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nur ihre Vollendung, nur die Wahrnehmung, daß sie glücklicher sind, als ich, daß ich im Elend zurückgelaßen bin, während sie vor meinen Augen die Pforten des ewigen Sieges und Triumphes erreicht haben. Daß auch mein Lichtlein hier verlöschen, daß auch mir – vielleicht recht bald – die Pforte ewigen Triumphes geöffnet wird, daß ich schon vor der Pforte stehe, ist mir ein großer Trost. Aber es gibt einen größeren. Jener sterbende Gelehrte verlangte, um wohl zu sterben, einen großen Gedanken. Ich weiß einen Gedanken, der mächtig genug ist, so Sterbende, wie Lebende über die Kluft des Todes hinwegzuheben.

 Der Gedanke, welchen ich rühme, ist dieser:

Die da leben im HErrn – und die in Ihm außer dem Leibe wallen gehen, – die da pilgern, die daheim sind, – die da glauben, die da schauen, sind nicht zwei getrennte Heerden Gottes, sondern Eine, Eine vor dem HErrn, Eine nach ihrer eigenen Erkenntnis; – und was sie trennt, ist etwas Vergängliches, das täglich mehr hinweggeräumt wird: ein müdes Auge, das nicht schaut, – ein Stab, der zerbricht, – ein Leib, der hinfälliger ist, als Stab und Stecken. Was sie vereint, ist mehr und größeres, als was sie trennt.

 Vielleicht sprichst Du: „das ist nichts neues.“ Aber ich habe auch nicht gesagt, daß es etwas neues sei. Große Gedanken werden nicht in der letzten Stunde der Welt geboren, sondern der HErr gönnt sie Seiner Kirche von Anfang. Neu und falsch ist einerlei, wenn es von Dingen gesagt wird, deren man nicht entrathen kann. Alles Unerhörte in Dingen der Religion verdient Mistrauen. – Auch mir war der Gedanke dem Klang nach lang bekannt, als er mir neu wurde dem Verständnis nach, – und man kann Dinge lebenslänglich wißen, ohne sie zu verstehen. Glaubst Du das?

 Am schönsten finde ich den Gedanken von der Einen Kirche hier und dort schon von dem heiligen Verfaßer des Hebräerbriefes ausgesprochen. Cap. 12, 22 ff. lesen wir: „Ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend