Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers/In deutschen Kriegslazaretten

Kriegsweihnachten an der deutschen Front Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers
von Karl Müller
Drei Tage in den deutschen Stellungen
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In deutschen Kriegslazaretten

Wenn einst die Geschichte des europäischen Krieges geschrieben wird, werden auch die Leistungen und Fortschritte der Kriegschirurgie und Kriegsmedizin ihre fachwissenschaftliche Würdigung [174] finden. Dem Laien, welcher versucht, sich ein Bild von der Bedeutung des Militärsanitätswesens im Kriege der Millionenheere zu machen, wird, wenn er ihre Werke sieht, klar, welche ungeheure Summe von geistiger und körperlicher Arbeit, von aufreibenden seelischen und leiblichen Anstrengungen, von heldenmütiger Hingabe und Aufopferung in diesem so überaus wichtigen Zweige des Dienstes hinter der Linie geleistet wird, und was für ein Segen für das ganze Heer, das ganze kriegführende Land in einer gut eingerichteten und geleiteten Kriegsheilpflege liegt.

In vorbildlicher Weise ist das Kriegsheilwesen schon zur Friedenszeit im deutschen Heere ausgebildet und so vorbereitet worden, daß es den ins Ungeheure steigenden Ansprüchen des gewaltigen Kriegsheeres zu genügen vermag. Die sorgfältige Vorbereitung und der mustergültige Betrieb der Verwundetenpflege macht Tausende und Abertausende von Kriegern wieder kampffähig und gibt sie der Front zurück, er hält Tausende und Abertausende, die sonst unrettbar verloren wären, am Leben, gibt Tausenden und Abertausenden, die sonst zugrunde gingen, ihre Lebens- und Arbeitsfähigkeit zurück und erhält sie der Familie und dem Staate als Werte erzeugende Kräfte.

Mit Bewilligung der zuständigen Amts- oder Kommandostellen habe ich in den letzten zweieinhalb Monaten eine Reihe deutscher Kriegslazarette, zum Teil draußen nahe hinter der Front, zum Teil in Etappenorten und Garnisonstädten [175] Südwestdeutschlands besucht. Verschiedenartig nach ihrer Lage und Zweckbestimmung, nach räumlicher Ausdehnung und Reichhaltigkeit der Hilfsmittel, gleichen sie sich doch alle in einem: in der mustergültigen Ordnung und Reinlichkeit, in der zweckmäßigen Einrichtung und Ausnützung der zur Verfügung stehenden Hilfskräfte und Hilfsmittel. Ich habe Feldlazarette in der Woevre, im Kampfgebiet zwischen Mosel und Maas, in Etappenorten an der belgisch-französischen Grenze und in großen Garnisonstädten gesehen, solche der einfachsten Art, dicht hinter der Kampflinie gelegene, die den Charakter von Hauptverbandplätzen trugen, und die nur mit den notwendigsten Hilfsmitteln ausgestattet waren; andere, die in Seminarien, Schulhäusern, öffentlichen Gebäuden aller Art neu errichtet und aufs beste ausgestattet worden sind; andere wieder, die schon in Friedenszeiten als Garnisonlazarette gedient haben und von vornherein mit allem, was die Kriegsheilkunde verlangt, reichlich ausgestattet waren. Hier in diesen Garnisonlazaretten befinden sich die großen und reichen Sanitätslager, von denen aus die Feldlazarette, sowie die Sanitätsabteilungen des Feldheeres mit allem nötigen Nachschub an Verbandmaterial und Kriegsheilmitteln versehen werden. Hier sind in großen Schuppen mächtige Vorräte an Tragbahren, Sanitätskisten, Instrumenten, Medikamenten, Verbandzeug, Krücken, künstlichen Gliedmaßen, kurz an Sanitätsmaterial aller Art aufgestapelt. Ein sehr großer Teil dieses Materials [176] wird in den Garnisonlazaretten selbst hergestellt. Diese sind auch mit einer großen Apotheke ausgestattet, wo durch eine Schar von Militärapothekern die Medikamente für die Sanitätsanstalten des Heeres hergestellt werden.

Schon die große, bis jetzt allen Anforderungen genügende Zahl von Feldlazaretten und ihre vortreffliche Ausrüstung beweisen, in welch großartiger Weise die Leitung der deutschen Militärsanität für die Bedürfnisse des Krieges vorgesorgt hat. In einer einzigen Garnisonstadt Südwestdeutschlands bestehen zurzeit dreißig, in einer anderen sogar vierundfünfzig Lazarette; diese Zahlen übersteigen den augenblicklichen Bedarf bei weitem. In den meisten Sälen gibt es noch freie Betten, in fast allen Lazaretten noch Räumlichkeiten, die zurzeit nicht belegt und für den Fall eines plötzlichen starken Anschwellens der Verwundetenzahl freigehalten sind. Von einer Überfüllung der Lazarette ist in Deutschland noch keine Rede. Eines der größten Lazarette des Reiches, das ich jüngst besucht habe und das neunhundert, im Falle der Not sogar tausend Kranke und Verwundete aufnehmen kann, hat gegenwärtig kaum die Hälfte dieser Zahl in Verpflegung. In zweckmäßiger Weise werden fortwährend die dem Kriegsschauplatze näher liegenden Lazarette durch Abschiebung von Verwundeten ins Landesinnere entlastet.

Mit eindringlicher Deutlichkeit treten dem Besucher der Feldlazarette die Schrecken des Krieges [177] vor Augen und prägen sich seinem Bewußtsein ein. Während meines Besuches in einem großen Feldlazarett eines Etappenortes an der belgisch-französischen Grenze trafen eben mehrere Wagen voll Verwundeter ein, die direkt aus einem Gefecht in den Argonnen oder an der Aisne herbefördert worden waren. Zur Beförderung der Verwundeten vom Schlachtfelde steht den Etappenlazaretten ein zahlreicher Park von Kraftwagen zur Verfügung. Die größten davon sind für den Transport von zwanzig bis dreißig sitzenden Leichtverwundeten oder von zwölf liegenden Schwerverwundeten eingerichtet. In zwei vollbesetzten Kraftwagen werden fünfzig Leichtverwundete, die soeben angekommen sind, auf den Bahnhof geführt, um hier sogleich verladen und weiter rückwärts befördert zu werden. Um die Mittagsstunde sind sie verwundet worden, auf dem Hauptverbandplatze wurde ihnen der erste Verband angelegt, nachmittags fünf Uhr sitzen sie fünfzig bis sechzig Kilometer hinter der Gefechtsfront im Eisenbahnzuge und kommen noch in der gleichen Nacht an ihrem Bestimmungsorte im Landesinnern an.

Da langt auch ein Wagen mit Schwerverwundeten an. Eben wird einer auf einer Bahre vom Wagen ins Lazarett getragen. Die dargebotene Zigarette, die sonst alle Verwundeten mit Leidenschaft ergreifen, lehnt er traurig lächelnd ab: Der Arzt hat ihm das Rauchen verboten, er hat einen Brustschuß. Ein zweiter mit verbundenem Kopfe, ein dritter mit zerschmetterter Schulter, [178] ein vierter mit zerschmettertem Beine werden abgeladen und ins Lazarett befördert. Keiner klagt, alle tragen geduldig ihr Los.

Im Lazarett liegen sie in langen Reihen nebeneinander, Deutsche und auch einige Franzosen. Da ist ein junger, blonder Rheinländer mit zerschmettertem Unterschenkel. Über seinem Kopfe hängt am Verwundeten-Täfelchen das Eiserne Kreuz. Der Hauptmann, der mich auf meinem Gange begleitet und der diese Kriegsauszeichnung ebenfalls trägt, reicht dem Braven die Hand, fragt ihn nach seinem Befinden und erkundigt sich, wie und wo er sich das Kreuz geholt. Wie ein stolzes Leuchten geht es über das Gesicht des Mannes. Er hat das Kreuz, das er sich auf einer Erkundungspatrouille erworben, nur vier Tage lang getragen, dann wurde er niedergestreckt und kam ins Lazarett. Wieder an die Front zu kommen, ist sein ganzes Sinnen und Sehnen.

Schreckhafte Erscheinungen traten mir in einem Typhuslazarett einer Garnisonstadt vor die Augen. Die verzerrten Gesichter, die entgeisterten Augen der im Fieberwahn verwirrten Schwerkranken — das waren unendlich traurige Bilder. Einer, der das Eiserne Kreuz hatte, behauptete im Fieberwahne fortwährend, vierzehn Eiserne Kreuze zu besitzen und verlangte, die dreizehn anderen in Berlin zu holen.

Der Typhus ist im deutschen Heere nicht etwa im Schützengraben entstanden und verbreitet worden, vielmehr sind die Ansteckungsherde in den [179] Quartieren der französischen Dörfer zu suchen. Schlechte Brunnenleitungen, die an Jauchegruben vorbeiführen, Misthaufen vor jedem Hauseingange, das sind Ansteckungsherde erster Ordnung. Wo deutsche Truppen in französische Dörfer einquartiert werden, ist es ihr erstes, die Straßen vom Unrat zu reinigen. Durch strenge Maßnahmen, wie Sperrung von bakterienverdächtigen Brunnen, ist es gelungen, den Typhus wirksam zurückzudämmen, und die Typhuslazarette, die eine Zeitlang überfüllt waren, entvölkern sich jetzt. Eine gute Wirkung namentlich für einen leichten Verlauf der Krankheit schreiben die Ärzte der allgemein durchgeführten Typhusimpfung zu. Mit allen Mitteln wird der Aufteilung und Weiterverbreitung der Krankheit entgegengearbeitet. Erkrankt ein Soldat an Typhus, so kommen seine nächsten Quartierkameraden für eine zehntägige Beobachtungszeit ins Typhuslazarett, wo sie in besonderen Baracken untergebracht werden. Für die peinliche Vorsicht, die auch für das Pflegepersonal angewendet wird, spricht der Umstand, daß in diesem Typhuslazarett noch kein einziger Arzt, keine einzige Krankenschwester, kein einziger Krankenwärter und Gehilfe erkrankt ist. Das Typhuslazarett ist mit allen Mitteln der modernen Heilpflege, namentlich auch mit Bädern ausgestattet. Die Zahl der Todesfälle bleibt denn auch auf einer geringen Stufe.

Spannende Erlebnisse aus dem Kriege hört man von den genesenden Kranken und Verwundeten. [180] Im Feldlazarett zu M. lag ein Unteroffizier aus Schlesien namens V., der mit einer starken Quetschung der Brust, verbunden mit innerlichem Bluterguß, eingeliefert worden war. Bei seiner Untersuchung fand man den Brustbeutel genau auf dem Herzen liegend; der Mann hatte ihn absichtlich so umgelegt. Darin fanden sich drei Fünfmarkstücke und ein Dreimarkstück, stark verbogen. Ein Infanteriegeschoß war an den Münzen abgeprallt. Neben ihm lag ein achtzehnjähriges Bürschchen, das vor dem Kriege als Piccolo in einem Hotel in Stellung gestanden und sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte. Er ist von nicht weniger als zwölf Granatsplittern getroffen und wie durch ein Wunder dem Tode entgangen. Sieben seiner Kameraden hatte die gleiche Granate erschlagen. Im gleichen Saale lag neben mehreren Südfranzosen und Korsikanern auch ein Elsässer, der seinerzeit im deutschen Heere gedient hatte, dann als Reservist ohne Abmeldung aus dem Elsaß nach Frankreich abgewandert und beim Kriegsausbruch — nach seiner Angabe gezwungen — in das französische Heer eingereiht worden war. Er wird sich nach seiner Wiederherstellung vor dem Kriegsgericht zu verantworten haben.

Unter Führung des Chefarztes, Geheimrat H., machte ich letzter Tage einen Gang durch das schon genannte große Garnisonlazarett in S. Es war eine Freude zu sehen, wie wohlverpflegt und vergnügt die Verwundeten sind. In allen Räumen standen noch die Weihnachtsbäume, und die Wände [181] waren mit grünen Kränzen und Bändern in den Landesfarben geschmückt, wie in einem Festsaale. Auf den Tischen stand reicher Blumenschmuck, die Spende edler Menschenfreunde. Ein Menschenfreund im vollen Sinne des Wortes ist auch der Chefarzt selbst. Ihm leuchteten die Augen der Verwundeten entgegen. Hier einem und dort einem klopft er freundlich auf die Schultern, fragt ihn nach seinem Befinden, erkundigt sich, wie lange er im Lazarett sei. Hat einer hundert Tage im Lazarett verbracht, verordnet ihm der Chefarzt eine Flasche Wein und sechs Zigarren. Das gleiche Geschenk erhält jeder, der mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wird. Durch solche Aufmerksamkeiten und durch die liebevolle Teilnahme an ihrem Schicksal erhöht der Chefarzt das Wohlbefinden der Verwundeten und fördert ihre Genesung. Durch Aufrufe in den Zeitungen, die er erlassen hat, sind ihm in reichem Maße Liebesgaben an Blumen, an Unterhaltungsspielen und an Büchern aller Art zugegangen, so daß das Lazarett über eine ganz ansehnliche Bibliothek verfügt. Außerdem liegen über ein halbes Hundert Zeitungen auf. Als besondere Wohltat empfinden es die Verwundeten, daß jeder ein einfaches Eß- und Lesetischchen zum Aufstellen im Bette erhält. Diese Tischchen werden auf Anordnung des Chefarztes aus gebrauchten Kisten im Lazarett selbst gezimmert. Hier wie in allen größeren Lazaretten finden von Zeit zu Zeit Konzerte und Vorträge statt. Wo ein passender Saal zur Verfügung [182] steht, werden auch Lichtbildervorstellungen veranstaltet. Die Beköstigung der Verwundeten ist, wie ich mich in der Küche überzeugen konnte, reichlich und vorzüglich.

Der Geist des menschenfreundlichen, mit Leib und Seele seiner Sache dienenden ergrauten Chefarztes ist auf das ganze Pflegepersonal übergegangen, vom Unterarzt bis zum letzten Wärter hinab. In die Verwundetenpflege teilen sich katholische Ordensschwestern, protestantische Krankenschwestern mit Rotkreuzschwestern und freiwilligen Krankenpflegerinnen. Als solche haben sich zahlreiche Damen der bürgerlichen Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Alle widmen sich mit großer Liebe ihrer Aufgabe. Der Chefarzt ist des Lobes voll über die Ausdauer der Ärzte, des gesamten Pflegepersonals, aber auch über die Anhänglichkeit und Dankbarkeit der Verwundeten, von denen zahlreiche Dankschreiben aus der Heimat oder aus Erholungslazaretten einlangen. Mit wahrer Begeisterung spricht der Chefarzt nicht nur von der Dankbarkeit und dem guten Betragen, sondern auch von der Geduld und der Widerstandskraft der Verwundeten beim Ertragen der Schmerzen. Es sind herrliche Leute, erklärt er mir.

Solchen freundlichen Bildern stehen aber zahlreich genug die Bilder des Elends gegenüber. Von den Schwerverwundeten werden so manche nur als Krüppel in die Heimat wiederkehren, andere werden auf lange Zeit geschwächt und in ihrer Gesundheit gefährdet sein. Da liegt einer [183] mit einem Bauchschuß, der wochenlang zwischen Leben und Tod geschwebt, seine hohlen Augen schreien um Erbarmen. Verstümmelte Hände, Arme, Beine vervollständigen das grauenvolle Bild des Entsetzens. Wohl dem kräftigen fünfundzwanzigjährigen Maler, dem das Bein unterhalb des Knies amputiert werden mußte und der dank seiner gesunden Lebenskraft nach wenigen Wochen so hergestellt ist, daß er soeben vor unseren Augen ganz vergnügt seinen ersten Gehversuch mit einem künstlichen Bein macht. Die Krüppelfürsorge wird noch jahrzehntelang schwer auf Staat und Gesellschaft der kriegführenden Mächte lasten.

Erschütternd ist der Anblick derer, die wegen direkter Verletzung der Augen oder wegen Verletzung des Sehnervs das Augenlicht verloren haben. Ein Besuch in der Augenabteilung muß jedem Menschen von Gefühl einen unvergänglichen ergreifenden Eindruck hinterlassen. Hier waltet mit gleicher Liebe und gleichem Wohlwollen für seine Pfleglinge der deutsche Universitätsprofessor L., von Abstammung ein Schweizer. Rührend ist die Kameradschaft, die sich hier die unglücklichen Verwundeten und Genesenden erweisen. Da sitzt einer auf dem Bette mit verbundenen Augen; die schreckliche Gewißheit, daß er das Licht der Sonne nie mehr wieder erblicken werde, ist ihm bekannt gegeben worden. Er hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er ist ruhig und gefaßt. Drei Kameraden sitzen um sein Bett und verkürzen ihm die Zeit. Ein anderer, ebenfalls [184] völlig Erblindeter, liegt halb in sitzender Stellung auf seinem Bette. In seiner linken Hand hält er die Tafel mit dem Blinden-Alphabet, das er nun erlernen will. Der Zeigefinger der Rechten liegt auf einem Buchstaben. So ist er eingeschlafen. Ein ergreifendes Bild. Einem dritten hat eine Granate ein Auge vernichtet, den einen Oberarm und den einen Unterschenkel zerschmettert.

Genug der grausigen Bilder. Zum Schlusse sei noch betont, daß die französischen Verwundeten überall in Pflege und Beköstigung gleich behandelt werden wie die Deutschen.