausgeschlagen, weil ich sie nicht für ewig schließen konnte und mich doch nach ewiger Gemeinschaft dürstete. Nun kenne ich eine ewige Gemeinschaft, die immer inniger und einiger wird: die heilige Kirche! Ihr fall ich bei. Von ihr trennt mich kein Tod, er bringt mich erst zu völligem Genuß der Liebe und Gemeinschaft. Zu ihr hilft mir alles – und nichts hindert mich, es sei auch was es sei. Gelobt sei Gott!


3. Die Kirche ist Eine in allen Zeiten.


 Es ist nur Eine Kirche hier und dort. Daraus kann ich mühelos finden, daß auch nur Eine Kirche in allen Zeiten sein kann. Die Kirche, welche ewig währt, muß auch in allen Zeiten eine dauernde Währung haben. Der Prediger sagt: „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt ewiglich“ (1, 4.). In einem Sinne, der das „ewiglich“ vollkommener auffaßt, ist wahr: „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Kirche Gottes aber bleibt ewiglich.“ Nicht alle Geschlechter aller Zeiten, nicht alle Kinder eines Geschlechtes sammeln sich zu Einer heiligen Gemeine Gottes. Aber in allen Zeiten sondert sich aus den Geschlechtern der Welt eine heilige Schaar – und sammelt sich zu einer unvergänglichen Kirche Gottes. Dies Sondern, dies Sammeln hört nimmer auf, bis der HErr wiederkommt. Um dieses Sonderns, dieses Sammelns willen wird die Welt gefristet, und nichts Wichtigeres, nichts Folgenreicheres geschieht unter der Sonne, als dies Sondern, dies Sammeln. Hört dies Sondern, dies Sammeln auf, so ist es nichts mehr mit aller Welt und ihre Stunde ist dann gekommen, ihr Ende ist da. – An Pfingsten, am Golgatha entsprungen geht durch die Zeiten herunter die Kirche, wie Ein Strom, – und derselbe Strom und kein anderer wird auch ferner | unverändert durch die Zeiten gehen, bis er sich an jenem großen Tage in das hochberühmte Meer der ewigen Seligkeit vollends ergießen wird. Und gleichwie Eines Stromes Waßer einerlei Tropfen haben, so sind alle Kinder des großen Stromes, der da Kirche heißt, zu allen Zeiten von einerlei Art gewesen und werden es sein. Aller Menschen Geschlechter sind von einerlei Blut entsproßen und darum Eines Geblütes; so sind auch alle Kinder der Kirche von Anfang her Eines Geistes theilhaftig, Eines geistlichen Geschlechtes. Bin ich in meiner Zeit ein Tropfen des großen Stromes, ein Glied der Kirche, so bin ich ein Bruder der Väter vor mir und der Kinder nach mir. Es ist kein Unterschied zwischen dem ersten und dem letztgeborenen Kinde der Kirche, als die Zeit, und die vergeht, so daß hernachmals gar keiner mehr übrig bleibt. Wir alle zusammen vom Anfang bis zum Ende sind Eine heilige und selige Gemeine Gottes, des Allerhöchsten. Und um diesen Gedanken in seiner vollen Wahrheit und Freude zu ergreifen, fehlt uns nichts, als daß er in uns lebe und wir in ihm.
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 Wenn die Kirche, der wir angehören, erst drei Jahrhunderte zählte, so müßte man sie schon darum eilenden Fußes verlaßen. Sie wäre dann zu jung, eine neue Kirche. Und neu und falsch (ich wiederhole) ist einerlei in diesen Dingen. Aber es ist nicht wahr, sie ist nicht neu. Gleich einer schönen, wunderbaren Blume sproßt die Kirche durch alle Zeiten herauf; aus einer Blüthe kam von Anfang her immer wieder der Stengel einer neuen, der vorigen gleichartigen, herrlichen Blüthe und eine neue Blüthe selber. Zu verschiedenen Zeiten verschiedene Blüthen Einer Blume, – das sind die verschiedenen Gestaltungen der Einen wahren Kirche in der Zeit. Der Einen, durch alle Zeiten perennirenden Blume jüngster Blüthenstengel trieb vor drei Jahrhunderten, und nun eben harrt die Welt, die Blüthe dieses Stengels sich in voller Schönheit entfalten zu sehen. Wenn dann auch Neid wider das Kleinod und Wunder der Erde sich erhebt, was liegt dran? Sie ist ja doch, was sie durch Gottes Gnade ist, die ächte Blüthe des Einen alten, niemals alternden Gewächses, der frischeste Beweis der einen, niemals alternden Kraft der Einen Kirche Gottes. – Wie lang es | noch dauern wird, daß die Kirche in der sproßenden Geschichte stehen und die Zeiten überwinden wird, das weiß ich nicht; auch weiß ich nicht mit voller Sicherheit zu sagen, ob die letzte Blüthenzeit der Kirche gekommen ist und wie viele noch kommen werden; aber zweierlei weiß ich gewiß. Ich weiß, daß die alte Kirche gegenwärtig blüht und zwar in dem, was wir „unsre Kirche“ nennen, – daß der Strom der Jahrhunderte und Jahrtausende, der Strom von Anfang, durch unsre Gränzen fließt, – daß dieser Strom deshalb nicht neu wird, weil er vor drei Jahrhunderten Wittenberg umspielte, oder weil wir Kinder von gestern die Gnade haben, an seinen Ufern zu wohnen. – Und ferner weiß ich, daß der Strom nicht aufhört zu strömen, so lange die Zeit der Welt währt, – daß die Kirche nicht ausstirbt, so lange die Sonne und der Mond scheinen. Eingeengt werden kann der Strom, sich unter Berg und Hügeln den Sinnen oberflächlicher Betrachter entziehen – auf eine Zeit lang; aber versiegen kann er nicht; denn es muß allezeit Eine heilige Kirche auf Erden sein. Denn „Gott erhält Seine Stadt ewiglich, Sela!“ (Ps. 48, 9.) und „Sein Königreich wird nimmermehr zerstört werden“ (Dan. 2, 44.). Er wird alle Völker dazu berufen (Mtth. 28, 20.) und zu dem Werke bei Seinen Knechten sein „alle Tage bis an der Welt Ende.“ Gleichwie der Mond abnimmt und zunimmt, aber dennoch am Himmel bleibt; so ist nicht immer einerlei Glanz um die Kirche hergegoßen; aber sie geht dennoch unverrückt ihren stillen, verheißungsvollen Gang. Gleichwie die Wolken Sonne und Mond verdecken, so hat auch die Kirche ihre trüben Tage. Aber gleichwie die Wolken nimmermehr den Glanz sonnenheller Tage und mondheller Nächte völlig wegnehmen können, gleichwie auch trübe Tage und trübe Mondnächte noch Licht übrig behalten, und sehende Augen den Stand der Sonne und des Mondes wohl finden können; so ist auch die Kirche niemals so verdunkelt, daß sie von sehenden Augen nicht gefunden werden könnte.
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 Gelobt sei Gott, der ewige König Seines unsterblichen Reiches! Gelobet sei ER, der ewige Bräutigam der unsterblichen ewigen Kirche! Gelobt sei der HErr, der h. Geist, der in allen Zeiten eine auserwählte | Schaar dem Bräutigam zuführt! Gelobt sei der dreieinige HErr! Und gesegnet sei Seine Kirche! Gesegnet ist sie, daß auch die Pforten der Hölle sie nimmermehr überwältigen werden!


4. Die Kirche ist Eine, gesammelt aus allen Völkern.


 Es ist nicht mehr, wie im alten Testamente. Da war die Kirche in die engen Gränzen der Familie Abrahams und des Volkes Israel zusammengefaßt. Noch zu Zeiten der Geburt des HErrn war die Kirche im eigentlichen Sinne eine Landeskirche, die Kirche Eines Volkes. Alle andern Völker waren „Heiden, Fremde, außer der Bürgerschaft Israel und fremde von den Testamenten der Verheißung, daher sie keine Hoffnung hatten und ohne Gott waren in der Welt.“ Ephes. 2, 11 ff. Es war ein von der Welt her verborgenes (Coloss. 1, 26.) und verschwiegenes (Röm. 16, 25 f.) Geheimnis, daß die Heiden, d. i. die Völker außer Israel – Miterben und miteinverleibt und Mitgenoßen der Verheißung in Christo werden sollten durch das Evangelium.“ Ephes. 3, 4 ff. Die Juden waren durch die Beschneidung und sonst von den Heiden geschieden, und hatten je länger je mehr ihre Freude daran, dichte Zäune und feste Scheidewände durch eigene Bemühung aufzurichten. Aber in Christo JEsu wurde das anders. „Durch Sein Blut sind nahe geworden, die weiland ferne gewesen; Er wurde der Friede der Juden und Heiden, der aus beiden Eines hat gemacht und hat abgebrochen den Zaun, der dazwischen war, indem daß Er durch Sein Fleisch wegnahm die Feindschaft, nämlich das Gesetz, so in Geboten gestellet war, auf daß Er aus zween Einen neuen Menschen in Ihm selber schaffte und Frieden machte, und daß Er beide versöhnete mit Gott in Einem Leibe durch das Kreuz, und hat die Feindschaft getödet durch sich selbst, und ist gekommen, hat verkündigt im Evangelio den Frieden den Heiden, die ferne waren, und denen, die nahe waren. Durch Ihn haben nun alle beide in Einem Geist den Zugang zum Vater, und die Heiden sind nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen | und Gottes Hausgenoßen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da JEsus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau (der h. Kirche) in einander gefüget, wächst zu einem heiligen Tempel in dem HErrn, – zu einer Behausung Gottes im Geiste.“ (Ephes. 2, 13 ff.) Die Offenbarung dieses Geheimnisses war es, mit welcher der HErr von der sichtbaren Welt geschieden ist und mit welcher Er sie zum Abschied gesegnet hat, indem Er zu den Jüngern sprach: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des h. Geistes, und lehret sie halten alles, was Ich euch befohlen habe. Und siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Mtth. 28, 18–20. vergl. Luc. 24, 46 f. – Die Offenbarung dieses Geheimnisses ist es, welche den Sinn der Apostelgeschichte ausmacht, – und in welcher sich die Geschichte der Kirche vollenden wird. – Die Offenbarung dieses Geheimnisses ist der allereigenste Lebensberuf des h. Paulus, des großen Apostels der Völker, und die glühendste Spitze der heiligen Flamme gewesen, die sein Leben verzehrte. – Die Offenbarung dieses Geheimnisses ist es, welche St. Johannes empfing, als ihm gezeigt wurden 144000 aus Israel und „eine große Schaar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhle stehend und vor dem Lamm, angethan mit weißen Kleidern und Palmen in ihren Händen, schreiend mit großer Stimme: „Heil sei dem, der auf dem Stuhl sitzt, unserm Gott und dem Lamm.“ (Offenb. 7, 2 ff.).
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 Die Kirche des neuen Testamentes, nicht mehr eine Landeskirche, sondern eine Kirche aller Völker, eine Kirche, die ihre Kinder in allen Landen hat und aus allen Landen sammelt, die Eine Heerde des Einen Hirten, aus mancherlei Stall zusammengeführt (Joh. 10, 16.), die allgemeine, die wahrhaft katholische Kirche, die alle Zeiten durchströmt und aus allen Völkern Zufluß hat, – sie ist der große Gedanke, der noch in der Erfüllung ist, das Werk Gottes in der letzten Stunde der Welt, der Lieblingsgedanke aller | Heiligen im Leben und im Sterben, für den sie lebten und leben, starben und sterben, – der Gedanke, welcher die Mission durchdringen muß, oder sie weiß nicht, was sie ist und was sie soll. Denn die Mission ist nichts, als die Eine Kirche Gottes in ihrer Bewegung, – die Verwirklichung Einer allgemeinen, katholischen Kirche. Wohin die Mission dringt, da stürzen die Zäune nieder, die Völker von Völker trennen; – wohin sie kommt, macht sie nahe, was vorhin ferne und weit getrennt war; – wo sie Platz greift, erzeugt sie jene wunderbare Einigkeit, welche „das Volk aus aller Welt Zungen“ fähig macht, einander zu verstehen in allen Stücken. Sie ist das Leben der katholischen Kirche, – Blut und Athem stocken, wo sie stockt, – und die Liebe, die Himmel und Erde vereinigt, stirbt da, wo sie stirbt. Die katholische Kirche und die Mission, die beiden trennt niemand, ohne – was am Ende unmöglich ist – beide zu tödten.
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 Da hast du die Erklärung des Beinamens der Kirche „katholisch.“ Du siehst, er bezeichnet die herrliche Unterscheidung der alttestamentlichen und neutestamentlichen Kirche. Jene war beschränkt, diese hat keine Schranken, sondern sie geht „so weit die Wolken gehen“ und die Lüfte wehen, – sie wird sein eine Vereinigung alles dessen, was sich in allen Landen aus der Welt aufmacht, um zum ewigen Zion zu kommen, – alle Völker können und sollen an ihr Theil haben, und sie an allen Völkern. Sie ist „katholisch.“ Wer die Menge der katholischen Kirche schauen will, der erwarte die Zeit, wo alle schauen werden, was Johannes Offenb. 7, 2 ff. geschaut hat. Dann wird er einen Anblick haben, welcher des großen Gedankens und der Absicht Gottes würdig ist. Dort wird keine Völkereigenthümlichkeit mehr störend das Herz berühren. Dort wird nicht mehr sein Jude, noch Grieche, nicht Germane, noch Slave, nicht Semite, nicht Japhethite, nicht Hamite, – dort schweigen alle Antipathien der Völker und der Individuen, – dort wird ihrer allzumal Einer sein in Christo JEsu. Hier aber bleibt unser Schauen hinter dem großen Gedanken zurück und, Gott Lob! auch hinter der Wahrheit. Denn der Gedanke Einer – allgemeinen Kirche ist Wahrheit. – Gleichwie es Zeiten geben | kann, in welchen die strömende Kirche wie ein Bächlein erscheint, welches mühvoll durch Dorngestrüpp sikkert, wo die Zuflüße aus der Erde Gründen und von des Himmels Fenstern ihr eine Weile entzogen sind, wo die Theurung an erlösten Seelen auch einen Elias auf den Gedanken gänzlicher Vereinsamung bringen kann; so kann es auch Gegenden und Lande geben, in denen die Kinder Gottes dünngesät erscheinen. Es gab Zeiten und Orte, in denen ein Cyprian ein triumphirendes Buch von der „Einigkeit der Kirche“ schreiben konnte, wo man die Kinder der Kirche in Schaaren sah und auch der Zahl nach, die vor Augen auf Erden war, die Kirche eine katholische nennen konnte. Es gab solche Zeiten – und wer weiß, ob wir nicht am Eingang einer solchen stehen? Es gab solche Orte – und wer weiß, wie bald hie und da, nahe oder ferne die Kirche wie eine prachtvolle, volkreiche Stadt auf dem Berge erscheinen wird? Aber wenn auch die zählbaren Glieder der Kirche nur wenige sind – in Einer Zeit, in Einem Lande! Was liegt dran? Für die Kirche auf Erden gibt es ohnehin keine wahre Statistik. Dagegen stärkt der große Gedanke Einer allgemeinen Kirche und ein Blick in Offenb. 7. den Blick und das Herz auch im dürren Lande. Wo auch nur Ein Glied der Kirche ist, da ist doch die allgemeine Kirche, der HErr vergißt keinen einzuschließen, Er kennt die Seinen! Nicht jetzt, am Ende (Offenb. 7.) erscheint ihre große Heerschaar übersichtlich. Nicht immer viele, nicht immer an jedem Orte viele oder etliche, aber allezeit und an allen Orten alle Kinder Gottes gehören zu dem großen Reich des HErrn. Der schmale Weg, die kleinen Heerden aller Lande und Zeiten bilden jene unzählbare Schaar der Offenbarung, die wahrhaft katholische Kirche des Himmels und der Ewigkeit.


5. Der Mittelpunkt der Einen Kirche ist das apostolische Wort.


 Der Mensch ist zur Gemeinschaft geschaffen, zur Kirche, welche die von Gott bestimmte Gemeinschaft ist. Die Kirche ist Eine, – ewig Eine, allezeit Eine, überall Eine. So viel haben wir gesehen. | Nun aber drängt sich die Frage auf: Worin ist die Kirche einig? oder: Was ist ihr Einigungspunkt?

 Wenn man auf diese Frage antwortet: „die Kirche ist einig in der Wahrheit; was alle ihre Kinder zu Einer Gemeine macht, ist die Wahrheit“; so wird kein Mensch die Richtigkeit der Antwort in Abrede stellen. Denn diese Einigkeit hat ja der König der Wahrheit selbst seiner Kirche Joh. 17. erfleht. Ferner wird niemand seine Beistimmung verweigern, wenn wir behaupten: „Unter der Wahrheit, welche den Einigungspunkt der Kirche ausmacht, ist nichts anderes zu verstehen, als Gottes Wort:“ denn der König der Wahrheit selbst spricht Joh. 17, 17. betend zu Seinem Vater: „Dein Wort ist die Wahrheit.“ Endlich hat man auch keinen Widerspruch zu fürchten, wenn man die oben gethane Frage kurzweg so beantwortet: „die Wahrheit, welche alle einigt und aus allen Gläubigen aller Zeiten und Lande Eine Kirche macht, ist das Wort der Apostel"; denn der König der Wahrheit, dessen Einigkeit mit dem Vater nachzuweisen, man kühnlich versäumen darf, spricht selber zu den Aposteln: „Wer euch höret, der höret mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet Den, der mich gesandt hat.“ Luc. 10, 16.

 Und so ist es auch. Das Wort der Apostel ist je und je der Einigungspunkt der Kirche gewesen und wird es auch ferner bis ans Ende der Tage sein. In der ersten Zeit, wo die Einigkeit der Kirche glänzender, als jemals, hervortrat, von allen Heiden bemerkt, bewundert und gefürchtet wurde, hat kein oecumenischer Bischof, kein zeitlicher Oberhirte, sie zusammengehalten, – kein lebender Mensch war ihr Mittelpunkt; auch war es keine das Ganze bewältigende Verfaßung, welche die Einigkeit der Kirche bewirkte; sondern die gemeinsame, die von allen anerkannte und bekannte Wahrheit der Apostel machte aus Juden und Heiden, aus den verschiedenartigsten Menschen eine einzige allgemeine Kirche Gottes auf Erden. So lange die Apostel lebten war ihr mündlich Wort der Einigungspunkt der Kirche; nachdem sie entschlafen waren, wurde es um so mehr ihr schriftlich Wort, das Neue | Testament. Um das versammelte man sich, wie um einen lebendigen Brunnen; zu dem rief man auch alle, die sich zur Kirche begaben. Von den Tagen der ersten Pfingsten bis auf unsre Tage ist die Kirche aus dem Worte der Apostel geboren, durchs Wort der Apostel groß gezogen, vollbereitet, gekräftigt, gestärkt, gegründet, – berufen, erleuchtet, geheiligt und erhalten worden. Und alles, was Sirach im 24. Cap. von dem Worte des Alten Testamentes sagt, das gilt in gleichem, ja in erhöhtem Maße von dem Worte der Apostel. Weisheit, Verstand und Zucht, Fülle und Genüge, Erkenntnis, die, wie Morgenlicht die Welt umwebt, und Weißagung, die ewig bleibt, – alles, alles, was sie hat, hat die Kirche aus dem Brunnen des apostolischen Wortes genommen, und es auch dankbar vor aller Welt dadurch bekannt, daß sie sich die apostolische nannte. Denn gewis hauptsächlich aus diesem Grunde hat sie diesen Beinamen gewählt, und apostolisch heißt deshalb zunächst nichts anderes, als „auf der Apostel Lehre ruhend.“
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 Man hat das Wort apostolisch gerne anders deuten und behaupten wollen, die Kirche heiße deshalb so, weil sie von den Aposteln gegründet sei. Allein so gewis und wahr es ist, daß die h. Kirche von den Aposteln gegründet ist; so gewis ist es im Gegentheil auch, daß man aus dieser Auslegung des Wortes wenig Ruhm nehmen kann, wenn nicht zugleich jene andere Auslegung: „auf der Apostel Lehre ruhend“ hinzugenommen wird. Was würde es helfen, wenn die Kirche von den Aposteln gegründet wäre, ohne ihr Wort mehr zu haben? Wenn sie das Wort der Apostel hat und hält, ist sie lebendig und wahrhaft apostolisch. Ist sie von dem apostolischen Worte gewichen, so ist sie todt, und das Beiwort apostolisch ist dann weiter nichts als eine Erinnerung an verlorene Paradiese. Eine Gemeine könnte apostolisch sein, wenn auch nie ein Apostel ihre Gränzen betreten hätte, wenn sie nur am Worte der Apostel hielte; und umgekehrt könnte sie unapostolisch, unchristlich, antichristisch sein, selbst wenn sie von Aposteln gegründet wäre und auf Apostelgräbern lebte. Es wäre ein feiner Ruhm für eine Gemeine, von Aposteln gegründet und bei der Apostel Lehre geblieben zu sein seit der Zeit der Apostel; aber – | diesen Ruhm hat keine auf Erden herbergende Gemeine. Nur der Apostel Wort ist allezeit auf Erden geblieben, hat in allen Zeiten, an den verschiedensten Orten Kinder fürs ewige Leben geboren, hat immer aufs neue, wenn auch nicht an den alten Orten, Kirchen gesammelt und vereinigt, ja, allzeit Eine Kirche auf Erden bewahrt. Seine Freunde und seine Feinde starben, keine Freundschaft hat es an Einen Ort gebannt, keine Feindschaft hat es verjagt, keine menschliche Macht hat seine Wirkung bestimmen und einen Einfluß auf seine Bewegung gewinnen können. Es ist ein Wunder über alle Wunder, daß das Wort der Apostel in der Welt geblieben ist, lebendig, schäftig und mächtig, – und daß immer und allezeit, woselbst es erschien, alsbald um es her die Kirche war, so daß es der Mittelpunkt aller Radien, die Sonne aller Lichtstrahlen und aller Wärme in der Welt geblieben ist. Die Päpste starben, der Concilien Stätten sind verlaßen, Verfaßungen und Ordnungen der Kirche giengen unter, alle Verhältnisse haben sich geändert; aber das Wort ist in der Welt geblieben – und darum die Kirche, die wahrhaft apostolische! Und so wird es ferner sein! Die Kirche wird immer durchs Wort der Apostel vereint sein, – und, was mehr ist, dies Wort wird über allem, keiner Sache unterthan, ein Brunnquell der einigen, allgemeinen, ewigen Kirche sein bis ans Ende der Tage. Von Niemand gehalten und getragen, wird es selber die Kirche wunderbar halten und tragen – und um ihretwillen die Welt!
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 Mögen darum andere Namen der Kirche untergehen, mögen Zeiten kommen, wo mancher durch Kleinheit der kirchlichen Zahl und Schaar fast irre werden möchte an einer „allgemeinen“ Kirche; es ist nichts zu fürchten, so lang es nur noch eine apostolische Kirche auf Erden gibt. Nicht „Ein,“ nicht „allgemein,“ nicht „ewig“ sind die hauptsächlichsten Namen der Kirche; sondern „apostolisch.“ Denn alle Namen verlieren die Bedeutung und hören auf, wenn man die Kirche nicht mehr apostolisch nennen kann; sie bleiben aber alle, grünen und blühen, und schmücken die Kirche, wenn sie „apostolisch,“ d. i. auf dem Worte der Apostel bleibt. Sie sei der Leuchter und das Wort das | Licht; so wird der Sturm nicht kommen, der den Leuchter beraubt. Denn Himmel und Erde werden vergehen, aber Gottes Wort bleibt in Ewigkeit, – und wohl allen, die ihm vertrauen! Wohl der Kirche, die auf ihm ruht, von ihm getragen und gehalten wird!


6. Es ist ein heller, klarer Mittelpunkt der Kirche, dies Wort.


 Die Kirche ist auf das Wort der Apostel gegründet – und dieses Wort der Apostel ist für alle Theile der Kirche zugänglich. Aber ob auch sein Sinn von der Art ist, daß er jedermann verständlich ist? Ob der Sinn des Buchstabens eben so leicht, als der Buchstabe selbst Gemeingut aller werden kann? Kann ers, dann gut! Aber wenn ers nicht kann, was hilft dann der Kirche das Wort? Ein dunkles, unverständliches Wort kann doch nicht Einigungspunkt der Kirche sein? Ein unbekanntes X, ein Fragezeichen ohne Antwort, ein inhaltleeres, weil zu inhaltschweres, zu dunkles Wort, ein Brunnen etwa lebendigen, aber unzugänglichen Waßers wird doch nicht die Millionen der allgemeinen Kirche um sich schaaren sollen? Es wäre ein furchtbarer Hohn der armen Menschheit, wenn sie zu einer solchen Kirche berufen wäre! – Aber der Allbarmherzige höhnt nicht! Sein und Seiner Apostel Wort ist klar und verständlich für alle. Das ist in der Lehre von der Kirche am Ende der wichtigste Punkt. Alles, was in diesem Büchlein gesagt ist, ist nichts, wenn das apostolische Wort, wenn die Schrift nicht klar ist. Hier ist alle Gefahr. Siegen wir hier, so ist gesiegt; verlieren wir hier, so ist verloren, – aber nicht allein verloren für eine oder die andere Particularkirche, sondern für die gesammte christliche Schaar auf Erden. Denn wenn die Schrift nicht der Einigungspunkt der Kirche sein kann; so gibt es gar keinen, weil alles andere in sich selber, ohne den Hinterhalt der Schrift, nichtig und eitel ist.

 Aber Gott Lob! die Schrift ist klar und gemeinverständlich. Kein wahrer Christ läugnet, daß die Schrift vom heiligen Geiste eingegeben sei. Ist sie aber das, so fragt es sich: „Ist sie eingegeben und | geschrieben, um verstanden, oder um nicht verstanden zu werden?“ Jedermann wird den ersten Fall bejahen, da sie doch offenbar für die Menschen und zu ihrem Heile geschrieben ist. Ist aber das der Fall, so wäre es nur auf zweierlei Weise zu erklären, wenn die Schrift dennoch dunkel und unverständlich wäre. Nämlich der h. Geist müßte die verständliche, für Menschen klare Rede entweder nicht haben finden können, oder nicht haben finden wollen. Das letztere ist eine eben so unsinnige, als gottlose Behauptung, nachdem zugegeben ist, daß Er für die Menschen schrieb und um von ihnen verstanden zu werden. Das erstere ist eine Gotteslästerung und wie jede Gotteslästerung gleichfalls Unsinn. Sollte Der, welcher aller Welt Rede und Sprache gegeben hat, nicht haben reden können? ER, der in alle Wahrheit leitet, dessen Wort doch Zeugnis hat, daß es die Albernen weise machen könne und weise mache, ER, der, wenn wir nicht wißen, was wir beten sollen, unser Seufzen deutet und uns vertritt mit unaussprechlichem Seufzen, – ER sollte, da Er doch wollte, die Worte nicht haben finden können, welche Seine Hörer und Leser verstehen können? Schreibt auch jemand einen Brief, um nicht verstanden zu werden? Gebraucht auch ein Weiser und Frommer in Briefen, die er zu seiner Freunde Heil schreibt, Worte, an denen man sich fruchtlos zerlesen müßte? Und der HErr, der h. Geist, hätte an die Römer, die Corinther, die Galater, die Epheser, die Philipper, die Colosser, die Thessalonicher so viele Briefe geschrieben, die nicht verstanden werden konnten, und zu deren Deutung sie keinen Papst zur Seite hatten? die zu nichts gedient hätten, als die armen Leute in Verlegenheit zu setzen, ja in Bangigkeit, in Furcht und Schrecken, da sie ja des Apostels und des Geistes Willen nicht verstanden hätten und eben deshalb auch nicht hätten ausführen können? – Und den Briefen gleich wäre dann die ganze Bibel, deren Schreibweise noch überdies von Alters her wegen ihrer Einfalt so allgemein berühmt ist! – Welch ein Geschwätz!
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 Es ist wahr, daß das Alte Testament der Auslegung bedarf und ohne Auslegung vielfach dunkel ist. Aber die Auslegung ist ja da: das Neue Testament ist ja die Auslegung des Alten, und indem es | die Erfüllung aller Weißagungen in Christo JEsu zeigt, wirft es ja ein unwiderstehliches Licht auf jede Dunkelheit. Wie der Kämmerer der Königin Candaces einen von Gott verordneten Ausleger des prophetischen Wortes fand, so finden wir im Neuen Testamente Licht und Auslegung für alle Prophezei und alles Bildwerk des A. Testamentes. Das Neue Testament ist klar ohne das alte und um so klarer, wenn es neben dem alten gelesen wird. Schon das Alte Testament wird von Petrus ein Licht an einem dunkeln Orte genannt, wie sollen wir erst das Neue nennen, welches aus dem Alten jeglichen Schatten vertreibt! Ist jenes ein Mond, so ist dieses die Sonne: – ist jenes Morgenroth, so ist dieses der helle Tag. Und auf dieses, auf’s Neue Testament, kommt es hauptsächlich an, denn dies vor dem Alten empfehlen und befehlen wir dem christlichen Volke. Die Sonne empfehlen wir ihm, um ihm das Licht im hellsten Scheine nahe zu bringen.
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 Die Sachen, welche die h. Schrift vorträgt, sind freilich über alle menschliche Vernunft und können nur durch Licht und Kraft des h. Geistes dem Menschen zugeeignet werden; das ist wahr! Aber es ist kein Tadel, sondern es versteht sich im Gegentheil von selber, daß was der Geist vom Himmel offenbart, über alle menschliche Weisheit erhaben sein müße. Dazu verhalten sich den Sachen gegenüber alle Menschen gleich; der gelehrteste und der ungelehrteste sind, was Erfahrung anlangt, in einerlei Rang. – Die Worte hingegen benennen die Sachen ganz einfach. Was gemeint sei, kann jedermann, namentlich im Neuen Testamente, ohne Schwierigkeit verstehen. – – Die Kenntnis ist darum leicht, denn sie beruht auf Wortverstand und dieser wird klar einem jeden, der Menschenverstand hat und verstehen will. Ja, der Ungelehrte und Einfältige ist hierin oft im Vortheil vor dem Gelehrten, welchem beim Lesen aller Ketzer unsinnige und boshafte Schriftverdrehung erinnerlich, und wenn er leicht befangen und schwachen Geistes ist, auch hinderlich wird. Die Erkenntnis aber, welche die Kenntnis allezeit vor sich her gehen laßen muß, kommt von Erfahrung der Sache und ist drum schwerer, ja dem Menschen unmöglich, allein des Geistes Werk. – Hier aber handelt es sich nicht von | der Erkenntnis, sondern von der Kenntnis, – nicht vom Wie, sondern vom Was, – nicht vom Fortgang, sondern vom Anfang, welcher den Fortgang verbürgt, – kurz vom Wortverstand, in welchem die Kirche einig sein muß, und aus welchem alle andre Einigkeit kommt, in welchem alle andre eingeschloßen ist.

 Man mache nicht das Volk mistrauisch dadurch, daß man spricht: „die Uebersetzungen stimmen nicht, nicht unter sich, nicht mit dem Urtext“; man sage nicht: „Luthers Uebersetzung ist falsch.“ In dem, worauf es ankommt, stimmen die Uebersetzungen überein, und Luthers Uebersetzung wird sich immer in diesen Dingen als der Bibel treu erweisen, wer es nur versteht! Denn es sind fürs erste und hauptsächlich die Stümper, die zu dem Text der Bibel Luthers Uebersetzung nicht reimen können, weil es ihnen an gelehrtem Wißen fehlt, – sie sind es, sag ich, die am meisten schreien. Sie solltens am wenigsten und thun es am meisten! Ueber ihrem Geschrei steht weit das Urtheil der Kirche, welche sich für die Treue der lutherischen Uebersetzung seit Jahrhunderten verbürgt hat. Es sind Kleinigkeiten, worinnen – namentlich im Neuen Testamente, – die andern Uebersetzungen sich unterscheiden. – Luther nahm den Anfang seiner Kenntnis vom Wortsinn der Schrift aus der bei den Römern noch heute geltenden lateinischen Uebersetzung der Bibel, und wer diese ohne verdrehende Erklärung liest, der kann trotz der Fehler, die sie ohne Zweifel hat, die Hauptsachen der reinen Lehre selbst aus ihr finden. Darum kann man getrost nicht blos auf das Meisterwerk der lutherschen Uebersetzung, sondern auch auf andere Uebersetzungen verweisen und behaupten: die klare Bibel spricht auch in ihnen klar.

 Wir geben zu, daß es in der Bibel, auch im Neuen Testamente dunkle Stellen gibt. Aber wir behaupten, daß ihrer weniger seien, als man denkt, und daß sie nicht von einer Wichtigkeit seien, um deren willen der allgemeine Sinn der Schrift dunkel genannt werden dürfte. Entweder betreffen sie den Weg zum ewigen Leben gar nicht, oder wenn ja, so widerspricht ihr recht erkannter Inhalt den klaren Stellen, die von der gleichen Sache handeln, durchaus nicht, kann es | auch nicht, weil sie beide vom h. Geiste stammen, der Sich selber nicht widerspricht. Ja, so gewis Gott Jehova Urheber der Schrift ist, so gewiß müßen die dunkeln Stellen mit den klaren übereinstimmen, so wie man sie nur versteht. Dazu behaupten wir mit dem heiligen Augustinus, daß keine Lehre blos in dunkeln Stellen vorkommt, sondern daß eine jede Lehre der hellen Stellen so viele habe, daß, man sie genugsam erkennen könne. Welche Stelle aber klar zu nennen sei, das braucht keinen Unterricht, sondern darüber sitzt der Verstand eines jeden Einfältigen zu gerechtem Gerichte. An die Stellen, die Dir und jedermann klar sind und sein müßen, halte Dich nur fest, sie werden Dich nicht betrügen. Nicht an der Erkenntnis des Dunkeln, worüber meist die Gelehrten so uneinig sind, wie die, welche nur die Uebersetzung lesen, sondern an der Erkenntnis der hellen Stellen liegt das Heil! – Mit gutem Bewußtsein dessen weisen wir Dich darum in die Schrift. Der HErr hat gesagt und zwar zu allerlei Juden ohne Unterschied: „Suchet in der Schrift“; Er muß sie also nicht für ein Nebelland, sondern für eine Fundgrube ewiger Wahrheit gehalten haben. Er setzte hinzu: „Sie ist es, die von mir zeuget“; damit belehrte er uns, daß wir zunächst Zeugnisse über Ihn darin finden können und sollen. Wir dürfen getrost hinzusetzen: „Sie kann euch unterweisen zur Seligkeit“; warum sollten wir nicht auch zusetzen dürfen: „Sie ist nütze zur Lehre.“
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 Die Schrift gleicht dem Sternenhimmel. Wer nur sein Auge vom irdischen Dunkel erhebt, der sieht sogleich jene großen, leuchtenden Sterne erster Größe und die Straße des Lichtes, welche den Himmel gürtet. Des Lichtes gewohnt sieht hernach das Auge der Sterne immer mehr. Endlich scheint auch die Bläue von Licht durchwoben zu sein. So kommen dem Auge des Lesers in der Schrift zuerst jene leuchtenden, mächtigen Sprüche entgegen, deren Sinn sich ohne Misverstand und unläugbar darbeut. Je länger man gestärkt vom ersten Lichte liest, desto mehr Sprüche werden hell und klar. Endlich sieht man nicht mehr allein eine Milchstraße heller Wahrheit im Himmel der Bibel, eine Ahnung, ja eine deutliche, bewußte Erkenntnis vollkommener Harmonie bewältigt uns und erhebt uns. – Drum ist es nicht ein Kunstgriff der Verlegenheit, | sondern eine Behauptung, die sich an jedem Gewißen bewährt, daß der Einklang der hellen, klaren Stellen der Schrift, welche man den Kindern ins Spruchbuch sammelt, die Regel des Glaubens und der Schriftauslegung sei, daß an ihnen, als am Klaren, alles Unklare sich lichten müße. Dagegen aber ist es Zweifel an Gottes Wahrheit, wenn man fürchtet, es möchte in unverstandenen Winkeln der Schrift Dunkelheit verborgen sein, welche die hellen Sterne der Glaubensregel und Kindersprüche auslöschen könnte. Auch hat sich die Schrift immer erwiesen in ihrer Klarheit. Es gibt gewisse Kirchengemeinschaften, die freilich keinem ihrer Angehörigen versprechen können, daß ihre Unterscheidungslehren sich vor jedermanns Auge aus der Schrift rechtfertigen werden, die nicht auf den Wortsinn provociren und an ihn appelliren, keine klaren Stellen aufzeigen können. Diese werden auch keinen einzigen Menschen aufzeigen können, der durch Lesen der Schrift ohne beigegebene menschliche Erklärung auf ihre unterscheidenden Lehren gekommen wäre. Dagegen treten von Ur an Tausende und aber Tausende auf, welche durchs Lesen der Schrift zu einerlei Glauben, nämlich zu dem uralten Glauben der Kirche gekommen sind. Ob Du die Zeit der ersten Jahrhunderte oder eine spätere, etwa die der Waldenser, der Reformation, der Spenerschen Zeit, der jüngsten Erweckungen ansiehst, – ob Du die Bibel nach Italien oder Spanien oder Tyrol begleitest, – Du wirst immer finden, daß ihre Klarheit dasselbe Eine Licht kirchlicher Erkenntnis in den Seelen gewirkt hat. Und mögen drum in der Verbreitung der h. Schriften, wie sie in der neuen Zeit durch Bibelgesellschaften geübt worden ist, so manche Extravaganzen, so manches Carricaturmäßige sich finden; das ist bei allen großen Dingen der Fall, und eins bleibt denn doch wahr, daß diese Bibelgesellschaften mit ihren Borrows, die Leib und Leben freudig wagen, gewaltige Zeugnisse sind für die Klarheit der h. Schrift, ohne welche ihr Bemühen sinnlos und unnütz wäre. Sie sind Riesendenkmale Einer Lehre: „die Schrift ist nütze zur Lehre“ – und wer das weiß und glaubt, fürchtet sie nicht, sondern segnet sie und sucht sie von Tand und Thorheit | zu befreien, und sie also zu unterstützen, daß das helle Licht desto leichter durch die Finsternisse der Menschen schlägt.

 Denn das ist gewis: alle Finsternisse, die man der Schrift nachgesagt, sind nicht am Himmel der Schrift, nicht Flecken ihrer Sonne, sondern im Herzen des Menschen und in seinem Auge sind sie. Und alle Mißverständnisse des göttlichen Worts, durch die man die ärgste Lüge, daß der Geist des HErrn nicht klar und deutlich gesprochen habe, beschönigen möchte, – in der Blindheit und Bosheit der Menschen haben sie ihren Grund. Es geht dem Worte, wie dem HErrn, von dem es stammt: „Bei den Frommen ist es fromm, bei den Heiligen heilig, bei den Reinen rein, – bei denen, die gerne zum Lichte kommen, ist es Licht und führt zur lichten Kirche, die in seinem Schein und seiner Wärme lebt; aber bei den Verkehrten ist es verkehrt – und bei den Kindern der Finsternis, die von der Kirche wichen, ist es eitel Finsternis.“

 Gelobt aber sei der Vater, bei welchem ist die lebendige Quelle und in dessen Licht wir sehen das Licht!


7. Es fehlte der Kirche niemals ihr heller Mittelpunkt.


 Wenn man das Wort der Apostel als den Einigungspunkt der Kirche bezeichnet; so gibt es Menschen, die aus Besorgnis, es möchte etwas Unstatthaftes behauptet werden, oder aus schlimmeren Gründen darauf aufmerksam machen, daß die Kirche doch älter sei, als die apostolischen Schriften des Neuen Testamentes und daß also gerade im ersten Anfang der Kirche, wo ihre Einigkeit am schönsten blühte, die Kirche den von uns gerühmten Mittelpunkt nicht gehabt habe. Ja, sie behaupten, daß die Schriften der Apostel erst von der Kirche ihr Ansehen empfangen haben, und es muß darnach scheinen, wie wenn die Kirche größeres Ansehen, als die Schriften der Apostel, gehabt hätte, – denn ihr Ansehen wäre ja da auf die Schriften der Apostel übergegangen.

 Diesen Einwendungen gegenüber läugnen wir nicht, daß die erste | Kirche den Nachkommen Zeugnis für den apostolischen Ursprung des neuen Testamentes hinterlaßen habe. Sie konnte zeugen und zeugte, und ihr menschliches Zeugnis konnte allerdings der Schrift ein menschliches Vertrauen erwecken, gleichwie die Unterschrift und das Siegel eines Notars oder Gerichts das Testament eines Entschlafenen außer Zweifel setzt. Aber die Schrift hat göttliches Ansehen, und dies konnte sie von dem menschlichen Zeugnisse der Kirche nicht empfangen. Die göttliche Abkunft der Schriften N. Testamentes ist ihnen an der Stirne zu lesen und zeichnet sie vor allen andern Schriften der Welt so unverkennbar aus, daß man es nur aus menschlicher Beschränktheit und zufälligen Umständen erklären kann, wenn in der ersten Zeit über das göttliche Ansehen mancher unter ihnen gestritten wurde. Diese Schriften haben ihr Zeugnis in sich und strahlen es mit Kräften der zukünftigen Welt aus sich heraus. Sie haben dies Zeugnis alle, so verschieden sie auch untereinander durch menschliche und merkliche Individualität der heiligen Schreiber sind. Dagegen können auch so manche gepriesene Schriften des Altertums ihre menschliche Abkunft nicht verläugnen, und alle Bemühungen, ihnen das Ansehen göttlicher Schriften zu verschaffen, hat nicht ausgereicht, weil sie dies Ansehen nicht von innen heraus offenbarten. Wie schön ist z. B. der Brief des h. Barnabas, der in der Schrift selbst den Namen eines Apostels trägt. Warum sollte ihn Barnabas nicht geschrieben haben können, zumal er kein Merkmal hat, vermöge dessen man ihn einer späteren, als der apostol. Zeit zueignen müßte. Und doch verschwand er fast im Lauf der Geschichte, – und obschon man ihn gegenwärtig wieder lesen kann, verschwindet er dennoch auch jetzt noch vor den apostol. Schriften. Ohne daß man den Brief eines Fehlers zeihen könnte (man müßte denn die allegorischen Stellen zu scharf nehmen!) begreift man dennoch leicht, warum er nicht in den Canon aufgenommen wurde. Die Kirche wurde bei dieser Sammlung des Canons Neuen Testaments von dem göttlichen Ansehen der Schrift überwältigt, und in ihrem Zeugnis gab sie nur den Eindruck wieder, den Gottes- und Menschenwort auf sie machen mußte, wie das noch jetzt also ist. Der Canon würde noch heute nicht anders | bestimmt werden, als er nach Gottes Sinn und Willen und der Beschaffenheit der von ihm stammenden Schriften sich bestimmen mußte und bestimmt hat. So hoch man deshalb den Dienst der Kirche, welche ihren Kindern Gottes Zeugnisse überliefert hat und die Wahrheit, welche neugebiert, in die Welt einführt, anschlagen muß; so ist doch Gottes Zeugnis und die Wahrheit größer, als auch die gottverlobte Schaar der Kirche, welche ja selbst aus dem Worte geboren wird und geboren wurde, wie der Thau aus dem Morgenroth. Die Kirche ist des Wortes Kind und kann drum nimmermehr über dem Worte stehen. – Es ist wahr, daß die erste Gemeine zu Jerusalem, also die Kirche in ihren Anfängen, da war, ehe man irgend ein Buch des Neuen Testamentes in den Versammlungen lesen konnte. Aber was streitet man denn? Auch die erste Gemeine kam doch aus eines Apostels mündlichem Worte! Es ist aber ein und dasselbe Wort, welches man am ersten Pfingsten hörte und heut zu Tage liest. Dadurch, daß der Geist des HErrn das Wort aufschreiben ließ, ist es wahrhaftig nicht jünger geworden, als die aus ihm zuvor unläugbar entsprungene Kirche. So wenig der Glaube der drei Tausende Petri erster Predigt das apostolische Ansehen gab, eben so wenig gibt der Glaube der drei ersten Jahrhunderte dem geschriebenen Worte der Apostel das Ansehen. Ja, gleichwie der Glaube der ersten Gemeine, ihr Zeugnis für die von ihr gehörte Predigt, und ihr Dasein selber eine Frucht des mündlichen Wortes Petri, der göttlichen Predigt war; eben so sind nachfolgende Gemeinen, ihr Glaube, ihr Zeugnis für das Wort auch nur Früchte des Wortes selber, das sie lasen und dem gemäß unter ihnen gepredigt wurde.

 Also weit entfernt, daß in der ersten Zeit der Kirche ihr Mittelpunkt im apostol. Worte gefehlt habe, ist er nie offenbarer Mittelpunkt gewesen, als eben damals, wo die Apostel lehrend und schreibend in der Gemeine lebten. Dazu ist es eine eben so ungerathene, als geringfügige Behauptung, daß die Kirche älter sei, als die Schriften des Neuen Testaments, da sie doch nicht älter ist, als das Wort des Neuen Testaments und die Schriften des Alten Testaments, von denen wir hier nicht einmal reden wollen.

|  Dem HErrn hat es von Anfang her gefallen, seine Wahrheit durch Menschen auszubreiten, seine Kirche durch die Kirche zu mehren, sie nicht blos zu einer Versammlung der Gläubigen, die es sind, sondern auch zu einem Versammlungsorte für diejenigen zu machen, welche erst glauben sollten und sollen. Das ist wahr! Aber das soll die armen Diener Gottes nicht trunken machen, das soll sie demüthigen, da es ja die Kirche mit nichts verdient hat, eine Trägerin seligmachender Gnadenmittel zu sein. Womit sie andere selig macht, dadurch wird sie ja selber selig. So hell und schön die Kirche immer sei, weit über ihr schwebt ja doch ihr festes prophetisches, ihr apostolisches Wort, ihr helles Licht, in welchem der HErr selber kommt, zu erleuchten alle, die in die Welt kommen. Der HErr erleuchte nur fernerhin Sein gnädiges Angesicht über uns durch Sein Wort, so wollen wir gerne thun, was etliche vergeßen, vom Worte zeugen und uns vor ihm beugen, – mit Aug und Sinn an Seinem lichten, klaren Worte hangen, bis ER kommt.


8. Das helle Wort kann die Tradition entbehren.


 Nachdem man einmal die Lehre von der Klarheit und Gemeinverständlichkeit der h. Schrift in allem, was zum ewigen Leben nöthig ist, behauptet hat, ist es von keinem großen Belang, zu erforschen, ob es eine Tradition oder mündliche Ueberlieferung nicht aufgeschriebener, apostolischer Worte gebe. Daß die h. Schrift den ganzen Kreiß seligmachender Lehre vollständig und klar beschreibe und uns auch nicht in einem einzigen wichtigen Stücke im Unklaren laße, bedarf keines Beweises, zumal wir zum voraus mit Gewisheit versichern können, daß für einen etwaigen Mangel der h. Schrift die Tradition gewis keinen sichern Ersatz böte. Ist aber das der Fall, so könnte durch Tradition entweder nur dasselbe oder anderes, als in der Schrift steht, den Menschen mitgetheilt werden. Wäre es dasselbe, so wäre es überflüßig; wäre es etwas anderes, so wäre es nicht blos überflüßig, sondern auch alles Mistrauens und bei offenbarem Widerspruch gegen | das klare Wort der Schrift aller Verdammnis werth. – Indes wollen wir die Frage von der Tradition etwas schärfer ins Auge faßen.

 Daß die Apostel mehr geredet haben, als sie schrieben, bezweifelt niemand. Auch zweifelt niemand, daß die Gemeinden, in welchen die Apostel mündlich lehrten, leichteren Weges von Gottes Geist in alle Wahrheit geleitet wurden, als wir, die wir aus dem geschriebenen Worte alle Schlüße für jeden Fall und alle Antwort auf jede Frage ziehen müßen. Auch wollen wir gar nicht in Abrede stellen, daß Apostelschüler aus Erinnerung mündlicher Belehrungen in zweifelhaften Fällen, die aber Hauptlehren und Hauptstellen der Schrift nicht betreffen konnten, wenn nicht die Zweifelnden verblendet waren, ein Licht geben konnten, das ohne ihre Erinnerung schwerer zu gewinnen gewesen wäre. Ja, wir wollen auch zugeben, daß dann, wenn Irrlehrer klare Worte und Lehren der Schrift anzweifelten, die Erinnerung an die mit dem Worte übereinstimmende mündliche Belehrung der Apostel das schwache, gegen Gottes Wort so gerne mistrauische Menschenherz stärken und das Gewißen der Irrlehrer schärfen konnte. Aber das Bedürfnis einer Tradition, welche dem Wort helfend, zurecht- und auslegend zur Seite gienge, ergibt sich aus alle dem nicht, so lange der Satz fest steht, daß die Schrift klar ist in allem, was zum ewigen Leben nöthig ist. Erinnerungen an mündliche Lehren der Apostel sind eine schöne Beigabe der ersten Zeit gewesen, aber keine solche, um deren Mangels willen spätere Zeiten verarmt wären. Wir haben, was nöthig ist, und noch viel mehr in dem geschriebenen, klaren Wort der Apostel; auch ist der Geist der Weißagung und Auslegung nicht ferne von seiner Kirche, sondern Er hat in achtzehnhundertjähriger Uebung ihr geübte Sinne verliehen, aus dem Worte zu erkennen, zu entnehmen und anzuwenden, was allen allezeit nöthig ist.

 Uebrigens dürfte die Tradition gleich nöthig sein, sie wäre damit doch nicht gewonnen. – Schon in den frühesten Zeiten widersprachen sich sehr ehrwürdige Traditionen, wie man des nicht blos ein vereinzeltes Beispiel aufzeigen könnte. Wie viel mehr mußten spätere Zeiten alle Gewisheit der Traditionen verlieren. Man beruft sich nun schon | lange her auf eine „helle apostolische Tradition, welche zur Erklärung der h. Schrift dienen und ihr ebenbürtig sein soll“; aber man ist uns bis auf den heutigen Tag die Antwort auf die Frage schuldig geblieben: „Wo ist diese Tradition?“ Es ist keine Schrift der Väter vorhanden, welche uns die Traditionen der Apostel überlieferte. Niemand hat die mündlichen Sprüche der Apostel gesammelt, als apostolisch erwiesen und auf uns gebracht. Es ist kein catalogus traditionum vorhanden. Die Tradition ist ein uns völlig unbekanntes X, ein Dunkel, von dem wir, weil es uns nie gelichtet wurde, nicht wißen, wer in ihm hause, ob es heilig oder unheilig sei. Und doch soll sie gleiches Ansehens mit der h. Schrift sein und klarer als diese und soll Lösung aller Fragen und Räthsel der Schrift verschaffen (NB. der Fragen und Räthsel, deren Lösung man gerne nicht aus der Schrift selbst entnimmt). – Es ist ein armer Nothbehelf, wenn man auf unsre Frage die Antwort durch einen ehrerbietigen Fingerzeig auf die Brust eines menschlich hochgestellten Mannes gibt oder geben will. Ja, es ist lächerlich, daß Einer, der vor andern nichts voraus hat, als Zeitliches, der Schrein aller der Weisheit der Apostel sein und sein Mund in unzweifelhaften Reden sich ergießen soll, so oft die Wünschelruthe gelegentlicher Fragen die heilige Brust berührt. Der Nothbehelf hat oft im Stiche gelaßen, das beweisen nicht blos viele völlig mislungene Schriftauslegungen und Anwendungen, die sich in kundgewordenen Schreiben römischer Bischöfe finden; das beweist auch so manches tiefe Schweigen jener Schiedsleute, wo sie hätten reden können und sollen, wenn sie im Besitze göttlicher Wahrheit gewesen wären. Es gibt hier Fälle, in denen unwidersprechlich jeder Einfältige beßer die Schrift auslegen könnte, als es von Seiten der Männer geschah, denen Millionen Urtheil und Spruch zutrauten. – Nicht minder ist es ein Nothbehelf, wenn man die Ueberlieferung der Apostel in die Aussprüche des Papstes und der Concilien setzen will. Gleichviel ob diese mit jenem, diese ohne jenen, diese unter jenem, diese über jenem sprechen, wie die Gegner selbst in unglückseliger Ungewisheit und Spaltung proponiren; es bleibt doch unläugbar, daß unter jeglichem der angegebenen Verhältnisse zwischen | Papst und Concilien Irrtum, offenbarer, der Schrift widersprechender Irrtum nicht blos möglich, sondern auch geschichtlich ist; – und eben so unläugbar ist es, daß die Aussprüche der Päpste und Concilien keine Ueberlieferung genannt werden können, vielmehr erst durch die nachgewiesene Ueberlieferung einigen Schein von Infallibilität gewinnen könnten.

 Die vernünftigste Auslegung der Tradition für unsre Zeiten wäre immer noch der consensus patrum oder die übereinstimmende Lehre der Kirchenväter. Allein hätte man sie; so hätte man doch noch keine die Schrift auslegende Tradition, denn die Väter berufen sich selbst auf die h. Schrift und machen sie vielmehr zur Richterin ihres Schriftverständnisses, als umgekehrt dieses zum Ausleger der Schrift. Was aber die Hauptsache ist, so ist die übereinstimmende Lehre der Väter bis auf den heutigen Tag nicht hergestellt. Wenn wirklich die Väter für eine gewisse Partie so große Ausbeute lieferten; so sollte diese auch endlich einmal den Sieg wirklich feiern. Oder ist es vielleicht ein uns aufgesparter kleiner Sieg, – denn wir bedürfen sein beim Schein des klaren Wortes nicht, – den Consensus herzustellen und zu beweisen, daß das, worin alle Väter übereinstimmen, dem nicht Abtrag thue, was wir lehren? Denn bei der nicht geschloßenen Sache könnte der Sieg ganz wohl auf unsre Seite treten, – ein Sieg, ich wiederhole, dessen wir uns nicht überheben würden, da wir den größeren haben, das klare Wort auf unserer Seite zu sehen. – Man beginne einmal! Man stelle fürs erste die Einigkeit eines jeden Vaters mit sich selber her, – dann nehme man verwandte Väter, z. B. nur Tertullian, Cyprian, Augustin, und sehe, worin sie einig sind, und so vorwärts zu verschiedenartigen. Aber freilich! Wir erleben es nicht mehr, einen anerkannten Consensus zu sehen, vielleicht erlebt es auch das 20. Jahrhundert nicht. Vielleicht darf das dritte Jahrtausend hoffen, was man zwei Jahrtausende nicht erlangte, – den Consensus zu sehen, mit dem man dann etwa gerade am wenigsten da consentiren wird, wo man am lautesten sich darauf beruft.

 Ja, das heißt wahrhaftig vom Lichte an die Dunkelheit appelliren, wenn man die Schrift aus der Tradition erklären will. Die Schrift | ist in ihrem Zusammenhang und in ihren Einzelheiten viel klarer als die Väter! Die Schrift, obschon aus verschiedenen Jahrhunderten, von sehr verschiedenen Verfaßern stammend, ist doch von Mose bis auf Johannes Eine einige widerspruchlose Rede Gottes, während kein Vater gesunden werden mag, der sich selber gleich bleibt. Sie kennt keine Retractationen! Sie redet viel einfacher, von Zeit und Ort unbefangener, als auch der reinste Vater! Zum Consensus der Propheten und Apostel, ja Gottes und Seiner Knechte kann jeder aus seiner deutschen Bibel kommen; wem aber und wie vielen darf es zugemuthet werden, den Consensus der Väter zu erforschen? Es ist gefahrlos, dem armen Laien zu sagen: „Lies St. Lucä Evangelium, das verstehst du, und es ist eins, ob du die Wahrheit aus diesem oder jenem Theile der Schrift nimmst!“ Es ist gefahrlos, denn jedermann weiß, daß sich Gottes anerkanntes Wort nicht widerspricht. Zu welchem Vater, auch wenn er für Laien verständlich wäre, dürfte man in gleicher Weise rathen und Bürge sein, daß er den Consensus aller vertrete? Wenn aber das nicht ist, wer will die Volumina der Väter empfehlen? Das heißt, von allem andern abgesehen, dem heimwehkranken Kinde, das wenige Meilen von seiner Heimat entfernt ist, einen Rückweg durch Welttheile zumuthen!
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 Das sei ferne, daß wir unser armes Volk so in die Wüste führen, da wir es auf grüne Auen und zu frischen Waßern führen können! – Eben weil es unmöglich war, daß die göttliche Wahrheit von Mund zu Mund unverfälscht durch Jahrtausende gelangte, hat der HErr, der alle Tücke der Menschen vorhersieht, in seinem klaren, geschriebenen, unabänderlichen Worte einen Prüfstein aller mündlichen Ueberlieferungen, aller menschlichen und göttlich gepriesenen Lehren geschenkt. Zur Bewahrung und Fortpflanzung mündlicher Wahrheit hätte es einer Erkenntnis, einer Weisheit, einer Demut, einer Kraft, mit einem Worte einer Heiligung der Seele bedurft, die kein Einzelner je gehabt hat, geschweige viele, – dazu einer Inspiration, welche, wenn sie da gewesen wäre, eben so gut und leicht die Wahrheit immer aufs neue hätte gebären können. Ganz anders aber ist es mit der Schrift. Der deutliche, geschriebene Buchstabe widersteht frevelhafter Verdrehung in | ganz anderer Weise, als der Hauch der Lippen, das mündliche Wort. Darum starb die Tradition, die uns hätte nützen können, aus, – der Menschen Untreue tödete die Ueberlieferung, in Verdrehung und Lüge schuldiger und schwacher Lippen gieng der reine Hauch apostolischer Lippen unter. Aber das Wort ist geblieben. Hell und klar, unzweideutig und fest leuchtet es in der Nacht der Welt! Da findet jeder Wahrheit: der arme Laie und der fromme Theologe! Einer bestätigt dem andern den uralten, goldenen Fund. Alle werden durch sie erleuchtet und alle durch sie gesättigt und geheiligt, die einfältig, demütig, betend lesen! Auch bezeugen es alle wahrhaftigen Leser und Beter, daß die Schrift keiner Tradition zur Erklärung der Dunkelheiten bedarf; daß die Kirche ohne Tradition von dem Worte lebt, das aus Gottes Mund gieng, wie sie einst mit ihr gelebt hat; daß sie zu ihrer Sammlung und zu ihrer Wallfahrt gen Zion kein Licht nöthig hat, als das, welches ihr Gott gegeben hat, das Licht der Schrift, bei dem man auch die Väter nicht bedarf, wohl aber sie liebet als des gleichen Lichtes Kinder!

 Der Herr erhalte uns Sein Wort und uns bei Seinem Worte!

 Dann sind auch wir gewislich Kinder der Kirche!


9. Das helle Wort beruft alle Völker.


 Das apostolische Wort ist klar, – und die Kirche, welche sich ums Wort als um ihren Mittelpunkt bewegt, ist eine aus allen Völkern aller Zeiten gesammelte Schaar. Das erkennen wir. Aber leicht erhebt sich hier die Frage, schüchtern zwar, denn man ahnt etwas Unrechtes an ihr, aber doch erhebt sie sich: „Ist denn auch dies klare Wort zu allen Völkern aller Zeiten ausgegangen? Hat es denn wirklich nicht an Gelegenheiten für alle Völker aller Zeiten gefehlt, das Wort kennen zu lernen? Konnten denn alle Völker aus dem Worte zu Kindern und Stämmen der Kirche geboren werden? Das Wort ist’s, welches alle Gesammelten zu Einem heiligen Ganzen vereinigt und sie zusammenhält; es muß aber auch auf das Sammeln ausgehen, auf das Berufen und Erleuchten. Ist denn nun das auch je und je geschehen? | Hat Gott gesorgt, daß je und je alle Menschen berufen wurden von der Finsternis zum Lichte, – von der Gewalt des Satans zu Gott?“

 Diese Frage richtig zu beantworten, weisen wir auf die verschiedenen Lehren von der Gnade hin. Denn je nachdem diese sind, je nachdem fällt die Antwort aus. Die Einen sagen: Aus der großen Masse der sündigen Menschheit hat Gott nach seinem unausforschlichen Rathe eine gewisse Anzahl zum ewigen Leben bestimmt, und die Er vorher erwählt und bestimmt hat, die hat er berufen und erleuchtet etc. Es ist dieß die Lehre von der Prädestination. Dieser Lehre gemäs kann man rücksichtlich der allgemeinen Berufung ganz ruhig und unbekümmert sein. Sie kann ohne allgemeine Berufung bestehen; ja die Consequenz derselben leuchtet nur desto heller, wenn es keine allgemeine Berufung gibt. Die zum ewigen Leben Prädestinierten werden berufen; die nicht zum ewigen Leben berufen werden, sind zum ewigen Leben nicht prädestiniert. Die allgemeine Kirche ist die Versammlung der Prädestinierten; wer nicht prädestiniert ist, geht nach gerechtem Gerichte Gottes verloren. – Diese Lehre könnte allen Eifer, die Völker mit dem Evangelium Gottes bekannt zu machen, lähmen.

 Gegenüber dieser Lehre steht die Lehre von der allgemeinen Gnade Gottes, wie sie in unserer Kirche gelehrt wird. Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Sein Wille ist, wie es Seiner nicht anders würdig ist, vollkommener Ernst. Darum mußte Christus eine Versöhnung für unsere Sünden stiften, nicht allein aber für unsere Sünden, sondern für der ganzen Welt Sünde. Und eben darum müßen auch die Mittel, dieser Versöhnung theilhaftig zu machen, der ganzen Welt kund werden, – oder, was dasselbe ist, Wort und Sacrament, müßen allen Menschen kund werden, wie der HErr auch spricht: „Also ist es geschrieben, und also mußte Christus leiden, und auferstehen von den Todten am dritten Tage, und predigen laßen in Seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern und anheben zu Jerusalem.“ Luc. 24, 46. f. Kein Mensch sollte um seiner Sünde willen, die er am Gesetz gethan, verloren gehen, denn die sind gebüßt; kein Mensch sollte | um des natürlichen, in allen Herzen vorhandenen Widerstrebens willen wider Gottes Wort des ewigen Todes sterben, denn das überwindet bei allen, die ohne Bosheit, wenn auch nur aus pur menschlichem Interesse hören, die Kraft des h. Geistes durch das Wort. Verloren gehen sollte man nur durch muthwilliges, boshaftes Widerstreben gegen das berufende Wort. Um so mehr muß also der Ruf des Worts zu allen Menschen kommen. Darum ist auch die Lehre von der allgemeinen Berufung aller Menschen vor Christo, namentlich aber nach Christo unverbrüchliche Lehre unsrer Väter. Und zwar wird die Berufung innerhalb der Gränzen des zeitlichen Lebens in gleicher Weise als vollendet dargestellt, wie auch die h. Schrift von einer Berufung abgeschiedener Geister kein Wort lehrt, sondern dieses und jenes Leben als Saat und Aernte, Glauben und Schauen etc. scharf einander gegenüberstellt. Unsre Väter lehren deshalb, daß die Berufung allgemein, daß sie katholisch sei, wie die Kirche, zu welcher sie beruft, daß sie schon auf Erden katholisch sei. Sie lehren eine katholische Berufung aller Völker auf Erden. Sie geben zu, daß die Art und Weise dieser Berufung verschieden sein könne; aber sie behaupten, daß nicht vor Christo, und noch viel weniger nach Christo ein Volk oder eine Zeit ohne Berufung geblieben sei. Sie behaupten deshalb, daß alle, die verloren gehen, nicht vermöge der Uebertretung oder der Erbsünde, sondern vermöge Nichtachtung des Berufes verloren gehen. Denn sonst könnte es nicht wahr sein, daß Gott will, daß allen Menschen geholfen werde. – Diese Lehre macht eifrig in Berufung der Heiden etc.; denn Gott beruft durch das Predigtamt. Sie macht aber auch ruhig in Betreff der Heiden, zu denen wir nicht gelangen können, denn Gott will dennoch, daß allen Menschen geholfen werde.
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 Aus der verschiedenen Lehre ergibt sich die verschiedene Beantwortung der oben gethanen Fragen. Unsre Väter, ihrer herrlichen Lehre gemäß, antworten mit einem entschiedenen, unumstößlichen Ja. Gott kann es keinem Volke, keinem Menschen an der nöthigen Berufung haben mangeln laßen; denn Er will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, welches ohne | Berufung nach Seinem eigenen Worte unmöglich ist. Bei dieser auf Gottes Wort beruhenden Lehre bedarf es natürlich in einzelnen Fällen keiner Aengstlichkeit, wenn etwa hie und da sich die Berufung nicht geschichtlich nachweisen läßt. Denn die Dogmatik ist über der Geschichte; die Geschichte aber, wenn sie uns in allen Fällen klar vorläge, würde der Dogmatik mit nichten widerstreben. Ja, so gewis nach Bacos Wort im Strome der Zeit das Beste untergegangen und nur das Geringere oben schwimmend geblieben ist; so gewis es ist, daß eine wahrhaftige und eingehende, genetische Darstellung der Geschichte im Ganzen und Großen eine unmögliche Sache ist; so gewis ist es doch auch, daß jener dogmatischen, aber damit nicht unbiblischen, im Gegentheil in Gottes Wort festbegründeten Behauptung einer katholischen Berufung viel geschichtliche Bestätigung zu Statten kommen würde, so wie man nur einmal zum Thema gründlicher Forschung in den Annalen der Vorzeit den Satz machen möchte:
Wie kann den verschiedenen Völkern aller Zeiten eine (gleichviel directe oder indirecte) Berufung zur Kirche zugekommen sein?

Denn mehr als nachgewiesene Möglichkeit bedarf man nicht, um die dogmatische Behauptung einer katholischen Berufung zu Christo geschichtlich nachgewiesen zu erkennen.

 Es ist erstaunlich, wie viel in der Lehre von der Kirche und ihrer Bewegung (Mission) auf die Lehre von der allgemeinen Gnade in ihrer bewußten Faßung ankommt, – und wie sich an eine prädestinatianische oder irgend wie, sei’s auch nur geschichtlich, der prädestinatianischen verwandte Richtung eine so ganz verschiedene Beantwortung kirchlicher Fragen hängt. Zwei Beispiele mögen zu eigener, weiterer Ueberlegung Anlaß geben.

 Röm. 10. ist von dem Berufe aller Völker die Rede und der Apostel ruft v. 18. aus: „Ich sage aber: Haben sie es (das Wort Gottes) nicht gehört? Zwar es ist ja in alle Lande ausgegangen ihr Schall, und in alle Welt ihre Worte.“ Aehnlich versichert derselbe Apostel der Heiden Col. 1, 23. „Das Evangelium ist gepredigt unter aller Creatur, die unter dem Himmel ist.“ Während man nun von der einen Seite diesen einfachen Aussprüchen der Schrift die Frage entgegenstellt: | „Wie kann das sein, daß zur Zeit der Apostel schon der letzte Befehl des HErrn (Gehet hin etc.) in Erfüllung gegangen ist?“ während man um des Neins willen, das im Herzen ruht, untüchtig wird, des Apostels Worte ganz einfach zu nehmen, – während man da die Worte zu drehen und an ihnen zu mäkeln und eine hyperbolische Bedeutung unterzulegen anfängt; sehen im Gegentheil die Bekenner der Lehre von der allgemeinen Gnade in Pauli Worten eine Bestätigung ihrer Lehre; sie finden in seinen Worten weiter nichts, als eine concrete Anwendung der abstracten Lehre. Ja, sie wißen Pauli Sinn gegen die Verdreher desselben in folgender Weise ganz wohl zu vertheidigen:
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 1. Thess. 4, 15 ff. spricht Paulus ganz einfach die Hoffnung aus, mit dem damaligen Geschlechte von Menschen die Wiederkunft des HErrn zu erleben. Wenn man nun gleich dagegen einwenden wollte: „Paulus kann hier nur gesprochen haben, wie einer, dessen Beruf es ist, auf seinen HErrn zu warten; denn Christus hat vor seiner Auffahrt ein Wort gesprochen, das Paulus gewis auch wußte: „Es gebührt euch nicht, zu wißen Zeit oder Stunde;“ so muß man doch auch die Antwort entgegennehmen: So wenig man wißen konnte, daß die Stunde Christi zu Pauli Zeit kommen würde, eben so wenig konnte man sagen: sie kommt nicht. Und eine Möglichkeit, daß die Stunde zu Zeiten Pauli kommen konnte, liegt doch mindestens in den Worten des Apostels. Liegt aber diese Möglichkeit darin, so mußte der h. Paulus in den von ihm Röm. 11, 25. wiederholten Worten des HErrn: „Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis daß der Heiden Zeit erfüllet wird“ (Luc. 21, 24.) – und in jenen andern: „Es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker, und dann wird das Ende kommen“ (Matth. 24, 14.) kein Hindernis für seine Hoffnung sehen. Das aber heißt jeden Falls nichts anders, als: er muß es für möglich erachtet haben, daß noch zu seinen Zeiten das Evangelium und seine Berufung zu allen Völkern und Menschen komme. Er hat also für möglich gehalten, was etliche jetzt noch nicht für möglich halten; – und daß ers nicht auf Wunderwegen der Allmacht | für möglich hielt, sondern durch das Evangelium und seine Predigt, beweisen die oben angeführten Stellen aus Röm. 10. und Col. 1. Ja, sie beweisen offenen Sinnen die Wirklichkeit! Sie sind die hellen Stellen, aus welchen seine Hoffnung 1. Thess. 4. erklärlich wird.
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 Das zweite Beispiel ist folgendes. – Da die Bekenner der allgemeinen Gnade eine vocatio catholica lehren, so ist es natürlich, daß sie der Lehre gemäß behaupten, auch die Völker Americas, welches damals noch nicht von Columbus wieder aufgefunden worden war, müßten diese Berufung empfangen haben. Bei dieser ihnen vornherein gewissen Ueberzeugung, mußte es ihnen wenn auch nicht sonderlich wichtig, doch interessant sein, Spuren eines historischen Nachweises aufzufinden. Möglich, daß hie und da einer auf irgend eine solche Spur zu viel vertraut, zu viel für die Art und Weise der Bewährung eines jeden Falls unumstößlichen Satzes geschloßen hat! Aber was ist denn ganz und gar daran gelegen, wenn einer hierin zu viel gethan hat? Auf Seiten der Wahrheit stand er im Ganzen doch, – und die Tendenz seines geschichtlichen Studiums war doch jeden Falls richtig! – Nun schrieb Hermann Witsius, ein reformirter Theologe, zwei Abhandlungen über die Predigt der Apostel in America. In der ersten stellt er das zusammen, was von den Freunden der Behauptung, daß die Apostel in America gepredigt hätten, zu Gunsten derselben aus Schrift und Historie beigebracht zu werden pflegte. In der andern zeigte er, daß mit alle dem die Behauptung doch nicht erwiesen werde. Vornehm unwillig wehrt sich Witsius gegen geschichtliche Forschungen, die man zu Gunsten dogmatischer Sätze – er nennt sie aber für diese Fälle Vorurtheile – anstelle, während ihm nichts destoweniger seine eigenen dogmatischen Ueberzeugungen[1] zur Erforschung nicht allein des geschichtlichen, sondern auch des exegetischen Ergebnisses seiner zweiten | Exercitation vorleuchten, und ihm ganz entgeht, daß die geschichtlichen Forschungen seiner Gegner, auch wo sie nicht gelungen erscheinen, (denn das kann uns hier ganz gleichgiltig sein) zu Gunsten einer offenbar biblischen Lehre unternommen sind, während seine Ueberzeugungen menschliche Gedanken waren, die nur auf eklektischem Wege aus Schrift und Geschichte Stützen finden konnten. Wer die beiden Exercitationen des Witsius liest, wird ihm vielleicht in manchen Einzelnheiten beistimmen, im Ganzen aber durch seine Exegese und die Darlegung seiner geschichtlichen Forschungen mit nichten für die reformirte Lehre gewonnen werden. So Schrift, wie Geschichte, so Recht, wie Barmherzigkeit werden ihn auf die Seite der edlen leutseligen Lehre unserer Väter ziehen, – und der große Gedanke einer vocatio catholica; wird von ihm nicht als bloße Hypothese, vielweniger als chimärisch behandelt werden – darum, daß wir so wenig im Stande sind, ihn in allen Fällen geschichtlich nachzuweisen. Es wäre schlimm, wenn die Unwißenheit der Menschen Beweiskraft gegen Gottes klaren Liebeswillen hätte.


10. Es beruft sie zu Einer Kirche, die da sichtbar und unsichtbar zugleich ist.


 Also die Berufung ist allgemein. An alle Menschen ergeht auf irgend eine Weise die Einladung, sich von der Welt zu trennen und zu der aus der Welt herausgerufenen Gemeine, d. i. zu der h. Kirche (ἐκ-κλησία) zu sammeln. Je nachdem nun diesem Berufe entweder gar nicht, oder in einem niedrigeren oder höheren Grade Gehorsam geleistet wird, nimmt man seine Stellung zu oder seine Stelle in der Kirche Gottes ein. Die gar keine Folge leisten, obschon sie die Berufung vernehmen, gehören zu der Welt; die sich äußerlich von der Welt trennen und sich vor jedermann zu Christo und seiner Kirche bekennen, | werden mit dem Ehrentitel der Berufenen geschmückt, weil sie die Berufung nicht umsonst vernommen, sondern, der Ladung gehorsam, bei dem Hochzeitmahle des ewigen Königs sich eingefunden haben; die aber unter den Berufenen, welche sich nicht blos äußerlich und vor den Augen der Menschen, sondern auch innerlich und nach dem Urtheil des HErrn selbst von der Welt getrennt und zu seiner Kirche gesammelt haben, welche deshalb am Ende vom HErrn auch öffentlich als die Seinen werden anerkannt werden, heißen die Auserwählten. Berufen sind viele, auserwählt sind wenige. Alle Auserwählten sind auch berufen und erscheinen vor den Menschen, welche das Innere nicht prüfen können, nur als Berufene, – und vor den Menschen wird vor dem Tage der Ewigkeit nimmer offenbar werden, welche in Wahrheit auserwählt sind. Denn wer kann das Herz ergründen? ER, der HErr, kann es ergründen, sonst niemand. Dagegen sind nicht alle Berufenen auch auserwählt. Es ist gerade, wie mit dem Tempel Salomonis. Das Allerheiligste gehörte zum Heiligen, aber das Heilige nicht zum Allerheiligsten; so gehören die Auserwählten zur Versammlung der Berufenen, aber nicht alle die letzteren zu der Schaar der Auserwählten.
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 Ganz dasselbe, was der HErr mit der Unterscheidung zwischen Berufenen und Auserwählten bezeichnet, bezeichnet man auch mit der Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Die sichtbare Kirche umfaßt alle diejenigen, welche man im Sinne des Gleichnisses vom großen Abendmahle Berufene nennt. Denn diese Schaar der Berufenen ist sichtbar: sie tritt sichtlich aus der übrigen Menschheit hervor, hält sich vor jedermanns Augen zu Gottes Wort und Sacrament und bekennt sich vor jedermanns Ohren zu Christo und Seinem Reiche. Die unsichtbare Kirche umfaßt diejenigen, welche sich nicht blos berufen, sondern auch erleuchten, bekehren, rechtfertigen, heiligen, erhalten und vollenden laßen durch das Wort des lebendigen Gottes. Diese alle heißen die unsichtbare Kirche, weil kein Mensch mit zweifelloser Sicherheit erkennen kann, wer von seinen Brüdern, die sich zu Christo bekennen, erleuchtet, bekehrt, gerechtfertigt sei, wer erhalten bleibe bis zum Tode und vollendet werde im Tode. | Alle, die zur unsichtbaren Kirche gehören, gehören auch zur sichtbaren; sie geben ihres Herzens gottergebenen Sinn durch lautes Bekenntnis in Wort und That zu erkennen. Ja, da die blos Berufenen, die zur sichtbaren Kirche sich halten, am Ende eben so wenig angenommen werden, als jener Geladene, der kein hochzeitliches Kleid anhatte; so kann man behaupten, die auserwählten Kinder der unsichtbaren Kirche gehören genau genommen nicht blos vorzugsweise, sondern allein zur sichtbaren Kirche, die andern seien blos Unkraut auf dem Waizenacker. Es sind deshalb dieselben Leute, die zur sichtbaren und zur unsichtbaren Kirche gehören, – die sichtbare und unsichtbare Kirche sind völlig Eine. Die Unterscheidung, die wir mit den beiden Ausdrücken machen, ist nicht auf eine wirklich stattfindende Scheidung zweier Haufen innerhalb der Kirche gegründet, sondern es liegt ihr nur das Bekenntnis der menschlichen Kurzsichtigkeit zu Grunde, durch welche wir verhindert sind, die Heuchler von den Aufrichtigen, das Unkraut vom Waizen zu scheiden, – durch welche wir genöthigt sind, aus Furcht, den Waizen mit dem Unkraut auszuräuten, ein mildes Gericht zu halten.
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 Man hat in neuerer Zeit oftmals durch eine wunderliche Verwirrung der Gedanken die unsichtbare Kirche wie ein bloßes Abstractum oder eine Idee der sichtbaren Kirche aufgefaßt, und damit den Feinden nur Anlaß zu Spott und Hohn gegeben. Denn es ist freilich wahr: ein Abstractum der Kirche oder eine Idee der Kirche ist doch am Ende nichts weniger, als eine Kirche. Vielmehr hätte man die unsichtbare und sichtbare Kirche in gleicher Weise als völlig Eine faßen sollen, wie man Seele und Leib für Einen Menschen anerkennt. So wenig die Seele ein Abstractum oder eine Idee des Leibes ist, eben so wenig ist die unsichtbare Kirche ein Abstractum oder eine Idee der sichtbaren. Ja, so wenig das Feuer ein Abstractum des Lichtes ist, das von ihm ausströmt; so wenig ist die unsichtbare Kirche ein Abstractum der sichtbaren. In dieser Auffaßung hätte man sich durch die Rücksicht auf so viele wirkliche oder nur muthmaßliche Heuchler, die sich an die Kirche anhängen, nicht im mindesten irre machen laßen sollen. Auch der menschliche Leib hat Haare, Nägel und andere unbeseelte Auswüchse. Wie man nun dem | Leibe um dieser unbeseelten Auswüchse willen die Gemeinschaft mit der Seele nicht abläugnet; so kann man auch der sichtbaren Kirche ihre völlige Einigkeit mit der unsichtbaren nicht abläugnen, weil sie sich mit Heuchlern und Maulchristen schleppen muß bis zum Tage der Aernte und der Sicht.

 Aus dem Gleichnisse von Seele und Leib läßt sich noch auf andere Weise zeigen, wie gar nicht ein pures Abstractum die unsichtbare Kirche sei. Die Seele ist getrennt von dem Leibe geschaffen und durch des Schöpfers Hand mit dem Leibe verbunden worden. Der Leib vermag ohne die Seele nicht lange zu bestehen, sondern fällt in Staub und Asche dahin, wenn die Seele von ihm ausfährt. Die Seele aber, gleichwie sie getrennt von dem Leib erschaffen ist, kann auch ohne den Leib leben, ja selig sein, wenn gleich auch sie der ewigen Freuden vollkommene Fülle erst nach Wiedervereinigung mit ihrem Leibe erfahren kann. So ist es mit der unsichtbaren Kirche. Sie ist ein Reich der Seelen, welches sich schäftig und mächtig darstellt auch auf Erden durch die Seelen, welche noch in Leibern wohnen; welches ohne Leiber ein mit Christo in Gott verborgenes Leben führt in den Seelen, die abgeschieden und daheim sind bei dem HErrn; welches an jenem großen Tage auch vor Menschen herrlich und majestätisch sich erzeigen wird, wenn die seligen Seelen die lichten, vollkommenen Organe der unsterblichen Leiber werden bekommen haben. Im Leib oder außer dem Leibe, sichtbar oder unsichtbar – ein wahrhaftiges Reich des HErrn sind und bleiben die auserwählten Seelen immer und ewiglich.

 Da nun die unsichtbare und sichtbare Kirche so völlig Eins sind, daß jene von dieser eingeschloßen und diese eine Trägerin aller Güter der unsichtbaren Kirche ist, so ist offenbar, daß man die sichtbare Kirche um der Heuchler willen nicht verächtlich behandeln dürfe, daß vielmehr jeder, welcher zur unsichtbaren Kirche zu gehören wünscht, auch zur sichtbaren gehören müße, – daß mit einem Worte die sichtbare Kirche die Hütte Gottes unter den Menschen und außer ihr kein Heil sei. Der „trennt sich von dem himmlischen Vater, der sich von der Kirche seiner Mutter, trennt; der scheidet sich vom ewigen Bräutigam, der sich von der ewigen Braut des HErrn scheidet; der verliert seinen Geist, | der sich von seinem Leibe losreißt, – und wie einer zur Kirche steht, so steht er zu seinem Gott. So sehr man deshalb auf inneres Christenthum dringen muß, so sehr muß man auch auf Bekenntnis in Wort und That dringen. Ja, so lieb einem das inwendige Wesen sein muß, so ernstlich muß man auch auf äußeres dringen. Denn es ist keines ohne das andere. Daher ist es auch ganz recht, daß man die sichtbare Kirche „heilig“ nennt; denn nicht nur sind alle Heiligen in ihr, wie oft eine Blume auf unwürdigem Boden blüht, sondern im Gegentheil, die sichtbare Kirche ist der Garten alles Guten trotz der Mühe und des Kummers, welche man mit ihrem Unkraut hat. Alle Wurzeln des ewigen Lebens, alle Anfänge himmlischer Zustände, aller Saame ewiger Blumen und Früchte sind in ihr. Gleichwie mit den Leibern die Seelen entstehen, so entsteht immer zugleich Unsichtbares und Sichtbares der Kirche; und wie mit den Leibern die Seelen wachsen und gedeihen, so gedeiht zugleich mit der sichtbaren die unsichtbare Kirche und umgekehrt, – und es besteht zwischen beiden eine von Gott gewollte, ewige Wechselwirkung.

 Es trete deshalb ferne von uns eine jede Trennung dessen, was Gott vereinigt hat. Man überschätze die sichtbare Kirche nicht, wie es heut zu Tage oft geschieht; denn es rächt sich. Man verachte sie aber auch nicht; denn auch das rächt sich. Man verachte noch viel weniger die unsichtbare Kirche, denn das ist unsägliches Unheil. Vor Ueberschätzung der unsichtbaren Kirche braucht man ohnehin nicht zu warnen, denn sie findet sich nicht, wenn man nicht etwa das Geschwätz jener Thoren, die, nur um keiner sichtbaren Kirche angehören zu dürfen, eine unsichtbare, das ist ein geistliches Utopien preisen, auf die ungerechteste Weise eine Überschätzung nennen will. – Es bleibe uns Eine Kirche, – Eine ewig, Eine allzeit, Eine überall, Eine – vereinigt durch Gottes klares Wort, Eine zugleich sichtbare und unsichtbare, – und gesegnet sei ihr Quellort, das Wort, das Himmel und Erde schuf, das auch die Kirche schuf und hält ohne alles Zuthun menschlicher Hilfen und Stützen! Gelobt aber sei der HErr, der Gott der Kirche, immer und ewiglich! Halleluja!





  1. Sua cuique populo designata est a numine tempestas. Nunc hic, nunc illic circumfertur, et videndam se exhibet area sacratissimi foederis. Evangelii fama crescit occulto velut arbor aevo, donec euntibus ordine fatis ad extremos orbis habitabilis terminos diffundatur. – So Witsius, – und wie mancher stimmt mit andern Ausdrücken ihm bei, ohne zu bemerken, daß zwar allerdings die Verherrlichung des Evangeliums und seiner Kirche bald hie, bald da erscheint, daß [40] aber die Berufung ganz etwas anderes ist und nicht blos da gesucht werden darf, wo die Kirche gerade in Herrlichkeit vor menschlichen Augen sich erweist. Ja, wie mancher stimmt der oberflächlichen und falschen Ansicht des Witsius bei, ohne zu bemerken, daß er Consequenzen der Prädestinationslehre nachsagt.
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