Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern/I. Die Lage eines Pfarrers in der bayrischen Landeskirche

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Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern
II. Unser Streben nach Verbeßerung der Lage »
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I.
Die Lage eines Pfarrers in der bayerischen Landeskirche.




| |  Die Kirche ist im Vergleich mit früheren Zeiten in eine sehr verschiedene Lage gekommen. In ihrer ersten Zeit war sie im weiten feindlichen Dorngestrüpp der Welt wie eine dornenlose Rose, oder wie ein im Bereich der Welt ausgestreuter göttlicher Same, welcher, obwol von der Welt gehaßt und mit Vertilgung bedroht, dennoch die Welt überwand und merkwürdig fruchtbar über die Lande hin wucherte. Später, nach vielen siegreichen Kämpfen, wurde sie zu jenem hochberühmten Baume, der seine Aeste über die Welt ausbreitete, unter dessen Schatten sich große Könige und Völker ehrerbietig niederließen; sie war eine hehre Erzieherin der Völker, vor welcher sich auch Diejenigen demüthig neigten, welche sich gegen ihren Einfluß sträubten. Könige waren ihre ersten Söhne; die Staaten traten in die engste Verbindung mit ihr; Ein Ziel schien dem Staate und der Kirche zu gelten; die Reiche der Welt gaben sich, als wollten sie des HErrn und seines Christus werden. Das ist nun alles ganz anders. War die Kirche anfangs eine Fremdlingin und Pilgerin in der Welt, waltete sie hernach wie eine priesterliche Königin über sie; so hat sichs nun umgekehrt, die Welt ist in ihr, schaltet und waltet über sie, versteht sich, so weit man dies eben sagen kann. Die Welt hat sich seit langen Zeiten auf dem Grund und Boden der Kirche angesidelt, und die Kirche selbst versäumte es, ihrer Grenzen zu hüten, so lang es noch möglich war. Ihrem Beispiel folgte der vorzumal christliche Staat je länger je mehr, bis er endlich dahin kam, sein Gebiet ungescheut für allerlei geistliches Volk und mancherlei Glauben ohne Unterschied zu öffnen. Wie die Kirche zuerst ihrer selbst nicht achtete, so wird sie nun verachtet. Ein Scheidebrief ist ihr gegeben; die Erzieherin der Völker ist ausgezogen, ohne Kron und Mantel, gebunden, verhöhnt, geschlagen, wie Unkraut geachtet, das man ausraufen, wegwerfen oder verbrennen will. Einst wohnte sie, gleichsam des Staates Weib und Genossin, auf Thronen und lenkte so manchmal Scepter und Schwert zu Ehren Gottes; nun hat der Staat kein Weib mehr, die Verstoßene schlägt auf seinem preisgegebenen Gebiete ihr Zelt auf wie die Afterkirchen. So wohnt sie nun wieder mitten unter ihren Feinden, gleichwie im Anfang, allein, gehaßt; aber leider auch ohne die große, hehre, heilige Majestät, die jenesmal aus ihr hervorleuchtete und ihren Feinden Ehrerbietung abnöthigte. Sie gewöhnt sich schwer in die neue, harte Lage; es kommt ihr zuweilen, sich gemäß ihrer früheren Zeit zu gebärden. Es wäre aber beßer, sie gewöhnte sich und wendete die Zeit zu innerer Sammlung und zur Erneuerung an, die sie nun unnütz verschwendet, alten Flitter zu retten und sich im Fallen von unmöglich gewordenem Unterbau aufzuhalten.
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|  So feindselig man auch dem Sinn und Streben des Verfaßers dieser Zeilen gegenüberstehe; man wird doch nicht leugnen können, daß es mit der lutherischen Kirche in Deutschland so geworden ist, daß es sich auch da, wo die gesetzlichen Formen noch fehlen, im Grunde nicht anders verhält. Was wahr ist, ist wahr, auch wenn es traurig ist; Beweis und Beleg dürften leider so leicht herbeizuschaffen sein, daß der Verfaßer das Geschäft einem jeden Leser selbst überlaßen kann.
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 Diese große Wendung der Dinge kommt nicht von ungefähr; sie ist eine Frucht der Zeit, welche, langsam herangewachsen, nun eben zur Reife kam und wie ein Apfel vom Baume fiel. Es ist aber den deutschen Kirchen gegangen, wie sie es verdienten; nach dem sie waren, ist ihnen geschehen. Des HErrn Gericht hat an seinem Hause angefangen. Man besehe nur, wie es allenthalben in den Landeskirchen steht! – Zwar liegen jetzt grade die vor einem Jahre wild bewegten Massen in einem dumpfen Schweigen; aber waren nicht die Namen derer, die in brausenden Wogen emporgiengen, in unsern Kirchenbüchern eingezeichnet? Es waren unsre Täuflinge und Confirmanden, unsre Zuhörer, welchen wir oft die Pflicht des Gehorsams gegen die Obrigkeit eingeprägt hatten, – unsre Beichtkinder, welche wir absolvirt, die Abendmahlsgenoßen, denen wir Christi Leib und Blut gereicht hatten; diese vergaßen alle kirchliche Wohlthat und schwollen zum Strom des Verderbens an. Die Gährungsstoffe waren nicht auf christlichem Boden gewachsen, die Agitatoren waren zum Theil weder Lutheraner, noch überhaupt Getaufte, die Massen waren verführt und verblendet: dennoch aber müßen wir zugestehen, daß die Gemeindeglieder, welche sich vom Strome mit fortreißen ließen, von Jugend auf klare, einfache, allgemein verständliche Gottesworte wußten und kannten, oder doch gewis wißen und kennen konnten, mit denen es leicht war, die Verführung wie mit zweischneidigen Schwertern abzuwehren. Auch fehlte es nicht an manchen treuen Predigern und Seelsorgern, welche, unbeirrt vom Geiste der Zeit, treulich riefen und Gottes heiliges Gebot: „Seid unterthan“ mit Macht erschallen ließen. Es wurde auch wirklich manch irrendes Gewißen zurechtgewiesen und theure Seelen errettet; aber im Ganzen? Was haben wir, was hat Gottes Wort im Ganzen auf unsre Gemeinden gewirkt? – Wir können es ja nicht leugnen, daß es meist ohne uns Ruhe geworden ist, und daß es nicht die Waffen unsrer Ritterschaft waren, welche Ordnung schafften. Es ist wohl überhaupt mit der gegenwärtigen Ruhe nicht weit her; nur wenige sind vielleicht gebeßert; auf Herzensbuße und innerer Umkehr beruht die Aenderung nicht; es glüht allenthalben unter der Asche die alte Bosheit. Die Jahre 1848 und 1849 sind von einander sehr verschieden; innerlich sind sie am Ende beide voll Raubes und Fraßes. Und gleichwie ein junger Knabe Rinder und Stiere weidet, bis sie einmal ihre Kraft inne werden und gegen ihn brauchen; so gehen wir Pfarrer, scheint mirs, unter den Maßen, bis sie sich einmal gegen uns wenden und den Hirtenstab sammt den Hirten zerbrechen. Vielleicht fehlt dem Pöbel in der Kirche nichts, als ein starkes, von der Hölle entzündetes Wort und ein Anführer, dem aus dem Abgrund Kraft gegeben ist,| um sich in teufelischem Schwung gegen das Institut der äußern Kirche zu erheben und es zusammenzuwerfen. Wir, nemlich die, welche solche Befürchtungen im Herzen tragen, können uns irren, und wie süß wäre es, dereinst den Irrthum widerrufen zu dürfen; aber daß wir nur nicht Recht behalten, nur nicht die inneren Zustände der deutschen Landeskirchen richtig sehen! Daß wir nur nicht an einem Abgrund oder gar auf dünner Decke über dem Abgrund weiden!

 Es sei ferne, das Gute und die Gnade zu leugnen, welche uns der HErr geschenkt hat. Warum sind 1848 die wilden deutschen Wogen nicht weiter gestiegen, als bis zu den Thronen; warum ragten diese dennoch, ohne zu sinken oder zu stürzen, über die Fluth? Es war, größten Theils vielleicht, ein Ueberrest von alter, religiöser Ehrfurcht vor den Gesalbten Gottes, was den Waßern Einhalt that, und ohne diesen und andere Ueberreste uralten himmlischen Horts wäre wohl alles noch unendlich schlimmer geworden. Aber bei aller Anerkennung dieser Wahrheit, bei allem Gotteslob für alles, was überhaupt in den letzten Jahren und Jahrzehnten für das Reich Gottes geschehen ist, bei allen Bekehrungen so vieler Einzelnen hin und her, ist es doch eine, man darf wohl sagen unumstößliche Wahrheit, daß der religiöse Aufschwung der letzten Jahrzehente im Ganzen nicht sehr viel geändert hat, daß das wiedererscheinende hellere Licht den verzweifelt bösen Schaden nur desto greller erscheinen ließ und ihn desto verdammlicher machte, daß die Wuth der Feinde im Innern der Kirche sich nur desto mächtiger erhebt und nur desto offenbarer geworden ist, wie sehr in ihr Gegentheil die sichtbare Kirche umgeschlagen ist. Das Waßer staute sich lange, ehe es Wehr und Damm durchbrach, ein altes Verderben hat sich in den letzten Jahren hervorgethan.

 Man könnte freilich die Frage aufwerfen, ob nicht Kirchengesellschaften, in welchen einmal verderbte Volksmassen Unterkunft gefunden haben, am Ende immer demselben Schicksale unterliegen und ihrer Auflösung entgegengehen müßen? Man könnte zur Lösung der Frage um so furchtloser schreiten, als es sich ja gar nicht ums Dasein der Kirche handelt, welche unsterblich ist und auch von den Pforten der Hölle nicht überwunden werden soll, sondern im schlimmsten Fall nur von einzelnen Landeskirchen, denen so wenig, wie den einst blühenden, nun erstorbenen Kirchen des Morgenlandes und Nordafricas ewige Verheißungen gegeben sind. Allein es mag die ganze Frage hier unerörtert bleiben, und was dieses Orts hervorgehoben werden muß, ist zunächst mehr der Unterschied zwischen früheren Massenkirchen (sit venia verbo!) und denen der jetzigen Zeit. Ist gleich das Christenthum niemals ein breiter Weg auf Auen gewesen, sondern immer eine schmale, von wenigen begangene Straße; so haben doch die großen Massen unsrer Tage bei weitem mehr als die in früheren Zeiten Gott und seinem heiligen Worte entsagt und sich theoretischem und praktischem Unglauben ergeben. So gar los von göttlichen Gedanken wie jetzt, und zwar gerade von den Grundgedanken des Evangeliums ist wohl unser Volk in seiner Mehrzahl nie gewesen, seitdem man von einem christlichen Deutschland spricht. Die Wahrheit| war doch früherhin in einem ganz andern Maaß und Umfang eine Macht, als gegenwärtig. – Es ist wahr, daß die Gleichnisse vom Netz, welches gute und faule Fische fäht, – vom Vorhof, der auch Leute ohne hochzeitliches Kleid umfaßt, – vom Acker, auf dem Gottes und des Teufels Saat bis ans Ende wachsen soll, auch für unsre Zustände etwas Tröstliches haben; aber sie alle bedecken und verhehlen die Seelengefahr nicht, in welcher bei massenhaftem Verderben die wenigen empfänglichen Seelen und aufgeweckteren Christen schweben, – wollen die Augen nicht blind für den unsäglichen Jammer machen, die Hände nicht lahm, den guten Kampf nach Beßerung zu kämpfen und darnach zu ringen, – und auch ihr Trost gehört nur denen, welche ihr Aeußerstes gethan haben, um die Beßeren zu bewahren, die Verderbten und Abgefallenen zu gewinnen. Man sei nur stille mit dem Vorwurfe des Novatianismus und Donatismus! Wir sehen und erfahren es in unserm Amte täglich, was möglich und nicht möglich ist; wir glauben auch an keine wahrhaft reine und heilige Kirche auf Erden; wir sind ganz zufrieden, wenn wir nur die faulen Fische, das unhochzeitliche Kleid, des Teufels böse Saat nicht mit verschulden; nicht gegen die Unmöglichkeit, eine reine Kirche zu gründen oder zu erhalten, sondern nur gegen unsre und unserer Brüder Mitschuld an der traurigen Unmöglichkeit kämpfen wir. So, wie es bei uns ist, sollte es gewis auch in der sichtbaren Kirche nach Christi Sinn nicht sein, denn es ist durch Schuld der Kirche selbst so geworden; – es soll auch gewis nicht so bleiben, weil es durch Schuld der Kirche so bleiben würde. Die Gleichnisse vom Netz, hochzeitlichen Kleid und Acker behalten ihre Anwendung immerhin, auch wenn es beßer wird; um so weniger sind sie geeignet, denen entgegengehalten zu werden, welche sich bei all dem Wißen ein heiliges Vorwärts zum Wahlspruch genommen haben.




 Wenn unter den tausend Millionen Menschen, welche den Erdball bewohnen sollen, ein Fünftel – denn so viele Getaufte rechnet man ungefähr – auf dem Wege des ewigen Lebens wären; so wäre der Lebensweg immer noch schmal genug, und wenig genug wären derer, die auf ihm wandelten. Leider aber haben wir Ursache zu glauben, daß er noch schmäler ist, da ja auch von den Getauften die Mehrzahl den Weg des Verderbens geht. Nun ist es zwar möglich, daß der an und für sich so schmale Weg an dem oder jenem Orte verhältnismäßig ein wenig breiter ist, daß an dieser oder jener Stelle etwas mehr Pilgrime auf ihm wandeln. Es könnte deshalb wohl auch eine oder die andere Gemeinde geben, in welcher die gegenwärtig große Mehrzahl der Landeskirchen nur geringer vertreten wäre, in welcher es mehr fromme Menschen gäbe. Doch werden insgemein die einzelnen Gemeinden getreue Abbilder der Kirchengesellschaften sein, zu welchen sie gehören. Wohl die meisten Pfarrer werden sagen: „Meine Gemeinde ist ein Theil ihres Ganzen; sie gleicht in ihrer Zusammensetzung der ganzen Kirche; der breite Weg ist auch hier breit, und der schmale recht schmal.“ Wie wenige werden mit Wahrheit anders sagen können! – Als ein Fremdling tritt der neue Pfarrer in seine Gemeinde ein. Sein Herz kommt allen ihren Gliedern mit Liebe entgegen; er erkennt sie alle für seine pflegbefohlenen Schafe,| möchte gerne allen alles werden. Was geschieht aber? Gib ihm ein Herz voll Andacht, voll Liebe, voll Friedfertigkeit, voll Stärke, Fleiß und Geduld, voll pastoraler Weisheit und Klugheit; laß ihn aufs einfältigste, treueste, glimpflichste und mildeste das Wort Gottes theilen: er wird es doch, bei allen Gaben und aller Treue, ja gerade dann am wenigsten vermeiden können, daß sich nicht vor seinen Augen schnell und je länger, je schärfer die Gemeinde theile. Ein klein Häuflein, allemal von den andern schmählich verlästert, sammelt sich zu seinem Worte; die andern sind, auch wenn sie anfangs begierig lauschten, bald enttäuscht; so haben sies nicht gemeint, einen solchen Pfarrer hatten sie nicht begehrt, sie wollten nun, er wäre von hinnen. Etliche werden im Verlauf der Zeit grimmige Feinde und der Pfarrer steht am Ende einsam und fremd der Mehrzahl seiner Gemeinde gegenüber; ist er recht gesegnet, so führt er vielleicht von Zeit zu Zeit eine Seele mehr zum kleinen Häuflein seiner treuen Schüler, von dem ihm durch Tod und andere Fügungen Gottes vielleicht eben so viele wieder genommen werden. Wir wollen nicht eben leugnen, daß die Wirkung eines Pfarrers doch auch im Ganzen und Allgemeinen sich hie und da erweise; aber groß und tiefgreifend kann sie bei der gegenwärtigen Gestalt der Gemeinden schwerlich sein. Wohl selten gibt ein rechtschaffener Diener Christi seiner Gemeinde als solcher ein beßeres Zeugnis, so viele es auch geben mag, die sich selbst täuschen und aus Gründen, welche kein Lob verdienen, eine andere Sprache führen.
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 Es ist hiebei ein großer Unterschied zwischen Stadt und Land. Die Stadt setzt durch ihre Verhältnisse und die Artung ihrer Bevölkerung der Amtsführung allerdings ganz eigenthümliche Hindernisse entgegen, welche der Landpfarrer entweder nicht oder nicht in dem Maße zu überwinden bekommt. Der Stadtpfarrer hat aber dafür auch manches Andere voraus. Er kommt z. B., zumal wenn er nicht Parochus ist, selten in die nahe, harte Berührung mit der Gemeinde als solcher, welche den Landpfarrer fast täglich quetscht und verwundet. Der städtische Pfarrer predigt – und es sammelt sich um ihn ein freies Publicum. Seine Beichtkinder wählen ihn ganz nach eigener Wahl und er hinwiederum braucht, da das Beichtverhältnis von beiden Seiten ein freies ist, auch kein Beichtkind anzunehmen, das sich etwa zu ihm begeben wollte, ohne zu ihm zu passen. Es bilden sich unter dem Schutze alten Herkommens die Beichtkreise der einzelnen städtischen Pfarrer im Frieden, fast wie eine Art von Gemeinden in der Gemeinde, und ist der Pfarrer darnach, so trägt ihn sein Publicum und Beichtkreis auf den Händen und entschädigt ihn durch seine Liebe reichlich für allen Spott und Hohn seiner Widerwärtigen, den er allenfalls erfahren muß. Da kann es wohl kommen, daß ein Pfarrer, welcher sich am persönlichen Wohlergehen genügen läßt, seine Lage innerhalb der Landeskirchen ganz erträglich finden kann, – Ganz anders der Landpfarrer! Sein Publicum, sein Beichtkreis fällt mit seinem Sprengel zusammen. Es herrscht ja nicht bloß Parochial-, sondern auch Beichtzwang in den Landgemeinden der lutherischen Kirche. Jede Gemeinde muß ihren Pfarrer haben und wer einmal ihr Pfarrer ist, ist auch Beichtvater für alle, die ihn mögen und die ihn nicht mögen, er habe die Gabe der Seelsorge| oder habe sie nicht. Was es da beiderseits für eigenthümliche schwere Leiden, für unerträgliche Verlegenheiten und ärgerliche Reibungen, für schroffe Risse und Entfremdungen gibt, das wißen zwar manche Landpfarrer mit nichten, aber es gibt viele, die es wißen und unter diesem Drucke gar viel seufzen und jammern, – und es drücken diese Uebel um so schwerer, je unvermeidlicher und unabänderlicher sie erscheinen. – Versteht sich, hat dieser Unterschied zwischen Stadt und Land sich je und je kund gegeben, seitdem es festabgeschloßene Parochien gibt und ihnen congruente Beichtkreise und Beichtzwang. Was aber je und je eine Quelle vieler Leiden und Uebelstände war, das wird durch die gegenwärtige Gestalt der Landgemeinden, durch den auch innerhalb ihrer um sich greifenden Abfall zur unüberwindlichen, unerträglichen Last. Wenn je und je die dem Landmann eigenthümliche langsame Trägheit und Apathie, die angeerbte väterliche Sitte (der unverbrüchliche Comment des Bauersmanns) und Gewöhnung sich wider das Amt spreizten; so sträubt und brüstet sich nun in diesen an sich schon zähen und harten Hüllen neuer boshafter Wille und schauderhafte Feindschaft wider Gott und die heilsamen Wirkungen seines Wortes. Da vermeide nun einer Parteiung, innerliche, – und äußerlich sich kräftigst erweisende Spaltung. Der erste Erfolg eines begabten und gewißenhaften Pfarrers ist eine kenntliche Scheidung derer, die das Wort annehmen, und derer, die es verwerfen. Ihrem Urtheil folgt ihr Leben – und ihrem Leben das Urtheil.
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 Die Scheidung kommt, noch ehe der Pfarrer den Einzelnen nahe tritt, schon wenn er die Kräfte des göttlichen Wortes bloß aus der Ferne, von seiner Kanzel herab wirken läßt. Sie wird aber durch das ernste Annahen seelsorgender Liebe bei den Einzelnen oft statt, wie man hoffte, verhindert, nur desto mächtiger hervorgerufen und, wo sie ist, vollendet. Es geschieht allerdings zuweilen, daß ein zuvor feindseliges Gemüth durch die besondere Seelsorge freundlicher gestimmt wird; es hat schon mancher Vorurtheile abgelegt und dem Worte williger zugehört, nachdem er mit dem Pfarrer persönlich zu thun gehabt. Aber abgesehen davon, daß persönliches Annahen eines in öffentlichem Amt und Wirken stehenden Menschen oft nur schmeichelt, nur eine Freundschaft des alten Menschen mit dem Pfarrer stiftet, welche bei erster Gelegenheit und Probe zersplittert; sind es obendrein nur seltene Fälle, in denen selbst diese geringe Wirkung erfolgt: die Mehrzahl ist unnahbar für seelsorgende Liebe und manchmal hat selbst die freundlichste Begegnung, wenn sie die Wahrheit laut werden ließ, nichts zur Folge, als weitere Entfernung. Ach man lebt für viele so gar umsonst, verschwendet die edle Lebenszeit und Kraft so gar vergeblich! Wahrlich, die Idylle des Landpfarrerlebens mußte gar nicht in ein so schreckliches Gegentheil umschlagen, um wie schöne Seifenblasen zu zergehen. Wenn man nur für die Gemeinde, an der man steht, leben, leiden, arbeiten und ersterben dürfte, man fände es weit köstlicher als jede Idylle. So aber steht man mit einem Herzen für Hunderte oder Tausende, und siehe, sie nehmen Wort und Herz und Treue nicht an, jetzt schon gar nicht, wo der Landmann die Freiheit im Sinne des Eigennutzes ausbeutet, für diese Freiheit, das große Wort des Tages, alles opfert und so gar| wenig Sinn für das Göttliche zu haben pflegt. – Ach, man hat zur Rettung der Gemeinden im Ganzen und Großen schon so Manches versucht! Was hat man nicht angewendet, um zu helfen. Bald sollte die Predigt, bald die Schule, die Kinder- und Christenlehre, bald die Liturgie, bald dies bald das die Hauptsache ausrichten. Von einem zum andern irrte man in wandelbarer Hoffnung herum – und wie lange her ist es, seitdem man aufhörte, ganz übertriebene Hoffnungen auf die besondere Seelsorge zu stellen? Und doch findet und fühlt sich gerade der Seelsorger so gar ohnmächtig gegenüber den Uebeln der Zeit! Nicht, daß er keine Schätze, keine Himmelsspeise und Himmelshilfe hätte; er hat sie, aber wie soll er sie anwenden und vertheilen? Wo die Predigt, die Kinder- oder Christenlehre noch nichts vorbereitet hat, hat die Privatseelsorge keine bereitete Bahn, zumal wo sie durch den Beichtzwang so gar in der innersten Wurzel angegriffen ist, wie auf dem Lande. Denn sie sollte dem freiesten Willen begegnen, auf ihn, auf Lust und Neigung ist sie gestellt; nun aber wird sie wie eine Art geistlicher, wo nicht gar weltlicher Polizei angesehen, und so gar viele ziehen sich von ihr scheu zurück. Auch hier hat der Landpfarrer wieder sein besonderes Kreuz. Es büßt allerdings auch der städtische Pfarrer, welcher Beichtverhältnisse leichtsinnig eingieng, seinen Fehler oft theuer durch blutsaure und unfruchtbare Mühe, die er mit seinen schlechten Beichtkindern hat; aber sein Beichtverhältnis entsteht doch immer auf dem Wege freien Zutrauens, und das wirkt nach; es löst sich auch, wo mehrere Pfarrer an derselben Gemeinde sind, leichter und ohne so große Schwierigkeiten und Nachwehen, als auf dem Lande, wo der geistlichen Amtswirksamkeit überall der Jammer des harten Wörtchens „Muß“ und die Widerwärtigkeit gezwungener Verhältnisse entgegentreten, sammt all dem Tode, den solche Verhältnisse verschulden. – Es fehlt eben doch auch in diesem Stücke, wie in so vielen andern unsren kirchlichen Zuständen etwas, was man vielleicht nie so, wie jetzt vermißte, Leichtigkeit der Bewegung und Fluctuation. Ich weiß, wie schwer diese herzustellen ist; ich äußere mich auch nicht so, als wollte ich nun mit einem Male alles Stätige zu Gunsten der gewünschten Fluctuation über den Haufen werfen; ich erlaube mir aber doch, meine Meinung zu sagen und will sie gerne zurücknehmen, falls mich ein Irrthum beschlichen haben sollte. Ists denn aber nicht doch so? Ist die Kirche ihrer Natur nach nicht eben so fluctuirend, als stätig? Fluctuation, freie Bewegung, in jedem Geschlecht? neues, frisches, freies Zusammenschließen der ihr innerlich Zugehörigen, das sollte man ihr zugestehen und durch Hervorhebung und Durchdringung des Gedankens möglich und geläufig machen. Sie brauchte deshalb in der Stätigkeit ihrer Einrichtung nichts zu ändern; die religiöse Erziehung der Kinder etc. könnte auch bei dem Bewußtsein einer leichteren Lös- und Schließbarkeit kirchlicher Verbindungen dennoch bestehen, wie es sich ja z. B. in Nordamerica zeigt. Ewig im Ganzen, wechselnd in Betreff der einzelnen Bestandtheile, gedeiht die Kirche schwerlich recht, wenn nicht die Möglichkeit des freiesten Ab- und Zugangs, ja die Nothwendigkeit dieser Freiheit erkannt und zur Anerkennung gebracht wird. Aus freiester Ueberzeugung, nur um der Kirche selbst und der Seelen Seligkeit willen – sollte man bleiben und kommen und gehen lehren. Der HErr hat sich ja im Neuen Testamente nicht| abermals einen Ort erwählt, wo er immerdar bliebe; sein Reich ist an jedem Orte nur zur Herberge. – Jedoch, ich schweige hievon. Ich weiß, daß schon in frühen Zeiten die Katholiker gegen die Donatisten eine gewisse Heilsamkeit des Zwanges zum Guten behaupteten, und erwarte es nicht anders, als daß man mir wie einem Donatisten begegnen wird, wenn man überhaupt diese Zeilen beachtet. Es ist aber auch schon öfter von beßeren Männern und einsichtsvollen Zeugen die Bemerkung gemacht worden, daß hie und da einmal auch die Wahrheit zwischen den Katholikern und Donatisten mitten inne lag, und diese heilige Mitte zu befördern diene nach meiner Absicht, was ich eben gegen das Stagniren der Kirche für ein gerechtes Maß der Fluctuation gesagt haben möchte. – Man deute meine unvollkommenen Worte zum Besten der Wahrheit, welche in ihnen ist. – Jedoch zum Faden dieser Erörterungen zurück!
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 Die Seelsorge auf dem Lande hat, wie wir gesehen haben, ihre besondern Schwierigkeiten. Kalt und hart fühlt sich hier die abgefallene Menge am Herzen des Seelsorgers. In seiner sittlichen Versunkenheit, in seinem bösen Gewißen steht der Landmann seinem Pfarrer wie einem strengen Richter, ja wie einem Räuber seines freien Willens und seiner guten Rechte gegenüber. Er vertraut nicht, und sieht er, daß es andere seines Gleichen thun, daß sie sich dem Pfarrer nähern und mit ihm Umgang pflegen: das müßen alsbald Verräther sein. Selbst beßere Menschen halten es daher auf dem Lande für Weisheit, ja für Tugend, dem Pfarrer nicht näher zu treten. Eine, wenn es gut geht „ehrerbietige“ Entfernung vom Seelsorger ist Prinzip im Benehmen der Gemeinden gegen den Pfarrer; darüber herrscht von den Vätern her traditionelle Einigkeit. Welcher Landpfarrer weiß das nicht, welcher beseufzt es nicht? Wir wollen uns nicht abermals in Klagen ergehen, obwol man immer in Versuchung ist, das Herz von dem übergehen zu laßen, des es voll ist. Der Hauptzweck erneuerter Erwähnung unsrer Pein ist nur der, daran die Erwähnung gewisser Uebel anzureihen, welche sich allgemein, in Städten wie auf dem Lande finden, oder worin Stadtgemeinden die auf dem platten Lande noch übertreffen. – Es gibt in den Städten viele Getaufte, welche keinen Beichtvater haben, keinen suchen, aus eigener Wahl und gerne von Absolution und Abendmal, ja von allem und jeden gottesdienstlichen Verbande fern bleiben. Dem einzelnen Beichtvater als solchem machen sie weniger Kummer; aber sind sie nicht doch ein Gegenstand des Kummers für diejenigen, welche, sie seien Seelsorger oder andere Glieder der Kirche, ein Herz für das Verlorene haben? Gehören doch diese vielen erstorbenen Glieder immerfort zu den Gemeinden – und sie haben kein Gotteswort, keinen Seelsorger; sie wollen nichts von dem – und die Pfarrer ihrer Heimat kennen sie nicht! – – „Der HErr sahe sie an, und sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ – Und nun von dieser hirtenlosen Schaar abzusehen, wie viele gibt es, die, bei völlig entchristlichtem Leben, den Abendmahlsgang doch noch für eine Ehrensache halten und sich denselben nicht verwehren laßen wollen, welche als ihren rechtmäßigen Antheil an Christo das fordern, was ihnen, so wie sie sind, so wie sie’s nehmen, nur schaden kann. Solcher Leute gibts viele in den| Städten – und auf dem Lande, ja, da gibts ganze Gemeinden, welche, trotz herrschenden Abfalls und grober Sünde, dennoch ganz regelmäßig Mann für Mann sich zu Gottes Tisch drängen. Und wir stehen am Altare, wir sehen, wir kennen diese Schaaren – und sollen ihnen des HErrn Leib und sein theures Blut austheilen! – Hier, ja hier bei Absolution und Abendmahl, da fühlen wir, wie es in den Gemeinden steht, und wie unser HErr und wir mit Ihm zu ihnen stehen! Hier ist unser größter Schade, unser tiefster Jammer!
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 Man hat in neuerer Zeit zuweilen den Abendmahlsgenuß von der Absolution unabhängig machen wollen, und gewis, abgesehen von dem objectiven Werthe des Gedankens, es ist Methode in ihm. Es kann ja freilich scheinen, als hätte der Pfarrer eine große Last der Verantwortung weniger, wenn er nur das Abendmahl auszutheilen und nicht auch zu absolviren hätte. Indes tief würde die Ruhe nicht greifen, welche aus der Durchführung dieses Gedankens käme, und lang würde sie nicht dauern. Nicht bloß die Diener des Altars, auch die Communicanten würden es bald merken, daß in den Worten der Distribution („Nimm hin und iß“ etc.) eine Absolution eingewickelt liegt. Der beim Abendmahl gewesen, wird sich kraft dieses Sacraments absolvirt wißen, auch wenn ihm zuvor keine besondere Absolution gesprochen ist. Und hätte er Unrecht? Hätte er Unrecht, wenn er behauptete, der Pfarrer habe ihn nicht bloß mit Gottes Wort, sondern auch mit Gottes That, dem hl. Sacramente, dem Leib und Blute Christi absolvirt? – Ueberdies wäre ja der confessionelle lutherische Brauch gebrochen, denn die lutherische Kirche will ja zeug ihrer Confession niemand unverhört und unabsolvirt zu Gottes Tisch laßen. Was hilfts also? Wir absolviren doch auf alle Fälle diejenigen, welche wir zu Gottes Tisch laßen. Wir absolviren also und communiciren also – und können nicht anders. Und wen absolviren und communiciren wir? Sieh nur zurück auf deine Schaaren, wende dich nur vom Altare auf sie hin! Kennst du sie? Der städtische Pfarrer kennt vielleicht viele nicht. Besteht doch häufig keine Controlle, ja nicht einmal eine Anmeldung. Es könnten Juden und Muhamedaner darunter sein, du wüßtest es vielleicht nicht! Du kennst aber auch viele, es kennt sie jedermann. Es sind viele offenbare, unbußfertige Sünder, die in frechem Sündenstolz feierlich zu den Stufen schreiten, vor denen sie beben sollten. Da ist außer ihrem Dasein, welches kein unzweideutiges Zeugnis gibt, kein Zeichen der Reue und Buße, kein vernehmliches, abgesondertes, ihr Leben betreffendes Bekenntnis, kein kundgegebener Entschluß der Beßerung, kein Pfand guter That, durch welches der gebeßerte Wille beglaubigt wäre. Und doch gehen sie alle zum Altare, selbst da, wo man den Grundsatz, daß kein offenbarer unbußfertiger Sünder zu Gottes Tisch gehen solle, in der Theorie gelten läßt. – Es ist für den liebevollen Beichtvater schon ein großer Jammer, Beichtkinder zu haben, von denen man zwar nichts besonders Böses, aber auch nichts Gutes weiß. Man sollte ja von Christen Gutes wißen oder doch leicht erforschen können, – und man fühlt es tausendmal, daß die uns anvertrauten Schafe großen Theils so gar unbeglaubigte und unbezeugte, thatlose, todte Christen sind. Man weiß manchmal an einem Menschen keine einzelne, hervorstechende| Sünde, aber man bekommt, je näher und länger man ihn kennen lernt, eine desto peinvollere Ueberzeugung, daß das ganze Leben gleichsam Eine bußlose Sünde sei. Die americanischen Methodisten fordern zur Aufnahme in ihre Gemeinschaft einen Nachweis der Wiedergeburt, gewis eine verwerfliche, extreme Forderung, welche, weil sie selten rechtschaffen erfüllt werden kann, in sehr häufigen Fällen zu eitel Trug und Täuschung führen muß. Aber gewis liegt auch etwas Wahres zu Grunde, nemlich das, eben sowol im Interesse des kirchlichen Ganzen, zu dem man treten will, als in dem der einzelnen Aufnahme begehrenden Seele entstandene Bedürfnis, von den Aufzunehmenden zu wißen, daß sie es mit sich und der Kirche treu und redlich meinen. Und so viel sollte man in der That auch von den Communicanten wißen oder leicht erfahren können. Man nimmt mit vollstem Rechte auch den größten Sünder zum Sacramente, wenn seine Buße erkennbar ist; sollte man nicht bei denen, welche nicht offenbare Sünder sind, welche man für Glieder Christi halten möchte, einen Beweis ihres Strebens nach Vollendung, irgend eine Frucht ihrer fortgehenden Buße suchen dürfen? Das Sacrament ist ja doch nicht bloß die Versiegelung und Versicherung der Sündenvergebung, sondern auch Nahrung für unser neues Leben, und ein frommer Seelsorger muß doch wahrlich auf eines, wie aufs andere sehen, seinen Schafen immer neuen Frieden aus der alten, ewigen Friedensquelle, aber auch immer neuen Muth und neue Kraft der Heiligung reichen, – und eben deswegen sein und seiner Schafe prüfendes Urtheil auf beides lenken! Wer das Novatianismus nennen würde, der bewiese doch wahrlich nur, daß er entweder, was wir sagten, oder den Novatianismus nicht recht erkannt hat; er würde die erste Kirche selbst zur Novatianerin machen, welche neben dem Banne, dem einen Ende der Seelsorge, das andere im Catechumenat und dazwischen ihre ganze heilige Bußordnung festhielt – und eben damit am treuesten und liebevollsten für die einzelnen Kirchenglieder, wie für das Wohl und den Zweck des Ganzen sorgte. – Indes, es steht ja bei uns so schlimm, daß wir auf Garantien aufrichtiger Buße und redlichen Christenlebens und Strebens kaum sehen können. Wir wollten uns drum darein ergeben, von den Communicanten kein positives Zeugnis ihres Glaubens zu fordern, wenn wir nur immer das negative bekämen, das uns von der Abwesenheit offenbarer, bußeloser Sünden die nöthige Gewisheit gäbe. Bei den Massen, die sich hier drängen, wäre schon das – und die lutherische Kirche forderte es doch auch je und je! – ein reicher Gewinn, welcher jammernde Seelsorger trösten könnte. Das Verderben der Massen ist so groß, und so weit heruntergekommen sind wir, daß selbst wohlwollende Pfarrer sich nicht getrauen, nur so viel zu fordern, – daß sie auch bei einer so bescheidenen Forderung Sturm und Riß befürchten zu müßen glauben, und nicht mit Unrecht. Wie mancher Seelsorger versucht, sein Herz mit dem – doch gewis nicht richtigen – Satze zu trösten: „Wer zur Beichte kommt, ist als bußfertig zu betrachten und zum Sacramente anzunehmen. Wäre er nicht bußfertig, so käme er nicht.“ Die es sagen, glauben es selbst nicht; sie können es nicht glauben, da sie es beßer wißen. Es ist das auch so einer von den kalten, juristischen Sätzen, mit denen man sich über die heißen Uebel der Wirklichkeit hinüber| zu helfen sucht; es geht aber nicht, man betrügt sich selbst; die einfache Kenntnis der Sachen und Verhältnisse, das, was man Leben und Erfahrung nennt, und in der Tiefe der Seele ein banges Weh widerspricht und zeugt laut dagegen. Nun ja, die Menge kommt zur Beichte; also ist sie bußfertig, also will sie Vergebung, also will sie besser werden! Ist’s denn so? Heißt das wirklich vom Standpunkt des Beichtvaters und Haushalters über Gottes Geheimnisse reden? Mit dem Grundsatz pflastert der Beichtvater, so viel auf ihn ankommt, einen Weg zum Verderben. – Hie helfe uns Gott, daß wir nicht sammt der Schaar verderben, die auf breiten, weiten Straßen wandert!

 Die, welche nun von diesen Zuständen gedrückt und gepreßt sind, begehren weder Feuer vom Himmel herab zu rufen, noch auszureuten, was Unkraut ist oder scheint, nicht zu scheiden, nicht zu richten, nicht dem Richter und seinem Tage ins Amt und Werk zu greifen. Wir weisen derlei Beschuldigungen ganz und gar von uns. Wir wissen, daß wir nichts wollen, als was recht ist und christlichen Seelsorgern nach Gottes Wort geziemt. Wir sind in den obigen Schilderungen nicht einmal ins Einzelne gegangen und haben das confessionelle Auge nicht einmal auf die Jammerzustände der Kirche gerichtet, wir sind ganz bei der allgemein christlichen Betrachtung geblieben.

 Gewis, es ist nicht zu leugnen, daß Gott in den letzten Jahrzehnten das Gebet seiner kleinen Heerde um treue Arbeiter in seine Aernte erhört hat; es wäre die ungerechteste und undankbarste Gesinnung von der Welt, wenn man den Segen leugnen wollte, welchen Gott in der neueren Zeit dem geistlichen Lehrstande gegeben hat. Vielleicht hat sich keine Klasse der Gesellschaft so zu ihrem Vortheil verändert und gehoben, wie eben dieser Stand. Allein was that er? was konnte er thun? So gehoben ist er denn doch noch nicht, daß er mit völlig vereinten Kräften nach Besserung gerungen hätte. So viel besser es in seiner Mitte geworden ist, er ist und bleibt denn doch immer noch ein Kind seiner Zeit, statt daß er mit Heldenkräften eine neue Zeit anbahnen sollte; die Zeit aber ist subjectiv zerfahren, jeder will selbständig sein, keiner will Einfluß und Bestimmung von andern annehmen, die meisten oder doch sehr viele rechnen sichs zur Schande, wenn sie nicht mit ihrem Verstand und Erkenntniß vorangehen. Lieber ganz für sich sein, als einem andern beistimmen müssen. Nichts findet man seltner, als Originale, und doch will jeder originell sein. Was hilft nun ein intellectueller oder auch sittlicher Aufschwung Einzelner, seien es auch noch so viele, wenn sichs nicht einigt? Ach, da fehlt es, da sollte er anders werden! Es sind leider weder alle, noch viele, die gegen das massenhafte Verderben der Gemeinden anzukämpfen wagten. Und die es wagen, ermüden leider allzuleicht, so wie sie die Schwierigkeiten inne werden, welche sich aufthürmen, und die ersten Experimente den gewünschten Erfolg nicht haben. Gelingt es aber auch hie oder da, wird auch an dem oder jenem Orte etwas erreicht: was ist es am Ende? Die Muthigsten wagen wohl kaum, in allen Fällen der Wahrheit die Ehre zu geben; auch sie werden gar manchmal das Auge zudrücken, das Krumme grad, das Schlechte| recht sein laßen müßen, um wenigstens etwas zu erreichen und nicht alle Möglichkeit, vorwärts zu kommen, durch die volle Forderung des Rechten zu zerstören. Sie werden über manche beschwerende Unterlaßungs- oder auch Begehungssünde wegschreiten müßen, um unter Mühe, Kummer und Sünde zu einem kleinen Erfolg zu kommen. Da wird denn auch beim Gelingen das Herz nicht froh, und wie oft kommt statt des Dankpsalms, den man anstimmen möchte, aus der Tiefe der Seele ein thränenreiches: „Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ Im besten Falle gibt es vereinzelte Beispiele und Belege zum Satz, daß auch jetzt noch eine Aehrenlese möglich ist, daß Gottes Güte noch nicht gar aus ist. So wie man aber wieder in weitere Kreise schaut, auf die große Mehrzahl der Gemeinden und Menschen: ach, da sinken die Hände und es droht die werdende Ueberzeugung, daß hier nicht zu helfen steht, so lange diese Verhältnisse bleiben. So wie sie sind, verdienen nun einmal unsre Gemeinden als solche den Ruhm des christlichen Namens nicht; sie sollten anders sein und werden, man sage, was man will, und daß sie es werden, dafür gibt es weder Bürgschaft noch Verheißung. Man kann da mancherlei Tröstliches einwenden und wir wißen vielleicht ein gut Theil davon schon auswendig, noch ehe es gesagt wird. Wir haben uns selbst gar lange mit den Tröstungen getragen, die uns nun unsre Brüder so oft sich zum Schutz und uns mehr zum Trutz als zum Troste entgegenhalten. Allein, allein, es wollen uns diese Zustände, so ohne alle Basis für ein neues, beßeres Kirchenleben, so ohne allen Muth, zu helfen, gar zu schwer werden. Es sind unter uns hart Geplagten und tief Trauernden manche, die im Vergleich mit andern über Mangel an Erfolg ihres Amtes nicht eben zu klagen haben. Aber wir sind zerstreut, wenige unter viele, und all unser Gelingen macht den rechten Eindruck auf das Volk nicht. Nicht der Geist der Kirche wird aus unserm Thun erkannt, weil es zu einsam und vereinzelt ist; man schreibt unser Thun, unser Siegen und Vorwärtsschreiten nur der persönlichen Eigenthümlichkeit oder Gewalt zu; allein diese werden erkannt, geachtet, gefürchtet und gehaßt. Und gerade hierin liegt das tiefste Leiden und eine Ursache, warum auch der kräftigste, durchdringendste Seelsorger mit seinen Erfolgen nie, so lange es im Allgemeinen so ist, wie es ist, zufrieden sein kann. Oder was kann denn einem Pfarrer daran liegen, daß er seine Ueberlegenheit beweise, seine Gemeinde geistig gewissermaßen vergewaltige, wenn das gemeinsame Lehren und Verfahren vielleicht der Mehrzahl seiner Collegen um ihn her wie eine übermächtige Tradition gegen ihn Zeugnis ablegt und seinem im Grunde kirchlichen, treuen Thun und Lehren die Glaubwürdigkeit benimmt und die Herzen seiner eigenen Gemeinde vor ihm zuschließt? Es ist einem Manne, je mehr er sein möchte, was er soll, nichts widerwärtiger, als wenn er gezwungen ist, in seinem Thun allein zu gehen, – und nichts ist süßer, denn in Gemeinschaft, als Glied eines von Gottes Geist durchdrungenen Ganzen, nach gemeinsamen heiligen Gedanken und Entschlüßen all sein Thun und Laßen einzurichten und alle seine Erfolge nicht als Stufen eigener Erhöhung, sondern als der verliehenen Kraft gemäße Beiträge anzusehen, seine Kirche zu erhöhen und zum Segen der Welt zu setzen. Und wenn in diesem Sinne vor jedermanns Aug oder Ohr gehandelt werden kann, dann ist auch das| Thun des Einzelnen von einem ganz andern Maß des Segens begleitet. Treues, kirchliches Thun eines Pfarrers fruchtet, wenn es als Ausfluß dessen erkannt wird, was die „Gemeinde der Heiligen“ will und anstrebt. Da öffnen sich die Herzen der Gemeindeglieder, da neigen und beugen sie sich gerne, da faßen sie Vertrauen, da werden sie einmüthig und einträchtig, während ein vereinzeltes Werk, sei es auch noch so gut, leicht Parteimenschen sammelt und widerwärtige Parteien erweckt. – Man kann wohl sagen, daß Gottes Wort, abgesehen von der Zahl derjenigen, welche es bekennen, seine Wirkung und seine Kraft ausübe; aber man kann uns auch nicht widersprechen, daß es des HErrn Wille ist, eine einträchtige Kirche auf Erden zu haben, – daß der moralische, dem Worte vorangehende, auf seine Kräfte menschlich vorbereitende, für sie empfänglich machende Eindruck eines zahlreichen und einmüthigen Vorangangs im Guten, – daß die, fast möchte ich sagen, natürliche Wirkung einer Gemeinschaft der Heiligen in der göttlichen Pädagogie des menschlichen Geschlechts eine bedeutende Stelle einnimmt, von Gott gewollt und gesegnet ist. Das Gesetz ist ein Zuchtmeister auf Christum, – und eine Schaar zur Rettung der Seelen vereinter Knechte und Kinder Gottes, die in Eintracht ihres HErrn und Vaters Werke wirken, ist es nicht minder; ja sie ist wie ein glücklicher Elieser, der dem ewigen Bräutigam manche Seele mit Willen wirbt und manches Herz und manchen Willen vor und zu ihm neigt.

 Hier stehen wir vor einer Quelle unsers Jammers. Kennt man seine Pfarrkinder, sieht man vom Altare auf sie, ach, es ist dann gewis nicht geheimer Pharisäismus, wenn sich selbst unter dem Dreimalheilig und Hosianna des Sakraments das Auge des Pfarrers mit bittern Thränen füllt. Aber gewis, nicht weniger tief erbebt das Herz, nicht weniger bitter rinnt die Thräne, wenn man von all dem Elend die Quelle fand, das uneinige Lehren und Handeln der Hirten. Qualis rex, talis grex. – Aus dem Zustand des Ministeriums lernt man den Zustand der Kirche und Gemeinden verstehen, ja ich fürchte, nicht blos den Zustand der fränkischen oder bayerischen Gemeinde, sondern vielleicht auch den der meisten Landeskirchen.

 Was nun zunächst Lehreinheit betrifft, so wird von manchen der bayerischen Landeskirche ein größeres Lob gespendet, als es der Verfasser dieses Blattes gethan hat. Er wollte gerne sein Urtheil zurücknehmen, wenn er dürfte. Allerdings wird jeder, der die Verhältnisse der bayer. Landeskirche auch nur ein wenig kennt, zugestehen, daß die Zahl offenbarer und kecker Rationalisten bedeutend abgenommen hat. Auch von den leitenden Oberstellen der Kirche, den Konsistorien, wird man ohne Schmeicheln sagen können, daß es ganz anders geworden ist, als es noch vor etwa 15 Jahren war. Allein wir dürfen nicht vergeßen, daß wir hier nicht blos von der Einigkeit in allgemein christlichen Ideen handeln, und daß wir mit der Einigkeit, welche man noch vor 15 oder 20 Jahren als ein großes Glück gepriesen hätte, durchaus nicht zufrieden sein können, wenn wir nicht das Vorwärtsschreiten hindern wollen, zu welchem uns der h.  Geist beruft. Es gilt hier nicht| ein Vergleichen mit dem, was dahinter ist, – auch ists noch lange nicht Zeit, auf seinen Lorbeeren auszuruhen, – laßt uns auf das sehen und uns nach dem strecken, was da vornen ist. Es handelt sich um die Erneuerung confessioneller Einigkeit, um das Zusammenstimmen mit der Concordia unsrer Väter, um das Wiederfinden, um die erneuerte Besitznahme des alten Grundes und Bodens, um das Vorwärtsgehen von dem alten Standpunkt aus; und an diesem Maßstab gemeßen, werden wir wohl so wahrhaftig und bescheiden sein müßen, zuzugestehen, daß sich in unsern Kirchen und Schulen noch eine gar zu bunte Farbenmischung findet. Nicht bloß dürften in Bezug auf die alten Unterscheidungslehren der Kirchen alle Kirchen in der unsrigen vertreten sein, sondern es haben sich unter der Firma der freien Forschung selbständiger, wißenschaftlicher Auffaßung auch über die Artikel, in welchen die alten Kirchen sämmtlich einig sind, viele und mancherlei Meinungen festgesetzt, welche wenigstens unsre Väter, welche doch treu am Bekenntnis hielten, es kannten und verstanden, nicht für kleinen Sauerteig erachtet haben würden. Wer es nimmt, wie sie, und fordert, was sie gefordert haben, der findet gewis viel, ja viel zu beklagen und faßt auch, was Herr Pfarrer Kraußold p. 22 seiner neuesten Schrift nicht zu faßen scheint, daß unsre Landeskirche in dem Sinne, wie die Väter es waren, nicht wohl lutherisch genannt werden könne.
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 Was jene freie Forschung anlangt, welche das Schibboleth des modernen Protestantismus und zugleich eine Quelle unserer innern Zerrißenheit geworden ist; so dringt zwar keine gebieterische Nothwendigkeit, hier von ihr zu reden. Ihretwegen sind wohl auch meine „befreundeten Gegner“ in der bayer. Landeskirche mit mir und meinesgleichen einig. Aber es sei denn doch erlaubt, hier ein paar Worte für und wider freie Schriftforschung zu reden – um derer willen, welche, einig im Grundsatz freier Forschung, es gar nicht für beklagenswerth, sondern als ganz natürlich und unsträflich finden, daß sich allenthalben so große Lehrdifferenzen ereignen. Wie ganz anders ist doch diesen Männern die freie Forschung gediehen, als es im Sinne der Väter lag, welche sie errangen! Diese hielten die h. Schrift in Sachen des Glaubens für so deutlich und verständlich, und sie selbst waren, ein jeder durch eigenes Lesen, so vielfach auf dieselben Resultate und zu einer so aufrichtigen Einigkeit der Lehre gekommen, daß sie hofften und erwarteten, es werde auch fernerhin jeder redliche Lehrer und Forscher zu denselben Resultaten und zur Einigkeit mit ihnen gelangen. Die zuversichtliche Ueberzeugung von der Deutlichkeit und Verständlichkeit der h. Schrift und das gute Gewißen, welches sie bei ihrer aus Gottes Wort gefundenen Lehre hatten, machte sie getrost, jedermann zu eigener Forschung im Worte Gottes einzuladen. Nicht die Uneinigkeit und Manchfaltigkeit der Lehren, sondern im Gegentheil die Einigkeit hofften sie durch die frei gegebene Forschung zunehmen zu sehen; sie wünschten, daß auf diesem Wege das Licht der einen Wahrheit in weite Kreise ausstrahlen und viele Gotteskinder aus allen Orten zu Einer Heerde vereinigen möchte. Leider geschah es aber ganz anders. Statt frei zu erforschen, was die Schrift sagt, statt sich einfältig in die Schule des göttlichen Wortes zu begeben, brachte man von vornherein ein trübes| Auge zum Lesen und Forschen mit, las und forschte zur Bestättigung eigener menschlicher Meinungen und Gefühle; die Forschung wurde unfrei, so konnten die Resultate nicht mit denen der Reformatoren stimmen; man wurde nicht an sich und der eignen Forschung, sondern an der der Vorzeit irre; man fühlte sich jedem Geiste und das eigne Ergebnis der Forschung jedem fremden ebenbürtig, und nur in seinem Rechte glaubte man zu handeln, wenn man das eigene Fündlein mit derselben Zuversicht wie die Reformatoren ihre sichere Wahrheit als Gottes Wort und als göttlich vortrug. So kam aus der freien Forschung durch die Unredlichkeit der Forscher der größte Schade für die Kirche. Das arme Volk konnte bei der Mannigfaltigkeit der Zungen seiner Lehrer keine Einigkeit der Geister mehr finden, weil auch keine da war: sie lernten alles, sie lernten nichts für Gottes Wort nehmen, sie wählten unter den mancherlei Stimmen nach Geschmack, das Bekenntnis wurde zur Meinung, die Lehre zur Ansicht, nichts Festes, nichts Bleibendes gab und gibt es mehr, – und wer ja einen Satz fest hielt, der hielt ihn nicht fest als erkanntes Gotteswort, als seligmachende Wahrheit, sondern als Eigenthum, im Eigensinn. Ueber dem Nebel und Zank der Parteien, zwischen denen der HErr nicht mehr richtete, von Lehr und Glauben unabhängig hofften alle die Seligkeit des Himmels – und dort, dort hofften alle in der Wahrheit einig zu werden, an der man auf Erden verzagte:
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 Wollte Gott, es wäre nicht so geworden und ich irrte in meiner Darstellung! Wollte Gott, es paßte nichts von dem allen auf die Kirche meiner Heimat! Wollte Gott, die Einigkeit der Lehre wäre größer, als ich denke, und meine befreundeten Gegner hätten Recht! Ich sehe es aber nicht anders, als ich sage, – und auch rücksichtlich eines zweiten nothwendigen Punktes, der Sakramentsverwaltung, sehe ich die erwünschte, nothwendige Einigkeit nicht. Herr Pfarrer Kraußold sagt zwar p. 26 seiner bereits erwähnten Schrift: „Von einer falschen Sacramentsverwaltung wird man wohl nicht leicht Beispiele aufbringen.“ Allein es ist dieser Satz nicht wohl zu faßen, wenn nicht etwa der Begriff einer rechten und falschen Sacramentsverwaltung in einer den Verhältnissen günstigen, mir unbekannten Weise festgestellt werden sollte. Sind doch manche von den sonst bekenntnistreuesten Pfarrern Bayerns sogar noch über den Grundsatz im Unklaren, welchen sie anwenden sollen, wenn Reformirte oder Unirte bei ihnen das Abendmahl suchen! Hat sich doch den Verhältnissen und dem eingerißenen Misbrauch zu Liebe eine Meinung breit gemacht, als habe man keinen fremden Confessionsverwandten abzuweisen, welcher die Lehre der lutherischen Kirche vom h. Abendmahle kennt und sich dieselbe nicht abhalten, sondern wohl gar antreiben läßt, ihr Abendmahl zu suchen! Sind doch lutherische Vicarien auf dem Donaumoose sogar durch ihre Dienstesinstruction angehalten, Lutheranern und Reformirten, deren es in jenen Gemeinden gibt, das h. Mahl und zwar den Letzteren auf Verlangen nach reformirtem Ritus zu reichen! Ja nicht bloß in den noch jungen Gemeinden auf dem Donaumoose finden sich diese Dinge, sondern man kann allenfalls auch in dem von Alters her lutherischen Franken denselben sacramentalen Indifferentismus finden. Hostien und Brot, lutherische und reformirte Distributionsformeln,| an Einem Altare, promiscue, unter Einem Pfarrer, je nach dem Verlangen der Communicanten; selbst in ganz lutherischen Gemeinden reformirte oder unirte Distributionsformeln: das und dergleichen Dinge sind bis zur Stunde weder verschwunden, noch verboten. Auch kann noch immer eine lutherische Pfarrei durch reformirte, nicht übergetretene Pfarrer, eine reformirte durch lutherische Pfarrer versehen und mit ihnen besetzt werden. Das alles muß doch Pfarrer Kraußold wißen, – und begründen denn diese Sachen keine falsche Sacramentsverwaltung? Ich weiß unter allen Gutachten, die ich rücksichtlich solcher Misbräuche aus früheren Zeiten der Kirche kennen gelernt habe, ein einziges im Dedeken’schen Thesaurus befindliches, welches die laxe Ansicht unserer Tage auf und für sich anwenden könnte; sonst, denk ich, wird die lutherische Vorzeit eine solche Uneinigkeit in der Sacramentsverwaltung nicht minder verwerfen, als die Uneinigkeit der Lehre, welche unter uns allerdings vorhanden ist. (Cf. Die Stelle aus unserer Petition an die bayerische Generalsynode von 1849 p. 7. 4, c. meiner Beleuchtung der Beschlüße der Generalsynode. Pfr. Kr. selbst stellt die Richtigkeit der in der Petition geschilderten Misbräuche in der Sacramentsverwaltung nicht in Abrede.)
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 Es ist nun zwar ganz richtig, und ich habe es deswegen auch oben schon zugegeben, daß die meisten Differenzen innerhalb des bayerischen Ministeriums nicht sowol den Grund, als die Grenzen der Confessionen angreifen. Aber auch so ist das Uebel größer, als daß man es so leicht hin und auf die Länge ertragen könnte. Wir brauchen gar nicht hervorzuheben, daß ja doch auch noch Rationalisten feinerer und gröberer Art in Amt und Würden stehen, die abweichendere Lehren führen, als die Confessionen untereinander, und gegen welche deshalb alles, was gegen die Lehre fremder Confessionen zu sagen ist, nur im verstärkten Maße angewendet werden kann. Wir wollen bei den Verschiedenheiten innerhalb der christlichen Grundgedanken bleiben. Wäre nun hier von der Verwandtschaft verschiedener, äußerlich von einander geschiedener Confessionen die Rede, so würde allerdings der Unterschied zwischen den sogenannten fundamentalen und nicht fundamentalen Artikeln eine gute Basis für friedliche Auseinandersetzung bieten. Aber innerhalb einer und derselben Confession verlangt man mit Recht nicht bloß in den fundamentalen, sondern in allen denjenigen Artikeln Uebereinstimmung, über welche die Confessionen zum Abschluß gekommen sind. Hier beschönigt keine Hinweisung auf die mangelhafte Orthodoxie etlicher Subscribenten der schmalkaldischen Artikel, keine Berufung auf die Differenzen, welche sich zwischen Lutheranern und Lutheranern vor Annahme der Concordienformel, vor Abschluß der lutherischen Concordia erhuben; eben so wenig ein Fingerzeig auf diejenigen Zwistigkeiten, welche sich hernach über symbolisch unentschiedene Punkte ereigneten. Wohl aber gehört hieher, was wir Form. Concord. Art. 10. Epit. lesen: „In doctrina ejusque articulis omnibus et in vero sacramentorum usu sit inter ecclesias consensus.“ (D. i.: „In der Lehre und in allen ihren Artikeln, sowie im rechten Brauch der Sacramente sollen die Kirchen einstimmig sein.“) Ganz richtig; denn, mit Luther zu reden, „wo der Teufel es dahin bringt, daß man ihm Einen| Artikel einräumt, so hat er gewonnen, und ist eben so viel, als hätte er sie alle...; denn sie sind alle ineinander gewunden und geschloßen, wie eine güldene Kette, daß, wo man Ein Glied auflöst, so ist die ganze Kette aufgelöst, und geht alles voneinander. Darum habe des keinen Zweifel, wenn du Gott in Einem Artikel verleugnest, so hast du ihn gewislich in allen verleugnet. Denn Er läßt sich nicht stückweis zertheilen in viel Artikel, sondern ist ganz und gar in einem jeden und in allen zumal Ein Gott.“ (Vergl. Guerikes Symbolik p. 541. Anm. 13.) – Es liegt schon in dem Gesagten, und es wird hier wiederholt und ausdrücklich zugegeben, daß auch die Konfessionen und Symbole noch manche Frage offen gelassen haben, über welche erst der gegenwärtigen oder nachfolgenden Zeit entscheidendes, helles Licht vorbehalten ist.[1] In diesen kann daher ein Austausch der Meinungen ganz wohl Statt finden und es können etliche inutiles opiniones geduldet werden. Ja, ich glaube auch, ganz unbeschadet meines Dringens auf confessionelle Einigkeit, hie und da einem in den Symbolen ausgesprochenen Satz eine allseitigere, reinere Faßung wünschen zu dürfen. So ist z. B. der locus de ministerio in der reformatorischen Zeit keineswegs genug erwogen worden; die Entscheidungen der Symbole, so weit nemlich solche vorhanden sind, leiden an einigem Mangel, die Kirchenordnungen und Theologen gehen deshalb trotz der Symbole nicht völlig zusammen, und es wäre möglich, ja wahrscheinlich, daß sich an diesem Locus eine gedoppelte Richtung innerhalb der lutherischen Kirche entwickelte. Sowol in Nordamerica, als in Europa zeigen sich hiezu bestimmte Anläße und Anfänge. Ich glaube an eine mögliche Entwickelung der lutherischen Kirche auch in diesem Punkte und sehe gerade hierin, wenigstens zum Theil, ihre Zukunft. Was hat man aber für ein Recht, offene Fragen, was für eines, nur im Gegensatz gegen die Römischen aufgestellte, der Fortbildung und auf diesem Wege auch der Läuterung fähige Sätze in Eine Reihe mit denjenigen Artikeln zu setzen, welche wirklich bereits im Feuer der Anfechtung gewesen und aus dem Kampfe der Kirche mit völliger und bestimmter Klarheit hervorgetreten sind? In diesen muß unter den treuen Anhängern einer Confession Einigkeit sein. Oder was will man denn in Bezug auf die bayerische Landeskirche von einigen opiniones inutiles reden, da man doch nur sein Gedächtnis ein wenig erwecken dürfte, um zu merken, daß die unter so manchen Landesgeistlichen in Frage stehenden Artikel wenigstens theilweise zu den größten und bedeutungsvollsten gehören, welche die Kirche bekennt? Man streitet z. B. über die Gegenwart und Austheilung des Leibes und Blutes Christi und manche behandeln den Streit wie eine Art von Meinungskrieg: Calvin und Luther – diese zwei scheinen ihnen völlig übereinzustimmen. Und doch ist der Artikel von Calvin wesentlich nicht anders als von andern Reformirten aufgefaßt, zwischen Calvin und Luther eben so wohl, wie zwischen Zwingli und Luther handelt sichs um die Objectivität des Sacraments, welche bei Zwingli und Calvin keine ist! Und doch ist ferner dieser Streitpunkt fürs Leben der streitenden Kirche von der allerhöchsten Bedeutung und wer seinethalben im Unklaren ist, ist es über das Allerheiligste des Neuen Testaments und| seiner Kirche. Es handelt sich doch immerhin um nichts anders, als entweder um die größte Gottesthat des HErrn, die sich immer neu vollendet, oder um ein zwar von Gott befohlenes, aber im Grunde doch nur menschliches, sei es auch geringer oder größer aufgefaßtes Gedächtnismahl. Je nachdem ichs nehme, hat die Gemeinde im Abendmahle viel oder wenig, und wenn ich darum streite, streite ich nicht um eine pure Lehre, sondern um den heiligsten Besitz und um das größte Wunder und Geheimnis der Kirche Neuen Testamentes. – Aehnlich ist es mit den andern Confessionsunterschieden. Die Confessionen streiten nicht um Kleines; was Kirchen dauernd scheiden konnte, muß selbst von größter Wichtigkeit sein und ist es auch. – Ob sichs aber auch nur von einem kleinen Gottesworte, von einer anscheinend geringen Lehre handelte: liegt ihrethalben die Wahrheit in Gottes Wort kenntlich zu Tage, so ist auch das Kleine groß, so wie darum gestritten wird. Wird ein klein Wörtlein Gottes von etlichen verworfen, so müßen es die anderen bekennen. Wer ihm sein Bekenntnis entzieht, entzieht es Christo, deshalb muß man, gelte es Leiden oder nicht, sich ohne falsche Schaam zum Kleinen wie zum Großen bekennen. Oder ists nicht so? Wie? Wenn man Gott in einem kleinen Worte widerstrebte, könnte man nicht auch hiedurch – und um deswillen, was mit dem kleinen Worte zusammenhängt, d. i. um des Ganzen willen, von dem das Wort ein Theil ist, – in Seelengefahr kommen? Gewis! Es bleibt dabei, kein Gotteswort, keine Gotteslehre darf für klein geachtet werden, so wie sie in die öffentliche Frage kommen, sowie sie Lebensfragen werden. Es haben dann alle Christen die Pflicht, zu forschen, zu erkennen, zu bekennen, auf die Seite der Wahrheit zu treten. Es entstehen dann aber auch durch Schuld der Hartnäckigen und der Wahrheit Ungehorsamen jene διχοστασίαι (Zwistigkeiten) 1. Cor. 3, 3, welche jeder Christ für sich und jeder Hirte für sich und für seine Heerde vermeiden sollen, auf daß wir nicht in die Gefahr kommen, fleischlich zu werden. Da müßen alle treuen Knechte Gottes sich zu Vermeidung und Unterdrückung jeder falschen Lehre die Hände reichen und das um so mehr, als nicht bloß ein wenig Sauerteig der Lehre den ganzen Sauerteig versäuern und auf die ganze Lehre Einfluß haben kann, sondern auch jede falsche, wie jede rechte Lehre ihren Einfluß aufs Leben, auf die Heiligung, jede ihre Praxis hat und ihren Anhängern einen eigenen Character aufprägt.
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 Es gibt in der Welt Sätze, die wenige bezweifeln, die aber nicht bloß nicht bezweifelt, sondern gewogen und erwogen werden müßen, um in ihrer Kraft und Bedeutung erkannt zu werden. Zu diesen Sätzen gehört auch der von der Nothwendigkeit der Lehreinigkeit innerhalb einer Confessionskirche. Wenn der Verf. diese Ueberzeugung nicht hätte, so würde es ihm nicht in den Sinn gekommen sein, in diesen Blättern nach dem Verderben der Maßen die mangelnde Lehreinigkeit als ein die Pfarrer der bayerischen Landeskirche (vielleicht oder gewis auch anderer Landeskirchen) schwer belastendes Uebel zu nennen. Die beiden Uebel hängen genau zusammen. Lehreinigkeit ist der Kirche nöthig zu aller Einigkeit. Ohne Lehreinigkeit keine Einigkeit, ohne Einigkeit keine Gemeinschaft (wie sollte es möglich sein?), auch keine Gemeinschaft der Heiligen, kein Bestand einer| Gemeinschaft, einer Kirche, sei sie Landeskirche oder welche sonst. Durch Lehreinigkeit würden viele tausend Zweifel der Gläubigen in der Geburt erstickt, würden viele tausend Seelen leichter zur Wahrheit, zum Glauben, zur Heiligung gelangen. Viele tausend Seelen sterben annoch an den, ach oft so gering geachteten, falschen Lehren ihrer Pfarrer; viele, viele Pfarrer sterben wohl selbst des ewigen Todes (ach, daß man’s sagen muß!), um der „Lügen“ willen, damit sie Seelen „morden.“ Der HErr fordert das Blut der um ihr ewiges Heil Betrogenen von den Hirten, (ach HErr, gehe auch mit denen nicht ins Gericht, welche Deine Wahrheit lieben, und, obwol in Schwachheit, bekennen!) und die Lehrer sollen Rechenschaft geben von den Seelen ihrer Pflegbefohlenen! Das bezeugt beides das alte (Ezech. 33.) wie das neue Testament. So viele falsche Lehrer also geduldet werden, so viele Gemeinden bleiben in Gefahr des ewigen Todes, eben so viele werden im Guten aufgehalten, im Bösen gefördert. – Was ists mit den Tausenden, welche in unsern Tagen abfällig werden und dem modernen Heidenthum zufallen, seis innerlich oder auch äußerlich? Sie sind die Aernte jener Saat, welche in der Zeit rationalistischen Unglaubens durch falsche Lehren, leider auch von unsern Kanzeln, Jahrzehente lang ausgestreut wurde! Und warum sind auch die Gläubigen in der bösen Zeit, auch bei dem großen Fleiß und Eifer der Feinde, so todt, so kraftlos, so zerstreut, warum drängt sie der Abfall und viel drohendes Unglück nicht zusammen, warum wachsen sie nicht zusammen in Eins, zu Einem Ganzen, warum sehen wir sie nicht als Eine Heerde, als Ein Gottesheer? Was hält, was lähmt, was hindert sie denn! Mancherlei Ursachen, aber auch die bemerkte Uneinigkeit der Lehrer, der Mangel gemeinsamer Lehre, Strafe, Ermunterung und Züchtigung. Wie die Hirten, so die Heerden. Uneinig, uneinig im Glauben und darum in Lieb und Hoffnung sind Führer und Geführte – und hier liegt unser Jammer zum großen Theil.
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 Wie stehen wir uns und dem Guten im Wege, das wir, obschon in manchem uneinig, doch in so vielem, namentlich im Bekenntnis einig, alle so sehnlich wünschen! Der Verfaßer nannte in seiner „Beleuchtung“ etc. (z. B. p. 59) Lehreinigkeit das minimum kirchlicher Eintracht. Seitdem haben sie andere das maximum genannt. Nun ist es zwar klar, daß es über die Lehreinigkeit hinaus noch manches Gute gibt, darin wir einig sein können und großentheils auch sollen, z. B. die Liebe, das Leben, die Amtspraxis, die Ceremonien etc. etc., und es kann daher im Grunde niemand leugnen, daß von der Lehreinigkeit ein Fortschritt zur Einigkeit in diesen Dingen stattfindet, – daß Lehreinigkeit jedenfalls nicht das maximum kirchlicher Einigkeit sein kann. Sei es nun aber meinetwegen weder das maximum, noch das minimum, setze man zum Bestand der Kirche noch etwas Wenigeres und Geringeres, wenn es dazu hinreicht. Aber darin sind wir doch wohl alle einstimmig, daß Art. VII der Augsb. Conf. Lehreinigkeit gefordert und gerühmt wird, daß sie der Kirche geziemt. Warum jagt man nun nicht darnach, da es doch erweislich so verderblich gewirkt hat und noch wirkt, das Gegentheil bestehen zu laßen! Es gehen doch Seelen darüber verloren, welche Christus theuer erkauft hat! So zanken wir ums Wort, um eine Form, um eine| Ansicht von der Sache, und die Sache entgeht uns deshalb nicht weniger. Man ist über Minimum und Maximum nicht einig, gewis nicht, weil es da ist. Hätten wirs, wir stritten nicht; ich denke, wir gingen dann fröhlich miteinander vorwärts zu allem, was weiter daraus folgt (den Konsequenzen), zu jeder weiteren Einigkeit im Leben, bis wir zum maximum der himmlischen Einigkeit gelangten. Freilich, eben weil wir nicht haben, was wir haben sollten; sollten wir auch nicht streiten, sondern einmüthig kämpfen und ringen, bis wirs hätten. So aber, ach Jammer, gibt ein arglos Wort, das einer sprach, Anlaß zum Aufenthalt, zur Verkennung gerechter Forderung, Ach könnt ich alle unschuldigen – oder schuldigen (? ich weiß es nicht!) Wörtchen, die ich in guter Sache zum Aergernis meiner Brüder geschrieben, – gesprochen hab ich wenig, was gleiche Wirkung hatte, – ungeschrieben machen oder meinen Brüdern den Sinn geben, über dergleichen und über die schreibende Persönlichkeit wegzusehen! „Frage nicht, wer spricht, sondern, was gesprochen wird“, sagt Thomas v. Kempis, und sieh nicht auf die Wörter, sondern auf Sinn und Absicht.
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 Es wurde uns hie und da eingewendet, Lehreinigkeit, wie wir sie fordern, und wie sie unleugbar auch unsre Symbole und Kirchenordnungen fordern, sei niemals dagewesen. Was können aber wir, was die Kirchenordnungen, was die Symbole dafür, daß man die gemachte Forderung extrem auffaßt? Es ist uns oft so vorgekommen, als denke uns mancher in alles Extreme hinein, um an dem Extremen guten Grund zu haben, uns zu verwerfen. Trifft man uns über dem Lesen der ersten Väter, über dem Studium des christlichen Alterthums oder der Geschichte; so klopft man uns lächelnd auf die Achsel und spricht: „So recht, das kann euch von eurer übertriebenen Forderung der Lehreinigkeit heilen; bald werdet ihr einsehen, daß keine Zeit gewesen ist, die euerm Verlangen gerecht ward.“ Allein warum vermuthet man denn bei uns den thörichten Gedanken, als sei in den ersten Zeiten Lehreinigkeit im Sinne der lutherischen Kirche zu suchen? Es liegt doch auch für unsre beschränkten Sinne nahe genug und ist uns ganz wohl bekannt, daß man die Zeiten unterscheiden müße. Hat doch nach dem apostolischen ein jedes Zeitalter kenntlich seine Stufe der Erkenntnis gehabt[2], die es unter heißen Kämpfen erstieg! Ist doch die gesammte Dogmengeschichte nichts anderes, als die Geschichte eines andauernden Kampfes der himmlischen Wahrheit mit der Lüge, und ist doch die kirchliche Faßung eines jeden Dogmas nur eine süße Frucht dieses oft bittern Kampfes, der in seinen einzelnen Stadien und in seinem ganzen Verlauf mit nichts Anderem enden kann, als mit hellerem, klarerem Lichte, mit vollkommener Verklärung unsers Geistes und seiner Erkenntnis durch den Geist des HErrn. Man sagt uns doch so oft, die Geschichte sei eine „Entwickelung“ uranfänglich vorhandener Dinge – und wenn uns auch der Nachweis zuweilen sehr zu fehlen scheint, so glauben wir doch, daß es mit der Dogmengeschichte so sei. So konnte doch wohl im 2. oder 3. Jahrhundert eine Lehreinigkeit in Betreff von Lehren, welche noch nicht im Kampfe gewesen, in dem Maße nicht stattfinden, wie nach deren| Bewährung und Gestaltung im heißen Kampf. Die Einigkeit der ersten Jahrhunderte und des unsrigen ist eine ganz verschiedene und muß es sein: aber nach dem Lauf der Dinge sollte die unsrige keine kleinere, sondern eine reichere und völligere sein. Was im heißen Kampf der ersten Zeit an wahrhaftiger, menschlicher Auffaßung göttlicher Wahrheiten gewonnen wurde, darin waren die ersten Väter einig, dafür eiferten sie. Und was uns überliefert ist aus dem Kampf der Zeiten, was 18 Jahrhunderte errungen und gewonnen: darin sind billig wir einig, das halten, dafür eifern wir, das stellen wir nicht erst wieder in die Frage, das nehmen wir als ein erwachsenes, lebendiges Gewächs, das nun neue, nicht wieder alte Blüthen zu treiben hat. So viel ich mich erinnere, fand ich zuerst von Americanern der englisch-lutherischen Richtung den Gedanken klar und kräftig ausgesprochen, „man müße von den weiten bücherdicken Credo’s und Symbolen zur Kürze des apostolischen Credo zurückkehren und rücksichtlich aller der Bestimmungen, welche darüber hinausgiengen, einem jeden seine freie Meinung laßen; es sei Einigkeit genug im Credo apostolicum. So baue man die Einigkeit wieder, die längst gefallen sei“. Wie oft hat man seitdem denselben Gedanken in Europa geformt und gemodelt! Freilich, es wäre gut, wenn man den Knoten zerhauen, Jahrhunderte und Jahrtausende ignoriren und gewaltsam den Frieden aus der Urzeit heraufbeschwören könnte, der uns fehlt. Das ist Sarahs gewaltsamer Weg, welche den Sohn der Verheißung vom Kebsweib erzwingen wollte, da sie sich für zu ohnmächtig hielt, seine Mutter zu werden. Aber was ists, so kommt Ismael zur Welt, ein Spötter, dessen Hand wider jedermanns Hand und jedermanns Hand wider ihn ist. Nein, wir wollen halten, was wir haben, und das Erbe der Väter nicht leichtsinnig verschleudern, das uns – ein Boden seliger, verheißungsvoller Zukunft – vertraut ist. Wir wollens halten und behalten, und wollen es auch von denen fordern, die uns und unsre Kinder durch die Zeit zur Ewigkeit geleiten sollen.[3] Wir wollen es fordern und uns nicht abermals wägen und wiegen und von mancherlei und falscher Lehre umtreiben laßen. Wir wollen es so lang fordern, bis es uns niemand mehr weigert, oder bis uns Irrthum nachgewiesen ist, oder bis es sich zeigt, daß wir zu viel gehofft. Und zu solcher treuen Forderung ermuthige und stähle uns der Blick auf die Gemeinde und auf die ganze Kirche, auf diese Geschlagenen, die es in ihrem innern und äußern Leben, ach wie schrecklich büßen sollen, daß die Hirten in der Wüste über Brunnen, Weide und Wege stritten.
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 Ach, es braucht alle Ermunterung und Stählung! – Wenn freilich alle oder doch viele Amtsbrüder denselben Druck der Verhältnisse litten, dieselbe Gewißenslast trügen, und einig wären, nach Beßerung zu ringen, dann wären wir eine Macht, welche ihrer Ueberzeugung in der Kirche Nachdruck verschaffen könnte. Wenn es nun aber umgekehrt wäre, wenn die meisten den Druck der Lage entweder nicht fühlten oder doch, durch Gewohnheit hart geworden, ihn gleich andern Unvollkommenheiten dieses Lebens trügen! Wenn derer, die mühselig und| beladen einhergehen und nach Hilfe ausschauen, eine kleine, sehr kleine Schaar wäre, zu klein, zu schwach, um gegenüber der gewaltigen Mehrzahl Gehör zu finden? – Ach, und das scheint unser Fall! Es können so viele die Sachen ihrer Entwickelung überlaßen, während wir Himmel und Erde bewegen möchten, eine andere, eine beßre Entwickelung der Dinge zu bewirken – und uns die freudige Zuversicht zu verschaffen, daß es nun auch einmal wieder auf dem alten, schmalen, seligen, heiligen Wege vorwärts gehe.
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 Es wird uns wohl gesagt: „Eben weil ihr eine ohnmächtige, kleine Anzahl seid, so thue ein jeder von euch an seinem Orte und in seinen Grenzen, was recht ist; das Uebrige überlaße er der Verantwortung derer, denen es befohlen ist.“ Und in der That, dabei hätten wir das bequemste Leben, – und wenn man uns davon überzeugen könnte, daß uns nichts angehe, als einen jeden die Arbeit in seiner Gemeinde, daß wir Kains Wort: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ mit gutem Gewißen nachsprechen könnten: man thäte uns einen Dienst, man brächte uns zur Ruhe, die wir sehnlich wünschen. Aber es ist nichts mit diesem Rathe. Wir sind Glieder am Leibe und Knechte im Hause des HErrn; durch beiderlei unzweifelhafte Beziehung wird uns nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Liebe und Mitsorge für den ganzen Leib, für das ganze Haus des HErrn übergeben. Das bischöfliche Amt ist Eines, wir arbeiten auf dem Lande oder in der Stadt, in den Höhen oder in den Tiefen: es ist unsre Bruderpflicht, und überdies unsre Amtspflicht, für das Ganze zu leben. Und dann, ist denn nicht die einzelne Gemeinde, an der ein jeder arbeitet, ein Theil des Ganzen? Krankt und leidet sie doch mit, hat sie doch Last und Uebel der Gesammtheit zu tragen! Wir können die einzelne Gemeinde nicht als ecclesiola in ecclesia, so losgerißen vom Ganzen, so völlig ohne Rücksicht und Beziehung aufs Ganze betrachten, so ganz ohne Einfluß des Ganzen leiten und weiden, daß sie gleich einer glücklichen Oase in der Wüste, wie eine auserwählte, abgesonderte Schaar ihr eigenes seliges Schicksal hätte. Wir können nicht, und ob wirs wollten oder thäten, wie schnell würde man uns mit vollem Rechte wehren! So kommts denn, daß wir, ein jeder in seiner Gemeinde, mitten in den Uebeln sitzen. Jede Gemeinde ist von der allgemeinen Noth berührt, vom allgemeinen Verderben ergriffen – und es wird mit ihr, so lang sie im Complex des Ganzen ist, nicht durchgreifend beßer werden, wenn nicht das Ganze beßer wird. Die treueste, kirchlichste Lehre wird, wenn sie nicht als Lehre des großen Ganzen erkennbar ist, bemistraut: denn das Volk ist nicht mündig, nicht verständig, nicht gutwillig und einfältig genug, um von allen Verhältnissen ungeirrt und trotz ihrer dem Worte beizufallen. Eben so, das treueste, das kirchlichste Verfahren wird von der Gemeinde als solcher (und von ihr, nicht bloß von einzelnen Seelen handelt sichs für einen Pfarrer, welchem die ganze Gemeinde vertraut ist) – nicht anerkannt, nicht angenommen, wenn es nicht durch Uebereinstimmung mit dem Ganzen als kirchlich erkannt wird. So kommen wir durch die allgemeinen Uebel um unsre Wirksamkeit im Einzelnen, in der einzelnen Gemeinde, um unsre Lebenszeit und Kraft, um unsern Lebenszweck, wir verkommen und verkümmern unter erbärmlichen Verhältnissen und unsre| Gemeinden mit uns. Dagegen müßen wir uns wehren. Wir handeln deshalb im eigensten Interesse, wir thun völlig das Unsrige, wenn wir um Beßerung des Ganzen rufen, und der Rath, das Unsre zu thun, das Andre andern zu überlaßen, fäht bei uns nicht, weil wir eben so das Unsrige nicht thun können. Es muthe uns deshalb nur niemand diese lieblose, arge Trägheit zu, uns armen, ringenden, kämpfenden Knechten und unsern ohnehin oft heulenden Gewißen.
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 Derselbe Rath gestaltet sich oft so, daß man uns sagt, „wir müßten uns eben gedulden und zuwarten, es werde vielleicht ohnehin beßer werden“. Ja, wenn wir bloß Missionare, Prediger, Katecheten, Täufer der jungen Kinder wären, dann könnten wirs vielleicht bei unserm offen kund gegebenen Protest gegen diese jammervollen Zustände laßen, auf dem Felde voll Dorngestrüpp arbeiten, so gut es gehen wollte, und den beßern Tag erwarten. Protest und Arbeit löste uns vielleicht von der Theilnahme an der großen Schuld der allgemeinen Zustände. Aber wir sollen absolviren, wir sollen trauen, wir sollen das h. Mahl austheilen, und, nicht zu vergeßen, wir sollen das Sakrament auch empfangen und genießen in der Gemeinschaft mit Irrlehrern und Lästerern und andern unbußfertigen offenbaren Sündern. Es ist nicht Pharisäismus, was sich in uns dagegen sträubt. Wir können uns der Anwendung von Matth. 7, 6 nicht entschlagen: was Heiligthum und Perlen – was Hunde seien, dafür brauchen wir am Altar wahrlich keine ausweichend-exegetische Erklärung: wir erkennen uns im Fall, und der überzeugt! Auch bekennen wir uns von Stellen, wie Rom. 16, 17. 18., 1. Cor. 5, 11. 13., 2. Thess. 3, 6, als von unzweifelhaften Gottesgeboten gefangen, ja geängstigt. Wir geben schon zu, daß jede von diesen Stellen ihre ganz eigene Stellung hat; daß man unsern Fall und jene, von welchen St. Paulus an den genannten Orten redet, unterscheiden kann; daß dies und das gesagt werden könnte, um nur Herz und Gewißen zu erleichtern. Aber die Sprüche erleiden jeden Falls, und zwar ein jeder insonderheit ihre gewisse Anwendung auf unsre Lage. Wir verstehen es auch durchaus nicht, sie also zu deuten, daß sie der Kirche nicht mehr sagten und geböten, was sie den Einzelnen und Allen, den Einzelnen und darum Allen, Allen und darum auch den Einzelnen je und je gesagt und geboten haben. Es ist wahr, daß das Verderben zu groß, und die Zahl der Beßeren zu gering ist, als daß sie leicht beßere Zustände anbahnen und 1. Cor. 5, 13 in Ausführung bringen könnten. Aber ob nicht eben in unsrer Kleinheit und großen Minderzahl der stärkste Grund liegt, uns 2. Cor. 6, 14 ff. gesagt sein zu laßen? Ob nicht die Anwendung, welche Luther in den Schmalkaldischen Artt. p. 336 f., 339 (ed. Müller) macht, im Grunde auch auf unsre Zustände gemacht werden muß, wofern sie sich als unverbeßerlich erweisen? Das sind Fragen, über die wir wenigstens uns durch Betrachtung des bloßen Zurechtbestehens der Confessionen so leicht nicht wegsetzen können, als andre. Bei alle Achtung des Urtheils meiner Freunde und Brüder, bei allem Mistrauen in die eigene Erkenntnis scheint mirs doch aus jenen Bibelstellen völlig klar, daß entweder der Geist der Wahrheit und der Heiligung in einer Gemeine nach Rom. 16, 17. 18., 1. Cor. 5, 11. 13., 2. Thess. 3, 6., die Oberhand gewinnen| müße wenigstens durch grundsätzliche Aufstellung durch Lehr- und Sittenzucht, oder es entsteht die Nöthigung für die Beßeren, die eigene arme Seele aus den versuchlichen und ansteckenden Zuständen zu retten. 2. Cor. 6, 14 ff. Eins oder das andere. Hier liegen apostol. Anweisungen für beide Fälle. Sie scheinen mir sammt ihrer Anwendung auf unsre Lage ganz klar. – Vielleicht war ich zu schnell mit meinem Urtheil, daß der zweite Fall vorhanden sei. Ich ergebe mich darein, alles Mögliche zur Beßerung zu versuchen; aber wie man angesichts dieser Sprüche und unsrer Lage ohne großen Eifer und treuen Fleiß auf dem puren Recht der Confessionen und dem lutherischen Namen der Kirche ruhen kann, das verstehe ich nur nicht: ich verstehe es weder vom Standpunkt des Glaubens, noch von dem der Liebe, weder von dem des einfachen Christen, noch von dem des Pfarrers, der täglich inne wird, wie Lehr und Leben zusammengreifen. Das bloße Recht einer Confession ohne materiellen Bestand (wie ich mich einmal misverständlich ausdrückte), d. i. ohne daß die Confession im Herzen der Gemeinden eine rechte Anerkennung, Theilnahme und Hingebung findet, scheint mir eine gute Firma für die innere Mission, Seelen zu gewinnen; aber ob da schon eine Kirche sei, wo sie rechtlich bestehen darf, – ob namentlich ihr Grund und Boden weiter gehe, als auf die, welche sich zu ihr bekennen, natürlich so bekennen, daß das Bekenntnis ohne Widerspruch der That erhoben wird, – ob also die abfälligen Maßen und Irrlehrer anders, als in dem sehr limitirten herkömmlichen Sinn, in welchem auch der Excommunicirte noch als Kirchenglied gilt, zur Kirche gerechnet werden können, – ob dem Abfall und der innern Scheidung nicht auch ein, wenn auch noch so schmerzliches Scheidungsurtheil von Seiten der Bekenntnistreuen folgen müße, beides aus Liebe zu den Abfälligen und zu den Treuen: das sind nun wieder Fragen, für welche die rechte Antwort vielen misliebig, aber deshalb nicht minder recht sein kann.

 Man frage uns nicht, warum wir unsre Lage erst neuerlich so schwierig und unerträglich finden? Die Frage ist falsch. Wir fanden sie längst unerträglich, wir sind längst geängstet, wir tragen seit Jahren so schwer. Wir hätten auch längst Zeugnis geben und zu ihrer Verbeßerung arbeiten sollen. Ebendeswegen wären wir aber um so schuldiger, wenn wir auch jetzt in träger Ruhe verharrten. Der Apfel fällt nicht, ehe er reif ist, – und oft brennt ein Feuer in dunklem Dampfe und trüber Hitze, in eingeschloßenem Raum, bevor es zur hellen Flamme ausschlägt. – Wir können wenig thun; aber nach unsern kleinen Kräften wollen wir von nun an auf den Wegen, die uns, Christen und Dienern JEsu, ziemen, nach Beßerung streben. Gott helfe uns, daß wir bald in Zustände kommen, in denen wir ohne immerwährende Gewißensnoth in Hoffnung beßeren Gedeihens leben und ohne Vorwurf wißentlicher Verschuldung sterben können.




 Diese unsre Lage, von der Verfaßung und den öffentlichen Erweisungen der bayerischen Landeskirche als solcher fürs Erste zu schweigen, weil beides doch ferner| liegt und weniger schwer auf dem Herzen lastet – diese Lage und zunächst nichts anderes hat den Unterzeichneten und seine Freunde zu dem Wenigen getrieben, was sie seit 1848 in der kirchlichen Sache gethan oder veranlaßt haben. Was geschehen, legen wir sofort vor. Was wir recht gethan, das segne Gott; was wir gefehlt, bekennen wir gerne, wir haben vielleicht zu solchem Bekenntnis vor den Menschen mehr Willigkeit als Stoff.




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Anhang.
Auf Bekenntnistreue und Fortschritt anzuwenden.

 Vincentius Lirinensis im Commonitorium. Ed. Oxford 1836. p. 53 ff. XXII. XXIII. zu 1. Tim. 6, 20. („Depositum custodi“, bewahre, das dir vertrauet ist.) „Depositum, inquit, custodi. Quid est depositum? id est, quod tibi creditum est, non quod a te inventum: quod accepisti, non quod excogitasti: rem non ingenii, sed doctrinae: non usurpationis privatae, sed publicae traditionis: rem ad te perductam, non a te prolatam: in qua non auctor debes esse, sed custos: non institutor, sed sectator: non deducens, sed sequens. Depositum, inquit, custodi: Catholicae fidei talentum inviolatum illibatumque conserva. Quod tibi creditum est, hoc penes te maneat, hoc a te tradatur. Aurum accepisti, aurum redde: nolo mihi pro aliis alia subjicias: nolo pro auro aut impudenter plumbum, aut fraudulenter aeramenta supponas: nolo auri speciem, sed naturam plane. O Timothee, o Sacerdos, o Tractator, o Doctor, si te divinum munus idoneum fecerit, ingenio, exercitatione, doctrina, esto spiritualis tabernaculi Beseleel, pretiosas divini dogmatis gemmas exsculpe, fideliter coapta, adorna sapienter, adjice splendorem, gratiam, venustatem. Intelligatur te exponente illustrius, quod antea obscurius credebatur. Per te posteritas intellectum gratuletur, quod ante vetustas non intellectum venerabatur: eadem tamen quae didicisti ita doce, ut cum dicas nove, non dicas nova.

 Sed forsitan dicit aliquis: Nullusne ergo in Ecclesia Christi profectus habebitur religionis? Habeatur plane, et maximus. Nam quis ille est tam invidus hominibus, tam exosus Deo, qui istud prohibere conetur? Sed ita tamen, ut vere profectus sit ille fidei, non permutatio. Siquidem ad profectum pertinet, ut in semetipsa unaquaeque res amplificetur: ad permutationem vero, ut aliquid ex alio in aliud transvertatur. Crescat igitur oportet, et multum vehementerque proficiat, tam singulorum, quam omnium, tam unius hominis, quam totius Ecclesiae aetatum ac seculorum gradibus intelligentia, scientia, sapientia: sed in suo duntaxat genere, in eodem scilicet dogmate, eodem sensu, eademque sententia.

 Imitetur animarum religio rationem corporum, quae licet annorum processu numeros suos evolvant et explicent, eadem tamen, quae erant, permanent. Multum interest inter pueritiae florem et senectutis maturitatem, sed iidem tamen ipsi fiunt senes, qui fuerant adolescentes: ut, quamvis unius| ejusdemque hominis status habitusque mutetur, una tamen nihilominus eademque natura, una eademque persona sit. Parva lactentium membra, magna juvenum: eadem ipsa sunt tamen. Quot parvulorum artus, tot virorum: et siqua illa sunt, quae aevi maturioris aetate pariuntur, jam in seminis ratione proserta sunt: ut nihil novum postea proferatur in senibus, quod non in pueris jam antea latitaverat. Unde non dubium est, hanc esse legitimam et rectam proficiendi regulam, hunc ratum atque pulcherrimum crescendi ordinem; si eas semper in grandioribus partes ac formas numerus detexat aetatis, quas in parvulis creatoris sapientia praeformaverat. Quod si humana species in aliquam deinceps non sui generis vertatur effigiem, aut certe addatur quippiam membrorum numero, vel detrahatur, necesse est ut totum corpus vel intercidat, vel prodigiosum fiat, vel certe debilitetur. Ita etiam Christianae religionis dogma sequatur has decet profectuum leges: ut annis scilicet consolidetur, dilatetur tempore, sublimetur aetate: incorruptum tamen illibatumque permaneat, et universis partium suarum mensuris cunctisque quasi membris ac sensibus propriis plenum atque perfectum sit: quod nihil praeterea permutationis admittat, nulla proprietatis dispendia, nullam sustineat definitionis varietatem.

 Exempli gratia: severunt Majores nostri antiquitus in hac Ecclesiastica segete triticeae fidei semina: iniquum valde et incongruum est, ut nos eorum posteri pro germana veritate frumenti, subdititium zizaniae legamus errorem. Quin potius hoc rectum et consequens est, ut primis atque extremis sibimet non discrepantibus de incrementis triticeae institutionis triticei quoque dogmatis frugem demetamus: ut, cum aliquid ex illis seminum primordiis accessu temporis evolvatur, et nunc laetetur et excolatur, nihil tamen de germinis proprietate mutetur, addatur licet forma, species, distinctio, eadem tamen cujusque generis natura permaneat. Absit etenim, ut rosea illa Catholici sensus plantaria in carduos spinasque vertantur. Absit, inquam, ut in ipso spiritali paradiso, de cynamomi et balsami surculis, lolium repente atque aconita proveniant. Quodcunque igitur in hac Ecclesia, Dei agricultura, fide patrum satum est, hoc idem filiorum industria decet excolatur, et observetur, hoc idem floreat et maturescat, hoc idem proficiat et perficiatur. Fas est etenim, ut prisca illa coelestis philosophiae dogmata processu temporis excurentur, limentur, poliantur: sed nefas est, ut commutentur, nefas ut detruncentur, ut mutilentur. Accipiant licet evidentiam, lucem, distinctionem: sed retineant necesse est plenitudinem, integritatem, proprietatem.

 Nam si semel admissa fuerit haec impiae fraudis licentia, horreo dicere, quantum exscindendae atque abolendae religionis periculum consequatur. Abdicata etenim quamlibet parte Catholici dogmatis, alia quoque atque item alia, ac deinceps alia et alia jam quasi ex more et licito abdicabuntur. Porro autem singulatim partibus repudiatis, quid aliud ad extremum sequetur, nisi ut totum pariter repudietur? Sed e contra, si novicia veteribus, extranea| domesticis, et profana sacratis admisceri coeperint, proserpat hic mos in universum necesse est, ut nihil posthac apud Ecclesiam relinquatur intactum, nihil illibatum, nihil integrum, nihil immaculatum, sed sit ibidem deinceps impiorum ac turpium errorum lupanar, ubi erat ante castae et incorruptae sacrarium veritatis. Sed avertat hoc a suorum mentibus nefas divina pietas, sitque hic potius impiorum furor.

 Christi vero Ecclesia, sedula et cauta depositorum apud se dogmatum custos, nihil in iis unquam permutat, nihil minuit, nihil addit; non amputat necessaria, non apponit superflua; non amittit sua, non usurpat aliena; sed omni industria hoc unum studet, ut vetera fideliter sapienterque tractando, siqua sunt illa antiquitus informata et inchoata, accuret et poliat; siqua jam expressa et enucleata, consolidet, firmet; siqua jam confirmata et definita, custodiat. Denique quid unquam aliud Conciliorum decretis enisaest, nisi ut quod antea simpliciter credebatur, hoc idem postea diligentius crederetur? quod antea lentius praedicabatur, hoc idem postea instantius praedicaretur? quod antea securius colebatur, hoc idem postea sollicitius excoleretur? Hoc, inquam, semper, neque quicquam praeterea, haereticorum novitatibus excitata, Conciliorum suorum decretis Catholica perfecit Ecclesia, nisi ut, quod prius a majoribus sola traditione susceperat, hoc deinde posteris etiam per scripturae chirographum consignaret: magnam rerum summam paucis literis comprehendendo: et plerumque propter intelligentiae lucem, non novum fidei sensum, novae appellationis proprietate signando.





  1. S. den Anhang zu diesem Abschn. I. aus Vincentius Lirinensis.
  2. S. den Anhang zu diesem Abschn. I. aus Vincentius Lirinensis.
  3. S. den Anhang zu diesem Abschn. I. aus Vincentius Lirinensis.
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Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern
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