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war doch früherhin in einem ganz andern Maaß und Umfang eine Macht, als gegenwärtig. – Es ist wahr, daß die Gleichnisse vom Netz, welches gute und faule Fische fäht, – vom Vorhof, der auch Leute ohne hochzeitliches Kleid umfaßt, – vom Acker, auf dem Gottes und des Teufels Saat bis ans Ende wachsen soll, auch für unsre Zustände etwas Tröstliches haben; aber sie alle bedecken und verhehlen die Seelengefahr nicht, in welcher bei massenhaftem Verderben die wenigen empfänglichen Seelen und aufgeweckteren Christen schweben, – wollen die Augen nicht blind für den unsäglichen Jammer machen, die Hände nicht lahm, den guten Kampf nach Beßerung zu kämpfen und darnach zu ringen, – und auch ihr Trost gehört nur denen, welche ihr Aeußerstes gethan haben, um die Beßeren zu bewahren, die Verderbten und Abgefallenen zu gewinnen. Man sei nur stille mit dem Vorwurfe des Novatianismus und Donatismus! Wir sehen und erfahren es in unserm Amte täglich, was möglich und nicht möglich ist; wir glauben auch an keine wahrhaft reine und heilige Kirche auf Erden; wir sind ganz zufrieden, wenn wir nur die faulen Fische, das unhochzeitliche Kleid, des Teufels böse Saat nicht mit verschulden; nicht gegen die Unmöglichkeit, eine reine Kirche zu gründen oder zu erhalten, sondern nur gegen unsre und unserer Brüder Mitschuld an der traurigen Unmöglichkeit kämpfen wir. So, wie es bei uns ist, sollte es gewis auch in der sichtbaren Kirche nach Christi Sinn nicht sein, denn es ist durch Schuld der Kirche selbst so geworden; – es soll auch gewis nicht so bleiben, weil es durch Schuld der Kirche so bleiben würde. Die Gleichnisse vom Netz, hochzeitlichen Kleid und Acker behalten ihre Anwendung immerhin, auch wenn es beßer wird; um so weniger sind sie geeignet, denen entgegengehalten zu werden, welche sich bei all dem Wißen ein heiliges Vorwärts zum Wahlspruch genommen haben.




 Wenn unter den tausend Millionen Menschen, welche den Erdball bewohnen sollen, ein Fünftel – denn so viele Getaufte rechnet man ungefähr – auf dem Wege des ewigen Lebens wären; so wäre der Lebensweg immer noch schmal genug, und wenig genug wären derer, die auf ihm wandelten. Leider aber haben wir Ursache zu glauben, daß er noch schmäler ist, da ja auch von den Getauften die Mehrzahl den Weg des Verderbens geht. Nun ist es zwar möglich, daß der an und für sich so schmale Weg an dem oder jenem Orte verhältnismäßig ein wenig breiter ist, daß an dieser oder jener Stelle etwas mehr Pilgrime auf ihm wandeln. Es könnte deshalb wohl auch eine oder die andere Gemeinde geben, in welcher die gegenwärtig große Mehrzahl der Landeskirchen nur geringer vertreten wäre, in welcher es mehr fromme Menschen gäbe. Doch werden insgemein die einzelnen Gemeinden getreue Abbilder der Kirchengesellschaften sein, zu welchen sie gehören. Wohl die meisten Pfarrer werden sagen: „Meine Gemeinde ist ein Theil ihres Ganzen; sie gleicht in ihrer Zusammensetzung der ganzen Kirche; der breite Weg ist auch hier breit, und der schmale recht schmal.“ Wie wenige werden mit Wahrheit anders sagen können! – Als ein Fremdling tritt der neue Pfarrer in seine Gemeinde ein. Sein Herz kommt allen ihren Gliedern mit Liebe entgegen; er erkennt sie alle für seine pflegbefohlenen Schafe,

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Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)