Textdaten
<<< >>>
Autor: W. Belka
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Peter Strupp, der Sträfling
Untertitel:
aus: Vorlage:none
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein utopischer Abenteuerromanzyklus, welcher die Bändchen 105–110 umfaßt.
Band 107 der Romanreihe Erlebnisse einsamer Menschen.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[I]
Band 107 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.
Band 105 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.


Peter Strupp, der Sträfling.


Jakobsen glitt in das Gletscherloch hinab.


[1]
Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)


Peter Strupp,[1] der Sträfling.
Von W. Belka.


1. Kapitel.
Der Flüchtling auf den Kerguelen.

„Peter, das hast Du wieder einmal fein gemacht! Es lebe die Freiheit!“

Peter Strupp rief diese Worte frohlockend, sprang mit kühnem Satz auf eine Felsnase der steinigen, hohen Küste und kletterte dann mit einer beneidenswerten Gewandtheit das steile Gestade empor, ohne sich um die Gewehrkugeln, die klatschend in seiner Nähe gegen die Felsen schlugen, auch nur im geringsten zu kümmern.

Das Motorrennboot, das den deutschen Flüchtling bis an diese Küste in windschneller Fahrt gebracht hatte, schaukelte nun einsam auf den Wassern der tief in das Land einschneidenden Bucht, während sein bisheriger Lenker zwischen den Felstrümmern des wildzerrissenen Randes des Steilufers verschwand, nachdem er seinen Verfolgern in dem zweiten Motorrennboot noch mit der grauen, leinenen Sträflingskappe ein letztes Lebewohl übermütig zugewinkt hatte.

Peter Strupp, ein schlanker, mittelgroßer Mann in besten Jahren mit sonnverbranntem, kühn geschnittenem Gesicht, in dem eine Adlernase von recht ansehnlichen Größenverhältnissen besonders auffiel, blieb jetzt im Schutze eines mächtigen Felsens, wo er vor jedem Geschoß sicher war, erst einmal eine Weile stehen, um zu verschnaufen. Die Mütze hatte er noch in der Rechten, und mit der Linken fuhr er sich über die schweißfeuchte Stirn und den kahlgeschorenen Sträflingsschädel, [2] lächelte dann vergnügt und sagte halblaut vor sich hin:

„Ja, meine Herren Franzosen, so leicht ist der Peter Strupp doch nicht nach Eurer Verbrecher Kolonie Neu-Kaledonien zu transportieren! Ein gutes Gewissen ist nicht nur ein sanftes Ruhekissen, sondern auch eine Quelle, aus der feine Fluchtpläne entspringen, bei deren Ausführung man eben auf eine gütige Mitwirkung der Vorsehung hofft!“

Dann zog er die graue Kappe wieder über den Kopf, wandte sich in ruhigem Trab nach links, immer dem Steilrand der Küste folgend, vermied die wenigen sandigen Stellen, um keine Spuren zu hinterlassen, und bog erst nach einer guten halben Stunde von der bisherigen Richtung ab, um dem Inneren der großen Insel zuzustreben, die nach seiner Berechnung nur der Mittelpunkt jener Anhäufung zahlreicher Eilande und Klippen sein konnte, deren Gesamtheit die Seekarten als Kerguelenland bezeichnen und die im südlichsten Teile des Indischen Ozeans hart an der nördlichen Grenze des Treibeises der Südpolargebiete, der Antarktis, liegen.

Schon bevor er die gute Gelegenheit einer Wettfahrt französischer Offiziere, die mit auf dem Transportschiffe, „Präsident Loubet“ sich befunden hatten, dazu benutzt hatte, auf einem der beiden Motorrennboote nach Beendigung der Wettfahrt zu fliehen, die er als Bedienungsmann des einen Bootes mitmachen durfte, war er unverfroren genug gewesen, dem Kapitän des Sträflingstransportschiffes eine große Karte des Indischen Ozeans und der australischen Gewässer zu – stehlen, da er in jedem Falle einen Fluchtversuch wagen wollte, bevor der Präsident Loubet in einen lebhafter befahrenen Meeresteil kam. Daß er vom Glücke so sehr begünstigt werden würde, hatte er nie zu hoffen gewagt. Stürme verschlugen den Dampfer weit nach Süden, und ein Maschinenschaden zwang dann das Schiff zu tagelangem Stilliegen in einer vollständigen Flaute (Windstille), daß die Offiziere aus Langeweile auf den Gedanken verfielen, ein [3] Wettrennen zu veranstalten. Als er auf dem einen Motorrennboot mit voller Geschwindigkeit davonjagte, wäre die Sache beinahe noch schief gegangen, da die Wachen vom Dampfer aus ein wildes Schnellfeuer hinter ihm drein eröffneten und eine Kugel den einen Kühler beschädigte, so daß der Motor sich leicht heißlief. Nur aus diesem Grunde war auch das Boot der Verfolger stets so dicht hinter dem Flüchtling geblieben, daß es ihn nicht aus den Augen verlor. Peter Strupp hatte trotz der gefährlichen Hetzjagd seine Ruhe keinen Moment eingebüßt, hatte sogar Zeit gefunden, die „geborgte“ Seekarte zu Rate zu ziehen und dem Rennboote daher einen Kurs gegeben, der es auf die Kerguelen-Inseln zuführen mußte, die, wie der Deutsche wußte, unbewohnt, sehr unwirtlich und größtenteils noch unerforscht sind. Wohlweislich hatte er die der Hauptinsel im Norden vorgelagerten Cloudy-Inseln im weiten Bogen umrundet und erst in eine Bucht eingelenkt, als er überzeugt war, nunmehr die Hauptinsel vor sich zu haben, wo die Franzosen eine weitere Verfolgung zu Fuß als aussichtslos bald aufgeben würden.

Diese Erwartung traf auch zu. Peter Strupp erblickte bereits am Spätnachmittag von einem Berge aus, den er erklettert hatte, mit Hilfe des von Bord des Rennbootes mitgenommenen Fernrohres die beiden Böte, die nach Norden zu die Gewässer des Archipels verließen, um schleunigst wieder den Dampfer aufzusuchen, da die leichtgebauten Motorfahrzeuge bei einem Sturm unfehlbar verloren gewesen wären.

Eine volle Woche lang hielt er dann noch vorsichtshalber von verschiedenen Punkten der Küste Ausschau nach dem Transportdampfer, da er immerhin mit der Möglichkeit rechnen mußte, daß man wenigstens versuchen würde, ihn wieder einzufangen. Als das Meer und die Buchten jedoch leer blieben, und lediglich die ungeheuren Schwärme der hier nistenden Seevögel und die verschiedenen Arten von Robben das unheimlich düstere Landschaftsbild dieser Insel belebten, die schon der große Seefahrer Cook Desolationsland [4] (trostloses Land) getauft hatte, bevor sie ihren jetzigen Namen nach ihrem Entdecker, dem französischen Seefahrer Kerguelen-Tremarec erhielt, da erst fühlte er sich ganz geborgen und traf Anstalten zu einem längeren Verweilen auf der Insel. Wie lange er hier würde ausharren müssen, wußte er nicht. Vielleicht Jahre – vielleicht nur Monate. Das hing ja davon ab, ob er Kerguelenland zu Schiff mit der sicheren Aussicht verlassen konnte, nicht an Frankreich als Schwerverbrecher ausgeliefert zu werden.

Als Schwerverbrecher! Und dabei hatte er doch den Mord, dessen man ihn während seiner Dienstzeit bei der Fremdenlegion in Algier beschuldigt hatte, nie begangen. Er hatte eben verurteilt werden sollen, um für alle Zeiten in Neu-Kaledonien zu verschwinden – er, der nur Legionär geworden, damit er das eigentliche Wesen dieser Söldnertruppe genau studieren konnte, und der dann leichtsinnig genug gewesen war, scharfe Artikel gegen die Legion zu schreiben und deutschen Zeitungen zu verkaufen. So war es gekommen, daß der Unteroffizier Peter Strupp des 1. Fremden-Regiments zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher Verschickung „begnadigt“ wurde, – begnadigt!

All diese Erlebnisse rief Peter Strupp sich nochmals ins Gedächtnis zurück, während er nun gemächlich nach Süden zu die große Insel durchwanderte und dabei Ausschau nach einem Orte hielt, wo er sein Heim aufschlagen konnte.

Auch jetzt hatte er Glück. Am dritten Marschtage morgens entdeckte er auf der nach Osten zu sich erstreckenden Bismarck-Halbinsel im nördlichsten Teile, der von felsigen Hügelketten durchzogen wurde, ein tiefes, geschützt liegendes und recht unzugängliches Tal, wo der steinige Boden durch die Feuchtigkeit bereits so weit verwittert war, daß sich dort eine Menge Sträucher und Gräser angesiedelt hatten, die dem weiten Felsenkessel ein freundlicheres Aussehen verliehen. Außerdem gab es hier auch eine Quelle, die sich infolge ihres Wasserreichtums schnell zu einem Bach verbreiterte, [5] der in der Südecke des Tales merkwürdigerweise in einem niedrigen Felsloche spurlos verschwand.

Peter Strupp beschloß also, dem grünen Tale, wie er es taufte, einen Bewohner zu geben. Nachdem er es in allen Teilen genau in Augenschein genommen hatte, ließ er sich in einer schmalen, keilförmigen Schlucht auf einen Stein nieder und begann behaglich den Rest der Konserven, die er von dem Rennboote mitgenommen hatte, zu verspeisen. Dabei überlegte er so allerlei und führte halblaute Selbstgespräche, wie es seine Art war.

In der Schlucht gedachte er sich eine Hütte aus Steinen zu errichten, die ihn vor den Unbilden der Witterung schützen sollte. Zur Zeit – er war am 8. September 1895 auf der Insel angekommen – herrschte bereits recht mildes Wetter. Er wußte, daß nur die Monate Mai bis August hier die Winterzeit darstellten und starke Kälte und Schneestürme brachten. Das hatte er von den französischen Offizieren auf dem Transportdampfer durch vorsichtiges Ausfragen erfahren.

Die mittlere Jahrestemperatur auf Kerguelenland beträgt nur 5 Grad, und in den Wintermonaten sind 20 Grad Kälte durchaus keine Seltenheit. Die Rauheit des Klimas wird noch durch häufige Nebel erhöht, die oft so dicht sind, daß man auf wenige Schritt einen Schuß nur noch als schwachen Knall hört.

Nachdem Peter Strupp sich in Gedanken seine Behausung möglichst praktisch entworfen hatte, stellte er ebenso in Gedanken ein Eigentumsverzeichnis auf. Er besaß: Einen grauleinenen, vollständigen Anzug nebst Unterzeug und derben Lederschuhen, ferner ein großes Stück Segeltuch, in dem er folgendes von dem Motorboot „entliehen“ hatte (abgesehen von der Seekarte): Ein Fernglas besten Systems, zwei große eiserne Schraubenschlüssel, einen Hammer, ein kleines Beil, zwei Tischmesser mit schwarzer Holzschale, eine Flasche Benzin, ein Benzinfeuerzeug, einen Öltuchmantel, ein Holzkästchen mit Nägeln und Schrauben [6] verschiedener Länge, zwei Stahlfeilen, eine große Zange und ein Stemmeisen.

„Ich bin reich im Vergleich zu meinem berühmten Vorgänger, dem Matrosen Alexander Selkirk, der bekanntlich dem Schriftsteller Defoe die Anregung zu dem unsterblichen Buche Robinson Crusoe gegeben hat,“ sprach er nun vor sich hin und schob den letzten Bissen in den Mund. „Nur hatte der brave Selkirk sich seine Insel besser ausgewählt, denn diese, Juan Fernandez benannt, liegt in der heißen Zone dicht an der Westküste Südamerikas und besitzt nicht nur eine tropische Vegetation, sondern auch eine vielgestaltige Tierwelt, während hier nur ein Säugetier, die Maus, auf dem Lande vorkommen soll. Und Mäusebraten dürfte kaum schmecken! Da hatte der andere Robinson es besser. Ein Lama-Schinken ist nicht zu verachten! – Na – wir haben uns ja schon in manchen Lebenslagen zurechtgefunden, Peter Strupp! Da werden wir auch wohl mit den hiesigen Verhältnissen fertig werden. Frisch auf denn – spielen wir zunächst mal Maurer und beginnen wir mit dem Hausbau.“

Eine volle Woche brauchte unser einsamer Bewohner des grünen Tales, bis er sowohl die Steinhütte, als auch die nötige Einrichtung, Ofen, Tisch Schemel, Bett und anderes mehr fertig hatte. Während dieser Zeit war er verschiedentlich nach dem nahen Nordstrande der Halbinsel gewandert, wo er mit einer selbstgefertigten Harpune den Robben auflauerte, von denen er nicht nur das Fleisch, sondern auch den Speck und die Häute gut gebrauchen konnte. Zuerst wollte ihm das Robbenfleisch allerdings wenig munden. Doch: „Peter Strupp, in der Not frißt der Teufel Fliegen!“ tröstete er sich. Und weiter dachte er: „Der Mensch gewöhnt sich an alles, nur nicht an Mäusebraten!“ – Und er gewöhnte sich wirklich an dieses Hauptnahrungsmittel der Eskimos, merkte bald kaum mehr, wie fischig und tranig es schmeckte.

Aus den beiden Schraubenschlüsseln hatte er sich ein paar notwendige Werkzeuge geschmiedet, die ihm besonders beim Anfertigen seiner „Möbel“, für die [7] ihm als Material ja nur Sträucher zur Verfügung standen, sehr zustatten kamen. Bäume gibt es auf Kerguelenland nicht. Dafür erreichen jedoch einzelne Straucharten eine beträchtliche Höhe und Stärke.

Nach drei Wochen hatte Peter Strupp sich völlig auf seiner Ansiedlung eingelebt. Er, der von Jugend an eine unbezähmbare Abenteuerlust verspürt und der alles und nichts gelernt, der von jedem Handwerk, jedem Zweige der Wissenschaft eine Ahnung hatte und dem Mutter Natur sowohl einen praktischen Sinn als auch Tatkraft, Mut und eine unverwüstlich gute Laune beschert hatte, – er fühlte sich in seinem grünen Tale vorläufig sehr wohl. „Kommt Zeit, kommt Rat,“ sagte er sich stets, wenn er unwillkürlich Sehnsucht nach bewohnten Gegenden, nach der deutschen Heimat und seinen Eltern empfand, die sich bescheiden in einem Fischerdorfe an der Ostsee durch einen Kramladen ernährten. „Kommt Zeit, kommt – vielleicht ein Schiff, das in der Nähe der Küste vor Anker geht und auf das ich mich vielleicht als blinder Passagier einschmuggeln kann.“ So beschwichtigte er das Gefühl des Verlassenseins, die Sehnsucht nach Menschen.

Und – das Schiff kam wirklich!




2. Kapitel.
Die Najade und ihre Geheimnisse.

Es war am 9. Oktober, als Peter Strupp von der Höhe der Felsenküste aus weit im Norden einen großen Dampfer gewahrte, der sich sehr langsam den Gestaden der Howe-Insel näherte. Diese gehört zu den Kerguelenland westlich vorgelagerten Eilanden.

Gerade am Tage zuvor hatte er den Bau eines Bootes aus Robbenfellen, die er über ein Gerippe aus starken Zweigen gespannt hatte, beendet. In diesem wenig zuverlässigen Nachen wagte er sich dann nach der Howe-Insel hinüber, um den Dampfer besser beobachten zu können.

Das Verhalten dieses Schiffes, das nur wenige [8] Mann Besatzung zu haben schien, wurde Peter Strupp bald ganz unerklärlich. – „Die Geschichte hat ohne Frage einen Haken!“ sagte er kopfschüttelnd zu sich, als er nun von seinem Versteck an Land bemerkte, wie der Dampfer in eine tiefe Bucht des Nachbareilandes hineinfuhr und dann von den drei Leuten – ja, nur drei bewegten sich auf dem Deck – in eine riesige Grotte hineingelotst wurde, in der er völlig verschwand. – „Was bedeutet das alles?!“ fragte Peter Strupp sich sinnend, indem er sein Versteck verließ und nun versuchte, die Höhe des Steilufers zu gewinnen, in dem durch eine Laune der Natur die riesige Höhle sich nach der Bucht hin öffnete. Es wurde eine waghalsige Kletterpartie, und nur ein Mensch von der Kraft und Geschmeidigkeit Peter Strupps konnte diesen Aufstieg wagen, der sich dann aber auch wirklich verlohnte, denn – eine schräg nach abwärts sich hinziehende Spalte ermöglichte es unserem kühnen Robinson sehr bald, von oben her einen Blick auf den Dampfer zu werfen, dessen eine Mastspitze fast bis an das Felsloch in der Grottendecke heranreichte, in dem Peter Strupp lang ausgestreckt lag und nun genau verfolgte, was auf dem bereits mit Hilfe seiner Anker im dunklen Hintergrunde der Höhle festgemachten Schiffe vorging.

Die drei Leute an Bord hatten mehrere Laternen auf der Kommandobrücke befestigt, so daß genügend Licht vorhanden war, ihr Tun und Treiben zu belauschen. Selbst das, was sie sich zuriefen, verstand Peter Strupp Wort für Wort, da die Grottenwölbung den Schall der Stimmen sehr verstärkte.

Nachdem Peter zwei Stunden auf seinem Beobachtungsposten in sehr unbequemer Lage ausgeharrt hatte, wußte er genug! – „Diese Halunken!“ murmelte er, während er sich in der Spalte wieder emporarbeitete, „also auf das Gold, das der Dampfer geladen hat, haben sie es abgesehen! Und die ganze übrige Besatzung scheint dem gelben Fieber erlegen zu sein! Nur von einem vierten Manne sprachen diese Piraten noch, von einem Schiffsjungen, den sie auf der Heard-Insel [9] aussetzen wollen, weil er sich an diesem Gaunerstreich nicht beteiligen mag. – Wie freute ich mich zuerst, als diese Lumpe deutsch sprachen! Landsleute, hoffte ich, die sich meiner annehmen würden! Und nun: Spitzbuben sind’s, die die Goldbarren des Dampfers Najade sich aneignen möchten und die das Schiff daher bis hierher geführt haben, wo niemand es finden kann, so daß es sicher als verschollen erklärt wird! – Jedenfalls will ich diese Banditen ständig weiter belauern. Vielleicht kann ich dem armen Burschen, dem Schiffsjungen, helfen. Wenn nicht, findet sich vielleicht später eine Gelegenheit, mit diesen Schurken abzurechnen, deren Rädelsführer der Steuermann der Najade zu sein scheint, ein wahrer Riese, den die beiden anderen ja stets „Steuermann“ anredeten.“

Peter Strupp tat, wie er sich vorgenommen. So wurde er Zeuge der Szene, als die drei Leute den Schiffsjungen, der sogar ein Neffe des Steuermanns war, gefesselt an Deck brachten, in die Motorpinasse des Dampfers verluden und die Grotte mit diesem schnellen Fahrzeug verließen, das dann Kurs auf die Heard-Insel, also nach Südwesten zu, nahm.

Peter frohlockte. Jetzt lag ja der Dampfer ohne jede Aufsicht in der Höhle, jetzt konnte er an Bord gehen und sich dort näher umschauen.

Mittlerweile hatte die Najade ihre Lage etwas geändert, so daß die eine Mastspitze von dem Felsloche aus bequem zu erreichen war, wenn man sich nur noch etwa zwei Meter an einem Strick hinabließ. Peter Strupp hatte schon ein aus Robbenleder geflochtenes Tau zur Hand, befestigte es zuverlässig in einer Felsspalte und glitt nun bis zur Mastspitze abwärts. Der weitere Weg bis auf Deck war ein Kinderspiel für einen Mann wie unseren Robinson.

Nachdem er sich aus der Proviantkammer der Najade reichlich mit allerlei lang entbehrten Lebensmitteln versehen hatte, wobei er sorgfältig jede Spur seiner Anwesenheit vermied, kehrte er in seinem Fellboot nach der Hauptinsel zurück. Er rechnete aus, daß die Motorpinasse von der Heard-Insel in etwa sechs Tagen [10] wieder zurück sein könne. Daher legte er sich nach Ablauf dieser Zeit auf der Höhe der Uferwand über der Grotte wieder auf die Lauer. Und – die Pinasse erschien auch wirklich. Doch – zu Peter Strupps Überraschung, bemerkte er auf dem schlanken, flinken Motorboot nur einen einzelnen Menschen – den Steuermann.

Hierfür gab es nur eine Erklärung: Dieser hartgesottene Schurke hatte auch seine beiden Vertrauten – es waren junge Matrosen gewesen – auf der Heard-Insel einem ziemlich sicheren Tode überantwortet, natürlich lediglich deshalb, um die Goldbarren der Najade nicht mit anderen teilen zu müssen.

Von diesem Augenblick an, als Peter Strupp die ganze Größe der Verworfenheit des riesigen Steuermanns klar geworden war, nahm er sich vor, diesem Elenden das Leben auf der Najade nach Möglichkeit zu vergällen und zu versuchen, in den Besitz eines der Boote des Dampfers zu gelangen, damit er die Unglücklichen von der Heard-Insel befreien könne, wo sie inmitten der Eis- und Schneemassen dieses dem Südpol noch näher gelegenen Eilandes in kurzem jämmerlich umkommen mußten.

Wie es Peter Strupp dann tatsächlich, wenn auch erst nach vielen Monaten, gelang, den Steuermann August Wend so einzuschüchtern, daß dieser zeitweise fürchtete, den Verstand zu verlieren, wie er schließlich dem Elenden eines Tages die Jolle (kleines Boot) entführte und ihn so auf der Hauptinsel zu bleiben zwang, wodurch ihm Gelegenheit gegeben war, nicht nur das Großboot des Dampfers sich anzueignen, sondern auch das Tagebuch des Steuermanns durchzulesen, wobei er dessen Siegel unbeschädigt zu lösen und wieder zu befestigen verstand, – das alles wollen wir im Rahmen dieser Erzählung nur kurz streifen. Ausführlich ist dieser Teil der Abenteuer unseres wackeren Peters in dem vorhergehenden Bändchen, betitelt: „Das Gold der Najade“, geschildert worden.

Es war am 20. September 1896, als das Großboot des Dampfers, wohlversehen mit allem Nötigen, [11] Kerguelenland verließ und, gesteuert von Peter Strupp, zunächst den Kurs nach Norden nahm, um den Steuermann, falls er sie etwa beobachten sollte, über ihre wahren Absichten zu täuschen.

Erst nachdem die Inselgruppe am Horizont verschwunden war, gab Peter seinem Fahrzeug eine andere Richtung. Die Heard-Insel war sein Ziel, die Rettung der drei Landsleute der Zweck dieser Fahrt nach dem einsamen, unter Gletschermassen begrabenen Eiland, das erst im Jahre 1854 von dem englischen Kapitän Macdonald entdeckt wurde und nach dessen weißschimmernden Steilküsten sich nie ein Schiff hinverirrt, da nicht einmal Seevögel oder Robben diese trostlose Eisinsel besuchen.




3. Kapitel.
Die Bewohner der Heard-Insel.

Wir wollen jetzt in unserer Erzählung auf die Ereignisse zurückgreifen, die sich auf der Heard-Insel inzwischen abgespielt hatten. –

Jakob Jakobsen und Georg Schulk, die beiden Leichtmatrosen und Verbündeten des Steuermanns, erschöpften sich in ihrer ohnmächtigen Wut gegen den, der sie so heimtückischer Weise auf dem Gletschereiland zurückließ und jetzt mit der Motorpinasse zurückfuhr, in wüsten Schimpfreden und allerlei zwecklosen Drohungen.

Immer weiter entfernte sich das Motorboot. Und nicht lange währte es, dann war es in den Dunstmassen des Horizontes verschwunden. Trotzdem standen die beiden jungen Matrosen noch immer nebeneinander dicht am Strande, wo die auslaufenden Wellen das schillernde Eis eines riesigen Gletschers bespülten, und starrten dorthin, wo die Pinasse in den grauen Schwaden untergetaucht war. Eine ungewisse Hoffnung regte sich noch in ihrer Seele: Vielleicht wollte der Steuermann sich nur einen schlechten Scherz mit ihnen erlauben; vielleicht erschien das Motorboot [12] sehr bald wieder und holte sie ab, – vielleicht.

So standen sie jetzt schweigend da – wohl eine halbe Stunde lang. Die Kälte des feuchten Eises teilte sich ihren Füßen mit, kroch höher und höher. Sie merkten es nicht. Sie konnten immer noch nicht glauben, daß es so viel Gemeinheit und Heimtücke in einem menschlichen Herzen geben könne, wie sie sich in dieser Handlungsweise August Wends offenbarten. Sie waren keine schlechten, verderbten Burschen, diese beiden 21 jährigen Matrosen, hatten sich nur durch die Aussicht auf die lockenden Schätze der Najade blenden und von dem elenden Steuermann verführen lassen.

Neben der leeren Hoffnung, die in ihren Seelen jetzt die Angst vor der Wirklichkeit etwas beschwichtigte, wurden noch andere Gedanken in ihnen rege: Selbstvorwürfe und Reue! – Wie aus einem Rausch, der alles Gute in ihnen zeitweise erstickt hatte, erwachten sie nun ganz allmählich, erkannten, daß sie sich als Werkzeuge eines brutalen Schurken hatten ausnutzen lassen und begriffen jetzt selbst kaum, auf welche Weise der Steuermann es fertiggebracht hatte, sie in ihrem ganzen Wesen so vollständig zu verwandeln.

Jakob Jakobsen, ein sehr langer, dürrer Mensch mit einem abschreckend mageren, von Seeluft und Sonne braun gebeizten Gesicht, war’s dann, der zuerst seinem übervollen Herzen durch die leisen Worte Luft machte:

„Du, Salzsack (das war Georg Schulks Spitzname, den er seiner geringen Körpergröße und seiner Wohlbeleibtheit verdankte), wir sind ’n paar richt’ge Schapsköppe gewesen, daß wir dem verd… Kerl so auf den Leim krabbelten! Wenn mein ehrlicher Vater daheim wüßte, was sein Jüngster hier für Sachen mitbefingert hat, – na, ich sag’ Dir: er würd’ wohl trotz meiner Jahre noch ein Tauend’ nehmen und mit mir auf Klopfdeutsch reden! Und das mit Recht! Ich hätt’s verdient! Pfui Deubel, daß wir uns dazu hergegeben haben! Ich schäme mich jetzt in meine schwarze Seele hinein.“

Worauf der Salzsack eifrig nickte und erwiderte:

[13] „Ich schäme mich vor mir selbst. – Siehst Du, gerade dasselbe wie Du habe ich eben gedacht. – Nun haben wir ja unseren Lohn! Der Schuft macht es mit uns wirklich genau so wie mit Karl, seinem Neffen.“

Da ertönte plötzlich hinter den beiden eine helle Stimme: „Gut, daß Ihr jetzt einseht, wie schändlich Euch mein Onkel, der diese verwandtschaftliche Bezeichnung wahrlich nicht verdient, ausgenutzt hat!“

Jakobsens und Schulks Köpfe fuhren herum. Und ihre Augen starrten nun mit einem Ausdruck ehrlicher Beschämung den an, der hier mit ihrer Hilfe wahrscheinlich elend hatte umkommen sollen.

Karl Wend, der Schiffsjunge der Najade, war damals sechzehn Jahre alt, jedoch bereits sehr in die Höhe geschossen und so kräftig, daß wohl jeder ihn bedeutend älter geschätzt hätte. Auf seinem offenen, frischen Jünglingsantlitz lag jetzt ein Zug von Trauer und Verbitterung, der es noch reifer erscheinen ließ. Und eindringlich sagte er nun, indem er erst Jakobsen und dann Schulk die Hand reichte: „Ich hätte gerade von Euch beiden, die Ihr nie mit mir rohe Späße wie die meisten anderen an Bord der Najade getrieben habt, kaum gedacht, daß Ihr so leicht Euch selbst untreu werden würdet. Im Grunde Eures Herzens seid Ihr wohl trotz allem anständige, wenn auch etwas leichtsinnige Kerle! – Hier, schlagt ein. Wir wollen treu jetzt zueinander halten, wir drei Opfer eines Mannes, der dem Strafgericht einer weise waltenden Vorsehung nicht entgehen wird. – Mit diesem Händedruck laßt uns Gefährten werden, die sich einer auf den anderen verlassen können!“

Jakobsen seufzte jetzt unwillkürlich tief auf und meinte verzagt: „Wir werden nicht viel Gelegenheit haben, zu beweisen, daß wir ehrliche Kameraden fortan sein wollen. Lange werden wir’s hier ja kaum machen auf diesem trostlosen Eiland, zumal es noch gut zwei Monate dauern kann, ehe die Sonne hier so viel Wärme spendet, daß wenigstens stellenweise das Eis wegschmilzt und uns ein trockenes Fleckchen zum [14] Aufenthalt bietet. Ich weiß auch nicht, womit wir unseren Hunger stillen sollen. Den geringen Proviant, den der Steuermann Dir zurückgelassen hat, haben wir in drei Tagen verzehrt.“

Da fiel ihm Georg Schulk ins Wort: „Drei Tage?! Drei Tage?! Nicht zwei reicht’s! Ich allein könnte schon jetzt alles verschlingen, solchen Hunger habe ich!“

Über des schlanken Schiffsjungen Gesicht flog ein Lächeln. „Deinen Appetit kenne ich, Kamerad Salzsack! Und doch werden wir drei Tage mit den Vorräten haushalten und in diesen drei Tagen eine Möglichkeit gefunden haben müssen, wie wir in dieser Eiswüste dem Tode des Verhungerns entgehen können. Ich jedenfalls werde nicht tatenlos abwarten, bis Hunger und Kälte mich dahingerafft haben!“

Jakob Jakobsen schlug da dem jüngeren Gefährten mit einem belebteren Gesichtsausdruck derb auf die Schulter.

„Hast recht, Karl! Hier heißt’s: Mut verloren, alles verloren! – Du hast in mir durch Deine Worte soeben das geweckt, was man mir stets nachgesagt hat, schon auf der Schule, die ich rein aus Faulheit viel zu früh verließ: Tatkraft und Unternehmungslust! – Also: was tun wir zunächst?“

Karl Wend überlegte kurze Zeit. „Wir wollen, immer am Strande entlanggehend, die Insel umrunden. Vielleicht beschert uns ein glücklicher Zufall genügend Wracktrümmer oder Treibholz, um uns davon eine Hütte, und sei sie noch so klein, bauen zu können. Wenn wir sie dann mit Schnee und Eisstücken von außen verkleiden, wird dieser Unterschlupf uns vorläufig vor den ärgsten Witterungsunbilden schützen.“

Gleich darauf brachen die drei Gefährten denn auch auf, nachdem der lange Jakobsen sich als der stärkste mit dem großen Bündel beladen hatte, in dem sich die Sachen befanden, die der Steuermann seinem Neffen in einer geringen Regung von Mitleid gespendet hatte.

Die Heard-Insel ist in ihrem Innern noch ebenso [15] wenig erforscht wie Kerguelenland. Niemand hat an dieser ungeheuren Aufhäufung von Eismassen ein Interesse. Über die Größe der Insel ist nichts Sicheres bekannt. Sie ist jedenfalls langgestreckt und dürfte bei einer Breite von vier Meilen eine Länge von 10 bis 12 Meilen haben. Überaus gebirgig, steigt sie etwa in der Mitte zu einem gewaltigen, auf 2000 Meter Höhe geschätzten Bergmassiv an, das nach dem ehemaligen deutschen Kaiser „Kaiser Wilhelm-Berg“ benannt ist und von dessen Abhängen sich die riesigen Gletscher nach der Küste hinabziehen. –

Die drei Gefährten waren am Spätnachmittag, nachdem sie bisher auch nicht eine einzige Planke am Ufer entdeckt hatten, an eine tiefe Bucht gelangt, die sie zwang, sich dem mächtigen Berge bis auf kurze Entfernung zu nähern und dabei verschiedene Schneefelder zu überqueren, die zum Glück für die bereits recht ermüdeten Wanderer mit einer harten Kruste versehen waren, so daß man ein Versinken in einer verwehten Spalte oder einen Sturz in einen durch den Schnee nur lose überbrückten Abgrund nicht zu fürchten brauchte.

Jakobsen marschierte voraus. – Der Salzsack machte den Beschluß des kleinen Zuges, war aber auch der, der am meisten stöhnte und wehklagte und in gelegentlichen Ausrufen zu erkennen gab, daß er mit dem Leben abgeschlossen habe und keine Rettung aus dieser verzweifelten Lage erwarte. Selbst Jakobsens Mut und Zuversicht waren längst dahingeschwunden. Er beherrschte sich jedoch und ließ nur hin und wieder einen Seufzer hören, der seine innersten Gedanken verriet.

Der Schiffsjunge blieb der hoffnungsvollste. „Nur nicht verzagen,“ munterte er wiederholt die Gefährten auf. „Drei Tage haben wir Zeit! Es wird sich schon etwas finden, das uns Hilfe bringt!“

Zu allem Unheil verstärkte sich jetzt noch der bis dahin recht gelinde, wenn auch eisige Südwind und ließ die drei Unglücklichen bald vor Kälte, trotz der steten Bewegung und trotz der Pelzbekleidung, die noch [16] an Bord der Najade aus deren aus Fellen neben dem Golde bestehenden Ladung gefertigt worden war, bis ins innerste Mark erschauern. – Jakobsen hatte soeben geäußert, er schätze die Temperatur auf zehn Grad unter Null, und der dicke Schulk hatte darauf mit klappernden Zähnen gerufen: „Zwanzig Grad sind’s!“ als Karl plötzlich nach rechts abschwenkte und einem in einer Gletscherabzweigung dunkel gähnenden, großen Loche zueilte, das Jakobsen entgangen war. Bis jetzt hatte man nur hier und da Gletscherspalten angetroffen, die eine längliche Form besaßen, aber noch keine, die wie dieses Loch dort fast kreisrund war und dazu noch muldenartig ohne scharfe Ränder sich in die Tiefe des Eises hineinzog.

Um unseren jungen Freunden und Lesern das Folgende verständlicher zu machen, wollen wir hier ganz kurz einiges über die Entstehung der Gletscher oder Eisströme anführen. – Schneemassen, die nie zum Auftauen kommen, bilden infolge des Druckes in ihren unteren Teilen Eisschichten, die durch Vergrößerung der darüber lastenden Schneemasse ständig dicker werden. Liegen diese Eisschichten nun auf abschüssigem Boden, so setzt sich das ganze Eis- und Schneegemenge, sofern es eine bestimmte Dicke erlangt hat, infolge des Eigengewichts talabwärts in Bewegung. Die Bewegung ist natürlich nur eine sehr geringe, beträgt zum Beispiel beim Unteraargletscher jährlich etwa sieben Meter. Diese wandernden, mit einer Schneeschicht an ihren höchsten Stellen bedeckten Eismassen nennt man Gletscher. Erreichen sie nun bei ihrer Abwärtsbewegung einen Punkt, wo der Einfluß der Sonnenstrahlen größer ist als die dem Eisstrome entstrahlende Kälte, so schmilzt der Gletscher und eilt als Gletscherbach weiter zu Tal. Die Dicke solcher Gletscher ist sehr verschieden. So hat der Naturforscher Heim den 24 Kilometer langen und 1,8 Kilometer breiten Aletschgletscher auf eine durchschnittliche Dicke von 200 Meter geschätzt.

Nun zurück zu unseren drei Abenteurern.

Ein lauter Zuruf des am Rande des Eisloches [17] stehenden Schiffsjungen lockte die beiden Matrosen beschleunigten Schrittes herbei: Karl wies nun mit der Hand in die Tiefe des dunklen Schlundes, der einen Durchmesser von etwa fünf Meter hatte, und erklärte ganz aufgeregt:

„Ist es nicht mehr als merkwürdig, daß diese Öffnung in dem Gletscher nach oben zu sich trichterförmig erweitert und daß hier die Ränder dieses Kessels feucht sind, wo wir doch jetzt gegen Abend eine recht beträchtliche Kälte haben?! Deutet dies nicht darauf hin, daß aus diesem Loche warme Luft aufzusteigen scheint? – Und wenn dem so ist, Kameraden, – muß man daraus nicht weiter schließen, daß die Gesteinmassen, über die dieser Gletscher hier hinwegwandert, an dieser selben Stelle ebenfalls eine Spalte oder ein Loch haben müssen, dem die Wärme entquillt! Dürfte es sich daher nicht verlohnen, den Versuch zu wagen, ob wir diese seltsame Erscheinung ihrer wahren Ursache nach nicht vielleicht aufklären können?“

Inzwischen hatte Jakobsen sich bereits auf das milchige Eis des Gletschers lang hingelegt und den Kopf über den Rand des Trichters gestreckt.

„Ich höre dort unten ein Rauschen wie von fließendem Wasser,“ sagte er eifrig. „Karl, Du wirst wohl recht haben mit Deiner Vermutung! Gehen wir der Sache jedenfalls auf den Grund! Flink, dreht das Stück Segeltuch, das ich als Bündel schleppe, zu einem Strick zusammen! Ich bin der längste von Euch, vielleicht kann ich in das Loch hinabklettern. Die Wände sind voller Risse, in denen ich mich gut festhalten kann.“

Die Abenddämmerung war mittlerweile so stark geworden, daß man von den tieferen Teilen des Gletscherloches nichts wahrnehmen konnte. Der dicke Schulk warnte daher auch vor einem solchen Abstieg ins Ungewisse. Doch Jakobsen blieb bei seinem Entschluß, und gleich darauf glitt er an dem zusammengedrehten Segel, dessen eines Ende Schulk und der Schiffsjunge festhielten, abwärts, klammerte sich dann [18] – für einen Seemann kein allzu schwieriges Beginnen – in den Rissen und kleinen Spalten fest und entschwand bald den Blicken der oben am Rande Zurückbleibenden, die jetzt merkten, daß ihr Gefährte das primitive Tau losgelassen hatte und nur noch die Eiswand und ihre Vertiefungen als Stützpunkte benutzte.

Plötzlich drang dann des kühnen Kletterers rauhe Stimme aus der Tiefe des Loches, durch die Trichterform unheimlich verstärkt, den oben Harrenden überlaut in die Ohren.

„Jungens – hurra! Karl sei gepriesen! Hier gibt’s tatsächlich ein Felsloch, das sich sofort nach unten zu stark erweitert und offenbar schräg nach abwärts sich hinzieht. Ich habe mein Feuerzeug angezündet, das zum Glück gestern erst frisches Benzin erhalten hat. Das Gletscherwasser strömt hier als kleines Bächlein in die Tiefe, und – das fühle ich genau – gegen oben herrscht hier eine geradezu angenehme Wärme. Wartet – ich will weiter hinab in das Felsloch. Werft mir aber erst den Holzstiel des Beiles zu, das mit in dem Bündel sich befand, damit ich ihn als Fackel benutzen kann.“

Zehn Minuten verstrichen dann, – für die oben ungeduldig Harrenden eine wahre Ewigkeit.

Nun endlich – endlich wieder Jakobsens wie das Knarren einer Spiere klingendes Organ:

„Eine Höhle, Kameraden, eine große Höhle! Folgt mir! Rutscht getrost an der Trichterwand abwärts. Sie ist nicht so steil, daß Ihr Euch bei den sechs Meter Tiefe bis zu dem Beginn des Felsloches den Hals brechen könnt! Ich fange Euch außerdem auf!“

Selbst der etwas ängstliche Schulk wagte dann ohne Zaudern diese Rutschtour. Ihn lockte die Wärme, die dort unten herrschen sollte. Dem Beispiele Karls folgend, der mit den Hacken der Stiefel die Schnelligkeit des Abwärtsgleitens verringerte, indem er so seine Füße als Bremse benutzte, gelangte auch er wohlbehalten unten an, wo Jakobsen ihn mit starken Armen [19] packte. Karl hatte, bevor er selbst sich hinabgleiten ließ, das Bündel dem langen Matrosen zugeworfen. Daß sie es kaum noch brauchen würden, ahnten sie nicht. Sein Inhalt war ja das einzige, worauf sie ihre Hoffnung auf Rettung aufgebaut hatten durch die Möglichkeit, wenigstens ein paar Tage sich am Leben erhalten zu können.




4. Kapitel.
Was sie dort unten fanden.

Der Zugang zu der Höhle, die Jakobsen auf diese Weise entdeckt hatte, läßt sich am besten mit einer Röhre vergleichen, die am unteren, tiefer liegenden Ende offen ist und am oberen Ende in der Wandung eine zweite Öffnung hat.

In diesem Felsengange, dessen Boden mit dem Abflußwasser des Gletschers zum Teil bedeckt war, konnte ein Mann von Mittelgröße gerade noch aufrecht stehen. Die primitive Fackel, die erst zur Hälfte niedergebrannt war, spendete genügend Licht, um sich in diesem engen Tunnel zurechtfinden zu können. Jakobsen mit der Leuchte ging voran. Karl zählte die Schritte, um die Länge des Tunnels festzustellen, die er hiernach auf 14 bis 15 Meter schätzte. Die Abwärtsneigung des Ganges war recht beträchtlich; die Richtung, in der er verlief, eine südwestliche, also auf das Massiv des Kaiser Wilhelm-Berges zu: die Wärme der Luft nahm darin merklich zu.

Jetzt trat Jakobsen in die eigentliche Höhle ein, ließ die Gefährten an sich vorbei und hielt die Fackel ganz hoch, so daß man die nächste Umgebung überblicken konnte.

„Ihr seht,“ sagte der lange Matrose triumphierend, „wie umfangreich diese Grotte sein muß, deren Deckenwölbung von hier aus immer höher wird, während der Boden sacht abfällt. Und nun will ich Euch auch gleich das zeigen, was ich mir als besondere Überraschung aufgespart habe. Folgt mir. Es sind [20] höchstens dreißig Schritt bis dorthin.“

Wieder ging er voraus. Dann standen die drei vor einer kuppelförmigen Anhäufung von Steinen. Zwischen ein paar besonders schweren Felsbrocken dieses beinahe zwei Meter hohen Hügels war ein runder Pfahl festgeklemmt, an dem wieder ein viereckiges Brett befestigt war.

Jakobsen beleuchtete dieses Brett aus nächster Nähe. Und des Salzsackes und des Schiffsjungen Lippen entschlüpfte gleichzeitig ein lautes „Ah!“ der Überraschung.

Mit Recht, denn auf dieser roh zugeschnittenen Tafel war mit kleinen Nägeln ein viereckiges Stück Pappe angeheftet, und deutlich erkannten die beiden nun große, offenbar mit einer Lackfarbe hingemalte Schriftzüge in lateinischen Lettern.

„Na, Karl,“ meinte Jakobsen, „nun zeig’ einmal, was Du auf der Schule gelernt hast. Mir scheint, das hat ein Engländer geschrieben. Vielleicht kannst Du’s übersetzen. Es muß doch recht was Interessantes sein, denk’ ich mir, denn so ohne besondere Absicht wird wohl diese Tafel von den Leuten, die schon vor uns die Höhle hier entdeckten, nicht aufgestellt worden sein.“

Der Schiffsjunge nahm dem langen Matrosen schnell die bereits bis auf einen kurzen Stumpf niedergebrannte Fackel ab und hielt sie dicht an die beschriebene Pappe, die ohne Zweifel zum Schutz gegen Witterungseinflüsse mit Öl getränkt worden war.

„Wirklich – es ist Englisch!“ erklärte Karl eifrig. Und dann begann er langsam zu übersetzen:

„Ehrgeiz trieb mich, scheinbar nur als Robbenfänger nach den Südpolarländern mit meinem Schiffe Kolumbus aufzubrechen. Die Welt wollte ich dann mit den Ergebnissen meiner Forschungsreise überraschen. Als ich meiner Mannschaft hier auf der Heard-Insel meine wahren Pläne mitteilte, kam es zu einer Meuterei. Verführt durch den Schiffszimmermann, entschlossen sich[21] die Meuterer, mit dem Kolumbus in den malaiischen Gewässern Seeraub zu betreiben, und ließen den Kapitän, den Schiffsarzt und mich hier mit dem gesamten Dauerproviant und verschiedenen Werkzeugen und anderen Dingen zurück. Meine beiden Gefährten kamen bereits zwei Tage darauf durch Sturz in eine Eisspalte ums Leben. Ich selbst fand zufällig diese Höhle und schaffte eilends, da der Winter vor der Tür stand, die Lebensmittel und alles Übrige in diese Grotte, die sich in einer von mir nicht festgestellten Ausdehnung nach Süden zu hinzieht. Infolge der Aufregungen machte sich ein altes Herzleiden bei mir wieder sehr bemerkbar. Zwei Wochen weile ich nun hier in dieser unterirdischen Welt. Ich weiß, daß ich bald sterben werde. Jede Bewegung verstärkt den unruhigen Schlag meines kranken Herzens. Vielleicht findet jemand einst diese Aufzeichnungen und gibt dann meinen Angehörigen Nachricht. – Unter der Steinoberschicht dieses Hügels ruht alles das, was die Meuterer hier zurückließen.
Am 8. August 1888.
Doktor Harald Preabroce,

2. Astronom der Sternwarte in Greenwich,

Aberdyllstr. 18.“

Karl richtete sich wieder auf. Dann warf er den Rest der Fackel zu Boden. Sie drohte ihm die Hand zu versengen.

Und aus der tiefen Dunkelheit, die jetzt die drei Gefährten umgab, ertönte nun Schulks wehleidige Stimme hervor:

„1888! Dann sind die Lebensmittel längst verdorben!“

„Schapskopp!“ erwiderte der lange Jakobsen sofort, der nur Hochdeutsch zu sprechen versuchte, wenn er das Wort an den „gebildeten“ Schiffsjungen richtete. „Dauerproviant, dat sein doch Konserven, und die bliewen gaud (gut) bis man sie uppfretten dut.“

[22] Ein kleines Flämmchen zuckte auf. Karls Feuerzeug. Und Jakobsen schnitt nun hastig von dem Balken Späne ab, mahnte auch den bequemen Salzsack ihm dabei zu helfen. So gewann man in kurzem genügend Kleinholz für ein Feuer, bei dessen Schein die drei alsbald voller Eifer die Steine zu entfernen begannen und auf diese Weise ein geteertes Segel freilegten, das den Dauerproviant des durch die Meuterer seiner eigentlichen Bestimmung entgangenen Forscherschiffes bedeckte. Kisten, Tonnen, Ballen und leinwandverschnürte Pakete kamen zum Vorschein, auch eine große Blechkanne Petroleum, neben der eine Schiffslaterne stand.

„Hurra!“ rief Jakobsen und hob die Laterne hoch, schüttelte sie und fügte hinzu: „Der Behälter ist gefüllt! Her mit dem Feuerzeug, Karl!“

Die Laterne beleuchtete dann die freudige Tätigkeit der drei Gefährten, die ihren Fund nun genauer untersuchten. Da gab es Fleisch, Milch, Zucker, Kaffee, Tee, Zwieback, Mehl und anderes mehr in Zinkbüchsen, weiter verschiedene Instrumente und Waffen.

Der dicke Schulk bearbeitete gerade den Deckel einer Büchse Fleisch mit seinem Taschenmesser, als Jakobsen, der die Kisten etwas abseits getragen hatte, ausrief:

„Hier – hier liegt ein Gerippe. Kommt, seht. Es kann nur der Doktor Preabroce sein.“

Schweigend schauten die Gefährten auf die Gebeine dessen herab, der seinen Ehrgeiz mit einem einsamen Tode bezahlt hatte.

Dann machte sich Jakobsen daran, über den letzten Resten des englischen Astronomen die Steine des Proviantlagers in Hügelform aufschichten. Später zimmerte er aus Kistenbrettern ein Kreuz, stellte es zu Häupten des Grabes auf und malte mit einer aus Lampenruß und Petroleum gemischten Farbe den Namen des Doktors darauf. –

Das Leben unserer drei Seeleute in ihrer unterirdischen Welt nahm jetzt bald, da die Sorge um die Beschaffung der notwendigen Nahrung für lange Zeit [23] gebannt war, eine gewisse Regelmäßigkeit an, zu der Karl dringend geraten hatte, um die Langeweile und trübe Gedanken zu verscheuchen.

Nachdem sie sich aus dem Segel in einem Winkel der Höhle ein Zelt errichtet hatten, welches durch die Flammen eines in einer Kiste vorgefundenen Petroleumskochers leicht bis auf 14 Grad erwärmt werden konnte (die Temperatur in diesem vorderen Teil der Höhle betrug nämlich nur 5 Grad), und nachdem aus den Kisten ein Tisch und zwei Bänke hergestellt und die in den Ballen enthalten gewesenen Pelze die Polster für die Lagerstätten hergegeben hatten, nachdem die drei ferner durch Ausflüge in die tieferen Teile der Riesengrotte herausgefunden hatten, daß es sich hier um eine Höhle von etwa 60 Meter Breite und 12 Meter Höhe handelte, die sich nach Süden zu immer mehr verengerte und dann in einen mit Felsgeröll zunächst halb angefüllten breiten Tunnel überging, der gar kein Ende zu nehmen schien, wurde auf Karls Vorschlag für die Folgezeit ein Tagesprogramm eingehalten, das für den Vormittag zunächst längere Spaziergänge auf den Eismassen der Heard-Insel vorsah. Um bequemer in dem trichterförmigen Gletscherloche emporsteigen zu können und schneller an die Oberwelt zu gelangen, fertigte Jakobsen eine Leiter an. Bei diesen Spaziergängen nahmen die Gefährten stets die beiden gleichfalls in dem Magazin des Doktors vorgefundenen doppelläufigen Flinten mit, um vielleicht einmal am Strande der Insel eine Robbe erlegen zu können.

Für den Abend wieder hatte Karl allerlei Zerstreuungen vorgesehen, so zum Beispiel ein Dame-Spiel. Aus den Pappeinlagen der Zwiebackbüchsen hatte er Spielkarten gefertigt. Um das harmlose „Sechsundsechzig“ zu dreien reizvoller zu machen, wurde um Geld gespielt. Der dicke Schulk entpuppte sich hierbei geradezu als „Jeuratte“, wie man leidenschaftliche Glücksspieler wohl zu nennen pflegt. Verlor er ein paar Pfennige, war er stets recht schlechter Laune.

[24] Punkt zehn Uhr löschte Jakobsen, der ein wenig „das Familienoberhaupt“ hervorkehrte, regelmäßig das Licht aus. Im Dunkeln unterhielt man sich noch eine Weile, um Petroleum zu sparen. Diese Unterhaltung im Finstern war des dicken Salzsackes steter Ärger, da er sich für nichts anderes zu interessieren vermochte, als für den Küchenzettel des folgenden Tages, der stets am Abend vorher beraten wurde. Dies dauerte immer nur kurze Zeit, und dann wollte Schulk ungestört sich den weichen Armen des Gottes Morpheus, den ja die Griechen als den Beschützer der Ruhebedürftigen verehrten, anvertrauen, was Jakobsen besonders nie zuließ, da der Salzsack von Tag zu Tag rundlicher wurde und sein Appetit immer ungezügelter. – „Du wirst nächstens platzen, wenn Du so viel schläfst,“ warnte Jakobsen den Kameraden immer wieder. „Statt einer Entfettungskur, ist diese Verbannung nun für Dich die reine Mastkur geworden. Ich werde Dir für eine Woche das Fleisch entziehen, wenn Du Dich nicht besserst.“

Doch – Schulk änderte sich nicht. Sein Schnarchen mischte sich stets sehr bald in die Unterhaltung zwischen Jakobsen und Karl, die zu Beginn des fünften Monats dieses unterirdischen Daseins allen Ernstes den Plan besprachen, einmal in den langen Tunnel bis zum Ende einzudringen, und wenn sie dazu Tage brauchen sollten.

Schulk hielt dies Vorhaben von seinem Standpunkt aus natürlich für ebenso überflüssig, wie unnötig. Doch Jakobsen war anderer Ansicht. Der stete Verkehr mit Karl Wend, der zwar auf der Schule keineswegs zu den Strebern gehört, anderseits seine Allgemeinbildung jedoch durch eifriges Lesen und Selbststudium sehr erweitert hatte, war nämlich für den langen Matrosen insofern von großem Vorteil gewesen, als in ihm ganz plötzlich ein wahrer Wissensdurst und Bildungshunger geweckt worden war. Wenn er mit dem Schiffsjungen allein auf der Oberwelt am Strande entlangwanderte, mußte Karl ihm über alles mögliche Aufschluß geben, ja, geradezu [25] kleine Vorträge halten. Und abends wieder, sobald der Dicke ganz fest schlief, bat Jakobsen so und so oft den jüngeren Gefährten, ihm etwas aus den wissenschaftlichen Werken der gescheiterten Südpolarexpedition (in einer Kiste waren etwa 30 starke Bände enthalten gewesen) vorzulesen und zu erklären. So war es denn gekommen, daß Jakobsen sich dem dicken Schulk nun auch geistig weit überlegen fühlte und in entschuldbarem Stolz auch keine Gelegenheit vorübergehen ließ, dies ein wenig hervorzukehren. Deshalb sagte er denn auch eines Abends zu Schulk, als dieser den Plan, den Tunnel bis zu Ende zu verfolgen, als ein höchst zweckloses Beginnen hinzustellen suchte: „Du hewst (hast) nur wat fürs Freten (Fressen) öbrig (übrig), Soltsack. Wat mi angeiht (mich angeht), so bün ich ’n behten (bißchen) mehr fürs Höhere, min Jong. Wenn Korl un ich do in den Tunnel wat Besondres utfendig (ausfindig) moken (machen), so sein wi (sind wir) plötzlich grote Lüht (große Leute).“

Worauf der Dicke vor sich hin murmelte. „Hei (Er) is wörklich total öwerjeschnappt!“ –

Das Vorhaben der beiden wurde dann aber aus allerlei Gründen doch immer wieder hinausgeschoben. Monate vergingen. Bis plötzlich ein Ereignis eintrat, das dem Leben der drei Höhlenbewohner mit einem Schlage eine ganz neue Richtung gab.




5. Kapitel.
Der vierte Gefährte.

Am 24. September 1896 war’s. Also etwa ein Jahr nach der Landung der drei Deutschen auf der Heard-Insel.

Jakob Jakobsen und Karl hatten seit zwei Tagen die Oberwelt nicht mehr besucht, da droben auf See und über die Gletscherinsel hinweg ein Sturm getobt hatte, vermischt mit Schneetreiben, der den Aufenthalt im Freien unmöglich machte.

Als Jakobsen dann jedoch am 24. September früh [26] morgens die Leiter in dem Gletschertrichter emporkletterte, um nach dem Wetter Ausschau zu halten, lag strahlender Sonnenschein über der einsamen Insel, der bereits jetzt Ende September so viel Wärme spendete, daß der frisch gefallene Schnee alle Eile hatte, wiederaufzutauen und zu verschwinden.

Gegen acht Uhr vormittags finden wir dann den langen Matrosen und den Schiffsjungen auf einer Halbinsel vor, die sich weit nach Norden zu wie eine ungeheure Nadel, so schmal und spitzzulaufend, in das Meer hineinerstreckte, das sich bereits infolge der Windstille wieder vollständig beruhigt hatte.

Die beiden Gefährten waren gerade dabei, zwei große Robben zu beschleichen, die auf einer am Westufer der Halbinsel auf Strand geratenen Eisscholle lagen und sich sonnten. Es geschah nur sehr selten, daß Robben sich hier zeigten, und besonders des Schiffsjungen Jagdeifer war deshalb umso größer. Auf allen Vieren kroch er, stets hinter Eishügeln Deckung nehmend, einige Meter vor dem Matrosen auf die hohe Eisbarriere zu, die die Wogen am Ufer angehäuft hatten. Hinter diesem Walle hoffte er gut zum Schuß kommen zu können.

Karl hatte jetzt die Eisbarriere erreicht und schob seine Büchse vorsichtig in die richtige Lage, bog den Oberkörper noch tiefer und zog die moderne Hinterladerwaffe fest ein, zielte sorgfältig und –

Jakobsen sah, wie der Junge die Büchse wieder absetzte und plötzlich auf die Füße sprang, wodurch die Robben augenblicklich verscheucht wurden. Schwerfällig plumpsten sie von der Scholle ins Wasser und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Der lange Matrose wußte nicht, was er von diesem sonderbaren Benehmen Karls halten sollte, zumal dieser jetzt regungslos dastand und weit vorgebeugt unverwandt auf einen nördlicher gelegenen Punkt der Eisbarriere hinstarrte.

Ehe der Matrose aber noch durch einen Zuruf eine Erklärung für dieses seltsame Beginnen seines Gefährten fordern konnte, drehte jener sich schon nach [27] ihm um, winkte aufgeregt mit der Hand und wiederholte mehrmals mit voller Lungenkraft:

„– Ein Mensch – ein Mann – ein Mann!“

Gleich darauf hatten die beiden die Stelle erreicht, wo die Wellen des letzten Sturmtages einen Menschen auf eine flache Platte der Eisbarriere hinaufgeworfen hatten.

Der Mann lag mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht nach unten, da. Er war in einem Anzug von Robbenfellen gekleidet, hatte derbe Stiefel an und eine Fellmütze über die Ohren gezogen.

„Ein Opfer des Orkans,“ sagte Jakobsen leise. „Der Tote scheint ein Robbenschläger zu sein. Weiß der Himmel, wie er gerade an diese Küste in der jetzigen Jahreszeit gelangt ist. Vielleicht ist hier gar ein Robbenfänger gestrandet.“

Karl hatte zögernd die mit einer Eiskruste halb bedeckte Hand des Mannes ergriffen und in der Hoffnung, daß doch vielleicht noch Leben in dem regungslosen Körper sei, nach dem Puls gefühlt.

„Wahrhaftig – das Herz schlägt noch – ich fühle den Puls ganz schwach,“ rief er jetzt und kniete auf der Eisplatte nieder. „Da – kein Zweifel – der Mensch hier ist nicht tot, überzeugen Sie sich selbst, Jakobsen.“

Eine Viertelstunde später lag der Bewußtlose unten in der Höhle im Zelte der Gefährten auf weichem Fellager und wurde von dem langen Matrosen und dem Schiffsjungen mit groben Tüchern und einer Bürste so derb bearbeitet, daß die Haut bald feuerrot anlief. Trotzdem wollte der Ärmste nicht wieder zu sich kommen. Eine halbe Stunde lang hatten die beiden den nackten Leib des Mannes nun schon gerieben. Da verlangte Jakobsen von dem Dicken, der faul wie immer zuschaute, die Kanne mit Spiritus. Schulk reichte sie ihm, und wieder begann das Kneten und Reiben, jetzt aber ergänzt durch häufiges Anfeuchten der Haut mit Spiritus. Dies half. Zuerst kam’s nur wie ein Seufzen über des Ohnmächtigen Lippen. Dann hob sich die Brust in ein paar krampfhaften [28] Atemzügen. Und endlich schlug der Mann nun auch die Augen auf, stierte halb irr in das Licht der schräg über seinem Lager hängenden Schiffslaterne und dann auf seine neben ihm knieenden Retter.

„Den Tee her,“ kommandierte Jakobsen nun. Und der Salzsack griff nach dem bereitgehaltenen, dampfenden Getränk und flößte ganz geschickt dem gierig Schluckenden den Inhalt des Blechbechers ein.

„Jetzt heißt’s tüchtig schwitzen,“ meinte Jakobsen, hocherfreut über die bisherigen Erfolge der Wiederbelebungsversuche, und nickte dem Fremden aufmunternd zu. „Verstehen Sie mich – verstehen Sie deutsch?“ fügte er hinzu.

Der Gerettete nickte. Dann packte man ihn in vorher angewärmte Pelze, legte neben ihn erhitzte Steine und gab ihm nochmals Tee zu trinken, dem der lange Matrose vorher einige fünfzig Tropfen Pfefferminz aus dem Apothekerkasten des Forscherschiffes beigemengt hatte.

Vor Erschöpfung schlief der Unbekannte alsbald ein. Schon nach zehn Minuten zeigten sich auf seiner Stirn feine Schweißperlen, worauf Jakobsen erklärte: „Den haben wir über’n Berg!“

Abends war der Schiffbrüchige bereits fähig, seinen Rettern leise zu danken und ihnen die Hände zu drücken. Und dann – welch frohe Überraschung! – dann stellte sich heraus, daß er ein Landsmann war, ein Deutscher.

Jakobsen gestattete jedoch nicht, daß der neugierige Schulk den noch recht Schwachen über alles das, was es hier aufzuklären gab, ausfragte, riet dem neuen Gefährten vielmehr, ganz ruhig sich zu verhalten und flößte ihm dann etwas heiße Fleischbrühe ein, bei deren Zubereitung der dicke Koch wieder den Beweis geliefert hatte, daß sich aus Büchsenfleisch alle möglichen Gerichte herstellen lassen.

Am nächsten Morgen erst gab der jetzt schon ganz lebhafte Gerettete Aufschluß über seine Person und seine Erlebnisse. Daß er kein anderer als Peter Strupp war, werden unsere jungen Leser wohl schon [29] geahnt haben. Der Sturm hatte das Großboot mit unheimlicher Geschwindigkeit vor sich her getrieben und es unweit der vereisten Gestade der Heard-Insel gegen einen kleineren Eisberg geworfen, zertrümmert und den Insassen ins Wasser geschleudert, wo dieser vor Kälte sehr bald derart erstarrte, daß er die Arme nicht mehr zu Schwimmbewegungen benutzen konnte und, mit dem Leben abschließend, sich versinken ließ. Weiter vermochte er über den Abschluß seiner Fahrt nichts zu berichten.

Desto eindrucksvoller und aufregender war jedoch das, was er nun über seine Flucht von Bord des Sträflingstransportschiffes und über seine Abenteuer auf den Kerguelen erzählte. Dies alles kennen wir bereits aus dem Anfang dieser Erzählung.

Wie frohgestimmt waren jetzt Jakobsen und Karl, nicht minder auch der etwas selbstsüchtige Dicke, daß man gerade den Mann vom sicheren Tode des Erfrierens errettet hatte, der selbst ausgezogen war, um die Opfer des schurkischen Steuermanns zu befreien.

Nach weiteren drei Tagen hatte Peter Strupp seine frühere körperliche Frische und Leistungsfähigkeit wiedererlangt und nahm regsten Anteil an allem, was hier in der unterirdischen Welt der Heard-Insel geschah und geplant war.

Ganz allmählich, unmerklich und auch unabsichtlich ging auch die Stellung des Familienoberhauptes von Jakobsen auf den vielerfahrenen Strupp über, ohne daß der lange Matrose diesem deswegen irgendwie gegrollt hätte. – Und nun erst merkten die drei Gefährten infolge der Vorschläge und Neuerungen des früheren Legionsunteroffizieres, um wieviel anregender und praktischer sie sich ihre Daseinsführung hätten einrichten können und wie leichtfertig sie, was den Proviant anbetraf, gewirtschaftet hatten.

Strupps erste Sorge war nämlich gewesen, die noch vorhandenen Lebensmittel genau ihrer Menge nach festzustellen. Hierbei hatte sich ergeben, daß die Vorräte höchstens noch für zwei Monate reichten. Unter diesen Umständen mahnte Strupp zur größten [30] Sparsamkeit, da man ja nicht wissen könne, wie lange man noch auf der Heard-Insel werde ausharren müssen.

Kurz: In vielerlei Dingen machte sich der überlegene Geist Peter Strupps geltend, so auch bei der Behandlung der Frage, ob man den Felsengang seiner ganzen Länge nach durchforschen solle. Strupp stellte sich hierin ganz auf die Seite Jakobsens und Karls.

„Die Tatsache, daß die Temperatur in dem Tunnel ständig wächst,“ erklärte er eines Tages, „ist weniger wichtig als eine Beobachtung, die ich gestern gemacht habe, – daß durch den Tunnel von Süden nach Norden eine kaum merkliche Zugluft streicht, die – sonst könnten wir hier in dieser Grotte nicht hausen! – gute, reine und – warme Luft mitsichführt. Wie dies zu erklären ist, weiß ich nicht. Jedenfalls werden wir aber versuchen, uns hierüber Aufschluß zu verschaffen, indem wir alle vier den Felsengang, reichlich mit Proviant versehen, weiterverfolgen, bis er entweder ein Ende hat oder, was ich annehme, irgendwo ins Freie mündet, irgendwo – und dort dürften wir dann vielleicht wirklich Entdeckungen machen, die die ganze wissenschaftliche Welt in Staunen versetzen.“

Der Tag, an dem Peter Strupp diese prophetischen Worte sprach, war der 24. November 1896.

Am folgenden Tage, gerade um die Mittagsstunde war’s, als die Gefährten, die soeben mit der Mahlzeit fertig geworden waren, durch ein furchtbares Getöse erschreckt wurden, das aus der Trichteröffnung[2] des Gletschers zu ihnen hinabdrang. Auf eine Reihe von donnernden Geräuschen, die wie das Toben eines nahen Gewitters geklungen hatten, folgte eine ebenso bedrückende Stille. Als Strupp und Karl nun nach dem Gletscherloche eilten, um darin auf der Leiter emporzusteigen und sich zu überzeugen, was droben geschehen, fanden sie diesen Ausgang ins Freie durch ein enormes Felsstück und Steinschutt vollständig verstopft.

Ein Versuch, dieses Hindernis zu beseitigen, mißlang und brachte den nunmehr in der Höhle Eingeschlossenen die Überzeugung bei, daß ihre letzte Hoffnung, [31] das Licht der Sonne je wiederzusehen, nunmehr der Tunnel sei. Daher ließ Peter Strupp denn auch sofort mit den Vorbereitungen zu der endgültigen Durchforschung des Felsenganges beginnen.

Am 6. Dezember wurde dann aufgebrochen. Vorher aber stellte Peter Strupp an dem bisherigen Lagerplatz eine ähnliche Tafel auf, wie die drei Gefährten sie hier als letztes Lebenszeichen des ehrgeizigen englischen Gelehrten vorgefunden hatten. Die Aufschrift auf der Tafel aber lautete:

„Deutsche haben hier monatelang in dieser Höhle gehaust. Infolge einer großen, durch den über ihnen befindlichen Gletscher hervorgerufenen Gesteinverschiebung wurde der Ausgang nach der Oberwelt versperrt. Daher sind sie, um dem drohenden Tode des Verhungerns zu entgehen, in den allem Anschein ins Freie führenden Tunnel eingedrungen. Ob ihre Hoffnung sich erfüllen wird, auf diese Weise wieder diese unterirdischen Räume verlassen zu können, bleibt ungewiß. Im Vertrauen auf die Hilfe der Vorsehung, die der Menschen Geschick leitet, brachen sie am 6. Dezember auf. Leichtmatrose Jakob Jakobsen, Leichtmatrose Georg Schulk, Schiffsjunge Karl Wend, diese drei vom Frachtdampfer Najade, als vierter Peter Strupp, zuletzt Fremdenlegionär in Algier, dann später vom Transportdampfer „Präsident Loubet“ als nach Neu-Kaledonien bestimmter Sträfling entsprungen.“

Selbst der geistig doch sehr rege Schiffsjunge hatte zu dieser Erinnerungstafel, wie Jakobsen sie etwas spöttisch bezeichnete, zweifelnd den Kopf geschüttelt.

Peter Strupp jedoch wußte dieses sein Werk sehr gut zu verteidigen.

„Bedenkt,“ sagte er, „daß der verschüttete Zugang nach Jahren sehr wahrscheinlich durch den Gletscher selbst wieder geöffnet werden wird, indem die wandernde [32] Eismasse allmählich das Geröll und den Felsblock mit fortschaffen wird. Dann wird der über den Felsgang sich neu hinwegschiebende Eisstrom genau wie früher infolge der ausströmenden warmen Luft an derselben Stelle abermals ein trichterförmiges Loch erhalten. Der Zufall kann es nun immerhin mit sich bringen, daß jemand diese Öffnung bemerkt und genauer untersucht, gerade so wie Ihr drei dies getan habt. Dann wird dieser Jemand – es mögen auch mehrere Männer sein – die Tafel und die Inschrift hier entdecken und entweder selbst, falls wir bis dahin nicht in bewohnte Gegenden zurückgekehrt sind, nach uns forschen oder doch hierzu den ersten Anstoß geben. Gelehrte, denen der Tunnel interessant genug erscheint, seine Länge und seine Beschaffenheit näher zu ergründen, dürften sich bald finden, ganz abgesehen davon, daß es im deutschen Vaterlande sicher mitfühlende Herzen gibt, die nach unserem Verbleib und unseren weiteren Schicksalen bereitwilligst Nachforschungen anstellen wollen. – Die Tafel hat mithin einen sehr vernünftigen Zweck und ist keine bloße Spielerei von mir.“

Nach einer endlosen Wanderung, die leider Jakobsen und Schulk das Leben kostete, und nach mancherlei Abenteuern erwartete Peter Strupp und Karl Wend dann eine Überraschung, wie sie selbst die kühnste Phantasie sich vorher nicht hätte ausmalen können. Ein wahres Märchenland tat sich vor ihnen auf, ein Land, das seit langem die Sehnsucht vieler Forscher gewesen und das doch noch nie eines Menschen Fuß betreten hatte.

All dieses wird in den nächsten Heften dieser Sammlung ganz ausführlich erzählt.


Der nächste Band enthält:



Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.



Korrigierte Druckfehler der Vorlage (Wikisource)

  1. Vorlage: Abweichend von der Bildüberschrift auf Seite 1 fehlt hier das Komma
  2. Vorlage: Trichteröfnung