Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/Kriegsweihnachten an der deutschen Front

Die Gefechte um Flirey Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers
von Karl Müller
In deutschen Kriegslazaretten
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Kriegsweihnachten an der deutschen Front

Aus ferner Jugendzeit sind zwei Bilder in meiner Erinnerung haften geblieben. Das eine: Hinter einer verschneiten Waldecke weit drinnen in Frankreich glimmert und glitzert im Glanze einiger bescheidener Kerzlein ein einfaches Tannenbäumchen. Deutsche Krieger sind darum gelagert. Eine Feldwache. Bärtige Männer, Landwehrleute, sinnen an Frau und Kind im fernen deutschen Lande. Vor dem Walde hält der Posten treue Wacht, daß kein listiger Feind die Kameraden überrasche. Und das andere Bild: Im Prunksaale eines französischen Schlosses strahlt im blendenden Lichterglanze der reich geschmückte hohe Tannenbaum. Christbaumfeier am heiligen Weihnachtsabend. Auf dem Tische liegen die Gaben. In der Runde froher Kameraden [143] ertönt das Lied vom Tannenbaum. Und es kreist der Becher mit dem wärmenden Punsch. Draußen bei der Feldwache, drinnen im Saale feiern sie nach alter Sitte das deutscheste der deutschen Feste: Weihnachten.

Vor vierundvierzig Jahren war’s. Kriegsweihnachten 1870.

Als Kriegsweihnachten 1914 nahten, da tauchten die beiden Bilder vor den Augen des Kriegsberichterstatters auf und mit ihnen der Wunsch, Kriegsweihnachten an der deutschen Front zu feiern. Dank der gütigen Erlaubnis des Armeeoberkommandos, in dessen Bereich ich meine Tätigkeit zurzeit ausüben darf, ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Im Kraftwagen des Artilleriechefs im Stabe des Armeeoberkommandos, Oberstleutnants E. erreiche ich am 23. Dezember das etwa zehn Kilometer hinter der deutschen Front liegende Hauptquartier eines Armeekorps, wo ich dem kommandierenden General und seinem Stabe vorgestellt werde. Der General ist eine ernste, stattliche und eindrucksvolle Persönlichkeit. Aus seinen hellblauen klugen Augen leuchten Wohlwollen und männliche Entschlossenheit. Während der dienstlichen Besprechung zwischen dem Stabe des Generalkommandos und dem Artilleriechef des Armeeoberkommandos habe ich Gelegenheit, die Vorbereitungen zur Weihnachtsfeier zu besichtigen, die hier getroffen worden sind. Schon steht in der Nähe des Stabsquartiers ein Wäldchen von Tannenbäumen aufgepflanzt. [144] Das Innere der Dorfkirche ist mit Grün geschmückt, und vor dem Chore steht der große, reichgeschmückte Weihnachtsbaum. In großen Schuppen an der Dorfstraße liegen viele Tausende von Weihnachtspaketen aufgestapelt. Sechsunddreißigtausend von den Gebern selbst adressierte Pakete sind schon angelangt und werden verladen, zehn- bis fünfzehntausend werden bis morgen noch erwartet. Weitere siebentausend Pakete sind für Mannschaften bestimmt, die von Hause nichts zu erwarten haben. Kein Soldat im Armeekorps soll leer ausgehen. Ein besonders dazu kommandierter Offizier leitet das Verteilungsgeschäft. Vierzig Wagen stehen dafür zu seiner Verfügung. Einige sind schon hoch beladen zur Abfahrt bereit. Die Pakete enthalten allerhand nützliche und angenehme Dinge: warme Unterkleider, Rauchzeug, kleine Ausrüstungsgegenstände, süße Lebkuchen, die zu Weihnachten einmal Abwechslung bringen sollen in das tägliche Einerlei des Kaiserkuchens, wie die deutsche Soldatensprache das schwarze Kommißbrot bezeichnet. Viele Pakete enthalten auch eine Postkarte mit Weihnachtsglückwunsch des Gebers für den unbekannten Empfänger, nebst einer adressierten Antwortkarte, die für die Empfangsanzeige und Verdankung benützt werden kann.

Vom Hauptquartier des Generalkommandos an begleitet uns auf dem weiteren Wege der Artilleriechef im Armeekorpsstabe, Oberstleutnant F. Im Kraftwagen geht es weiter auf stark ansteigender [145] Straße bis zu einem von dunklen Tannenwäldern ringsumsäumten Dorf, das von Granatfeuer stark mitgenommen ist.

Das Gebiet, das wir durchfahren, ist wiederholt der Schauplatz von Kämpfen gewesen, von denen Soldatengräber allenthalben Kunde geben. Es war bald im Besitz der Deutschen, bald in dem der Franzosen gewesen, die aber in den letzten Wochen Schritt für Schritt zurückgedrängt worden sind. Immerhin erreicht ihr Artillerie-Fernfeuer noch mehrere von den Deutschen besetzte Dörfer. Im Sappenangriff hat die deutsche Infanterie einige Anhöhen genommen und ihre Schützengräben vorgetrieben. Beide Parteien nehmen eine abwartende Haltung ein. Die Artillerie wechselt auf beiden Seiten häufig ihre Stellungen, so daß hüben und drüben die Feuerstellung meistens unbekannt bleibt.

Bei der waldumkränzten Ortschaft verlassen wir den Kraftwagen und besichtigen zunächst den vom französischen Granatfeuer zerstörten Bahnhof und den zerschossenen Kirchhof, wo durch einschlagende Granaten Gruben ausgeworfen worden sind, so daß beinahe die Toten in ihrer Ruhe gestört worden wären. Eine Anzahl Steinkreuze und andere Grabmäler liegen zertrümmert am Boden. Im Dorf selbst sieht es übel genug aus, wenn es auch noch lange nicht einen so erschütternden Anblick bietet, wie viele völlig zusammengeschossene Dörfer in Französisch-Lothringen oder in der Woevre. Eine größere Anzahl Häuser [146] liegt in Trümmern oder ist durch Granatschüsse unbewohnbar gemacht. Jetzt, nachdem die Deutschen inzwischen bedeutend an Boden gewonnen und ihre Artilleriestellungen weiter vorgeschoben haben, liegt das Dorf außer dem feindlichen Schußbereich. Ein Teil der Einwohner ist wieder zurückgekehrt, und die deutsche Besatzung ist ungefährdet.

Von dem Walddorfe aus geht es zu Fuß durch schöne Waldwege auf einen hohen, bewaldeten Bergkamm. Unterwegs kommen wir an mehreren Stellungen, die in gedeckten Mulden für die schweren deutschen Haubitzbatterien gebaut worden waren, vorbei. Mächtige trichterförmige Gruben mit einem Durchmesser bis auf drei Meter geben Zeugnis von der Wirkung der französischen schweren Geschütze auf tote Ziele.

Der Aufstieg auf den Bergkamm ist für den Gebirgsfreund und Berggänger, der seit mehr als zwei Monaten an die lothringischen Niederungen gebannt war, ein Genuß. Wieder einmal Waldesrauschen und Tannenduft, in dem die Brust sich lüften kann. Seit gestern ist in dieser Höhenlage ein leichter Frost eingetreten, der die feuchten ausgefahrenen Waldwege besser gangbar macht. Einige Schneeflocken, die über Nacht gefallen sind, verleihen dem dunklen Tannenwald die echte Weihnachtsstimmung. Hinter dem Schleier des Dezembernebels zeichnet sich die Sonnenscheibe ab. Die Bergkuppe, die wir nach [147] einstündigem Steigen erreichen, bietet eine herrliche Rundsicht und gewährt einen weiten Aus- und Einblick auf das von Deutschen und Franzosen umstrittene Tal- und Berggelände. Auf dem Gipfel des Bergrückens ist eine Beobachtungsstation für die in der Umgebung liegenden schweren Fußbatterien eingerichtet. Zwei Scherenfernrohre sind, hinter Tannengrün verborgen, auf die feindlichen Artilleriestellungen gerichtet, dicht unterhalb des Gipfels steht, an den Hang gelehnt, eine von den deutschen Soldaten erbaute Blockhütte, die für das hier aufgestellte Wachtkommando recht wohnlich eingerichtet ist. Ständig liegt hier oben ein Offizier mit einigen Mann. Natürlich ist der Beobachtungsposten mit dem Kommando unten im Tale durch Fernsprechleitung verbunden, so daß das Feuer von dieser hohen Warte aus geleitet werden kann. Bei unserer Ankunft befindet sich eben der Führer des in dieser Gegend liegenden Fußartilleriebataillons, Major J., mit mehreren Batterieoffizieren oben. Die Lage wird an Hand des von einem der Offiziere, einem gewandten Zeichner und Maler, prächtig ausgeführten farbigen Panoramas besprochen. Dann und wann zerreißt ein Windstoß den Nebel und gewährt einen Blick in die tief zu unseren Füßen liegende schöne Landschaft. Eine friedliche bergfrohe Stimmung herrscht da droben, und schlüge nicht dann und wann der Kanonendonner an unser Ohr, so könnte man sich im tiefsten Frieden wähnen. [148] Hinter einer Batteriestellung in einer Mulde, die von den Franzosen stark beschossen worden war, wie die zahlreichen Einschläge zeigten, stoßen wir im Abstieg hinter dem Waldrande auf einige ganz eigenartige, in den Hang eingebaute Unterstände, die für die Bedienungsmannschaft der deutschen Batterie errichtet worden sind, um sie gegen das französische Granatfeuer zu schützen. Richtige Höhlenwohnungen, deren Wände mit Stroh- und Heumatten ausgepolstert und deren Decken zum Schutz gegen Einschlagen der schweren Granaten mit großen dicken Steinplatten belegt und bombensicher gemacht sind. Ein schmaler langer Tunnel dient als Notausgang und zugleich als letzter Zufluchtsort, im Falle, daß die Unterstände dem Feuer nicht standhalten sollten. Aufschriften wie: Zum roten Rübezahl und Zum lustigen Eskimo beweisen, daß der deutsche Soldatenhumor selbst im Hagel der schweren Granaten nicht ausgeht.

Im lebhaften Gespräche kommen wir bald bergab und in das Dorf zurück, von wo uns der Kraftwagen rasch wieder an den Ort des Stabsquartiers des Generalkommandos zurückbringt. Es war ein lehrreicher und anregender Weihnachtsfeiertag.


Am heiligen Weihnachtsabend wurde in der deutschen Front, soweit das mit dem Dienst vereinbar war, die Hauptfeier des Weihnachtsfestes begangen. Nicht überall. Vorne in den Schützenlinien [149] und vorgeschobenen Stellungen wird der Dienst mit erhöhter Strenge und Aufmerksamkeit betrieben. Man ist darauf gefaßt und vorbereitet, daß der Feind, im Wahne, die deutsche Gefechtsbereitschaft könnte etwa zu Weihnachten nachlassen, gerade diesen Festtag, der den Franzosen wenig sagt, zu einem kräftigen Angriffe wählt. Darum wird Weihnachten staffelweise gefeiert. Vorne in den Stellungen und Schützengräben regiert auch am heutigen Feste des Friedens Mars die Stunde. Wer am heiligen Weihnachtsabend im Schützengraben liegt, der feiert tags darauf Weihnachten im geschützten Quartiere oder Unterstande.

Am Nachmittag finde ich mich wieder im Hauptquartiere des Generalkommandos ein. Für die hier liegenden Truppen findet um halb fünf Uhr in der Kirche die Christbaumfeier statt. Die Kirche ist reich mit Tannengrün geschmückt. Vor dem Chor prangt ein mächtiger Weihnachtsbaum, dessen strahlende Kerzen den schönen Raum erleuchten. Mit den Soldaten hat sich auch ein Teil der einheimischen Bevölkerung zu der Feier eingefunden. Ein katholischer Feldgeistlicher hält vor der konfessionell gemischten Soldaten- und Bürgergemeinde eine ebenso gehalt- wie taktvolle Predigt, in der er unter anderm den Gedanken ausführt, der kommende Friedensschluß möge Deutschland nebst seiner äußeren Sicherheit auch den dauernden konfessionellen Frieden bringen. Ein ausgewählter, gutgeschulter [150] Soldatenchor umrahmt die Feier mit Weihnachtsliedern. Nach der kirchlichen Feier begeben sich die Offiziere und Soldaten in das Schulhaus, wo die Bescherung der Mannschaften, die Verteilung der überreich eingegangenen Weihnachtsgaben stattfindet. Zwei Christbäume verbreiten auch hier Licht und Glanz. Der kommandierende General hält eine kurze Ansprache, die mit dem dreifachen Hoch auf den Kaiser schließt. Hierauf begeben sich die Offiziere zum Weihnachtsmahle in ihr Kasino, das einfache Dorfwirtshaus, dessen Schild daran erinnert, daß hier gute Jagdgründe sind. Der niedere Raum, der fast über und über in Grün prangt und mit Girlanden, Bändern und Tannenbäumchen sinnig ausgestattet ist, bietet ein sehr trauliches Heim.

Begleitet von Oberstleutnant F. dem Artilleriechef im Generalkommando, setze ich meine Reise an die Front fort. In der Abenddämmerung erreichen wir das Dorf, von dem aus wir gestern auf den Bergkamm emporgestiegen sind. Bald tritt völlige Dunkelheit ein. Oberstleutnant F. gibt dem Führer des Kraftwagens den Befehl, die Lichter zu löschen und langsam zu fahren. Das Lichterlöschen ist eine durch die Erfahrung aufgenötigte Vorsichtsmaßregel, denn wir kommen jetzt in Sicht und Schußbereich der französischen Granaten, denen ein im Scheine der Laternen auf der Landstraße fahrender Kraftwagen ein erwünschtes Ziel wäre. Das langsame Fahren aber nötigt sich auf, weil jetzt bei der Dunkelheit [151] der militärische Fuhrwerksverkehr zwischen der Front und den rückwärtigen Etappenorten auf der in zahlreichen scharfen Kehren sich hinziehenden Bergstraße beginnt. Kolonnen von Proviant- und Munitionsfuhrwerken, die zum Fassen von Lebensmitteln und Munition zurückfahren, begegnen uns. Zuweilen beschießen die Franzosen des Nachts die unter ihrem Feuer liegenden Straßenstrecken aufs Geratewohl, wenn sie das Geräusch fahrender Fuhrwerkkolonnen hören. Gestern und heute freilich verhält sich ihre Artillerie auffallend ruhig, sei es, daß sie sich von dem vorgestern hier abgeschlagenen Angriff noch nicht erholt hat, sei es, daß ein Hauch von Weihnachtsstimmung auch sie hindert, den heiligen Abend durch Gefechtslärm zu stören.

An einer Waldecke, wo ein holperiger Feldweg zum nächsten Dorfe abzweigt, macht der Kraftwagen Halt und kehrt. Ich verabschiede mich von meinem bisherigen Begleiter und begebe mich in die Obhut eines Ordonnanz-Offiziers des Artillerie-Obersten Z., des Kommandeurs des in diesem Abschnitt stehenden schweren Fußartillerie-Regiments, bei dem ich heute und morgen zu Gaste geladen bin.

In der Kirche des französischen Dorfes, das wir bald erreichen, wird deutsche Weihnacht mit Christbaum und Predigt gefeiert. Auch die französische Bevölkerung hat sich teilweise zu der Feier eingefunden.

Außer dem schon genannten Artilleriestabe haben hier noch Infanteriestäbe und die Mannschaft [152] einer Fußbatterie Quartier bezogen. Ein bärtiger Landwehrmann hat das kleine Kindlein seiner französischen Quartiergeberin auf seinem Arme in die Kirche getragen und hält es hoch empor, damit es auch den Lichterschein schaue, und die jungen schwarzbraunen französischen Äuglein leuchten erstaunt ob der niegeschauten Pracht. Und die französischen Frauen, Buben und Mädel, die mit den deutschen Soldaten in die Kirche geströmt sind, lauschen den fremden Lauten der deutschen, von den Wänden ihrer Kirche widerhallenden Weihnachtslieder. Wenn sie auch die Worte der Lieder nicht verstehen, so ahnen und fühlen sie doch vielleicht etwas von dem beseligenden Hauch, der über dem deutschen Weihnachtsfeste weht. Der protestantische Feldgeistliche, der hier die Weihnachtspredigt hält, fordert die Soldaten auf, Weihnachten fröhlich zu feiern, aber bei aller Lust derer nicht zu vergessen, die zu Hause in Trauer und Kummer sind, ein Mahnwort, das gewiß hier auf fruchtbaren Boden fällt. Haben doch die meisten dieser Krieger selber Weib und Kind zu Hause verlassen.

Die in ihrer Art schönste, rührendste und innigste Weihnachtsfeier stand mir aber erst noch bevor. Mein neuer Begleiter teilte mir mit, daß die im nächsten Nachbardorfe untergebrachte Fußbatterie aus dienstlichen Gründen ihre Feier etwas später abhalte, und wir noch rechtzeitig genug hinkämen, um an ihr teilzunehmen. Der Batteriechef, der mit der Schweiz in nahen Beziehungen stehe und [153] von meiner Ankunft gehört habe, würde sich über meinen Besuch freuen. Wie gerne nahm ich die Einladung an. Als wir das Dorf erreichten, war die Batterie schon zu der Feier versammelt auf dem ausgeräumten Heuboden einer alten Scheuer. Herzlich wurde ich vom Batteriechef Hauptmann von P. begrüßt. Staunend schaute ich mich um: die Heubühne war in einen Festraum verwandelt, der an sinnigem Schmuck und weihevoller Stimmung den Kirchenräumen nicht nachstand. Der ganze Raum prangte im Tannengrün, die Lichter des prachtvollen großen Tannenbaumes spendeten eine mäßige Helle. Auf einem erhöhten Boden stand ganz im Tannenreis verborgen ein altes Klavier. Hier hatte auch der Festchor Platz genommen, der durch seine Lieder und Musikvorträge der Feier die rechte Weihe gab. Das Programm dieser eigenartigen Weihnachtsfeier, das mir der Hauptmann zum Andenken überreichte, enthielt neben Klaviervorträgen, einer Ansprache des Batteriechefs und der Gabenverteilung auch etliche Doppelquartette, darunter das Lied Stille Nacht, heilige Nacht, das an dieser Stätte und in diesem Kreise eine bezaubernde Wirkung ausübte. Die Stimmung der Festgemeinde, die aus bayrischen Soldaten bestand, war gedämpfte Fröhlichkeit. Ein Fäßlein bayrisch Bier hatte seinen Weg bis hierher in die Front gefunden.

Mit herzlichem Dank verabschiedete ich mich von der Batterie, um mein Quartier zu beziehen. [154] Hier fand ich bei meinem Gastgeber, dem bayrischen Artillerieobersten Z. und seinem Stabe eine nicht zu überbietende Kameradschaft, so daß ich in dem Kreise recht bald heimisch wurde. Lange bis über Mitternacht hinaus saßen wir beisammen in dem Pfarrhause des Ortes, wo der Oberst und sein Stab untergebracht sind. Auch ein Tannenbäumchen wurde angezündet, und die Offiziere zeigten mir die kleinen Geschenke, mit denen sie sich und den Obersten bedacht hatten, und der humorvolle Oberst erklärte mir selbst mit fröhlichem Lachen die kleinen harmlosen Scherzgeschenke, die seine Untergebenen ihm überreicht hatten. Die Stabsordonnanz, die uns das Weihnachtsessen zubereitet hatte, wurde mir als der frühere Requisitenverwalter des St. Galler Stadttheaters vorgestellt und freute sich nicht wenig, etwas aus der Schweiz zu hören. Unter Musik und munteren Gesprächen schwanden die Stunden bald dahin. Der Oberst, ein stämmiger Bayer von starker hoher Gestalt, erzählte mir von den schweren, verlustreichen Kämpfen in den heißen und schönen August-, September- und Oktobertagen, während denen er mit seinem Stabe einmal fünf Wochen lang nicht aus den Kleidern und ins Bett gekommen, wie oft sie in Todesgefahr gestanden, wie gleichgültig man gegen die Gefahr werde. Er ist des Lobes voll über die Aufopferung, Pflichttreue und Tüchtigkeit der Offiziere seines Regiments, der aktiven wie der Reserveoffiziere und nicht minder über den guten Geist, der seine ganze Truppe [155] beseelt, jeder Mann suche sein Bestes zu leisten und erfülle seine Pflicht. Der Oberst erzählt mir auch, daß der französische Ortspfarrer, der im übrigen eine kühle Zurückhaltung beobachtet, ihm seine Bewunderung über die Frömmigkeit der deutschen Truppe, über ihren Anstand und ihre gute Sitte ausgesprochen habe.

Bis nach Mitternacht saßen wir wie alte gute Kameraden fröhlich beisammen. Der Christabend 1914 an der deutschen Front wird mir unvergeßlich bleiben.


Hinter dem Pfarrhause von ..., wo ich die Weihnacht verbracht habe, plätschert ein Brunnen. Bei meinem Erwachen in der Morgenfrühe des Weihnachtstages tummeln sich halbnackte Gestalten vor dem Fenster meines Zimmers herum, bayrische Artilleristen, die trotz der Kälte von zwei Grad unter dem Gefrierpunkt mit dem entblößten Oberkörper zum morgendlichen Waschen gehen. Nach dem Frühstück ist protestantischer Gottesdienst in der Kirche. An die zweihundert deutsche Soldaten hatten sich dazu eingefunden. Der Feldgeistliche hielt eine kurze und gute, einfache Predigt, ohne Phrasenschwall und ohne Überschwang. Den tiefsten Eindruck hinterließ mir der einstimmige Gesang dieses zweihundert Mann starken deutschen Kirchenchors. Sie sangen zwei Chorlieder, ohne Vorbereitung, aber der letzte Mann stimmte kräftig ein, ohne Noten und ohne Textbuch. [156] Am Schlusse sangen diese fast ausnahmslos bärtigen, wetterfesten, in fünf Kriegsmonaten abgehärteten, doch nicht verhärteten Männer, die dutzendmal dem Feind Verderben entgegengeschleudert, die dutzendmal dem Tode ins Auge geschaut, mit ihren rauhen Stimmen das alte, ewig junge Weihnachtslied O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.

Sie sangen es mit Kraft und Inbrunst, es wehte etwas wie Reformationsluft durch die französische Kirche. So stelle ich mir die glaubensstarken Gemeinden aus der Zeit des niederländischen Freiheitskrieges vor, aus dem uns so manche herrliche, alte Weise überliefert ist. Der Geist eines der Größten unter den Deutschen aller Zeiten ging durch den Raum, der Geist Dr. Martin Luthers, von dem das Wort stammt: Ein Mensch, sonderlich ein Christ, muß ein Kriegsmann sein und mit den Feinden in Haaren liegen. Ein Wort wie geprägt auf die heutige Zeit.

Ob gläubig, ob ungläubig, kein Mensch von Gefühl und gesunden Sinnen entzieht sich dem starken Eindruck einer aufrechten und aufrichtigen rauhen Kriegsfrömmigkeit. Jener Kriegsfrömmigkeit, welche die Heere der alten Eidgenossen wie die des großen Schwedenkönigs begeisterte und zum Kampf und Sieg führte, die in den Liedern der Sänger der deutschen Befreiungskriege, eines Ernst Moritz Arndt, eines Theodor Körner, eines Max von Schenkendorf widerklang, die am Abend des 6. August 1870 über [157] das blutige Schlachtfeld von Wörth ging, als der Choral Nun danket alle Gott von Regiment zu Regiment weiter und weiter tönte und die heute wieder in den Gesängen des deutschen Heeres ihren Ausdruck findet. Kein Bachsches, kein Händelsches Kunstwerk kann in mir den Eindruck überbieten, den der einstimmige Massenchor der deutschen Soldaten am Weihnachtstage 1914 in der französischen Kirche des abgelegenen Waldtales erzielte.

In einer Ecke der Kirche saß schüchtern ein französisches Mütterchen mit ihrem zehnjährigen Söhnlein. Sie hörte Predigt und Gesang. Verstand kein Wort deutsch. Was mag sie in die Kirche in den deutschen Gottesdienst geführt haben? Sie stand wohl noch im Banne der Christbaumfeier, die sie abends vorher bei den deutschen Soldaten mitgefeiert.

Nach dem Gottesdienst wurde ich dem hier kommandierenden Brigadekommandeur, Generalleutnant K. und seinem Stabe vorgestellt. General K. gleicht äußerlich einem deutschen Gelehrten und erinnert mich in Gestalt und Gesichtszügen und besonders auch in seiner Ausdrucksweise und Stimme stark an unsern trefflichen verstorbenen Obersten Rudolf, den früheren schweizerischen Oberinstrukteur und Waffenchef der Infanterie. Der General bespricht mit dem Kommandanten der Fußartillerie, dem Artillerieobersten Z., dessen Gast ich bin, den Weg, auf dem ich am Nachmittag in die vorderen Linien der [158] Front geführt werden soll. Beim Abschied kommt eben auch der Divisionskommandeur, General R. angeritten, dem ich ebenfalls vorgestellt werde. Er trägt einen alten polnischen Namen, scheint voll Temperament und guter Laune und ein leidenschaftlicher Reiter zu sein.

Begleitet von einem Offizier und einem Mann mit geladenem Gewehr, steige ich am Nachmittag einen Berg hinan, der mit Ginstergesträuch und jungem Tannenwald bewachsen ist. Nach einer etwa anderthalbstündigen Wanderung erreichen wir das Stabsquartier des Obersten V., dessen Infanterie-Regiment diesen Abschnitt besetzt hält. An einem steilen Waldhang, zu dem eine von den Pionieren gebaute Treppe hinaufführt, bewohnt der Oberst, abgeschieden von der Welt, mit seinem Adjutanten und einigen Mann seine Klause. Er ist eine schöne, geschmeidige Soldatengestalt, eine richtige Reiterfigur, aber auch ein gewandter Bergsteiger, was in dieser Berggegend noch wichtiger ist, schlank und hager. Von herzgewinnendem Wesen. Seine Wohnung, ein in den Waldhang ein- und gut ausgebauter Unterstand, ist recht wohnlich eingerichtet, als Bettstellen dienen ihm und dem Adjutanten zwei einfache Holzgestelle, wie man sie in unsern Alphütten sieht. Aber es fehlt nicht an Matratzen und Decken und sauberem Linnenzeug. In der Ecke spendet ein eiserner Zylinderofen, den die Heeresverwaltung geliefert hat, eine angenehme Wärme. Auch die benachbarten Mannschaftsunterstände sind recht [159] gemütlich eingerichtet und ausgepolstert. Überall, in den Mannschaftsräumen so gut wie in den Offizierswohnungen, steht ein Weihnachtsbaum, und die Weihnachtsgaben sind auch in diese entlegenen Quartiere gelangt. Oft finde ich unter dem Tannenbaum die Bilder der lieben, fernen Familienangehörigen, der Frau und der Kinder oder der Eltern aufgestellt.

Nach kurzem Halt geht es weiter über Berg und Tal. Rüstigen, leichten Schrittes schreitet Oberst V. als Führer auf dem schmalen Wald-Pfade voran, ich folge als zweiter der Kolonne. Unterwegs besichtigen wir verschiedene Höhlenwohnungen, Unterstände und Stellungen, die zum Teil noch im Bau sind. Heut, am Weihnachtstage, ist die Arbeit eingestellt, sonst wird von den Leuten, die nicht Dienst im Schützengraben haben oder sonst unter den Waffen stehen müssen, fleißig an der Verstärkung und Verbesserung der Werke und an der Neuerstellung von Unterkunftsräumen, Zufahrtswegen, Entwässerungen, Schutzbauten, Treppen und Maskierungen gearbeitet. Eine Anzahl Pioniere ist dem Regiment zugeteilt, das im übrigen im Offizierkorps mehrere Techniker zählt, die derartige Bauten zu leiten verstehen.

Hinter einem Waldrande orientiert mich der Oberst über die Stellungen. Wir sind jetzt den vordersten Linien nahe, dann und wann hören wir einige Schüsse fallen. Mit dem Feldstecher kann ich deutlich über ein Tälchen hinweg französische [160] Unterstände entdecken. Das Artilleriefeuer schweigt heute fast ganz.

Wir steigen in einen einsamen Talgrund hinab, in dem versteckt ein Weiler liegt. In den Häusern ist eine deutsche Infanterie-Kompanie untergebracht, als Reserve oder Ablösung der weiter vorne am Berghang in den Schützengräben liegenden Besatzung. Oberst V. besucht mit mir verschiedene Unterkunftsräume. Überall, in den Quartieren, in ihrer Umgebung, auf den Parkplätzen herrschen tadellose Ordnung und Reinlichkeit. Auch hier steht in jedem Quartier der Christbaum, und jeder Mann hat sein Weihnachtspaket erhalten. Der Oberst stellt mich überall als Schweizer vor, und manchmal meldet sich dann einer, der vor dem Kriege in der Schweiz in Stellung gestanden hat und gerne ein Wort mit mir wechselt. Auch der Revierkrankenstube wird ein Besuch abgestattet. Dort liegen nebst einigen Revierkranken mehrere Leute, die gegen Typhus geimpft worden sind. Auf dem Tische brennt unter einem Apparat die Spirituslampe, hier wird der Impfstoff gebraut oder zum Gebrauche zugerichtet. Die Frage, ob hier Typhusfälle vorgekommen seien, wird mir verneint. Die Typhusimpfung wird aber als Vorbeugungsmaßnahme im ganzen Heere durchgeführt.

In und vor den Wohnungen treffe ich die deutschen Soldaten im freundlichsten Verkehr mit den französischen Dorfbewohnern. Der Oberst [161] gestattet mir ohne weiteres, mich mit den Bewohnern zu unterhalten, ja er zieht sich, um das Gespräch durch seine Anwesenheit nicht zu beeinflussen und die Unbefangenheit der Leute nicht zu beeinträchtigen, zurück, wenn ich mich mit ihnen bespreche und läßt mich mit den französischen Bewohnern allein verkehren. Da treibt sich ein zwölfjähriger Junge herum und macht sich im Park, bei den Zugpferden und in der Feldküche zu schaffen, wo die Gulaschkanonen, mit Tannenbäumen geschmückt, aufgepflanzt sind. Gulaschkanonen, so nennt der Soldatenwitz die Feldküchen, die bei heruntergeklapptem Rohre eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Geschütz haben. Ich frage den jungen, schwarzhaarigen Franzosen, ob er sich denn mit den deutschen Soldaten verständigen könne. 0h, je comprends déjà quelques mots, antwortet er. Seine Mutter, die mit einem zweijährigen Kinde auf dem Arme daherkommt, antwortet mir auf die Frage, wie sie mit den in ihrem Hause untergebrachten Soldaten auskomme: 0h, ils sont très gentils, und sie versichert mir wiederholt, wie anständig der Verkehr mit ihnen sei. Ihr Mann ist gleich nach der Mobilmachung als Soldat der Territorialarmee eingezogen worden. Seit dem August hat sie keine Nachricht von ihm, fügt sie bei. Und die Tränen stürzen ihr in die Augen. Oh, la guerre, la guerre, quand finira-t-elle? fragt sie und erwartet wohl von dem Schweizer eine tröstliche Zusicherung, und ich kann ihr doch [162] nichts weiter bieten, als den Rat, sie solle Hoffnung und Geduld nicht verlieren.

Ils sont bien gentils, bien gentils. So lautet die Auskunft überall, wo ich anfrage. Nur ein altes Weib mit einer spitzen Nase und einem bösen Blicke, das ich beim Brunnen vor ihrem Hause ansprach, beantwortete meine Frage nach dem Benehmen der Deutschen mit den Worten: Au commencement, ils étaient méchants. Et maintenant? frage ich weiter. Oh, maintenant, ça va mieux.

In dem eine halbe Stunde von dem Weiler entfernten Pfarrdorfe, wo wir später auf dem Heimweg vorbeikamen, besuchten wir ein Haus, in dem an die zwanzig Soldaten einquartiert waren. Sie saßen, als wir ankamen, in der Stube und sangen, die Familie aber, mehrere Frauen und Kinder, waren in der Küche um den Tisch herum versammelt und tranken ihren Kaffee. Eine anmutige Französin im Beginn der zwanziger Jahre, ein bildschönes Mädchen mit einem Augenpaar, aus dessen schwarzem Gefunkel Stolz und Würde sprachen, schien die Regentin dieses Familienkreises zu sein, sie führte das Wort, und die Soldaten, die aus- und eingingen, begegneten ihr mit großer Achtung. Ich frage auch hier nach dem Betragen der Soldaten, und sie antwortet lebhaft und nicht ohne Wärme: Oh, ils sont très aimables, très convenables. Dann klagte sie mir, wie groß die Not im Dorfe eine Zeitlang gewesen, als es bald von französischen, bald von deutschen [163] Truppen besetzt war. Die Lebensmittel waren ausgegangen, es fehlte an Brot, an Kartoffeln, denn die Ernte konnte nicht eingebracht werden, die Kartoffeln faulen noch heute im Boden. Seitdem die Franzosen auf ihre jetzigen Stellungen zurückgeworfen und die Deutschen im unbestrittenen Besitze des Dorfes sind, ist die Lebensmittelversorgung der Bewohner, wie überall, wo deutsche Truppen französische Gebiete besetzt haben, geordnet. Lebensmittel werden durch die Heeresverwaltung herbeigeschafft und an die Bevölkerung abgegeben. Maintenant, nous avons à vivre, les soldats partagent leur pain avec nous, sagte die schöne junge Französin. Il paraît que ce ne sont pourtant pas des barbares, bemerke ich, und sie antwortet mit Leidenschaft: Non, certainement pas, monsieur. Mais vous savez, c'est la guerre, qui excite tant les âmes des gens qu'ils se médisent, qu'ils se calomnient.

IV

Über dem Weiler im Talgrunde, zu dem wir von dem Waldquartier des Regiments-Kommandeurs Oberst V. herunter gestiegen waren, erhebt sich auf der anderen Seite eine einhundertzwanzig Meter hohe, waldige Bergkuppe, die von den Deutschen in hartem Sappenangriff den Franzosen abgerungen worden ist. Bevor wir den stillen Ort verlassen und den Berg hinansteigen, führt mich der Oberst noch zum Kriegerfriedhof, der auf einer Wiese am Dorfrand angelegt worden ist. [164] Die Gräber sind mit frischen grünen Kränzen geschmückt. Eine überaus stimmungsvolle Stätte ist dieser Friedhof im entlegenen Waldtale. Mir kommen die Verse in den Sinn, die Fr. Forster vor Jahrzehnten in einem Gedicht zu einer Gedächtnisfeier des Aufrufs der Freiwilligen vom 3. Februar 1813 verfaßt hat:

Ein Kirchhof liegt gebreitet, Keine Mauer faßt ihn ein, Keine Hügel sind bereitet Mit hohem Leichenstein. Der Pflüger pflügt darüber Und fragt nicht nach dem Grab. Der Wandrer zieht vorüber, Schaut nicht auf euch hinab.

Nahe am Soldatenfriedhof steht ein stattliches Haus, in dem Soldaten einquartiert sind. Davor ein Brunnen, dem ein breiter Wasserstrahl entquillt. Ein breitschulteriger Soldat, nackt bis auf die Hüften, die Hosen weit über die Knie aufgestülpt, stürzt heraus über den gefrorenen Boden und nimmt sein Weihnachtsbad. Dort der Tod, hier das gesundheitstrotzende Leben.

Wir schreiten den Berg hinan. Im Walde, dicht am Rande liegen noch vier Gräber. Das eine davon ganz frisch. Vorgestern haben sie hier einen braven Pionier zur Ruhe bestattet. Eine französische Granate hatte ihn in einem Unterstand erschlagen. Von den sechs Mann, die darin lagen, wurden drei mehr oder weniger schwer durch Granatsplitter verwundet, zwei verschüttet, [165] aber noch lebend ausgegraben, einem, dem Pionier, wurden beide Beine weggerissen, so daß er verblutete. „Er war ein guter Soldat,“ sagt Oberst V. „Es trifft immer die Besten. Drunten auf dem Friedhof am Dorfrande liegt auch ein Unteroffizier, es war ein trefflicher Soldat. Wochenlang hat er sich darauf gefreut, daß endlich der Angriff auf den Berg beginne. Da war er der erste, der dabei fiel.“ Der Oberst läßt nun die Toten, statt auf dem Friedhof am Dörfchen, im Walde beerdigen, damit die Leute sich weniger beunruhigen. Ein Waldfriedhof von unbeschreiblicher Schönheit. Auch diese Gräber sind mit Tannenreis, mit Weihnachtsbäumchen, mit Efeu und Stechpalmenkränzen, aus denen die roten Beeren hervorleuchten, reich geschmückt.

Wir besichtigen jetzt den Sappenangriff. In zweiwöchiger harter Arbeit wurde die Bergkuppe den Franzosen abgerungen. In dem dichten Unterholz lagen die französischen Schützen versteckt und beschossen jeden Mann, der sich zeigte. Ein Vortragen des Angriffs war nur mit der Sappe möglich. Im Schutze des nächtlichen Dunkels setzte sich zuerst eine deutsche Schützenlinie am Berghange fest. Jeder einzelne Schütze schürfte den steilen, steinigen, wurzelreichen Waldboden des Hanges an und schaffte sich so eine Deckung, so gut es ging. In einer der folgenden Nächte schlich die Schützenkette zehn bis zwanzig Meter vor, schürfte wieder und suchte hinter der aufgeworfenen Erde Deckung. Deutlich [166] sind diese stufenweise ausgehobenen Stellungen noch zu erkennen. So wurden die Franzosen Schritt für Schritt den Berg hinauf zurückgedrängt. Die Wegnahme der oberen Hälfte des Berges aber gelang nur im planmäßigen Sappenangriff, den wir jetzt im Aufstieg genau verfolgen können. Da wurde zunächst ein erster Schützengraben erstellt, von hier aus ein Annäherungsgraben schräg aufwärts vorgetrieben, ein zweiter Schützengraben ausgeführt und besetzt. Von hier aus wurde die Arbeit in gleicher Weise fortgesetzt, wieder zuerst mit einem Annäherungsgraben, der im Zickzack aufwärts führt und von dem aus nach beiden Seiten hin der dritte Schützengraben ausgehoben und besetzt wurde. Nun kam die Entscheidung um den Besitz des Berges. Als die Franzosen bemerkten, wie die Deutschen Stufe für Stufe in systematischer Sappenarbeit vorrückten und sich in den Gräben gedeckt einnisteten, begannen sie von der jenseitigen Seite des Berges ebenfalls Schützen- und Laufgräben vorzutreiben, um den Deutschen zuvorzukommen. In diesem Wettgraben kamen die harten deutschen Fäuste zuvor. Ihr Laufgraben erreichte die Bergspitze zuerst. Bis auf acht Meter waren die Franzosen herangekommen, als die Deutschen oben erschienen und die mit einer Felsenburg gekrönte Bergspitze in Besitz nahmen. Es ist eine ungeheure Arbeit, die hier unter dem feindlichen Feuer geleistet worden ist. Nicht mehr als zwei Mann konnten gleichzeitig im Annäherungsgraben [167] arbeiten. Der eine pickelte, der andere schaufelte und warf die Erde rechts und links als Deckungswall auf. Dabei mußte äußerste Vorsicht beobachtet werden. Mancher Pickel und mancher Spaten wurde mit einem französischen Geschoßeinschlag gestempelt, und wehe der Hand, die bei der Arbeit zu hoch gehoben wurde — flugs saß eine französische Kugel darin. Je näher dem Gipfel, desto schwieriger wurde der Boden, desto härter die Arbeit. Dicke Baumwurzeln mußten durchsägt oder durchgeschlagen werden. An einer Stelle, nahe am Gipfel, stieß der Annäherungsgraben auf einen Felsen. Sprengmaterial war nicht zur Verfügung. Man mußte die Stufe durch höheres Aufwerfen des Walles sichern.

Sobald der etwas abgeplattete Berggipfel erreicht war, galt es sich festzusetzen und festzubauen. Sogleich wurde vom letzten Annäherungsgraben aus hinter dem diesseitigen Rand der kleinen Hochfläche ein Schützengraben gezogen und befestigt, seine Brustwehr mit Sandsäcken und eisernen Schützenblenden verstärkt. Diese in die Brustwehr eingebauten Schutzschilde sind mit einer Schießscharte versehen, eben groß genug, um den Feind, der auf zwanzig bis dreißig Meter Entfernung eingegraben gegenüber liegt, beobachten zu können. Auch die Franzosen bedienen sich solcher Schutzschilde, die sie ebenfalls in die Brustwehr einbauen. Einer, den die Deutschen erobert haben, wurde mir im Schützengraben [168] gezeigt. Laufgräben und Schützengräben wurden sodann erweitert, so gut es die Bodenverhältnisse gestatteten. Von den aus den illustrierten Zeitschriften bekannten, schön ausgebauten und gedeckten, mit Unterständen versehenen wohnlichen Schützengräben ist hier freilich keine Rede. Der Graben ist eben breit genug, daß zwei Mann aneinander vorbeikommen können. Da und dort ist der Graben nischenartig erweitert. Die Schießstände — die Standorte der Schützen verdienen diese Bezeichnung im wörtlichen Sinne — sind zum Schutze gegen die Kälte des Bodens mit einer Strohschicht bedeckt. Jeder Schütze hat sein genau abgegrenztes Beobachtungs- und Schußfeld. Ab und zu fällt ein Schuß hinüber und herüber. Dann takt es in einem Baumstamm oder quirlt es in der Erde. Das französische Geschoß verursacht fast genau den gleichen scharfen, hellen, gehässigen Knall wie unser schweizerisches Infanteriegewehr. Der deutsche Gewehrschuß klingt etwas dumpfer.

Letzter Tage haben die deutschen Schützen den französischen Schützengräben mit Handgranaten beworfen. Seitdem ist es drüben bedeutend ruhiger geworden und die Schießerei hat nachgelassen. So berichtet uns der Bataillonskommandeur. Die Leute rühmen im übrigen die Bravour der ihnen gegenüberliegenden Feinde. Nur für gefahrvolle Erkundungs-Patrouillengänge haben sie keine Neigung. Sie ziehen andere Erkundungsmittel vor. Bis zu dem jüngst erlassenen Verbot hatte ein lebhafter Rufverkehr zwischen den [169] Schützengräben stattgefunden, und unlängst wurde aus der französischen Front herübergerufen: Deutsche Soldaten, ergeben Sie sick, die Russen sind in Berlin. Gute Be’andlung zugesickert. Da kamen sie aber an die Rechten. Das deutsche Kraftwort, das hinüberschallte, läßt sich nicht wiedergeben. Ähnliche Aufforderungen werden von verschiedenen Stellen der Schlachtfront berichtet.

Lange hatten wir im vordersten Schützengraben geweilt und uns mit den Soldaten unterhalten. Die Dämmerung naht, es muß Abschied genommen sein. Im Schützengraben zu übernachten, dazu fehlt mir die Vollmacht. Im Abstieg haben wir Gelegenheit, zu beobachten, wie eifrig an der Verbesserung aller Werke gearbeitet wird. Eine Treppe von zweihundertundneunzig Stufen ist angelegt. Eben steigen einige Mann keuchend herauf und tragen in die Schützengräben die heißdampfende, wohlriechende Abendsuppe. Weiße Wandstreifen dienen als Wegweiser in der Dunkelheit. An einer Stelle ist eine Schneise in den Wald gehauen und das Trassee für eine Seilbahn abgesteckt, die in den nächsten Tagen in Angriff genommen werden soll.

Ungefähr in Zweidrittels-Höhe des Berges führt ein von den deutschen Pionieren verbesserter Waldweg ziemlich horizontal dem Hang entlang. Eine Tafel bezeichnet ihn als Pionier-Allee. Zu beiden Seiten dieser Allee sind wieder die bekannten bewohnten Unterstände, Offizierswohnungen und Mannschaftsräume, von denen [170] wir noch verschiedene besichtigen, in die Erde eingebaut. Hier sind die Ablösungen für die Besatzung der Schützengräben untergebracht, die alle sechs Stunden wechselt. Alle achtundvierzig Stunden erfolgt die Ablösung der gesamten vorderen Linie. In jedem Raume steht auch hier der Christbaum, und überall liegen die Gaben ausgebreitet, die den Weihnachtspaketen entnommen worden sind. In allen Unterständen und Quartieren hat der Oberst ein freundliches Wort für die Mannschaft und erkundigt sich, ob sie Weihnachten gut gefeiert haben. Wenn dann die frohe Antwort zurückkommt: Jawohl, Herr Oberst, so fragt er etwa: Aber übers Jahr doch wohl noch lieber zu Hause, nicht wahr? Dann fröhliche Zustimmung. Nur in einem Unterstande hat einer dazwischen gerufen: Nu, mir wär’s gleich, man ist’s jetzt gewöhnt. Wird wohl ein Junggeselle gewesen sein.

Nicht immer ist übrigens das Lustwandeln auf der Pionier-Allee geraten, und nicht immer ist der Aufenthalt in diesen Blockhäusern und Unterständen so gemütlich. Der auf der Karte eingezeichnete Waldweg ist den Franzosen bekannt, und sie überschütten ihn von Zeit zu Zeit mit ihrem indirekten Granatfeuer. Ein Leutnant zeigt uns eine Stelle, wo gestern eine Granate auf den Weg eingeschlagen hat. Nicht weit von hier war es auch, wo der Pionier erschlagen wurde, der jetzt im Waldfriedhof drunten am Berge ruht. An vielen Bäumen sind von den Granaten die Kronen abgeschlagen, [171] andere sind mitten entzwei geborsten. Fast kein Baum, der nicht mehr oder weniger zersplittert ist. Der Wald ist eine Wüstenei. In einer Buche zeigt uns der Bataillonskommandeur eine französische Gebirgsgeschützgranate, die, ohne zu platzen, unversehrt, mit zwei Dritteln ihrer Länge in den Stamm eingepreßt, stecken geblieben ist.

Die von den Deutschen im Sappenangriff eroberte Bergkuppe setzt sich auf einer Flanke in einem kahlen Rücken fort, der noch im Besitz der Franzosen ist, die von hier aus das schon oben erwähnte Kirchdorf beherrschen und öfters beschießen. Verschiedene Dorfbewohner sind dem Feuer zum Opfer gefallen. Ein Mann wurde auf dem offenen Felde beim Kartoffelgraben erschossen. Zwei Mädchen im Alter von sechzehn und achtzehn Jahren und zwei Kinder traf das tödliche Blei auf der Straße. Jetzt ist das Dorf wenigstens gegen Infanteriefeuer gesichert. Um eine gefahrlose Verbindung zwischen den Quartieren der Reserve und der Besatzung der Schützengräben zu schaffen, haben die Deutschen auf eine Länge von mehreren hundert Metern einen Laufgraben erstellt und den Weg zum Dorfe durch eine lange Blendung gedeckt. Diese Blendung besteht aus Kisten und Bretterwänden, die mit Sand gefüllt sind. Sechshundert Kisten sind dafür verwendet worden. Alle diese Arbeiten sind selbstverständlich nur zur Nachtzeit ausgeführt worden. Während wir im Laufgraben und hinter den Blenden dem Dorfe zuschritten, pfiffen über unsere Köpfe die [172] französischen Geschosse durch die Dämmerung. Das ist, wie mir der Oberst mitteilt, die Tageszeit, zu der die Franzosen regelmäßig ihr Feuer verstärken. Bald hier, bald dort surrt es und knallt es mit dem bekannten Tack-Tack des Einschlages.

In dem Hause der schönen jungen Französin, von der oben die Rede war, ertönte Gesang und Lautenspiel. Nachdem der Oberst mit mir eingetreten war und die übliche Meldung des Unteroffiziers entgegengenommen hatte, bat ich noch um ein Lied. Da stimmte der mit der Laute an, und was war wieder die Weise? Stille Nacht, heilige Nacht. Auch hier Weihnachtsstimmung. Dann folgte das schwermütige, auch von unseren Schweizersoldaten so oft gesungene: Nach der Heimat möcht' ich wieder ... sei gegrüßt in weiter Ferne, teure Heimat sei gegrüßt!

Mit herzlichem Händedruck verabschiedete ich mich von dem Obersten, der in seine stille Waldklause zurückkehrte, während der Ordonnanzoffizier und ich mit unserer Wache den Weg zu unserm Quartier nahmen, wo wir nach sechsstündiger Wanderung anlangten.

Als wir in später Stunde noch fröhlich beisammen saßen, meldete ein schneidiger Major dem Artillerieobersten Z. den Durchmarsch seines Bataillons durch das Dorf. Es hatte bereits einen längeren Tages- und Nachtmarsch hinter sich und noch zwei Wegstunden vor sich. An den Straßenrändern lagen oder saßen die Leute auf dem harten, kalten Boden zu kurzer Rast. An einer [173] Stelle, wo sich die Straße zu einem kleinen Platze erweiterte, saß eine Gruppe im Kreise herum und plauderte. Da stimmte einer plötzlich an, und in die Nacht hinaus klangen die gedämpften Stimmen, innig und sehnsüchtig. Und noch einmal war’s die alte Weise: Stille Nacht, heilige Nacht . . .

Halblaute Kommandostimmen: Auf! Vorwärts marsch! Und weiter ging’s in die dunkle Nacht hinaus, auf hart gefrorenem, holprigem Wege, an die Front, dem Feinde entgegen. Am Schlusse der Kolonne marschiert eine Abteilung junger Ersatzmannschaften, die sich hier angeschlossen haben und morgen eingereiht werden sollen. Frische, flotte Jungen. Die übermütigen Scherzworte, die in der Ausbildungszeit im Garnisondienst so leicht über die Lippen flossen, waren freilich heut abend verstummt. Eine ernste, fast feierliche Stimmung war über die jungen Leute gekommen. Heute nacht noch stehen sie zum ersten Male dem Feinde gegenüber, und schon das Morgenrot leuchtet vielleicht dem einen oder anderen zum frühen Tod.

So schloß der letzte Abend meines dreitägigen Aufenthaltes an der deutschen Front, zu Kriegsweihnachten 1914. Es war ein Erlebnis.