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Ansicht von der Sache, und die Sache entgeht uns deshalb nicht weniger. Man ist über Minimum und Maximum nicht einig, gewis nicht, weil es da ist. Hätten wirs, wir stritten nicht; ich denke, wir gingen dann fröhlich miteinander vorwärts zu allem, was weiter daraus folgt (den Konsequenzen), zu jeder weiteren Einigkeit im Leben, bis wir zum maximum der himmlischen Einigkeit gelangten. Freilich, eben weil wir nicht haben, was wir haben sollten; sollten wir auch nicht streiten, sondern einmüthig kämpfen und ringen, bis wirs hätten. So aber, ach Jammer, gibt ein arglos Wort, das einer sprach, Anlaß zum Aufenthalt, zur Verkennung gerechter Forderung, Ach könnt ich alle unschuldigen – oder schuldigen (? ich weiß es nicht!) Wörtchen, die ich in guter Sache zum Aergernis meiner Brüder geschrieben, – gesprochen hab ich wenig, was gleiche Wirkung hatte, – ungeschrieben machen oder meinen Brüdern den Sinn geben, über dergleichen und über die schreibende Persönlichkeit wegzusehen! „Frage nicht, wer spricht, sondern, was gesprochen wird“, sagt Thomas v. Kempis, und sieh nicht auf die Wörter, sondern auf Sinn und Absicht.

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 Es wurde uns hie und da eingewendet, Lehreinigkeit, wie wir sie fordern, und wie sie unleugbar auch unsre Symbole und Kirchenordnungen fordern, sei niemals dagewesen. Was können aber wir, was die Kirchenordnungen, was die Symbole dafür, daß man die gemachte Forderung extrem auffaßt? Es ist uns oft so vorgekommen, als denke uns mancher in alles Extreme hinein, um an dem Extremen guten Grund zu haben, uns zu verwerfen. Trifft man uns über dem Lesen der ersten Väter, über dem Studium des christlichen Alterthums oder der Geschichte; so klopft man uns lächelnd auf die Achsel und spricht: „So recht, das kann euch von eurer übertriebenen Forderung der Lehreinigkeit heilen; bald werdet ihr einsehen, daß keine Zeit gewesen ist, die euerm Verlangen gerecht ward.“ Allein warum vermuthet man denn bei uns den thörichten Gedanken, als sei in den ersten Zeiten Lehreinigkeit im Sinne der lutherischen Kirche zu suchen? Es liegt doch auch für unsre beschränkten Sinne nahe genug und ist uns ganz wohl bekannt, daß man die Zeiten unterscheiden müße. Hat doch nach dem apostolischen ein jedes Zeitalter kenntlich seine Stufe der Erkenntnis gehabt[1], die es unter heißen Kämpfen erstieg! Ist doch die gesammte Dogmengeschichte nichts anderes, als die Geschichte eines andauernden Kampfes der himmlischen Wahrheit mit der Lüge, und ist doch die kirchliche Faßung eines jeden Dogmas nur eine süße Frucht dieses oft bittern Kampfes, der in seinen einzelnen Stadien und in seinem ganzen Verlauf mit nichts Anderem enden kann, als mit hellerem, klarerem Lichte, mit vollkommener Verklärung unsers Geistes und seiner Erkenntnis durch den Geist des HErrn. Man sagt uns doch so oft, die Geschichte sei eine „Entwickelung“ uranfänglich vorhandener Dinge – und wenn uns auch der Nachweis zuweilen sehr zu fehlen scheint, so glauben wir doch, daß es mit der Dogmengeschichte so sei. So konnte doch wohl im 2. oder 3. Jahrhundert eine Lehreinigkeit in Betreff von Lehren, welche noch nicht im Kampfe gewesen, in dem Maße nicht stattfinden, wie nach deren


  1. S. den Anhang zu diesem Abschn. I. aus Vincentius Lirinensis.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/31&oldid=- (Version vom 15.5.2019)