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beladen einhergehen und nach Hilfe ausschauen, eine kleine, sehr kleine Schaar wäre, zu klein, zu schwach, um gegenüber der gewaltigen Mehrzahl Gehör zu finden? – Ach, und das scheint unser Fall! Es können so viele die Sachen ihrer Entwickelung überlaßen, während wir Himmel und Erde bewegen möchten, eine andere, eine beßre Entwickelung der Dinge zu bewirken – und uns die freudige Zuversicht zu verschaffen, daß es nun auch einmal wieder auf dem alten, schmalen, seligen, heiligen Wege vorwärts gehe.

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 Es wird uns wohl gesagt: „Eben weil ihr eine ohnmächtige, kleine Anzahl seid, so thue ein jeder von euch an seinem Orte und in seinen Grenzen, was recht ist; das Uebrige überlaße er der Verantwortung derer, denen es befohlen ist.“ Und in der That, dabei hätten wir das bequemste Leben, – und wenn man uns davon überzeugen könnte, daß uns nichts angehe, als einen jeden die Arbeit in seiner Gemeinde, daß wir Kains Wort: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ mit gutem Gewißen nachsprechen könnten: man thäte uns einen Dienst, man brächte uns zur Ruhe, die wir sehnlich wünschen. Aber es ist nichts mit diesem Rathe. Wir sind Glieder am Leibe und Knechte im Hause des HErrn; durch beiderlei unzweifelhafte Beziehung wird uns nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Liebe und Mitsorge für den ganzen Leib, für das ganze Haus des HErrn übergeben. Das bischöfliche Amt ist Eines, wir arbeiten auf dem Lande oder in der Stadt, in den Höhen oder in den Tiefen: es ist unsre Bruderpflicht, und überdies unsre Amtspflicht, für das Ganze zu leben. Und dann, ist denn nicht die einzelne Gemeinde, an der ein jeder arbeitet, ein Theil des Ganzen? Krankt und leidet sie doch mit, hat sie doch Last und Uebel der Gesammtheit zu tragen! Wir können die einzelne Gemeinde nicht als ecclesiola in ecclesia, so losgerißen vom Ganzen, so völlig ohne Rücksicht und Beziehung aufs Ganze betrachten, so ganz ohne Einfluß des Ganzen leiten und weiden, daß sie gleich einer glücklichen Oase in der Wüste, wie eine auserwählte, abgesonderte Schaar ihr eigenes seliges Schicksal hätte. Wir können nicht, und ob wirs wollten oder thäten, wie schnell würde man uns mit vollem Rechte wehren! So kommts denn, daß wir, ein jeder in seiner Gemeinde, mitten in den Uebeln sitzen. Jede Gemeinde ist von der allgemeinen Noth berührt, vom allgemeinen Verderben ergriffen – und es wird mit ihr, so lang sie im Complex des Ganzen ist, nicht durchgreifend beßer werden, wenn nicht das Ganze beßer wird. Die treueste, kirchlichste Lehre wird, wenn sie nicht als Lehre des großen Ganzen erkennbar ist, bemistraut: denn das Volk ist nicht mündig, nicht verständig, nicht gutwillig und einfältig genug, um von allen Verhältnissen ungeirrt und trotz ihrer dem Worte beizufallen. Eben so, das treueste, das kirchlichste Verfahren wird von der Gemeinde als solcher (und von ihr, nicht bloß von einzelnen Seelen handelt sichs für einen Pfarrer, welchem die ganze Gemeinde vertraut ist) – nicht anerkannt, nicht angenommen, wenn es nicht durch Uebereinstimmung mit dem Ganzen als kirchlich erkannt wird. So kommen wir durch die allgemeinen Uebel um unsre Wirksamkeit im Einzelnen, in der einzelnen Gemeinde, um unsre Lebenszeit und Kraft, um unsern Lebenszweck, wir verkommen und verkümmern unter erbärmlichen Verhältnissen und unsre

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Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)