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mit einem Bauchschuß, der wochenlang zwischen Leben und Tod geschwebt, seine hohlen Augen schreien um Erbarmen. Verstümmelte Hände, Arme, Beine vervollständigen das grauenvolle Bild des Entsetzens. Wohl dem kräftigen fünfundzwanzigjährigen Maler, dem das Bein unterhalb des Knies amputiert werden mußte und der dank seiner gesunden Lebenskraft nach wenigen Wochen so hergestellt ist, daß er soeben vor unseren Augen ganz vergnügt seinen ersten Gehversuch mit einem künstlichen Bein macht. Die Krüppelfürsorge wird noch jahrzehntelang schwer auf Staat und Gesellschaft der kriegführenden Mächte lasten.

Erschütternd ist der Anblick derer, die wegen direkter Verletzung der Augen oder wegen Verletzung des Sehnervs das Augenlicht verloren haben. Ein Besuch in der Augenabteilung muß jedem Menschen von Gefühl einen unvergänglichen ergreifenden Eindruck hinterlassen. Hier waltet mit gleicher Liebe und gleichem Wohlwollen für seine Pfleglinge der deutsche Universitätsprofessor L., von Abstammung ein Schweizer. Rührend ist die Kameradschaft, die sich hier die unglücklichen Verwundeten und Genesenden erweisen. Da sitzt einer auf dem Bette mit verbundenen Augen; die schreckliche Gewißheit, daß er das Licht der Sonne nie mehr wieder erblicken werde, ist ihm bekannt gegeben worden. Er hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er ist ruhig und gefaßt. Drei Kameraden sitzen um sein Bett und verkürzen ihm die Zeit. Ein anderer, ebenfalls

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Karl Müller: Kriegsbriefe eines neutralen Offiziers. Velhagen & Klasing, Bielefeld ; Leipzig 1915, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%BCllerKriegsbriefe.pdf/187&oldid=- (Version vom 1.8.2018)