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Autor: Adolf von Stählin
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Titel: Justin der Märtyrer
Untertitel: und sein neuester Beurtheiler
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Dörffling und Franke
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Erscheinungsort: Leipzig
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Justin der Märtyrer
und
sein neuester Beurtheiler
von


D. Adolf Stählin,
Oberkonsistorialrath in München.






Leipzig.
Dörffling und Franke.
1880.


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Vorwort.




 Das vorliegende Schriftchen will nichts als eine Erweiterung und nähere Begründung meiner Recension des v. Engelhardt’schen Werkes über Justin in der „Literarischen Beilage zur Allg. Ev.-Luth. Kirchenzeitung“ Jahrg. 1879, Nr. 47 sein. Es ist aus eingehendster Beschäftigung mit diesem Werke und der Justin’schen Frage überhaupt erwachsen. Ich gestehe, daß die erwähnte Schrift mich von Anfang nicht blos sehr anzog, sondern mir auch in manchen ihrer Resultate nicht wenig imponirte. Je öfter ich aber das Buch las und je mehr ich die einschlägige Literatur einem sorgfältigen Studium unterzog, in desto stärkerem Grade erwachte mein Widerspruch. Wie ich höre, erging es Andern ähnlich, vor Allem einem sehr bedeutenden, nun heimgegangenen Theologen. Es befestigte sich in mir mehr und mehr die Ueberzeugung, daß die gewöhnliche Ansicht über Justin, was dessen Stellung zu Christenthum und Kirche betrifft, in der Hauptsache die richtige ist, so sehr der Forschung über untergeordnete Punkte noch großer Spielraum gelassen ist. Unschwer könnten für jene Ansicht auch noch weitere Vertreter aus jüngster Zeit außer den in meiner Schrift bezeichneten angeführt werden. Es dürfte mit der hier vorliegenden Frage wie mit so vielen anderen auf theologischem Gebiete gehen, daß man nämlich nach umfassendster Untersuchung des Allgemeinen und Besonderen, durch welche Vieles berichtigt oder in neues Licht gestellt wurde, doch am| Ende zu der früheren Gesammtanschauung unter gewissen Vermittlungen und Restriktionen zurückkehrt. Bei der Tragweite, welche das Urtheil über den eigentlichen Anfänger der kirchlichen Theologie hat, wird eine erneute und eingehende Untersuchung und selbständige Behandlung der betreffenden Frage genügend gerechtfertigt erscheinen. Und nur noch dies Eine möchte ich bemerken, daß aus dem Zweck meiner Schrift deren zusammenfassende Kürze, das häufige Unterlassen der näheren Bezeichnung der aus Justin’s Werken angeführten Stellen und anderes sich von selbst erklären dürfte.

 München, den 5. Juli 1880.

Stählin. 


|  Es ist ein großes Verdienst, daß uns Moritz v. Engelhardt (Dr. u. Prof, der Theol. in Dorpat) in seiner in vieler Beziehung ausgezeichneten dogmenhistorischen Monographie (Das Christenthum Justin’s des Märtyrers, eine Untersuchung über die Anfänge der katholischen Glaubenslehre. Erlangen 1878, Deichert (IV u. 490 S. gr. 8.) eine der bedeutungsvollsten und einflußreichsten Erscheinungen der ältesten Kirchengeschichte von Neuem in umfassender Darstellung vorgeführt hat. So viel über Justin in den letzten Jahrzehnten auch geschrieben worden ist, seit dem noch immer anziehenden und lehrreichen Werke von Semisch, das Anfangs der vierziger Jahre erschien, liegt, abgesehen von der unkritischen, auf naturalistischem Boden stehenden Schrift des Franzosen Aubé, keine größere Arbeit von Justin vor.
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 Mit Recht sagt Weizsäcker in der viel Förderndes enthaltenden Abhandlung: Die Theologie des M. J. (Jahrb. f. deutsche Theol. XII, S. 60), was der hier vorliegenden Ausgabe eine unerschöpfliche Anziehungskraft gebe, sei nicht nur die geistige Kraft und Bedeutung des Mannes, sondern fast noch mehr die Zeit seines Auftretens. Eine Fülle entscheidender Fragen drängt sich bei der Betrachtung Justin’s auf, die Frage über den Charakter des Urchristenthums, über das Verhältniß von Juden- und Heidenchristenthum, über die inneren Motive der in vieler Beziehung räthselhaften Entwickelung der Kirche unmittelbar nach dem Heimgang der Apostel, über die Natur des theologischen und dogmenbildenden Prozesses, über die Berechtigung der Verbindung des Christenthums mit außerchristlichen Lebens- und Geisteselementen, von so vielen Detailfragen abgesehen, auf welche v. E. mit anerkennenswerther Sorgfalt eingegangen ist. Es liegt sehr viel an dem Verständniß Justin’s,| da er an den Anfang einer neuen Epoche kirchengeschichtlicher Entwickelung gestellt ist und den hiermit gegebenen Wendepunkt ohne Frage mit bedingt hat.

 Wie gehen aber die Urtheile über Justin heute noch auseinander! Die frühere Zeit war einig. Der Ruhm seiner Gelehrsamkeit, seiner literarischen Leistungen, seiner Rechtgläubigkeit, seiner von der Glorie des Märtyrerthums umstrahlten, ehrwürdigen Persönlichkeit geht durch das ganze Alterthum hindurch. Die erste Kritik übten die Magdeburger Centurien, die aber Justin gleichwohl noch in wesentlichen Stücken als Repräsentanten des ächten apostolischen Glaubens ansehen. Erst mit Semler beginnt eine schärfere Kritik. Er rechnet Justin zu den Kirchenlehrern, welche nicht „beglaubte und zuverlässige Kenner und Ausleger der christlichen Lehre, sondern eigene Urheber einer gemischten Verbindung platonisch jüdischer Einbildungen und Favoritideen mit einigen Ausdrücken der Apostel“ sind, und nennt ihn einen „ungesunden Verfasser“ mit „elenden Einfällen“. Daß auf dieses Urtheil doch nicht allzuviel zu geben ist, dürfte daraus hervorgehen, daß Semler an derselben Stelle (Anm. u. Vorrede zu S. J. Baumgarten’s theol. Streitigkeiten) nicht blos von dem „historischen Geschmier“ des Papias redet, sondern auch Tertullian einen „elenden Verfasser“ nennt, „der so leicht mögliche Einfälle in Wirklichkeit verwandelt (I, S. 32. 35)“.

 In unsern Tagen kann man das gerade Entgegengesetzte in Beurtheilung Justin’s lesen. Während z. B. Ebrard von dessen geistvoller Lösung der tiefsten Probleme redet (K.- u. Dogmengesch. I, S. 59), auch Kurtz ihn tief und geistvoll nennt (Handb. d. allg. K.-G. I, S. 264), urtheilt Hauck bezüglich Justin’s in seiner trefflichen Schrift über Tertullian: „Kaum begegnet ein tiefsinniger Gedanke, oder eine großartige Anschauung, sondern im Kreise des Gewöhnlichen hielt er sich durchaus (S. 55)“. Für sachlich berechtigt halten wir letzteres Urtheil nicht. Während von Otto, dessen Arbeiten über Justin vom Jahre 1841 an, wo seine gekrönte Preisschrift: de J. M. scriptis et doctrina erschien, durch klares, nüchternes, geschichtlich sicheres Urtheil den wohlthuendsten Eindruck machen, behauptet, Justin habe der platonischen Philosophie ein möglichst eingehendes Studium gewidmet (Zur Charakteristik des heil. Just., Sitzungsberichte der kais. Academie der Wissensch. in Wien, 8. Band S. 174), Ritter seine „gelehrte Bildung“ rühmt (Gesch. der| Phil. V, S. 296), und Dorner von einem echt speculativen Zuge desselben redet (Lehre von der Person Christi I, S. 420), mißt v. E. selbst Justin nur eine oberflächliche Kenntniß der griechischen Philosophie zu (S. 447) und spricht wohl auch von dessen Gedankenlosigkeit (S. 172). Was die kirchlich-theologische Stellung und gesammte Geistesrichtung Justins anlangt, so ist derselbe für die neuere Theologie zum wahren Proteus geworden. Die Frage, ob er Juden- oder Heidenchrist gewesen, spaltet sie in zwei Lager; Credner und Schwegler stehen auf der einen, Neander, Dorner, Semisch, Otto, Duncker, Ritschl auf der anderen Seite. Eine mehr mittlere Stellung nehmen Baur, Overbeck, Hilgenfeld ein. Es ist hier nicht der Ort, auf diese Frage näher einzugehen. Wir erachten es für ein Verdienst v. E.’s, daß er mit aller Entschiedenheit die Ansicht vertritt und sie in überzeugendster Weise vertheidigt, daß Justin im Boden des Heidenchristenthums wurzele. Wie verschieden sind aber auch von dieser Basis aus die Anschauungen! Während von Otto sagt, Justin stehe auf dem Grunde des biblisch-traditionellen Bekenntnisses der Kirche und erscheine als kräftiger Vertreter der apostolisch-katholischen Kirche seiner Zeit und gehöre zu den gemäßigten, ächt apostolischen Heidenchristen (Just. der Apol. in der allg. Encycl. von Ersch u. Gruber XXX, S. 64; auch Sitzungsb. etc. S. 178) und sein Platonismus halte sich durchaus auf der Basis des Christenthums (a. a. O. S. 63), Semisch I. zu den bedeutendsten Rüstzeugen der Kirche rechnet (Piper, Ev. Kalender, III. Jahrg. S. 69), Duncker seine große Beweglichkeit rühmt, die ihn befähigte, im „apostolischen Sinne des Worts“ den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu werden (Zur Gesch. der christlichen Logoslehre, Göttinger Studien 1847, II, S. 1129), von den katholischen Theologen abgesehen, unter denen Möhler ganz im Anschluß an Ceillier ihn nicht genug als Vertreter der Kirche in Lehre und Leben rühmen kann (Patrologie S. 234 u. 219) und die, so viel wir wissen, auch heute noch für ihre Lehre von Opfer und Wandlung auf Justin sich berufen, muß man sich bei v. E.’s Darstellung immer und immerwieder fragen, ob denn nach ihr Justin überhaupt noch Christ sei, da er ja das ganze Christenthum, soweit er nicht blos dessen Formeln sich aneignete, wie schon das Vorwort kund gibt, in heidnisch philosophischem Sinne umdeutete. Im Schlußresumé wird J. ganz als Heide geschildert (S. 482 f.). Und wenn gleichwohl, nach unserem| Eindruck in einer mit dem Vorausgesagten schwer zu vereinigenden Weise S. 485 gesagt wird: J. war Christ und Heide zugleich, so ist Ad. Harnack in seiner rühmenden Anzeige des Werks in der Schürerschen theol. Literaturzeitung (1878, Nr. 26) mit allem zufrieden: Der Theologe ist ihm nichts als Metaphysiker, J. hat seine alte Metaphysik lediglich in das Gewand einer geschichtlichen Betrachtung der Welt gehüllt; das Christenthum der Apologeten erscheint zunächst als identisch mit der sog. idealistischen Metaphysik und Ethik des Zeitalters, nur daß die gemeine mythologische Grundlage durch eine andere ersetzt ist; Justin’s Denkweise ist heidnisch, das genuin Christliche hat er nicht verstanden; nur meint Harnack, daß auf Grund der eigenen Ausführungen des Verf. wenige den Satz unterschreiben werden, daß J. sich die religiös-sittliche Denkweise des Christen im Prinzip angeeignet habe und das unvorsichtige Urtheil: J. hat die Vergebung der Sünden und lebt das Leben eines Wiedergeborenen, hätte wohl wegbleiben dürfen. Also auch das Wenige, was im Grunde genommen v. E. zu Gunsten des christlichen Charakters Justin’s anführt, wird hier bestritten und ziemlich offen als Selbstwiderspruch bezeichnet. Ausdrücklich werden auch die Schlußbemerkungen S. 484–487, wo v. E. Justin als Christen zu rehabilitiren sucht, nur sehr bedingt für richtig gehalten und bemerkt, daß der Ertrag des Buches jedenfalls nicht darnach zu bemessen sei. Alles, was Justin an Mystischem und Mythologischem aufnahm, urtheilt Harnack, hat er rationalistisch entwerthet. Nur einen authentischen christlichen Gedanken hat sich J. angeeignet, den der christlichen Vorsehung und Weltregierung. Gott ist J. nur die personifizirte Substanz, ist Gott nur in dem Sinne, daß er nicht Welt ist. Aehnlich urtheilt auch Herrmann (Die Religion im Verhältniß zum Welterkennen und zur Sittlichkeit S. 96), ohne Zweifel vor Allem auf J. zielend, die altkatholische Theologie habe in ihren ersten Anfängen eine begriffswidrige Verbindung zwischen der christlichen Weltanschauung und einer Metaphysik gestiftet, die in allen ihren Formen im Grunde eine aus praktischen Antrieben erwachsene Theologie des Heidenthums gewesen sei. Während man also früher geneigt war, J. als möglichst entschiedenen Judenchristen und Ebioniten zu fassen, ist man jetzt theilweise dahin gekommen, ihn nicht blos als Heidenchristen zu betrachten, was wir für völlig richtig halten, sondern ihn auch als einen noch in wesentlich heidnischen| Anschauungen befangenen Mann anzusehen, dessen Christenthum, so weit es in Lehre und Anschauung hervortritt, diesen Namen offenbar nur in sehr uneigentlichem Sinne trägt. Wenn nun dessenungeachtet v. E. Justin alle wesentlichen Charakterzüge subjektiven Christenthums in Wiedergeburt und Erlösungsgewißheit vindicirt und durch beides die geschichtlichen Räthsel, die der Person und Richtung Justin’s anhängen, gelöst zu haben glaubt, so schließt für uns sein Resultat gerade mit einem psychologischen, ethischen und religiösen Räthsel ab, für welches es uns an der Möglichkeit jeder sichern Vorstellung, geschweige denn einer genügenden Lösung gebricht.

 Der gründlichen und allseitigen Orientirtheit über den reichhaltigen Stoff, der scharfsinnigen Zergliederung des Einzelnen, der fördernden Untersuchung einschlägiger allgemeinerer Fragen zollen wir alle Anerkennung. Wir haben das Werk mit regstem Interesse gelesen und dem eingehendsten Studium unterzogen; wir verdanken ihm des Anregenden und Belehrenden ungemein viel. Das Gesammtresultat aber hat uns je länger je mehr zu entschiedenem Widerspruch herausgefordert.

 v. Engelhardt verfährt nicht synthetisch, sondern analytisch. Nach einer überaus sorgfältigen und instruktiven Uebersicht über die bisherige Beurtheilung Justin’s behandelt er den Gegenstand in den drei Theilen: das Christenthum Justin’s nach den beiden Apologien, dasselbe nach dem Dialog, das Christenthum Justin’s und das Christenthum seiner Zeit. Man darf vielleicht sagen, das analytische Verfahren ist des Buches Stärke und Schwäche zugleich. Es war bei demselben kaum zu vermeiden, daß die Grundanschauungen Justin’s zuerst nach den Apologien eruirt und daß der Dialog dann unwillkürlich nach dem aus diesen gewonnenen Resultate angeschaut wurde. Nun unterliegt es aber gar keinem Zweifel, daß der Dialog die Apologien an unmittelbarem christlichen Gehalt weit überragt und viel tiefer als diese in die eigentliche Theologie einführt. Diese aus der verschiedenen Gegnerschaft in beiden Schriften leicht erklärliche Thatsache kommt bei S. G. Lange (Gesch. d. Dogmen I, S. 138. 140) zum entschiedenen, wenn auch einseitigen Ausdruck. Mit Recht nennt er den Dialog eine der vorzüglichsten Schriften des christlichen Alterthums (S. 145 ff.), er findet in ihm die wesentlich christlichen Lehren; Lange hat allerdings die Apologien zu tief gestellt und mit Unrecht| nur sie dem Justin zugesprochen. Haben aber beide einen Verfasser, so wird man nicht ableugnen können, daß der Lehrgehalt der Apologien von vorne aus dem Dialog zu beleuchten und zu ergänzen ist und die Grundanschauungen Justin’s nicht einseitig aus den Apologien festgestellt werden können.
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 In der geschichtlichen Uebersicht erkennt v. E. in den Forschungen Ritschl’s „eine Wendung von unermeßlicher Bedeutung“, die auch Justin zu gute kamen, während er Neander und auch Thomasius in ihrer Beurtheilung der nachapostolischen Zeit ziemlich scharf tadelt. Nun verkennen wir durchaus nicht die einschlagende Bedeutung des Werkes von Ritschl: Entstehung der altkath. Kirche, in dessen zweiter Auflage, die von der ersten in sehr wesentlichen Punkten abweicht; was aber den Hauptpunkt in vorliegender Frage anlangt, den heidenchristlichen Charakter Justin’s, so sind doch gerade hierin andere Forscher, Otto, Semisch, Dorner, Neander, bereits Ritschl vorangegangen. Andererseits weicht, wie wir glauben mit Unrecht, v. E. von Ritschl ab in dessen Anschauung von einer wesentlichen Einheit aller apostolischen Väter und Justin’s bezüglich einer gesetzlichen, die Paulinischen Gedanken nur in gebrochener Gestalt reproducirenden Richtung. v. E. nimmt hier Uebergänge an, die in der Weise, wie er es meint, nicht existiren. Neander redet von einem aus der Mitte der heidenchristlichen Gemeinde selbst sich entwickelnden jüdischen Elemente. Er behauptet hier nichts anderes als was Thiersch in den beiden Werken: Versuch zur Herstellung u. s. f., und: Vorlesungen über Katholicismus und Protestantismus, und auch Dorner in der Christologie (I, S. 190 f.), der eine in eingehender Ausführung, der andere mehr andeutend darzuthun suchten. Diese Theologen sprachen insgesammt von einem judaistischen Elemente innerhalb des Heidenchristenthums, welches in psychologischem, nicht äußerlich geschichtlichem Zusammenhang mit dem alten Judaismus steht. Man möchte sagen, es besteht das Tragische in dem nachapostolischen Entwickelungsgange der Kirche darin, daß dieselbe Gemeinschaft, welche unter Berufung auf Paulus mit großer Entschiedenheit der Auflegung des jüdischen Cärimonialgesetzes sich erwehrte, mitten im Kampfe hiegegen sich selber unbewußt in eine andere, feinere, nach ihren psychologischen Wurzeln und ihrer Erscheinung dem ursprünglichen Judaismus aber vergleichbare Gesetzlichkeit, über welche Paulus in seinem Zeugniß von der Rechtfertigung| aus Glauben bereits ebenso das Urtheil gefällt hatte, verfiel. Gern opfern wir übrigens den Namen, wiewohl auch Ritschl von einem Rückfall in’s alte Testament geredet und z. B. Grau erst jüngst die Reformation „eine Erlösung von judaistischer Gesetzlichkeit und alttestamentlicher Unmündigkeit“ genannt hat. Unzweifelhaft ist aber, daß jene Entartung, welche die Reformation nöthig gemacht hat, ihre ersten, wenn auch zarten Wurzeln bis in die große kirchliche Wende unmittelbar nach dem Heimgang der Apostel senkt. Auch muß doch bemerkt werden, daß v. E. selbst anführt, wie Pseudo-Clemens sich in Aufstellung der Skala guter Werke ausdrücklich auf das jüdisch-apokryphische Buch Tob. 12, 8. 9 beruft (S. 405) und Ritschl nachgewiesen hat, daß selbst in der alexandrinischen Kirche mosaische Cärimonialgebote Geltung gewannen, so das Gesetz über Entrichtung des Zehnten an die Priester und die Verordnungen über kultische Reinheit und Unreinheit (a. a. O. S. 332 f.). Das ist doch Judaismus, aber immerhin ein Judaismus, der auf spontane Weise, ohne Uebertragung von außen, aus der heidenchristlichen Kirche sich entwickelte. Von einem Judaismus des Hermas redet auch Uhlhorn, obwohl er ihn durchaus nicht als reinen Judenchristen ansieht (Herz. R.-E. 1. Aufl. V, 774; anders in der 2. Aufl.).
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 Worauf alles ankommt, ist die Anerkennung und Würdigung der Thatsache, daß die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben nach ihrem Wesen und in ihrer centralen Bedeutung im nachapostolischen Zeitalter und späterhin nicht mehr völlig erkannt wurde. Hiermit hängt die Fassung des Christenthums als eines neuen Gesetzes, die Verwischung des Unterschiedes von Gesetz und Evangelium, von altem und neuem Testament, der ergistische Zug, der durch die Darstellung der Heilsordnung und des Heilslebens geht, zusammen. Justin hat diese Richtung bereits als Erbe der unmittelbar vorhergegangenen Zeit angetreten und es dann weiter der sich bildenden altkatholischen Kirche vermacht. Kein apostolischer Vater, auch Clemens von Rom nicht, hat die Rechtfertigungslehre klar und ungetrübt reproduzirt; das Auffallende bei dem Genannten ist gerade, daß er an einer Stelle sich völlig paulinisch ausdrückt, um dann später den paulinischen Gedanken ganz eigenthümlich umzubiegen. Die Thatsache muß anerkannt werden, auch wenn ihre Erklärung unmöglich wäre. Ritschl leitet unter Billigung v. E.’s diese Erscheinung aus dem Mangel an Verständniß der alttestamentlichen| Voraussetzungen der apostolischen Ideen von Seiten der Heidenchristen ab. Aber hatte denn nicht z. B. Justin eine bewundernswerthe Kenntniß der Schrift A. T.? Und kehrt bei dieser Erklärung nicht wesentlich dieselbe Frage wieder? Muß nicht davon ausgegangen werden, daß es für die natürliche Denk- und Sinnesweise überhaupt das Schwierigste ist, die Rechtfertigung aus Gnaden in ihrer vollen Tiefe zu erfassen und als beherrschenden Mittelpunkt des gesammten Lebens fest zu halten, weil gerade in dieser Lehre die Nothwendigkeit der Verleugnung aller Ansprüche des natürlichen Menschen dem h. Gott gegenüber und das volle Majestätsrecht des Gerechten und Gnädigen dem Sünder gegenüber hervortritt? Das Volk Israel war durch eine thatsächliche, Jahrhunderte lang währende heilsgeschichtlich-gesetzliche Pädagogik innerlich auf diese Dinge vorbereitet; die Heiligkeit des lebendigen Gottes und der Ernst der Sünde trat ihm allenthalben nahe. Die Schärfung des Sündenbewußtseins ist aber die reinste Empfänglichkeit für die Einwirkung Christi, sagt Ritschl sehr richtig (a. a. O. S. 202). Gleichwohl waren es nur wenige, die durch’s Gesetz dem Gesetz zu sterben lernten. Dem naturwüchsigen Heidenthum fehlte aber die Zucht und Vorschule der alttestamentlichen Bundes- und Gesetzesökonomie und damit die wirksamste geschichtliche Potenz zur Vorbereitung des Verständnisses der paulinischen Ideen. „Man muß das A. T. nicht blos wissen, sondern muß es mitgelebt haben (Vilmar).“
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 Wenn der Paulinismus aber in jener Periode nur in gebrochener Gestalt auftrat, so folgt daraus nicht, daß die Substanz des Christenthums selbst nicht mehr vorhanden war. Die Heilsthatsachen, das Wort von Buße und Glaube, von Sündenvergebung und Wiedergeburt im Allgemeinen wurde im christlichen Sinne festgehalten. Die Unbefangenheit und Ungenauigkeit im Ausdruck darf nicht angeführt werden, um die Lehre der Kirche jener Zeit als unsicher und schwankend darzustellen (Thiersch, Gesch. des apost. Zeitalters. 3. Aufl. S. 348). Dies gilt auch für Justin. Nur allmählich, nur auf dem Wege einer wirklichen geschichtlichen Entwickelung konnte die Kirche andererseits in die unerschöpfliche Fülle der Heilsoffenbarung für ihre denkende Reflexion, ihr erkennendes Selbstbewußtsein eindringen. Mit dem Elementaren, Fundamentellen, Objektiven mußte die theologische Arbeit beginnen. Ohne Irrthum verläuft die Periode der geschichtlichen Auswirkung des Verständnisses der Offenbarung| nicht. Den Irrthum hat Gott nicht gewollt. Aber Gott kann ihn, Gott konnte auch die so früh auftauchende gesetzliche Richtung im Zusammenhang mit seiner Wahrheit zu seinen Zwecken benutzen. Aus beiden erwuchs der alte Katholicismus mit seiner Festigkeit und Geschlossenheit als eine uneinnehmbare Burg der anstürmenden Welt gegenüber, die spätere mittelalterliche Kirche als eine bei all ihren Verirrungen großartige heilspädagogische Anstalt für die Völker des Abendlands, als eine providentielle Vorbereitungsstufe für eine neue Vertiefung und Verinnerung des christlichen Geistes, wie sie in der Reformation im Anschluß an das paulinische Evangelium zum Durchbruch kam.
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 Doch gehen wir zu dem Einzelnen über. Der Herr Verf. beginnt mit der Darstellung der Grundanschauung Justin’s vom Wesen des Christenthums nach der ersten Apologie und findet dasselbe in der „Anbetung des wahren Gottes und in tugendhaftem Leben im Glauben an den ewigen Lohn“, oder genauer „in einer, durch Christus vermittelten Erkenntniß des wahren Gottes und gerechtem Wandel in der Sehnsucht nach ewigem und vollkommenerem Leben mit Gott und in der bestimmten Erwartung dieses unvergänglichen Lohnes (S. 85. 89)“. Wir haben hingegen mancherlei einzuwenden. Wir schweigen davon, daß Justin eine eigentliche Definition des Christenthums nicht geben will, und daß nach anderen klaren Aeußerungen ihm das Christenthum im Glauben an Jesum als den Christ oder Sohn Gottes besteht. Mit jenem urchristlichen Schiboleth schließt der Dialog. Das müssen wir aber hervorheben, daß das specifisch Christliche in jenen Definitionen in Widerspruch mit Justin’s wirklichen Aeußerungen mit Unrecht zurücktritt. Wo Justin zuerst vom christlichen Glauben selbst redet (I, 5 u. 6), spricht er in höchst charakteristischer Weise zunächst mehr vorübergehend (c. 5) von der Menschwerdung des Logos und dann ausdrücklich im Gegensatz zu der Beschuldigung der Gottesleugnung von der Anbetung der göttlichen Trias. Allerdings reiht nun J. dem Sohne das Heer der guten Engel an; v. E. gibt aber selbst wenigstens S. 87 zu, daß daraus nicht eine Gleichstellung der Engel mit der Trias folge. Daß eine solche nicht gemeint sei, geht schon daraus hervor, daß so oft auch in den Apologien die göttliche Trias noch erwähnt wird, nie wieder die Engel eingefügt werden. Wenn Justin es an unserer Stelle thut, so geschieht es in dem naiven apologetischen Interesse,| dem Vorwurf der ἀθεότης in Vernachlässigung des heidnischen Götter- und Dämonendienstes möglichst kumulativ zu begegnen. Er reiht die Engel aber unmittelbar dem Sohn an, weil sie, zur Obhut über die sichtbare Welt und die Menschen gesetzt, mit dem Sohne die Weltbeziehung theilen (vergl. Kahnis, Lehre v. h. Geist I, S. 241, auch Möhler, Patrologie S. 240). Von einer eigentlichen Engelanbetung ist dabei nicht die Rede (vergl. Kahnis a. a. O., Semisch, Justin d. M. II, S. 357 ff.); wohl aber hat Athenagoras ganz im gleichen Interesse der göttlichen Trias die Engel beigefügt (leg. c. 10). Justin lehrt wie Athenagoras, Origenes und Ambrosius einen Engeldienst; Origenes unter ausdrücklicher Verwahrung gegen eine Beeinträchtigung der Ehre des Allerhöchsten (c. Cels. 8, 57. 58). Die göttliche Trias ist dem Justin etwas in sich Abgeschlossenes, wie den anderen Kirchenlehrern; von ihr allein leitet er das Heil her, nicht etwa auch von den Engeln; der Sohn ist der Offenbarer und Vollstrecker des Heils; der heil. Geist erscheint als die die Heilsgeschichte durchwirkende Potenz (πνεῦμα προφητικόν), aber auch als der Träger des Heilsbestandes; er ist das Prinzip der Erleuchtung: nur der vom heil. Geist erfüllte menschliche Sinn kann Gott schauen (Dial. 3); die Christen sind mit dem heil. Geist getauft (Dial. 29), sind das aus Geist und Glauben gezeugte Geschlecht (Dial. 135). Es ist also die Behauptung unrichtig, daß Justin nicht dem heil. Geist, sondern nur dem Logos die Wiedergeburt zuschreibe (S. 144). Die Wurzel der Trinitätslehre ist die Gottheit Christi; auf diese legt Justin allen Nachdruck; überhaupt ist es durchaus der heilsgeschichtliche Weg, der Weg von unten nach oben, den er geht: der gekreuzigte Mensch Jesus ist Gott. Wenn v. E. S. 318 sagt, nach dem Dialog habe es den Anschein, als sei der heil. Geist von der Anbetung ausgeschlossen, so genügt hiegegen der Hinweis aus Joh. 17, 3 (vergl. Otto zu Dial. 65, nota 6; derselbe: Ersch u. Gr. XXX, S. 65. Anm. 26; Semisch II, 313 f. Anm. 1). Wenn Weizsäcker (a. a. O. S. 77) behauptet, es finde sich bei Justin kein Raum für eine Trinität, so hat diese Aeußerung den Schein einiger Berechtigung nur durch die so häufige Verwechslung einer spekulativen Darstellung der Trinität mit dieser selbst als heilsgeschichtlicher Wahrheit. Justin ist ohne alle Frage Zeuge für den urchristlichen Glauben an Vater, Sohn und Geist als göttliche Personen, als die drei Grundprinzipien des Heils (vergl.| Kahnis, Kirchenglaube S. 56; Otto a. a. O. S. 68) und theilt diesen Glauben selbst.

 Gleichwohl hat nun aber v. E. in dem Abschnitt: die Mehrheit göttlicher Wesen und die trinitarische Formel (S. 141 f.) sich geradezu dahin ausgesprochen, daß Justin völlig indifferent sei gegen den Gedanken einer solchen Mehrheit, so daß auch die Engel in letztere Kategorie gehören und der Unterschied zwischen ihnen und der Trias ein fließender wird. Wo lehrt denn aber Justin, daß die Engel göttliche Wesen sind? Er lehrt, daß Gott die Menschen und Engel geschaffen habe (II, 7). Rößler hat schon gesagt: „Man würde aber sehr irren, wenn man den Justin der Vielgötterei beschuldigen wollte (Bibl. der Kirchenväter I, S. 159).“ Es gehört zu dem Befremdendsten in dem ganzen Buche, daß v. E. wenn auch mit einiger Reserve aber doch unverhüllt genug das urkirchliche Bekenntniß von Vater, Sohn und Geist, wie es bei Justin auftritt, als unter dem Einfluß eines durchaus heidnischen Gottesbegriffs und polytheistischer Anwandlungen stehend betrachtet. Justin’s Glaube an die göttliche Trias ist aber dem Wesen nach, wenngleich derselbe Subordinatianer ist, eins mit dem Trinitätsglauben der gesammten Kirche.

 Wir müssen es jedenfalls für durchaus unrichtig erklären, und dem gegebenen Thatbestande widersprechend, wenn v. E. in jener Darstellung des Wesens des Christenthums nach Justin’scher Anschauung das Specifische der christlichen Gottesverehrung völlig und geflissentlich übergeht. Aber auch das Weitere können wir nicht für völlig richtig halten. Was v. E. von der Sehnsucht nach dem ewigen Leben und Erwartung des unvergänglichen Lohnes im Sinne Justin’s sagt, kann einen ganz guten Sinn geben; wie viel redet doch die Schrift vom Lohne! v. E. faßt aber von vorne den Lohn als rein gesetzliche, nur von der göttlichen Gerechtigkeit ausgehende Ablohnung gewisser äußerer Leistungen auf, und hält dies mit größter Konsequenz für seine ganze Darstellung zum großen Nachtheil derselben fest. Das specifisch Christliche tritt im Verlauf v. E. so zurück, daß er S. 410 von einer Denkweise, unter deren Herrschaft Justin stehe, redet, welche das Christenthum zu einer göttlichen Lehre von Gott, Tugend und Unsterblichkeit zu degradiren drohe. Die äußerste Selbst- und Werkgerechtigkeit erscheint hiernach als Justin’s wirkliche Anschauung. Wir behaupten dagegen, das Christenthum ist Justin| nach der mehr objektiven Seite Anbetung der göttlichen Trias, nach der mehr subjektiven Seite Hoffnungslehre, und dies zwar im spezifisch, im ächt christlichen Sinne, wonach Christus der Inhalt der Hoffnung ist (cf. Kol. 1, 27). Die Richtung Justin’s ist durchaus eine eschatologische; das eschatologische und christologische Element greift aber lebendig in einander. Die Hoffnung auf „den Lohn“ ist Hoffnung auf Christum selbst. Es muß deshalb gesagt werden, im Gegensatz zu der v. E.’schen Darstellung, daß Justin schon in den Apologien, sogleich wo er auf das Christenthum selbst zu sprechen kommt, das Spezifische desselben sehr bestimmt hervorhebt. Schon I, 8 ist wesentlich Bekenntniß christlicher Hoffnung; Dial. 35 wird das Christenthum wörtlich als Hoffnungslehre bezeichnet. Die ächt apostolisch lautenden Stellen kehren immer wieder, daß die Christen mit Freuden auch das Aeußerste dulden in der gewissen Hoffnung ewigen Lebens und ewiger Herrlichkeit (I, 11; I, 39; Dial. 48, 96). Die Christen sind die auf Christum hoffenden (I, 48; Dial. 16; I, 32); der Vorwurf des Juden Trypho ist, daß die Christen auf einen gekreuzigten Menschen ihre Hoffnung setzen (Dial. 10). Christus selbst ist die Hoffnung der Christen (Dial. 11, cf. Dial. 52). Es geht etwas zu weit, zielt aber auf das Richtige, wenn Weizsäcker sagt: „Der Glaube an Christus selbst ist nichts anderes, als die Hoffnung auf die messianischen Güter (a. a. O. S. 110).“ Es ist nun eine sich uns mit aller Entschiedenheit aufdrängende Wahrnehmung, daß Justin in den Apologien, zumal im Anfang der I. Apologie sich alle Mühe gibt, die Gegenstände christlichen Glaubens möglichst in der Sprache und Vorstellung seiner heidnischen Umgebung darzustellen, wodurch die Darstellung formell etwas eigenthümlich Gewundenes, Schwerfälliges, materiell einen starken ergistischen Zug erhält, welch letzterer gewiß im Ausdruck noch stärker lautet, als er der Sache nach gemeint ist, obwohl wir den gesetzlichen Zug im Christenthum Justin’s sonst nicht im Mindesten in Abrede stellen. Diese Wahrnehmung finden wir von Harnack bestätigt: es läßt sich nicht verkennen, daß Justin in der Apologie, wie besonders die ersten 12 Kap. zeigen, in Form und Ausdrucksweise so entgegenkommend als möglich ist (a. a. O. S. 635 f.). Die Hoffnung hat das Moment der Vergeltung in sich und es hat gar nichts Verwunderliches, wenn Justin als Folie für die christliche Hoffnungslehre eine Vergeltungslehre aufstellt und letztere auch im| Heidenthum schon ausgesprochen findet. Nach letzterer aber jene bestimmen zu wollen, wäre ebenso übereilt, als nach Joh. 5, 28. 29 und Röm. 2, 6–10 ausschließlich den Wesenscharakter des Christenthums zu bezeichnen. Es erscheint als gründliche Verkehrung Justin’scher Anschauung, wenn v. E. S. 249 diese so darstellt: die Hoffnung auf Gott macht gerecht, insofern als sie zu Leistungen anspornt, die Gott zur Bedingung des Lohnes gemacht hat, auf den man hofft. Daß die Hoffnung nur an denen sich realisirt, die sie festhalten auch unter den äußersten Drangsalen und Aufopferungen, lehrt auch die Schrift (cf. Beck, Christl. Liebeslehre I, S. 49), und im Kern und Wesen hat Justin nichts anderes gelehrt. Selbstverständlich mußte er, wenn er vom Standpunkt der Hoffnung auf das christliche Leben betrachtete, großen Nachdruck auf die Heiligung, auf die Werke, besonders auf das Bekenntniß und das Martyrium legen; die Schrift thut es auch, Matth. 24, 13; Hebr. 10, 23 ff. 35 ff. Jener Gedanke ist aber, konsequent verfolgt, geradezu unerträglich. S. 472 werden als die einzigen religiösen Momente des christlichen Lebens bei Justin „allenfalls“ die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott und die Hoffnung auf dieselbe bezeichnet; ganz dasselbe behauptet Harnack in der angeführten Recension. Aber wenn die Hoffnung Justin’s, die sich auf die Vollendung des Einzelnen wie die der Gemeinde in einem ewigen Reich bezog (I, 11), nicht Schwärmerei ist, sondern auf Realität sich gründet, so trägt sie das ganze Christenthum in sich, den Gott des Heils, das vollbrachte Heil, und die Aneignung dieses Heils im Glauben. v. E. sagt mit Recht (S. 473), die Hoffnung lasse sich nicht als Leistung fassen; wenn die Hoffnung aber keine Leistung ist, dann ist es auch der Glaube nicht, wie v. E. so oft behauptet, denn der Glaube trägt ja bereits das Moment der Hoffnung in sich (Hebr. 11, 1) und die Hoffnung ist der ausgewirkte, nach dem Ziele der Vollendung sich ausstreckende Glaube. Die Hoffnung wird als religiöses Motiv bezeichnet (S. 473), sie ist dies aber doch in anderem Sinne als ein ethisches Motiv zur Erreichung eines ethischen Ideals überhaupt; sie ist eine lebendige Geisteskraft, in der sich die Welt der Zukunft bereits spiegelt, auf welche sie sich stützt. Es ist bei Justin nicht so, wie es v. E. darstellt, daß er eine Heilszukunft ohne Heilsgegenwart lehrte. Mag diese auch über Gebühr zurücktreten, sie ist schon in der Sündenvergebung und Wiedergeburt gegeben. Allerdings| aber fügen sich die einzelnen Momente des subjektiven Heilslebens bei Justin durchaus nicht in evangelischer Klarheit zu einem Gesammtbilde.

 Der Herr Verf. betrachtet als Grundanschauung Justin’s, daß das christliche Leben, daß Frömmigkeit und Gerechtigkeit Leistungen und zwar rein menschliche Leistungen sind, zu denen der Mensch durch Belehrung über Wesen und Willen des wahren Gottes und durch Aussicht auf Lohn und Strafe nach dem Tode getrieben wird (S. 89. 93). Christus ist wesentlich Lehrer und der Glaube an ihn im Unterschied von der Befolgung seiner Lehre hat hier keine Stelle (S. 89). In der Ausrüstung des Menschen mit Vernunft und Freiheit hat Gott das Seinige zur Gerechtigkeit des Menschen gethan, alles übrige ist Sache des Menschen (S. 152). Der Mensch ist unbedingt frei (S. 153). Gott wirkt nach dem Abfall des Menschen nur insofern zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit mit, als er sich deutlicher denn zuvor dem Menschen als Quelle und Norm der Gerechtigkeit gegenüberstellt – – Gott kann den Menschen nur belehren und der Mensch kann diesen Belehrungen folgen. Zu einer persönlichen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch kommt es in diesem Aeon nicht – – –. Justin’s Begriff von der Welt ist ein anderer als der christliche, weil sein Gottesbegriff ein anderer ist als der biblische (S. 156). Justin brachte es nicht zu einer scharfen Unterscheidung von Gott und Welt noch zu einer richtigen Verhältnißbestimmung. Er mußte einerseits die Grenzen zwischen Schöpfer und Geschöpf verwischen und andererseits eine unausfüllbare Kluft zwischen beiden befestigen (S. 157), d. h. der Gott Justin’s ist nicht geistige Persönlichkeit und ist die absolute Transcendenz.

 Wird nun in Betracht gezogen, daß Justin nach dessen klaren, unmißverständlichen Aeußerungen an die Gottheit Christi, an Vater, Sohn und Geist, an Weltschöpfung, Welterhaltung und Welterlösung, an die Heilsthatsachen von der Geburt des Gottessohnes aus der Jungfrau bis zu dessen Wiederkunft in Herrlichkeit, an die Heilsvorbereitung in der Zeit des alten Bundes, an die göttliche Inspiration der Schrift desselben, welch’ letztere, um mit Semisch zu reden, „das Herzblut ist, an welchem sein geistiges Leben sich nährt“ (Ev. Kalender 1852, S. 70), an die Göttlichkeit des Berufes und Zeugnisses der Apostel glaubt; daß sein Gottesbegriff wohl alle| wesentlichen eigenschaftlichen Bestimmungen der Schrift enthält, da Gott nach Justin allmächtig, allwissend – auch das Innerste der Gedanken erforschend – vom Raume nicht beschränkt, gerecht, heilig, gnädig und barmherzig ist, daß er eine göttliche Wirksamkeit des Wortes und Sakramentes, eine Wiedergeburt, eine neue Lebensschöpfung, deren Anfänger und Prinzip Christus ist, eine Gegenwart Christi in seiner Gemeinde, ein schließliches Gericht, eine ewige Scheidung zwischen Guten und Bösen, eine Erlösung und Verklärung seiner Gemeinde, ein tausendjähriges Reich, einen neuen Himmel und eine neue Erde lehrt; wird dazu genommen, daß Justin allenthalben eine glühende Liebe zur Sache der Christen an den Tag legt, daß er gelegentlich ausruft: ich bekenne, daß ich darum bete und mit jedermann in die Wette um die Ehre kämpfe, als wahrer Christ befunden zu werden (II, 13), daß er jeden Tag für den Christus, den er liebt (ebenda), sein Leben zu lassen bereit ist, und es als sichere Erwartung ausspricht, um des Christenbekenntnisses willen demnächst an das Kreuz geheftet zu werden (II, 5), so erscheinen die Behauptungen v. E.’s so überraschend, daß es sich wohl der Mühe lohnt, der Sache näher zu treten.

 v. Engelhardt muß, um seine Anschauung durchzuführen, behaupten, daß Justin manches vom christlichen Gemeindeglauben nur als Formel sich angeeignet, oder es doch angenommen habe ohne völlig hinreichenden inneren Grund; anderes von seinen heidnischen Anschauungen aus gänzlich umgesetzt und umgedeutet habe; endlich hilft er sich damit, daß er öfters geradezu Verwirrung und Selbstwiderspruch bei Justin annimmt.

 Es darf bei Justin offenbar nicht aus dem Auge gelassen werden, daß er nichts weniger als systematisch verfährt weder im Ganzen noch im Einzelnen. Mit Recht hat ihn Neander einen unsystematischen Geist genannt (Dogmengesch. I, 63 f.). Die Wahrheit des Dogma ruht in der organischen Zusammenfassung des für das natürliche Denken gegensätzlich Auseinanderliegenden. Dies Gegensätzliche kennt Justin, er faßt es aber häufig in keiner Weise zur Einheit zusammen. Er hatte in seinem rein apologetischen Streben zunächst auch keine Veranlassung zu solchem Verfahren. Er hebt wohl in letzterem Interesse die eine Seite der christlichen Wahrheit in einer Weise hervor, als existirte die andere nicht, holt diese aber gleichwohl an einer anderen Stelle nach (vergl. Otto,| Ersch u. Gr. a. a. O. S. 62; Duncker a. a. O. S. 1130). Die eigentliche Theologie thut in Justin in denkender Reflexion über die christliche Wahrheit die ersten Schritte; von Orthodoxie im späteren Sinne kann deshalb keine Rede sein; manches Rohe, Unvermittelte, Ungegorne, vor Allem manche Unbeholfenheit des Ausdrucks war hier unvermeidlich. Es ist Aufgabe des Beurtheilers, sich an die Sache selbst zu halten, das Disparate und Getrennte möglichst zu einem Gesammtbild zu vereinen.

 So ist die Theologie Justin’s von der Idee der Freiheit getragen. Es sind die höchsten sittlichen Interessen, die Justin bestimmen, mit solchem Nachdruck diese Idee zu betonen. Den Vorwurf der Unsittlichkeit gibt Justin dem Heidenthum zurück und findet die Untergrabung und Aufhebung aller sittlichen Prinzipien in dessen Determinismus und Fatalismus. Seine Freiheitslehre ist der unmittelbare Appell an das Gewissen der Heidenwelt, sich von den Banden dämonischen Zaubers zu lösen und der neuen Welt der Wahrheit und sittlichen Reinheit, die im Christenthum zur Erscheinung gekommen, Eingang zu gestatten. Allerdings thut dies Justin mit großer Einseitigkeit, am meisten in der Stelle I, 10. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Justin den natürlichen Kräften des Menschen zu viel einräumt, und so ernst er auch über die Sünde urtheilt und die ganze Furchtbarkeit ihrer geschichtlichen Erscheinung gar wohl erkennt, doch nicht in die innerste Tiefe des menschlichen Verderbens hinabschaut.

 Gleichwohl scheint v. E. mit der Behauptung: Sünde und Abfall von Gott ändere an der Wahlfreiheit nichts (S. 155), viel zu weit zu gehen. Justin kennt neben der Freiheit auch eine Gebundenheit und nach I, 61 wird der Mensch erst durch die Wiedergeburt ein Kind der Wahl, der Freiheit (προαιρέσεως). Es ist charakteristisch, daß Justin unmittelbar nach jener starken Betonung menschlicher Freiheit von der Macht der Dämonen und einer mit diesen verbündeten, in jedem Menschen vorhandenen, zu allem Bösen geneigten mannichfaltigen Begierde redet (I, 10). Der Herr Verf. findet, daß Justin sich hier mit der dualistischen Denkweise berühre (S. 160), aber S. 161 gibt er zu, daß derselbe unwillkürlich dem ächt christlichen Gedanken folge, wonach die erste Sünde Auflehnung wider Gott war und darum den Menschen unfähig machte, das Gute zu wollen und zu thun; Justin sei wenigstens geneigt, dies zu glauben.| Es finde sich eine Verknüpfung widersprechender christlicher und fremdartiger Gedanken, die Ursache weiterer Verwirrung sei. So verfährt v. E. öfters; ein richtig analytisches, ein wahrhaft geschichtlich kritisches Verfahren können wir hierin nicht erkennen. Nach unserer Meinung ist Justin nicht blos geneigt, obiges zu glauben, sondern er glaubt es wirklich. Wo soll denn der Dualismus liegen? Ein Mann, der wie Justin die Schöpfung aus Nichts – der Sache nach wenigstens – und die Auferstehung des Fleisches lehrt, ist nicht Dualist. Der Dualismus zeigt sich in Verachtung des Körperlichen, welche auch Plato nicht fremd ist (Ritter, Gesch. der Phil. II, S. 292 f.). Die Würdigung des Leiblichen ist aber gerade eine der Lichtseiten der ächt christlichen Anschauung Justin’s. Und wie reimt sich Justin’s Freiheitslehre, die Lehre, daß Gott die Engel und das Menschengeschlecht ursprünglich frei erschaffen hat, mit der Annahme einer mit der Schöpfung gesetzten bösen Lust? Der Philosoph Ritter verfährt hier weit richtiger, indem er die böse Lust einfach als Folge des Falles anzusehen scheint (Gesch. der Phil. V, 306): „Jetzt sind nun aber die Menschen, verführt von der Schlange, den Versuchungen der bösen Dämonen anheimgefallen, welche zu ihrer Bundesgenossin die in Jedem wohnende, zu allem Schlechten geneigte und von Natur vielfarbige Begierde haben“. Bei dieser Fassung steht die Stelle in bestem Einklang mit Dial. 88, wo wir lesen, Christus sei geboren und gekreuzigt für das Menschengeschlecht, welches von Adam her (ἀπὸ τοῦ Ἀδὰμ) unter den Tod und unter die Verführung der Schlange (πλάνη, seductio, wie von Otto übersetzt) gerathen war, indem ein Jeder durch eigene Schuld böse handelte. Es ist über diese Stelle unendlich viel geschrieben worden. So wenig, wie von Seiten v. Engelhardt’s, ist kaum je darin gefunden worden. Nach ihm ist nur der Zeitpunkt angegeben, von wo an Sünde und Tod sich ausbreiteten; sie ist nicht einmal so zu verstehen, als sei der Tod durch die Sünde in die Welt gekommen, jeder einzelne Mensch folgte in vollkommener Freiheit dem Beispiel Adam’s. Man erkennt aber aus der Ausdrucksweise, daß in der christlichen Gemeinde gelehrt wurde, von Adam her sei Sünde und Tod in der Menschheit herrschend geworden. Er schloß sich dieser Formel an und legte sich dieselbe in seiner Weise zurecht, ohne ihren Sinn zu treffen (S. 266 ff.). Welche Vorstellung muß man doch hiernach von einem Manne wie Justin haben, der ein vollgewichtiger Repräsentant der Kirche| seiner Zeit ohne alle Frage auf der Höhe der in ihr vorhandenen christlichen Bildung steht! Es gibt ja auch keinen annehmbaren Sinn, daß die Sünde der Einzelnen das Verfallensein des „Geschlechts“ unter die Mächte des Todes und der Finsterniß bewirkt habe; letzteres erscheint vielmehr als eine abgeschlossene Thatsache, wie auch durch das Tempus ausgedrückt ist; die Thatsünde, die immerhin des Einzelnen Schuld ist, kommt nur zu derselben hinzu und entwickelt sich aus ihr. Die Stelle erinnert unmittelbar an Röm. 5, 14. Justin lehrt nicht blos einen geschichtlichen, sondern ursächlichen Zusammenhang zunächst der Todesherrschaft im Menschengeschlechte mit dem Falle Adam’s, was z. B. auch Landerer zugibt (Verhältniß von Gnade und Freiheit, Jahrb. f. d. Theol. II, S. 519). Die Todesgemeinschaft setzt aber doch auch irgendwelche Sündengemeinschaft voraus, da Sünde und Tod an sich im Verhältniß von Ursache und Wirkung stehen (Dial. 100. 124). Ist das Menschengeschlecht unter die Verführung (nicht Irrthum, wie v. E. übersetzt) der Schlange gerathen, so muß etwas in dasselbe gekommen sein, wodurch es für die feindliche Macht verführbarer geworden ist; dies erklärt Baur ausdrücklich für die Anschauung der ersten Kirchenlehrer, auch Justin’s (Dogmengesch. I, S. 586); hiermit ist aber die volle Uebereinstimmung mit Apol. I, 8 nach unserer Fassung gegeben. Neander sagt geradezu: Justin betrachtet die Herrschaft der Sünde und des Todes als Folge der ersten Sünde (Dogmengesch. I, S. 197; vergl. auch Lange a. a. O. I, S. 177; Rößler a. a. O. S. 167; theilweise auch Weizsäcker a. a. O. S. 105). Was sollte auch nach dem dortigen Zusammenhang die als unnütz zurückgewiesene Frage: konnte Gott nicht sofort eine Vielheit der Menschen schaffen? (Dial. 102), wenn Justin nicht von der Voraussetzung ausgeht, daß, nachdem Gott den Menschen als Einen geschaffen, mit der Sünde des Einen auch die Sünde des Geschlechts gegeben war? Die Stelle Dial. 124: sie aber, Adam und Eva ähnlich, ziehen sich den Tod zu, widerspricht all dem durchaus nicht, weil hier nicht von Sünde und Tod im Allgemeinen, sondern von der Sünde der Verschmähung des Heils und vom ewigen Tode, von der Verdammniß die Rede ist. Von letzterer redet der Schluß des Kapitels ausdrücklich.
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 Thomasius wird doch so Unrecht nicht haben, wenn er in seinem „Origenes“ (S. 76) unter Anführung auch Justin’s behauptet: „Die Folge der ersten Sünde betreffend lehrten die Väter fast einstimmig,| daß zwischen der Sünde Adam’s und der Sündhaftigkeit aller seiner Nachkommen ein Zusammenhang stattfinde, indem jene den Verlust des wahren göttlichen Lebens für das ganze Geschlecht, damit zugleich die Sterblichkeit des Leibes herbeigeführt, und die Menschheit der Herrschaft des Satans unterworfen habe“; er hält dies in seiner Dogmengeschichte fest (I, S. 452; vergl. auch das allgemeine Urtheil bei Nitzsch, Grundriß der christl. Dogmengesch. I, S. 353).

 Bestätigt wird das Gesagte durch I, 61, wonach wir von unserer ersten Geburt her Kinder der Unfreiheit und Unwissenheit (ἀνάγκη und ἄγνοια) sind, und erst durch die Taufe Kinder freier Wahl und Erkenntniß werden (vergl. über diese wichtige, von E. allzuwenig gewürdigte Stelle: Rößler a. a. O. S. 123 ff., der sehr richtig sagt: Justin schreibt den Menschen nicht ausdrücklich Erbsünde zu, doch leugnet er sie hiermit nicht; auch Thiersch, Zeitschrift von Rudelbach u. Guericke 1841, II, S. 171 ff., der allerdings zu weit geht; Neander, Dogmengesch. I, S. 197). Nach Apol. II, 1 hat der Mensch von Natur einen schwer zu ändernden, der Lust ergebenen und zum Guten schwer zu bewegenden Sinn. Wird nun noch dazu genommen, daß Justin eine Knechtung der Menschen durch die Dämonen (I, 5. 14), eine förmliche Unterjochung jener durch diese (ἐδούλωσαν II, 5) lehrt, so dürfte doch klar sein, daß der Märtyrer beides vom Menschen aussagt, daß er frei und gebunden, frei und unfrei zugleich sei. Beides hat er allerdings nicht wohl vermittelt. So ganz unzufrieden sollte man übrigens mit dem ersten Theologen nicht sein, wenn er so fern ist als möglich von allem Determinismus, denn dieser ist in jeder Gestalt ein bedenklicher Bundesgenosse der christlichen Wahrheit.

 Justin redet nun ebenso davon, daß der Mensch ein sittlich religiöses Wissen habe, als er ihm Unwissenheit, Verdunkelung des sittlich-religiösen Bewußtseins zuschreibt. Recht gut redet er von einem γνωριστικὸν καλοῦ καὶ αἰσχροῦ (II, 14), aber auch von der Möglichkeit, die φυσικαὶ ἕννοιαι zu verlieren (Dial. 93). Der Mensch ist aber ebenso ein Kind der ἄγνοια (I, 61) und bedarf übernatürlicher Erleuchtung. Jener Greis, der Justin zum Christenthum führt, ruft ihm zu: „Bete vor Allem, daß Dir des Lichtes Thore aufgethan werden; denn nicht sind es Dinge, für alle ersichtlich und erkennbar, außer wenn es einem Gott und sein Christus gibt, sie zu verstehen (Dial. 7)“ – eine sehr charakteristische Stelle, die,| wenn wir nicht irren, v. E. ganz übersehen hat. Von einer Erleuchtung durch Christum und seine Gnade redet Justin öfters (Dial. 39. 58 u. 119). Es ist dies geradezu die Hauptfrage, ob Justin eine wirklich erleuchtende und erneuernde Gnade in biblisch-kirchlichem Sinne lehre. Ist dies erwiesen, so wird die Behauptung, daß Justin im Christenthum nur eine Vervollständigung dessen lehre, was auch auf außerchristlichen Gebieten an sittlicher Erkenntniß und sittlicher Kraft gegeben war, hinfällig. Auch Landerer hat diese Frage so ziemlich verneint, dagegen sagt Otto: „Neben der menschlichen Selbstthätigkeit, wie sie in Glaube und Buße hervortritt, erkennt J. auch die Nothwendigkeit der göttlichen Gnade zur Umwandlung (Ersch u. Gruber a. a. O. S. 73 f.).“ Lehrreich hierfür ist die Stelle Dial. 116 im Zusammenhalt von I, 50 (vergl. Kahnis, Lehre vom heil. Geist I, S. 243). Doch sehen wir uns den ganzen Justin an! Die Christen sind durch die „Kraft des unaussprechlichen Vaters“ was sie sind und nicht durch menschliche Weisheit und menschliches Wort (I, 60; II, 10). Nach v. E. ruht bei Justin aller Nachdruck ausschließlich auf Lehre und Wissen; um so bedeutsamer ist uns, was Justin dem göttlichen Worte zuschreibt. Er preist wiederholt dessen Kraft (Dial. 121, II, 10); er nennt es den Scepter der Macht Christi (I, 45). Er selbst hat seine Majestät zur Buße und Beschämung und zu süßester Erquickung erfahren (Dial. 8); es ist so süß, daß man des Todes Bitterkeit darüber vergißt (Dial. 30); das Wort ist voll des heil. Geistes, überfließend in Kraft und blühend in Gnade (Dial. 9); das Wort der Apostel hat die Welt mit der Gnade und Herrlichkeit Gottes und Christi erfüllt (Dial. 42); brennender und leuchtender als die Kräfte der Sonne ist seiner Wahrheit und Weisheit Rede und in das Innerste des Herzens und Gemüthes dringt sie (Dial. 121). Durch das Wort seiner Berufung entflammt sind wir ein wahres priesterliches Geschlecht geworden, sagt J. (Dial. 116). Wer so vom Worte redet, der ist entweder ein Rhetoriker oder er findet im Worte Gottes mehr, als die Ueberzeugungskraft, die jeder menschlichen Rede unter gewissen Voraussetzungen innewohnt, er sieht im Worte die Potenz neuen Lebens, das Organ Christi und seines Geistes, wie denn die wahre Herzensbeschneidung ebenso dem Worte (Dial. 113. 114) als Christo dem Auferstandenen selbst zugeschrieben wird (Dial. 41).
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 Am entscheidendsten für vorliegende Frage ist aber Justin’s klare| Lehre von der Taufe als dem Mittel der Wiedergeburt (I, 61). Aber auch hier deutet v. E., im Anschluß an die Justin untergeschobene Theorie von Leistung und Lohn, und an Weizsäcker (a. a. O. S. 110 f.), nach welchem die Taufe Justin nur ein Symbol ist: „Die Abwaschung selbst geschieht durch den Menschen, der in der Umwandlung seines Sinnes und der Erkenntniß Christi, die er annimmt, die Sünden ablegt“, vollständig um; die große Umwandlung, die das Christenthum bewirkt, erscheint lediglich als Selbstbesserung, als selbstbewirkte Sinnesänderung. Der Mensch wird in der Taufe nur insofern wiedergeboren, als er in derselben seinen Entschluß bekundet, das frühere Leben aufzugeben und ein neues Leben anzufangen (S. 103 f.); er erwählt die Wiedergeburt und bringt es zu Leistungen, die Gott mit der Vergebung der Sünden und dem ewigen Leben belohnen kann (S. 190). Man muß aber den Worten die größte Gewalt anthun, wenn man dies aus ihnen herausliest. Wir lesen: „Hierauf werden sie von uns hingeführt, wo Wasser ist, und werden in jener Art und Weise von Wiedergeburt, in welcher wir selbst wiedergeboren worden sind, wiedergeboren.“ Ausdrücklich stellt Justin die erste und zweite Geburt einander gegenüber, ausdrücklich beruft er sich auf Joh. 3, ausdrücklich nennt er die Taufe c. 66 das zur Vergebung der Sünde und Wiedergeburt bestimmte Bad. Ausdrücklich führt er letzteres Wort drei mal in einem Satze an. Wie wenig genau öfters v. E. mit den Worten Justin’s verfährt, geht unter anderem aus S. 103 hervor: „Auf den Namen J. Chr. und des heil. Geistes wird der, welcher erleuchtet ist, gewaschen.“ Es heißt aber φωτιζόμενος (I, 61) baptizandus, was einen ganz anderen Sinn gibt (cf. Otto zu der St.; Semisch a. a. O. II, S. 428, n. 6). Die Wiedergeburt ist etwas, was der Mensch nicht thut, sondern was er an sich erfährt, allerdings auf Grund einer freien Entscheidung in Buße und Glauben; er erwählt es, wiedergeboren zu werden (c. 61); hiermit ist aber gerade das substantiell sakramentale und das ethische Element aufs Angemessenste vereinigt. Denn wider den eigenen Willen wird Niemand der Wiedergeburt theilhaftig; Justin sieht in der Taufe ein Mysterium, er denkt sich ihre Wirkung aber allerdings nicht magisch (cf. Kahnis, Dogmatik II, S. 324: „Die Taufe wirkt die Wiedergeburt; das sagt schon die klassische Stelle bei Justin mit großer Bestimmtheit.“ Semisch a. a. O. II, S. 430, von Otto, Ersch u. Gr. S. 72;| „Obschon Justin Vernunft und Wille des Menschen hervorhebt, ist er doch im Geiste der Kirche von der Nothwendigkeit der Wiedergeburt und der göttlichen Gnade zur Heiligung überzeugt“, gut auch Böhringer, Die K. Christi u. ihre Zeugen, 2. Aufl. I, S. 257 f., besonders Luthardt, Just. d. M. u. das Joh. Ev. in Prot. u. K. 1856, II, S. 95).

 Justin ist schlechterdings kein Rationalist, wozu ihn v. E. fort und fort macht, Christus ist ihm, wie v. E. behauptet, durchaus nicht bloser Lehrer, er ist ihm wie der Schrift und der Kirche Prinzip und Ausgangspunkt eines neuen Geschlechts (ἀρχὴ ἄλλου γένους), welches wiedergeboren ist von ihm durch Wasser und Glaube und Holz (Dial. 138). Diese Stelle ist von um so größerer Bedeutung, als Justin voraussendet, er sei solches, weil er der Erstgeborene vor aller Kreatur ist. Die innerste Anschauung Justin’s, die Einheit seines dogmatischen und ethischen Standpunktes tritt hier zu Tage. v. E. behauptet mehr als einmal, daß Justin an die Gottheit Christi geglaubt habe, ohne in seiner religiös-sittlichen Anschauung vollen Grund dazu gehabt zu haben. Es paßt dies aber durchaus nicht auf den wirklichen Justin. Nur der Logos konnte Lehrer der absoluten Wahrheit sein; nur in ihm, dessen Wort Gottes Wort im absoluten Sinn ist (I, 63), konnte Gott geschaut und erkannt werden (vergl. Duncker a. a. O. S. 1145: Der Logos ist es, in welchem der absolut erhabene, namenlose etc. Gott uns nahe tritt und von uns erkannt und geschaut werden kann); nur derjenige, der vor aller Welt war und durch den die Welt geworden ist, konnte aber auch eine Welterlösung und Weltverneuerung zu Stande bringen, konnte innerhalb dieser von der Gewalt der Sünde und den Kräften der Finsterniß geknechteten Welt der Schöpfer eines neuen Geschlechts werden. Die Herrlichkeit einer neuen Schöpfung, die Justin wahrnimmt und die er an sich erfährt, verkündet ihm und fordert ihm die göttliche Herrlichkeit ihres Urhebers.

 Man klagt darüber, daß bei Justin so gar wenig von der mystischen Tiefe des Ev. Joh. und der Paulinischen Briefe sich finde (Landerer a. a. O. S. 524), nicht ganz mit Unrecht; er ist nicht unberührt von der so früh beginnenden Veräußerlichung und Vergesetzlichung evangelischer Begriffe. Aber manche seiner Kritiker wollen auch die Mystik aus seinen Schriften mit Aufbieten allen Scharfsinns eliminiren, die sich wirklich in ihm findet. Es geht aber doch| aus dem Angeführten hervor, daß Justin reale Gnadenwirkungen, eine lebendige, wirkungskräftige Gegenwart Christi in seiner Gemeinde kennt. Er sagt außerdem geradezu, daß der Same aus Gott, der Logos, in den Gläubigen wohnt (I, 33), und daß Christus in ihnen stets mit seiner Macht gegenwärtig ist und offenbar gegenwärtig sein wird bei seiner zweiten Parusie (Dial. 54). Auch dem Gewicht dieser Stellen sucht v. E. zu entgehen. Aber eines kann doch nicht abgeleugnet werden: der sakramental-mystische Charakter der Justinschen Abendmahlslehre. Selbst Lange, der von den Apologien, in denen sie sich findet, so gering als möglich denkt, wagt ihn nicht geradezu anzuzweifeln. Wenn aber hier ein unleugbar mystisches Element sich findet, warum nicht auch in anderen Lehren?
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 Wenn v. E. Justin einer konsequenten Umdeutung der christlichen Lehren beschuldigt, da er nun einmal für die religiösen Grundgedanken des Christenthums kein Verständniß hatte (S. 167), so müssen wir vielmehr behaupten, sein Beurtheiler lasse sich eine radikale Umsetzung der christlichen Grundanschauungen Justin’s zu Schulden kommen. Alles, Glaube, Hoffnung, Wiedergeburt, Sündenvergebung wird nach v. E.’s Meinung bei Justin etwas Anderes als es nach Schrift und Kirche ist; wir sind aber fest überzeugt, daß J. diese Realitäten dem Wesen nach im Sinne der Schrift und Kirche festhält, wenn er auch ihre Vollbedeutung nicht immer erkannte; sein Beurtheiler bemüht sich aber, in Justin’s Aeußerungen etwas ganz anderes zu finden, als der Wortlaut besagt. Wir lesen S. 190: „Daß Christus gestorben ist für das Heil derjenigen, die an ihn glauben, hat nur den Sinn, daß Christus durch den Tod in die Herrlichkeit eingegangen ist, welche ihm die Möglichkeit gibt, die, welche seine Lehre für wahr halten und ihr gehorsam sind, vom Tode aufzuerwecken.“ Erinnern solche Erklärungen nicht ganz an einen längst überwundenen Standpunkt der neutestamentlichen Exegese? Soll dieser nun der Auslegung der Kirchenväter dienen? Es ist wahr, daß der Justin’sche Glaubensbegriff häufig ein sehr intellektualistisches Gepräge hat, aber er geht gleichwohl nicht im blosen Fürwahrhalten auf. Semisch und Otto geben dies zu (a. a. O. II, 455, Ersch u. Gr. etc. S. 73). Ist Justin das Christenthum nicht blos Lehre, sondern auch Heilsthatsache, was doch klar vor Augen liegt, so muß der Glaube eine tiefere Bedeutung für ihn haben, abgesehen von der innigen Verwandtschaft des Justin’schen Glaubensbegriffs| mit seinem ächt christlichen Hoffnungsbegriff. Durch eine Menge Stellen könnte jener tiefere Begriff erwiesen werden. S. 190 f. lesen wir, daß selbst bei der Wendung θεῷ πιστεύειν nur das Zutrauen gemeint sei, daß Gott thun könne, was er versprochen und wahr machen werde, was er durch Christus der Welt kundgethan habe; dies ist ja aber gerade der Paulinische Glaubensbegriff (Röm. 4, 20. 21).

 Nach S. 105 ist Justin geneigt, sogar die Vergebung der Sünde in der Taufe als etwas zu Erwerbendes und den Empfang derselben als Lohn für eine Leistung aufzufassen und die Feier des Abendmahls als ein frommes Werk, das mit Empfang eines Lohnes verbunden ist. S. 192 lautet es dann ganz bestimmt: Die Sündenvergebung gibt nichts, sondern ist nur eine Deklaration darüber, daß durch Bereuung des Unrechts und durch Hingabe an Gott der entscheidende Schritt aus der Ungerechtigkeit zur Gerechtigkeit geschehen, daß der Mensch ein Christ geworden ist, „der nach Erlernung der Wahrheit in Werken als ein solcher erfunden werden soll, der die Gebote befolgt, damit er das ewige Leben erlange“ (I, 65). Durch die Beschränkung der Sündenvergebung auf die früheren Sünden wird die allein gerecht machende Kraft der μετάνοια oder der eigenen Leistungen des bekehrten Menschen erst recht offenbar. Denn damit ist nicht nur gesagt, daß die μετάνοια Sündenvergebung bewirke, sondern auch daß sie im Stande ist, den Menschen so umzuwandeln, daß er nach der Taufe ein Leben in vollkommener Gerechtigkeit zu führen vermag...... Nach der Belehrung durch Christus über Gott, Tugend und zukünftiges Leben und einmaliger Sündenvergebung bedarf es keiner weiteren Kraftmittheilung und Gnadenwirkung Gottes, sondern Alles wird vom Menschen selbst zum Abschlusse gebracht. Erst wenn er Alles gethan hat, greift Gott ein und macht ihn unsterblich.

 Hiermit ist für Justin ein System vollkommenster Selbsterlösung und Selbstgerechtmachung gegeben, bei welcher die christlichen Begriffe der Wiedergeburt und Sündenvergebung in gleicher Weise dahinfallen. Wie fest der erstere steht, haben wir bereits gesehen; daß aber Justin auch eine wirkliche Sündenvergebung lehre, ist eben so gewiß. Als Zweck der Taufe wird I, 61 mit klaren Worten bezeichnet, daß wir überdies – außer der Wiedergeburt – die Vergebung der früher begangenen Sünden empfangen. Als Bedingung| des Empfangs wird das Gebet um Vergebung bezeichnet. Ebenso lesen wir Dial. 86: Unser Christus hat uns, da wir in die schwersten Sünden versenkt waren, durch das Holz des Kreuzes und durch das Wasser der Reinigung befreit und zu einem Haus der Bitte und Anbetung gemacht. Sündenvergebung, Barmherzigkeit erlangen, Gerechtwerden sind bei Justin Parallelbegriffe, von denen einer den andern in seiner Wirklichkeit und Eigentlichkeit stützt und erhält.
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 Zweimal wird nun die Stelle I, 65, wo von dem Fortgang des subjektiven Heilswerks auf Grund der empfangenen Taufe geredet wird, ohne alle Berechtigung in die mit dieser gegebenen Gnadengabe hereingezogen und eigenthümlich mit dieser vermischt, an der schon angeführten Stelle (S. 192) und auch S. 103, wonach der Mensch in der Taufe „die Zusicherung empfängt, daß Gott ihm nicht mehr zürnt, sondern bereit ist, sofern er sich in Werken als ein guter Verwalter und Beobachter der Vorschriften erweist, der oder des ewigen Lebens theilhaft zu machen.“ Hier ist wieder eine völlige Umstellung der Justin’schen Gedanken gegeben. In Wirklichkeit lesen wir I, 65: wir führen den, der gläubig geworden und uns beigetreten ist, nachdem wir ihn getauft haben, zu den Brüdern in den Versammlungsort, um gemeinschaftliche Gebete sowohl für uns selbst als für den Erleuchteten und alle Andern auf der ganzen Welt mit Eifer darzubringen, auf daß wir gewürdigt werden – Otto übersetzt: der Gnade gewürdigt werden –, nachdem wir die Wahrheit erkannt haben, auch in frommem werkthätigem Leben und als Beobachter der Gebote erfunden zu werden, damit wir des ewigen Heiles theilhaft werden. In diesem schönen urchristlichen Zeugniß erscheint offenbar der durch Glaube und Taufe vermittelte Wahrheits- und Heilsbesitz als die Grundlage aller weitern christlichen Lebensentwickelung. Gerade das Gegentheil von dem unchristlichen Gedanken, daß es von der Taufe an keiner weitern Kraftmittheilung – obwohl der Vers, eine solche bei J. überhaupt nicht annimmt – bedürfe, findet sich hier und anderen Stellen, z. B. Dial. 30, wo von dem Gebete um Schutz vor den Dämonen die Rede ist, damit die Bekehrten unbefleckt bleiben; besonders aber in der schon citirten, aber nicht näher angeführten Stelle Dial. 116: wir haben durch die von unserem Jesus uns gewährte Gnade die schmutzigen Sündenkleider ausgezogen; der Teufel beunruhigt uns zwar immer, und will alle zu sich ziehen, aber der Engel Gottes,| d. i. die uns durch Jesum Christum zugesendete Gotteskraft bedräut ihn und er weicht von uns. Es ist an sich sehr gleichgültig, ob hier an den heil. Geist oder nur an die von Jesu ausgehende Heilskraft im Allgemeinen gedacht wird – jedenfalls steht v. E. mit obigen Aeußerungen in diametralem Widerspruch mit dem wirklichen Justin.

 Mag die Heilsordnung bei Justin noch so sehr getrübt erscheinen, eine durchaus unchristliche, eine rein stoische Selbstvervollkommnungstheorie, wie v. E. ihm aufbürdet, hat er nicht aufgestellt. Nach jenen Aeußerungen wäre der christliche Heils- und Heiligungsbegriff bei Justin vollkommen zerstört; Justin wäre ein vollkommener Heide. Als solcher wird er mehrentheils wirklich in unserem Buche dargestellt; dabei soll er aber doch wieder ein ganzer Christ sein, v. E. verzichtet auf jede psychologisch-ethische Einheit in der Darstellung des Charakters und der Richtung Justin’s; sonst könnte er nicht S. 453 von der christlichen Gesinnung Justin’s reden, die sich doch mit der angegebenen unchristlichen Denkweise nicht verträgt; sonst könnte er nicht unter anderem schreiben (S. 425), daß Hermas so wenig wie Justin durch ihre gesetzliche Denkweise gehindert sind, das Heil einzig und allein vom Sohne Gottes zu erwarten und vom Glauben an ihn abhängig zu machen. Wie kann ein Mann das Heil einzig und allein von Christus erwarten, der keine Wiedergeburt, keine Sündenvergebung, keine höhere Kraftmittheilung kennt, der sich durch eigene Sinnesänderung gerecht und vollkommen macht. Daß Justin das Heil einzig und allein von Christo erwartet, ist eben ein Beweis, daß v. E. seine Richtung ganz unrichtig dargestellt hat, daß Justin, wenn er auch manches Gesetzliche in diese aufgenommen hat, damit doch nicht das Wesen des Christenthums aufgibt.

 Auch da, wo v. Engelhardt Justin’s Ausführungen über das alte und neue Gesetz im Dialog bespricht, kommt derselbe auf dasselbe Resultat. Justin schließt sich hier an Barnabas an und wird durch seine Aufstellungen maßgebend für die Anschauung der katholischen Kirche. Wir wissen, daß der rein evangelische Standpunkt nicht mehr festgehalten wird. Gleichwohl ist es durchaus nicht der eigentliche Justin, den v. E. reden läßt, wenn er dessen Lehre so darstellt: „Das neue Gesetz ist ein vollendendes und abschließendes, nicht aber ein anderes. Das neue Gesetz zeigt nicht einen anderen Weg der Rettung, sondern nur deutlicher den alten Weg der Buße| und Besserung, des Glaubens an Gott und der Liebe zu ihm, oder der Werke (S. 259).“ Wir möchten aber schon das Eine hiergegen bemerken: Wenn dies der Sinn der Justin’schen Lehre ist, dann tritt er mit sich selbst in den größten Widerspruch, er streitet wider sich selbst; er will ja in dem ganzen Dialog nachweisen, daß es für Juden und Heiden jetzt und in alle Zukunft kein Heil gebe als im Glauben an Christum, daß man nur auf diesem Wege dem ewigen Feuer entrinnen könne. Das neue Gesetz, in dessen Begriff Justin das ganze Christenthum zusammenfaßt, ist eine Forderung, aber doch nicht dies allein. Bedeutsam nennt er Christum selbst den neuen Bund und das neue Gesetz. Wenn v. E. S. 257 schreibt: „Das neue Gesetz ist so einfach und beschränkt sich so sehr auf das Wesentliche, daß jeder, wenn er will, es befolgen kann“, so möchte das gerade Gegentheil den Sinn Justin’s treffen. Denn Trypho wendet Dial. 10 gegen das Christenthum ein: „Eure in dem sogenannten Ev. enthaltenen Vorschriften sind so wunderbar und groß, daß ich fürchte, es kann sie niemand halten.“ Justin muß also nachweisen, daß dies möglich sei; er thut es allerdings nicht in klarer dogmatischer Ausführung. Gleichwohl wird man als Sinn derselben angeben können, daß Christus nicht blos der Geber, sondern auch der Verwirklicher desselben sei. Nicht blos folgt dies aus der starken Betonung der Taufe als dem Bade der Wiedergeburt und den bereits angeführten Stellen, in welchen Christus klar als Prinzip eines neuen Lebens erscheint, sondern auch aus der immer neu und mit immer neuer Begeisterung vorgetragenen Schilderung der Lebenswirkungen des Christenthums, welche die Lebensmacht Christi bekunden. So lesen wir c. 11: Wenn Gott einen künftigen neuen Bund verkündigte und wenn wir sehen und uns überzeugt halten, wie durch den Namen des Gekreuzigten die Menschen von den Idolen und dem heidnischen Unwesen zu Gott sich wenden und bis zum Tode im Bekenntniß und in der wahren Religion verharren: so ist doch wohl allen aus den Werken und aus den sie begleitenden Wunderkräften klar und deutlich, daß eben Christus das neue Gesetz und der neue Bund ist. (In diesem Kapitel ist auch ausdrücklich zu lesen, daß ein Gesetz dem andern und ein Bund dem andern ein Ende mache.) C. 69 lesen wir unter Bezugnahme auf Jes. 35, 6–7: Unser Christus ist als eine Quelle des lebendigen Wassers von Gott in dem an Erkenntniß Gottes zuvor wüsten Erdreich hervorgequollen.| Nach c. 39 hat der himmelgefahrene Christus uns aus der Gefangenschaft des Irrthums befreit und Geschenke uns mitgetheilt, wir erlangen durch ihn die verschiedenen Charismen. Als das wahre Israel sind wir aus dem Leibe Christi geschnitten (c. 135). Großartig ist c. 121, wo die erste und zweite Zukunft einander gegenübergestellt werden. Schon in der ersten verachteten Parusie erglänzte er so sehr und war er so mächtig, daß er keinem Volke unbekannt blieb und überall einige vom bösen Wandel sich bekehrten, daß die Dämonen seinem Namen sich unterwarfen und alle Gewalten und Herrschaften ihn fürchten; wie viel mehr wird er in seiner zweiten Parusie alle seine Feinde überwinden und die Seinen in die Ruhe einführen. In Christi Kraft erstand eine neue Gemeinde, aus allen Völkern gesammelt, als die eine Tochter Gottes (c. 63). Wir möchten doch fragen: ist dies der Christus der Schrift und der Kirche oder der des v. Engelhardt’schen Justin, dessen Lehre Werklehre ist mit dem S. 247 so bezeichneten Inhalt: „Was wirklich reinigt, ist die Umwandlung, die jeder an sich selbst vollzieht, die ist es, die aus einem Unreinen einen Reinen macht.“ Wenn wir damit die Worte zusammenhalten (S. 257): „Es versteht sich von selbst, daß Gerechtigkeit nur durch vollkommene Heiligkeit zu Stande kommt“, so haben wir die bereits aus den Apologien gewonnene vermeinte Anschauung Justin’s, wonach der Mensch sich selbst heilig zu machen berufen und im Stande ist; hiermit würde das neue Gesetz übrigens, freilich in ganz unchristlichem Sinne, im Gegensatz zu obiger Aeußerung immerhin etwas durchaus Neues leisten, da das Alte nicht erfüllt werden konnte: „Niemand hat Alles gethan, sondern die einen haben mehr, die anderen weniger die Gebote übertreten (Dial. 95).“
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 Der Herr Verf. beruft sich für seine weitgehenden Behauptungen auf die bekannte Stelle Dial. 45, wo Trypho fragt, ob diejenigen, welche nach dem Gesetz Mose’s gelebt haben, ohne Christus zu kennen, des ewigen Lebens theilhaft werden können. Justin bejaht dies, weil sie das ewig geltende Gute gethan haben. Hiermit scheint er allerdings den Empfang des ewigen Lebens von der Erfüllung gesetzlicher Forderungen abhängig zu machen. Allein wird hier nicht wie öfters die Lösung der Hauptfrage von der Beantwortung einer Nebenfrage abhängig gemacht? Unbedingt steht Justin fest, daß der Glaube an Christum, den im Fleische erschienenen Gottessohn, jetzt und in alle Zukunft für das ewige Heil unerläßlich ist: „Es gibt keinen anderen| Weg, um Vergebung der Sünden und ewiges Leben zu erhalten“, ruft Justin c. 44 dem Trypho zu, „als daß ihr diesen Christus erkennet und nachdem ihr mit dem von Jesajas geweissagten Bade zur Vergebung der Sünde gewaschen seid, fortan sündlos lebt.“ Hieraus ist unter anderem auch zu entnehmen, wie Justin mit Unrecht eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die geschichtliche Thatsache der Menschwerdung beigemessen wird, weil der Logos auch im alten Testamente schon erschienen sei, da er ja alles Gewicht auf den Glauben an jene Thatsache legt. Andererseits behauptet derselbe Justin, daß alle, Juden und Heiden, unter dem Fluche stehen, weil sie alle das Gesetz übertreten haben (95) und fragt (122): Wenn das Gesetz die Heiden erleuchten könnte, was bedürfte es eines neuen Bundes? Im Zusammenhang dieser Gedanken ist die Forderung des Glaubens an Christum als unerläßliche Heilsbedingung vollkommen begründet. Eine andere Frage ist die, wie es sich mit der Seligkeit der alttestamentlichen Gerechten verhalte, die, weil Christus noch nicht im Fleische erschienen, auch zum Glauben an ihn nicht gelangen konnten. Justin bejaht diese Frage mit Recht, weiß die Bejahung aber allerdings nicht genügend zu begründen. Er gibt als Grund nicht das Verhältniß jener Gerechten zu dem schon im alten Testamente wirksamen Christus, auf welchen Israel gehofft, und der als Geheimniß in manchen Satzungen und Einrichtungen des alten Bundes verborgen lag, was er von seinem eigenen Standpunkte hätte thun können, sondern er führt einfach ihre alttestamentliche Gerechtigkeit und Frömmigkeit (εὐσεβῆ) an, wodurch sie vor Gott wohlgefällig waren; er schließt hiermit ihren Gottesglauben, ihre Gottesfurcht und Gottesliebe nicht aus, sondern ein, er bleibt aber bei der vorwiegenden Anschauung des alten Testaments selbst stehen, die auch in das neue Testament hereinreicht (Luk. 1, 6), hebt jedoch mit all dem die heilsbegründende Bedeutung der Erlösung und des Glaubens an sie nicht auf. Denn gerade mit jener Ausführung ist eine der stärksten christologischen und soteriologischen Aeußerungen Justin’s verbunden, in welcher er die Nothwendigkeit des Glaubens ausdrücklich einflicht, was wir besonders hervorheben möchten. Justin sagt nichts weiteres, als daß die Erlösung durch Christum auch den Frommen des a. T. um ihrer Frömmigkeit und Gerechtigkeit willen zu gute komme. Die Schlußfolgerung des Herrn Verf. ist jedenfalls unberechtigt. Wenn Irenäus wiederholt behauptet, daß die Patriarchen| durch das alte natürliche Gesetz, das sie im Herzen geschrieben in sich trugen, gerechtfertigt worden sind, so darf doch auch hieraus nicht geschlossen werden, daß nach der Anschauung dieses Kirchenvaters das Christenthum nichts Neues gebracht habe, während gerade er es als Neuschöpfung und die novitas als wesentlichen Charakterzug desselben betrachtet.

 Anzunehmen, daß Justin bei „sündlosem Leben“ an völlige Heiligkeit denkt, ist an sich nicht nothwendig, verbietet sich aber, wenn man weiß, daß er Christum den allein unbefleckten und sündlosen nennt (Dial. 110); einfach und richtig sagt Otto: „Besonders verlangt J. frommen Wandel nach der Taufe, damit das, was in der Taufe erlangt worden, nicht verloren werde (Ersch u. Gr. Bd. 30. S. 73).“ Er nimmt hier im Gegensatz zum heidnischen Sündenleben den idealen Standpunkt ein wie Johannes (1 Brief 3, 6). Daß ferner unter dem Bade zur Vergebung der Sünden die Taufe zu verstehen sei, und nicht wie v. E. meint, die Selbstreinigung, ist an sich, aber auch im Hinblick auf Dial. 13 unzweifelhaft, wird auch von Otto bestätigt.

 Daß Justin die volle Einsicht in die Dinge, um welche es sich hier handelt, nicht hat, ist uns eben so gewiß, als daß v. E. zu weit geht, wenn er ihn beschuldigt, er habe gar keine Ahnung von dem Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium gehabt (S. 250). Was er hier gegen Justin sagt, daß ihm das alte Gesetz in seinen allgemein gültigen Bestimmungen mit dem neuen Gesetze übereinstimme, trifft, wie öfter, die Schrift selbst. Denn das Gebot der Liebe ist die dem a. und n. T. gemeinsame ethische Forderung. Vieles spricht v. E. absolut aus, was nur in relativer Fassung berechtigt erscheint. So ist J. die volle Einsicht in die heilsgeschichtliche Bedeutung des jüdischen Volkes ohne Zweifel abgegangen, daß er sie aber gar nicht zu würdigen weiß (S. 171), ist unbegründet; den Vorwurf der Gedankenlosigkeit verdient er in dieser Richtung durchaus nicht. Justin geht allenthalben den heilsgeschichtlichen Wegen Gottes nach; er redet Dial. 130 von der Zerstreuung der Völker und der Erwählung Israels; er führt c. 131. 132 die ganze Geschichte Israels an Trypho vorüber; das dort Gesagte erinnert völlig an die Rede des Stephanus, nur lautet es fast milder als diese, weil J. zuletzt Israel der Barmherzigkeit Gottes befiehlt und den Trypho der Fürbitte der Christen versichert. Ap. I, 53 erscheinen [d]ie Heiden als ganz fern von Gott, während Juden und Samariter| Gottes Wort haben und Christum erwarten. Der Gott der Patriarchen ist der Gott des Bundes, welcher in Christo von Israel auf die Heiden übergeht; die Christen hoffen auf denselben Gott wie Israel (Dial. 11); Justin leitet Christus genealogisch aus Israel ab (Dial. 43); Gott gedenkt noch seiner Todten aus Israel (Dial. 72). Es ist unrichtig, was wir S. 388 lesen, daß zwischen Justin und Barnabas in Beurtheilung des jüdischen Volkes kein Unterschied bestehe. Ja von dem, was hier v. E. sagt, dürfte das gerade Gegentheil wahr sein (vergl. Ritschl a. a. O. S. 301). Barnabas erkennt gar keine Bundesschließung an. Seltsam ist allerdings Justin’s Erklärung des Ritus der Beschneidung; was er aber sonst über das Ritualgesetz sagt, ist so unrichtig nicht (vergl. Nitzsch a. a. O. S. 118). Justin ist im Einzelnen ungerecht gegen Israel, aber durchaus nicht feindselig, weit milder als Barnabas und der Verfasser des schönen Briefs an Diognet. Dem die Christen verfluchenden Israel ruft er zu: Wir hassen euch nicht, sondern beten, daß ihr alle Buße und Barmherzigkeit erlangen möchtet (Dial. 108). Der Dialog mit Trypho schließt mit Gebet für Israel.
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 Man muß sagen, Justin’s Schwäche als christlichen Theologen ist auf anthropologischer Seite, auf dem Gebiete der Heilsaneignung und der Heilsordnung gegeben, obwohl auch hier seine Kritiker ihm nicht ganz gerecht werden. So hat Ritschl, dessen Ausführungen sonst sehr umsichtig sind, Dial. 44 u. 95 als Beweis völligster Verkehrung der Sache angeführt (a. a. O. S. 304 f.). Die erstere Stelle erledigt sich von selbst, in der zweiten ist von Vergebung der Sünden unter der Bedingung der Buße, des Glaubens und der Erfüllung der Gebote die Rede. Die Sündenvergebung geht hier aber offenbar auf die Zukunft, was auch in der Schrift hier und da geschieht, wie denn Justin Dial. 92 auch sagt, wir hoffen durch Glauben und Herzensbeschneidung gerecht und Gott wohlgefällig zu erscheinen, was ebenfalls eschatologisch gemeint ist. Was die mehr objektive Seite des Christenthums betrifft, so hat er sich derselben weit sicherer bemächtigt. Aber auch dort hat Justin, wie wir glauben nachgewiesen zu haben, die biblisch kirchlichen Spuren im Allgemeinen nicht verloren. Bei v. E. kommt aber die Sache so zu stehen, daß Justin die Lehren des Christenthums nach der subjektiven Seite geradezu in ihr Widerspiel verkehrt, nach der objektiven wenigstens die stärkste Alteration sich zu Schulden kommen läßt. Der Grund von dem| allen ist nach v. E. sein wesentlich heidnischer Gottesbegriff. Gott ist Justin absolute Transcendenz und absolute Substanz zugleich; Gott ist nicht als freier persönlicher Geist gedacht (S. 197); Gott ist ein kosmisches Wesen (S. 468). Der Justin’sche Gottesbegriff ist möglichst abstrakt und deistisch, und dann doch wieder pantheistisch gefärbt. Bezeichnend sind folgende Worte: „Dieser Gottesbegriff (Gott nur die absolute Kausalität) machte es Justin möglich, die heidnische Vorstellung festzuhalten, daß Gott geistige Substanz sei, und Bestandtheile seines Wesens in verschiedenen Abstufungen an andere Wesen übertragen könne. Was hätte sonst seine Logoslehre für einen Sinn? Wie wäre es sonst denkbar, daß ein Wesen, das nicht Gott selbst oder Gott im eigentlichen Sinne ist, doch die persönliche Vernunft und Kraft Gottes sei? Ebenso ruht die Lehre vom sporadischen Logosantheil, den der Mensch besitzt, auf jener Vorstellung, daß die schöpferische Substanz der Kreatur κατὰ δύναμιν Antheil gibt an ihrem eigenen Wesen, das hier nur in gebrochener Gestalt erscheint und darum dem Irrthum, der Sünde und der Vergänglichkeit unterworfen ist (S. 167).“ Hiernach ist Justin reiner Pantheist; daß bei dieser Anschauung kein Stein des christlichen Systems über dem andern bleiben kann, daß Anthropologie und Christologie eine andere werden muß, ist klar. Aber der wirkliche Justin ist es nicht, der aus dieser Darstellung uns entgegentritt. Justin ist wohl nicht an der „Verwirrung“ Schuld, bezüglich deren v. E. zuletzt ausruft: „Er weiß sich gar nicht zurecht zu finden (S. 162. 166).“ Des Herrn Verfassers Aufstellungen selbst sind uns theilweise sehr unklar. So lesen wir S. 197, weil Justin nur ein durch die Schöpfung gesetztes Verhältniß und eine unauflöslich bestehende Lebensgemeinschaft zwischen Gott und Mensch statuire, bedürfe es keiner Wiederherstellung dieser Gemeinschaft; S. 235 dagegen: „Eine ursprüngliche, durch die Schöpfung gesetzte Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntniß gibt es eben so wenig, als eine Aufhebung dieses Verhältnisses durch die Sünde“. Nur das Eine möchten wir hier fragen: Gibt es denn nicht auch nach der Schrift eine unauflöslich bestehende Wesensgemeinschaft zwischen Gott und Mensch? Hat denn nicht Paulus das Wort des Dichters Aratus und des Philosophen Cleanthes bestätigt, daß wir göttlichen Geschlechts sind? Wir können auf das Einzelne nicht näher eingehen. Die Schlüsse des Herrn Verf. nach der anthropologischen Seite| erscheinen uns aber mehr als gewagt. Die Auslegung von II, 10 u. II, 13 ist gewiß nicht die richtige; bei der ersteren Stelle folgt er einer Konstruktion, die sehr fraglich ist; Otto z. B. konstruirt anders. Je und je hat man den glücklichen Griff anerkannt, den Justin mit Herübernahme und Umprägung der zunächst stoischen Idee des λόγος σπερματικὸς (vergl. Heinze, Die Lehre vom Logos S. 107 f.) gethan. Gerade hierin gewahren wir einen großartigen Zug Justin’s zur Erfassung der Universalität des Christenthums: es zeigt sich darin, wie Baur es treffend ausdrückt, das beginnende Weltbewußtsein der Kirche. Am treffendsten hat über die Bedeutung jener Idee wohl Möhler geurtheilt (Patrologie S. 220) und erst jüngst hat Dorner in seiner christlichen Glaubenslehre Justin um derselben willen als testis veritatis für den Gedanken einer positiven Vorbereitung des Christenthums innerhalb des Heidenthums anerkannt (S. 672). Aber gerade hierdurch sieht v. E. die Verwirrung eingeleitet (S. 166). Ritter bespricht diese Dinge in der Geschichte der Philosophie, er findet eine solche aber nicht. Für die allseitige objektive Richtigkeit der Idee vom λ. σπ. wird ja niemand eintreten; störend ist unter anderem der in ihr gegebene Schein eines nur quantitativen Verhältnisses zwischen Christenthum und den Höhepunkten des Heidenthums. Aber diesen Schein beseitigt Justin selbst in den vortrefflichen Auseinandersetzungen über das Verhältniß von Philosophie und Christenthum im Eingang des Dialog, die zu dem Schönsten und Siegesgewissesten gehören, was das christliche Alterthum der Philosophie entgegengestellt hat. Hier ist der philosophische Intellektualismus prinzipiell überwunden: keine Spekulation, auch die platonische nicht, bringt es zu wirklicher Gotteserkenntniß und Gottesgemeinschaft; nur durch Offenbarung, Erleuchtung, Glaube kann dieses Ziel erreicht werden. Aber auch mit diesen Ausführungen ist v. E. nicht zufrieden; obwohl er als Justin’s Ansicht anführt: „Unbedingt verwerflich ist die heidnische Lehre, daß der Mensch durch Philosophie, durch Wissen mit Gott vereint, fromm und gerecht werden könne (S. 232)“, so mißt er ihm doch die hier verworfene Meinung als Grundanschauung bei. Er findet, daß der Glaube ihm doch nur ein Wissen anderer und höherer Art sei (S. 233); recht verstanden ist er ja aber dies wirklich (Joh. 17, 3); er tadelt es, daß der Glaube sich nicht auf den göttlichen Rathschluß beziehe; aber Dial. 7 ist ja zu lesen, daß die| Schriften der Propheten den Schöpfer aller Dinge priesen und den von ihm gesandten Christus, seinen Sohn ankündigten, wie Otto richtig übersetzt. Er tadelt es endlich, daß von Gnade kein Wort geredet werde; wovon soll denn aber die ganze Heilsoffenbarung ausgehen, wenn nicht von der Gnade, obwohl, wie wir wissen, Justin Gnade auch im weiteren Sinne gebraucht? Dial. 9 unmittelbar nach jener Erörterung findet sich ja aber überdies die schöne Aeußerung von den Worten voll heil. Geistes, voll Kraft und Gnade, denen die Christen gefolgt sind.
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 v. E. scheint uns viel zu sehr mit dem vermeinten Gottesbegriff Justin’s zu operiren. Semisch sagt II, S. 26: „Der Gottesbegriff ist bei ihm noch nicht von ferne Gegenstand der Spekulation geworden.“ Justin billigt das ἐπέκεινα πάσης οὐσίας Plato’s, findet es aber für die Hauptsache ungenügend. Merkwürdiger Weise hat aber Frank trotz seines Gegensatzes gegen die gewöhnlichen abstrakten Wesensbestimmungen Gottes gerade diese, auch von Dionysius Areop. vertretene Bestimmung gut geheißen, weil damit das absolute Wesen Gottes bezeichnet sei (Syst. d. christl. Wahrheit S. 109). Man wird sie deshalb wohl auch Justin nachsehen können. Daß der Justin’sche Gottesbegriff an die Fülle und Tiefe des biblischen nicht entfernt reicht, daß auf Justin’s theologische Darstellung stoische, platonische, philonische, wohl auch – nach Weizsäckers Meinung – aristotelische Begriffe eingewirkt haben – wer wollte dies leugnen? Die innerste Gottesanschauung Justin’s, die von der begrifflichen Definition des göttlichen Wesens zu unterscheiden ist, war aber nicht heidnisch, sondern christlich. Pantheistisches findet sich auch bei den bedeutendsten Scholastikern (vergl. Neander, Wissenschaftl. Abhandlungen S. 45; Herzog, K.-G. II, 227), Rocholl glaubte selbst bei Luther einen Zug zum Pantheismus auf Grund der Einwirkung neuplatonischer Mystik zu entdecken, Rothe beginnt mit einem Gottesbegriff, von dem er selbst sagt, daß es der philonische sei – und doch wird es niemand beikommen, zu behaupten, daß das christliche oder theologische System dieser Männer vom Pantheismus oder der absoluten Transcendenz getragen und beherrscht sei. Aehnlich wird es sich wohl auch bei Justin verhalten. Weizsäcker hat gerade das durchaus Ethische und Persönliche in dem Gottesbegriff Justin’s hervorgehoben. Er sagt zum Theil das gerade Gegentheil wie v. E.: Justin ist sorgfältig bemüht, jedem Gedanken, welcher auf Kosten der Persönlichkeit| Gottes ginge, entgegen zu treten – die Grundlage seines Gottesbegriffs ist die ethische Bestimmung (a. a. O. S. 75). Auf Grund der bekannten, allerdings sehr einseitig transcendental lautenden Stelle Dial. 127 spricht v. E. sogar davon, daß der Gott Justin’s von dem Geschaffenen lokal getrennt sei (S. 81), aber gewiß mit Unrecht; die biblisch-christliche Gottesidee ist auch hier nicht aufgegeben (vergl. Semisch a. a. O. II, S. 252 f.; Weizsäcker a. a. O. S. 77). Der Ausdruck ist allerdings roh und unbeholfen (vergl. Böhringer a. a. O. S. 206). Vor allem müssen wir aber Eines bemerken: Wer sich wirklich bekehrt, sei es im 19., sei es im 2. Jahrhundert, der reformirt gar Vieles, reformirt unter anderem auch seinen Gottesbegriff, d. h. seine innerste Anschauung über Gott; er bekehrt sich nicht zu der absoluten Transcendenz und Substanz, sondern zu dem lebendigen persönlichen Gott, dem heiligen und gerechten, dem gnädigen und barmherzigen. Im letzten Grund ist auch Justin nicht auf spekulativem, sondern auf ethischem Wege zum Christenthum gekommen. Seine Bekehrung war nicht so gewaltig scheidend zwischen Altem und Neuem, nicht so tief einschneidend, wie z. B. die Augustin’s, das macht sich allenthalben geltend; aber es war doch eine wirkliche Bekehrung. Justin ist als Christ nicht Heide geblieben, er hatte mit der Ueberzeugung, daß auch Platon’s Philosophie zu den höchsten ethischen Zielen nicht verhelfe, das letzte Bollwerk, welche das Heidenthum in seinem Innern noch hatte, zerstört (vergl. Semisch I, S. 15). „Nur dort“, lesen wir S. 469, „wo man auf Grund der erfahrenen Erlösung an den persönlichen Gott glaubt, hat man den Begriff des absolut überweltlichen und außerweltlichen und doch zugleich des weltmächtigen und ihr gegenwärtigen Geistes gewonnen.“ Es ist dies gegen Justin gesagt; wir wenden es aber auf Justin an, da Justin an diesen Gott glaubt, denn „er hat Vergebung der Sünden und lebt das Leben eines Wiedergeborenen (S. 486)“. Nach v. E. hätte J. einen Gottesbegriff, der unter dem Platonischen steht, sofern er das Letzterem eignende Moment der Immanenz verleugnet (S. 467). In Wahrheit paßt, was v. E. von Justin’s Gottesbegriff sagt, weit mehr auf den Philonischen als auf diesen. Er sinkt freilich auch unter diesen, sofern Philo eine unmittelbare Berührung Gottes mit dem Geweihten lehrt trotz seines Deismus, während nach v. E. Justin eine solche für den Gläubigen in diesem Aeon nicht kennt (vergl. Philo in Herz. R.-E. XI, 586 f.).
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|  Auf uns macht Alles den Eindruck, daß Justin auch in seinem System ernstlichst bestrebt war, die Transcendenz Gottes mit der Immanenz zu verbinden. Gott und Welt werden nicht vermischt. Wie viele Theologen des 19. Jahrhunderts haben wohl einen so reinen Schöpfungsbegriff wie er! Mit aller Energie eifert er im Eingang des Dialogs gerade gegen den antiken substantiell-physischen Gottesbegriff, auch gegen die Platonische συγγένεια der Seele; und auf der anderen Seite: ist denn nicht seine Logosidee der sprechendste Beweis, daß er der Immanenz Gottes durchaus gerecht werden will? Das dualistische Verhältniß zwischen Gott und dem Logos, das v. E. annimmt, besteht eben in Wahrheit nicht. Ganz richtig betrachtet Duncker, dessen treffliche Abhandlung v. E. nicht näher berücksichtigt hat, den Logos als „den Mittler der göttlichen Liebesthätigkeit, das Band der innigen Gemeinschaft, welche die Welt, das Werk und den Gegenstand der Liebe, mit Gott, dem Vater der Liebe, vereinigt“ (a. a. O. S. 1144). Gott wird nicht erst im Logos persönlich (S. 138); wäre es so, wie könnte denn Justin Gott, ungeachtet der Vermittelung der Weltschöpfung durch den Logos, beständig als den Vater des Alls bezeichnen?

 Für Justin, lesen wir S. 198, „ist der Gedanke der göttlichen Freiheit völlig unbrauchbar“. Aber ein völlig unfreier Gott und ein unbedingt freier Mensch passen doch nicht zusammen. Und sind es denn nicht Akte der Freiheit, wenn Gott vorzeitlich nach seinem Rath und Willen den Logos aus sich hervorgehen ließ, wenn Gott aus Güte um des Menschen willen die Welt schuf, wenn die Menschwerdung und Erlösung nach der οἰκονομία, der βουλή, dem θέλημα Gottes erfolgte? Ist das ein unfreier Gott, dessen Weltregierung die Ueberwindung aller Gewalten des Bösen, die Vollmachung der Zahl der Auserwählten, die ewige Entscheidung zum Ziele hat (I, 45)? Justin hat eine großartige heilsgeschichtlich teleologische Weltanschauung. Wie klar zeichnet er im Dialog auch den Gang der Geschichte der Gemeinde Christi bis zur Ausreifung des Widerchristenthums, aber auch bis zur Vollendung der Erlösung! Die Bedeutung der teleologischen Anschauung Justin’s gerade im Gegensatz zur antiken Philosophie hat Duncker sehr gut hervorgehoben (a. a. O. S. 1143).

 S. 473 lesen wir: „Nicht nur redet er niemals unumwunden vom Zorn oder von der Liebe und Gnade, sondern er deutet auch| den Vaternamen Gottes durch die Wendung „Vater des Alls“, so, daß jeder Gedanke an die in Christo offenbar gewordene väterliche Gesinnung und Liebe Gottes abgeschnitten und immer wieder daran erinnert wird, daß zwischen Mensch und Gott lediglich das Verhältniß des Geschöpfs zum Schöpfer besteht.“ Diese oft wiederkehrende Aeußerung ist völlig unbegründet. Justin redet Dial. 42 von der Gnade und Herrlichkeit Gottes und Christi, Dial. 23 nennt er Gott gut und Menschen liebend, er redet ungemein oft von der erlangten oder noch zu erlangenden Barmherzigkeit, z. B. Dial. 43, er redet c. 47 von der Güte, der Menschenliebe und der Unermeßlichkeit seines Reichthums, redet c. 32 u. 64 von der Gnade Gottes, durch welche wir gerettet werden zum ewigen Leben; seine Menschenliebe und Güte preist Ap. I, 10; Gott ist ἐλεήμων καὶ φιλάνθρωπος, Dial. 107, εὔσπλαχνος καὶ πολυέλεος Dial. 108, χρηστὸς καὶ οἰκτίρμων, Dial. 96 und Dial. 55 ist von der χάρις πολυσπλαχνίας die Rede. Wie kann v. E. behaupten (S. 473), Justin vermeide alle Ausdrücke, die auf die Gesinnung Gottes gehen? Alle Stellen sind damit nicht angeführt. Heißt Gott auch ἀπαθής, so ist der Zorn doch nicht ausgeschlossen, schon deshalb nicht, weil Justin den vollen richterlichen Ernst Gottes kennt, er redet aber Dial. 39 auch ausdrücklich vom Zorne Gottes. Hiernach ist auch die oft wiederkehrende Aeußerung zu beurtheilen, daß nach J. durch die Sünde das Verhältniß Gottes zum Menschen im wesentlichen nicht gestört sei. Damit leugnen wir nicht, daß z. B. Luther noch etwas anders als J. von der Liebe Gottes zu reden weiß. Aber sehr relativ gültige Urtheile werden von v. E. ungemein oft absolut genommen und werden auf diese Weise ganz unrichtig. Schon S. 133 lesen wir, daß sein Gottesbegriff die Vorstellungen der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott nicht recht aufkommen ließ; gegen letzteres spricht allein schon die schöne, johanneisch lautende Stelle Dial. 114: wir sind so beschnitten von der Sünde, daß wir gerne sterben für den Namen des herrlichen Felsen, welcher lebendiges Wasser in die Herzen derer, welche durch ihn den Vater lieben, sprudelt und die tränket, welche das Wasser des Lebens trinken wollen. Justin steht übrigens in der Liebe Gottes unendlich mehr als er von ihr redet, wie er nach Neander’s Aeußerung im heil. Geiste viel mehr lebt als er von ihm zu sagen weiß.
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 Es kehrt auch in dem Buche immer wieder, daß es bei Justin| in dieser Zeitlichkeit zu keiner Gemeinschaft mit Gott komme. Man muß hierauf erwidern, daß Justin dann ohne Grund zum Christenthum übergetreten ist: „Kam es ihm doch in seinen philosophischen Bestrebungen, wie er im Dial. 8 sagt, nur darauf an, in Gemeinschaft mit Gott zu treten (S. 83).“ Diese Hoffnung trog ihn, so lange er Heide blieb; im Christenthum fand er sie verwirklicht, welches ihn zu Gott führte und mit ihm vereinigte (συνάγει καὶ συνίστησι τῷ θεῷ, Dial. 2). Was soll alles Lieben, Dienen, Sichweihen dem Gotte des Heils ohne persönliche Gemeinschaft? Was soll ohne diese das: wir sind durch den Namen Christi, durch den Gekreuzigten zu Gott gekommen, zu Gott geführt worden, was wir im Dialog so oft lesen, und was namentlich an manche Stellen des Hebräerbriefes sehr stark anklingt (11, 17. 30 f.)? Wenn aus dem Ausdruck: ἐγγὺς τῷ θεῷ (S. 133) das Fehlen persönlicher Gemeinschaft geschlossen wird, so könnte dasselbe auch aus dem ἐγγίζειν τῷ θεῷ im Hebr. und Jak.-Brief hergeleitet werden. Auch muß gesagt werden, daß wenn der Gottesbegriff Justin’s eine Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen in diesem Aeon nicht verträgt, nicht abzusehen ist, wie eine solche in jenem zustande kommen soll, da der Mensch ja nicht die Schranken der Endlichkeit im Tode abstreift (461 f.), sondern Mensch bleibt und auch die irdische Leiblichkeit nur ablegt, um mit einer himmlischen bekleidet zu werden. Daß Justin eine Heilsgegenwart überhaupt kennt, haben wir schon erwähnt. Er kennt eine Seligkeit schon jetzt durch die Erkenntniß Christi (εὐδαιμονεῖν Dial. 8); er ist schon jetzt ein Kind Gottes, durch Christum in die Gemeinschaft Gottes hineingezeugt (Dial. 123). Unrichtig erscheint auch im Zusammenhang hiermit die häufige Behauptung, daß σωτήρια nur auf die Zukunft sich beziehe (S. 261); es bezieht sich Dial. 94 auch auf die Gegenwart, wie σώζειν und σώζεσθαι Dial. 64, 74, 111, 133, 94. Das Leiden Christi ist ein μυστήριον σωτήριον Dial. 74. Der Friede der Versöhnung tritt bei Justin allerdings zurück und das christliche Leben wird nicht hieraus ethisch psychologisch abgeleitet; dagegen tritt die Freude als Widerhall der Hoffnung in den Vordergrund (I, 49 ff. cf. Röm. 15, 13). Daß J. die volle Tiefe, Innerlichkeit und Freiheit paulinisch-evangelischen Christenthums nicht erreicht, ist eben so gewiß; dies ist ihm aber nicht allein zum Vorwurf zu machen. Der alten Kirche fehlte die Tiefe persönlichen Christenthums, welche erst auf germanischem| Grund und Boden entstehen und gedeihen sollte (Kahnis, Der Kirchenglaube S. 96).
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 Wir wollen kurz sein über die Justin’sche Christologie. Wir stimmen viel mehr Duncker und Dorner, welche beide unberücksichtigt gelassen sind, als v. E. zu. Der christliche Charakter der Theologie Justin’s zeigt sich schon darin, daß die Christologie bei weitem den breitesten Raum in seinen Schriften einnimmt. Das Christenthum ist Christus selbst; der erste Theologe der christlichen Kirche stellt Christum mit allem Nachdruck in den Vordergrund: „Uebrigens geht er in seiner Darstellung der christlichen Lehre immer auf Jesus Christus als den Anfänger und Vollender selbst zurück (Otto, Sitzungsberichte etc. S. 177).“ v. E. setzt richtig voraus, daß Justin von dem gemeindlichen Glauben an die Gottessohnschaft Jesu ausgehe und die Logosidee erst hiermit verbinde. Allein ebenso gewiß ist, daß nach v. E. die gesammte Christologie Justin’s von seinem heidnischen Gottesbegriff und der philonisch gefaßten Logosidee aus zu etwas anderem wird, als der Glaube der Schrift und Kirche meint. Manches, was v. E. gegen Justin’s Anschauung anführt, trifft allerdings die Schrift selbst, so die Aeußerung: die Welt hat keine direkten Beziehungen zu Gott; nur durch den „andern Gott“ weiß sie um das Dasein, den Willen und die Rathschlüsse des Vatergottes (S. 285); wesentlich dasselbe ist Joh. 1, 18 zu lesen. Wenn wir S. 471 als Bemängelung lesen: der Logos ist nicht der wahre Gott selbst, so trifft dies auch Joh. 17, 3. Manches ist gegen den Subordinatianismus Justin’s gerichtet; denn Justin war dem Sinne nach Subordinatianer (Otto, Ersch u. Gr. XXX, S. 68). Der Subordinatianismus kann aber durchaus nicht, am wenigsten bei dem ersten Theologen, als ein Aufgeben der biblisch-kirchlichen Christologie betrachtet werden (vergl. über die subordinatianische Frage auch Delitzsch, Saat auf Hoffnung XV, 2). Dagegen erschiene allerdings Justin auch hier unter dem Banne einer heidnisch-philonischen Anschauung liegend, wenn v. E. Recht hätte mit den Aeußerungen: sein Gottesbegriff machte die Annahme eines göttlichen Wesens neben dem höchsten Gotte nothwendig (S. 285), der Logos ist nur ein gewordener Gott (S. 471); der Logos ist nicht Gott (S. 138). Er sagt S. 372 auch ausdrücklich, daß, wie Justin keine christliche Lehre in ihrem eigentlichen und ursprünglichen Sinne verstehen konnte, so auch seine Lehre vom Logos den modificirenden| Einfluß der heidnischen Denkweise erfahren hat, wie er ihn denn auch der „Umdeutung der Taufformel“ beschuldigt, weil er den Sohn Gottes wider den Sinn der christlichen Lehre als zweiten Gott faßt.
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 Die Mängel der Justin’schen Christologie liegen ja klar vor Augen. Justin hat die Logos- und Weltidee nicht scharf genug unterschieden, hat, da er im Gegensatz zu heidnischem Emanatismus, den Sohn nach dem Rath und Willen Gottes aus diesem hervorgehen läßt, einen arianisirenden Schein nicht völlig vermieden; er hat in Betonung des hypostatischen Unterschieds das Gemeinschaftsverhältniß zwischen Vater und Sohn nicht innig und tief genug gefaßt. Aber gleichwohl muß gesagt werden, er behauptet die Gottheit Christi, seine göttliche Herrlichkeit, mit aller nur möglichen Entschiedenheit, dreimal nennt er ihn ὁ θεός; er erschöpft sich im Dialog förmlich in Prädikaten, die auf Christi göttliche Ehre hinweisen. Hierzu kommt, daß die große christologische Stelle, Phil. 2, 5–11, durch die Schriften Justin’s hindurchklingt, und Christus durchweg als König und Herr der Welt, als Bezwinger aller Gewalten, als der Siegesfürst seiner Gemeinden angeschaut wird. Justin hat auch keine besondere Lehre von einem „andern Gott“ aufgestellt; sondern seine biblisch-kirchliche Lehre in apologetischem Interesse in diesen allerdings verfehlten Ausdruck gekleidet. Justin betrachtet alle Theophanien als Christophanien; seine desfallsigen Ausführungen sind zum Theil sehr äußerlich und massiv; es ist aber doch unrichtig zu behaupten, daß diese Lehre nicht aus dem alten Testament geschöpft sei (vergl. dagegen Semisch a. a. O. II, S. 263 u. Joh. 12, 41; 1 Kor. 10, 4). So subordinatianisch scharf Justin den „andern Gott“ auch scheidet von dem Vater, so bemüht er sich doch wiederum, die volle Willens- und Wesenseinheit mit ihm aufrecht zu erhalten. „Wegen des Sohnesverhältnisses schreibt er ihm göttliches Wesen, Gottheit zu“ (Otto), vergl. auch Baur, Lehre von der Dreieinigkeit I, S. 172, theilweise auch Nitzsch, Dogmengesch. S. 192. Das γεννητός des Justin besagt doch auch nichts anderes als das γεννηθείς des Nicänums. Es ist durchaus nicht so, wie es v. Engelhardt darstellt, daß es Justin und den Heidenchristen von ihren heidnischen Vorstellungen aus überhaupt nicht so schwer fiel, in die Lehre „von einer Mehrheit göttlicher Wesen“ (S. 146) sich zu finden; er ist sich stets bewußt, daß die Lehre von der Anbetung| eines gekreuzigten Menschen ein gewaltiges Skandalon für die natürliche Denkweise, daß sie für dieselbe „Wahnsinn“ ist. Warum hat denn auch gerade um dieser Lehre willen Celsus die Christen mit so bitterm Spotte übergossen? Wäre andererseits der Justin’sche Christus, wie er nach v. E.’s Darstellung erscheint, mehr ein heidnischer Untergott und ein philonisches Mittelwesen, so hätte derselbe Celsus, der die Lehre der Christen παρακούσματα aus Plato nannte, bei dieser Fassung ihres Mittelpunkts, der Christologie, so Unrecht nicht.

 Ohne Justin fehlt hinsichtlich des christologischen Dogmas das eigentliche Bindeglied zwischen den apostolischen Vätern und dem Nicänum: „Justin hat die ersten Elemente derjenigen Ansicht ausgebildet, welche in der nicänischen Lehre von der Homousie des Logos zum Abschlusse kam“ (Ritschl a. a. O. S. 308). Ganz gut hebt auch Dorner hervor, daß Justin die Logoslehre nicht von oben herab, sondern von der Geschichte, von der Erfahrung des Heils in Christo und der apostolischen Ueberlieferung her geworden ist (Christologie I, S. 416). Otto sagt geradezu: „Demnach behauptet der Märtyrer im kirchlichen Sinne: in Christus sei Göttliches und Menschliches zur persönlichen Einheit verbunden erschienen“ (Sitzungsber. etc. S. 176); Semisch und Duncker kommen in Bezug auf das Verhältniß der Justin’schen und Philon’schen Logoslehre auf dasselbe Resultat. Der erstere behauptet: „Die Logoslehre Justin’s ist rein biblischen Ursprungs und Inhalts, aber allerdings von Philonischem Zuschnitt“ (a. a. O. II, S. 305), der zweite erkennt den Einfluß außerchristlicher Elemente durchaus an, redet aber gleichwohl von den wesentlichen Abweichungen seiner Auffassung von allem Ethnisirenden, von ihrem specifisch christlichen Gehalt und Charakter (a. a. O. S. 1140). So viel Trübendes Justin von Philo, d. h. von der alexandrinischen Theologie überhaupt auch aufgenommen haben mag, überschätzt darf dieser Einfluß nicht werden. Siegfried findet in seinem Werke über Philo, daß dieser es in musterhafter Unklarheit verstand, eine Menge der verschiedenartigsten Anschauungen in seinem Geiste zu behausen (S. 223); um so schwieriger ist die historische Untersuchung über den Einfluß seiner Philosophie im Einzelnen, so sehr dieser selbst anzuerkennen ist. Siegfried findet merkwürdiger Weise in den neutestamentlichen Schriften weit mehr Anklänge an Philo als in den Apologeten.

|  Unterscheidet man wie billig zwischen der Sache und ihrer theologischen Darstellung, zieht man ferner in Betracht, mit welchen Schwierigkeiten der erste theologische Versuch auf diesem Gebiete zu ringen hatte, sieht man endlich auf die Sorgfalt, mit der Justin zur Rechten und zur Linken abwehrt, Modalismus und Ebionitismus zurückweist, so kann man dem ersten Apologeten und Theologen nicht ohne Bewunderung auf seinem christologischen Wege folgen und gewinnt jedenfalls die Ueberzeugung, daß ihm und der Kirche der damaligen Zeit die Gottheit Christi der Mittelpunkt ihres Glaubens, Lebens und Denkens war.
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 Mit Beziehung auf Aeußerungen wie S. 393. 473, wonach Justin die Mitschuld der Verwechslung zwischen dem Vater der Welt und dem Vater unseres Herrn Jesu Christi trägt und durch die Wendung: Vater des Alls der Gedanke an Gottes väterliche Gesinnung und Liebe abgeschnitten ist, die christliche Kirche auch in der Fassung des ersten Artikels im apost. Symbolum die Erinnerung an ihren heidenchristlichen Ursprung bewahre, müssen wir noch bemerken, daß uns dies sehr unverständlich ist. Der Vater des Alls ist ja zugleich der Vater des Sohnes, der Mensch geworden Jesus Christus heißt. Die Gottessohnschaft gründet sich immer und überall nach Justin auf die Geburt Jesu Christi aus Gott und zwar im Sinne der himmlischen und irdischen Geburt aus Gott, sagt v. E. S. 98 selbst. J. denkt durchaus nicht bei dem Vaternamen ausschließlich an das Verhältniß Gottes zur Welt; warum betont er es denn mit solchem Nachdruck, daß Jesus Christus μόνος ἰδίως und κυρίως der Sohn Gottes ist? Er nennt sehr häufig Christum den Sohn des Vaters des All, weil er das Wesen des Sohnes auf geschichtlicher Linie verfolgt, er thut es im antignostischen und antiemanatistischen Interesse. Christus ist des Weltschöpfers, d. h. des wirklichen Gottes (τοῦ ὄντως θεοῦ) Sohn; dieser Ausdruck hat nicht entfernt den Sinn, die Schöpfung auf Kosten der Erlösung hervorzuheben, sondern will gerade die Einheit beider Gotteswerke und ihrer Urheberschaft betonen. Letzteres gehört zu den Vorzügen der altkirchlichen Anschauung. Die Behauptung: so ausschließlich denkt Justin bei dem Vaternamen Gottes an das Verhältniß zur Gesammtheit aller Wesen oder zur Welt, daß er Christus niemals den Sohn Gottes nennt ohne hinzuzufügen: des Vaters der Welt (S. 129), ist völlig unbegründet. Er nennt ihn sehr oft den Sohn des wahrhaftigen| Gottes, den Sohn Gottes schlechthin, so I, 23, 54, 63; Dial. 43, 45, 102, 103 (hier drei mal), 137 ff. Ebenso wird der Vatername wiederholt absolut gebraucht: I, 63; II, 2; Dial. 17, 43, 95, 102, 103, 119 ff. Dial. 17 lesen wir: durch seine Wunden sind wir geheilt, die wir durch ihn dem Vater uns nahen. Hier ist der Gedanke an Gottes väterliche Gesinnung und Liebe nicht abgeschnitten, sondern vielmehr unmittelbar vorausgesetzt, Dial. 103 lesen wir, daß der Vater gewollt hat, daß sein Sohn dem Leiden unsertwegen sich unterziehe; hier ist doch an das unmittelbare Vater- und Sohnesverhältniß, an den Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi gedacht. Justin hat doch auch das Vaterunser gekannt und gebetet. „Selbst dort“, lesen wir S. 143, „wo sich Justin direkt an die Taufformel und das Taufbekenntniß anschließt, und wo man eine „pietätvolle“ Wiedergabe des Wortlauts der Worte erwarten sollte, schiebt er seine Zusätze ein, die den Sinn des sogen. apost. Symbolums, nicht aber der kirchlichen Trinitätslehre treffen“; aber Justin nennt I, 13 gerade in diesem Zusammenhang Christum den Sohn des wahrhaftigen Gottes, und bestätigt damit die wesentliche Einheit seiner Lehre, der Lehre des Taufbekenntnisses und doch wohl auch des symb. apost. mit der kirchlichen Trinitätslehre. Den Gedankenzusammenhang v. E.’s strenge verfolgend, könnte man darauf gerathen, dem symb. apost. einen heidnischen Gottesbegriff unterzuschieben. Es ist durchaus nicht bloser Schein, daß im Dialog Gott der Vater Jesu Christi genannt werde (S. 285) und es ist eine seltsame Uebertreibung, daß der Vatername an die zwischen Gott und Mensch bestehende Kluft erinnern soll (S. 473).
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 Vom Werke Christi spricht Justin viel, geht aber allerdings auf die Lehre von demselben weniger ein. Gleichwohl können wir nicht zustimmen, wenn behauptet wird, er habe die hierauf bezüglichen Sätze einfach aus dem Sprachgebrauch der Gemeinde herübergenommen, ohne mit demselben etwas anzufangen zu wissen, er habe mit demselben nicht immer auch nur einen klaren Gedanken verknüpft (S. 184. 302). Andere haben den gerade entgegengesetzten Eindruck erhalten, daß J. tief durchdrungen sei von der Bedeutung des Todes Christi als eines erlösenden und versöhnenden (Semisch a. a. O. II, S. 418). Wie ist es psychologisch zu erklären, daß ein Mann von bedeutender Geistesbildung und begeisterter Hingabe an das Evangelium in einem hochwichtigen Punkte des Gemeindeglaubens nicht| eigene Lehren vorträgt, sondern nur mit einem fremden Lehrstoff operirt? Justin hat doch das alte Testament gelesen, er lebte und webte in ihm; er citirt wie oft Jes. 53; die Gedanken von Sünde und Sühne, ja von stellvertretender Genugthuung waren auch dem Alterthum nicht fremd (vergl. Nägelsbach, Nachhomer. Theologie S. 318 ff., 355). Justin hält allerdings die Objektivität des Erlösungswerkes nicht immer ganz strenge fest, aber wenn er die „Wirkungen“ des Todes Christi nur denen zu gute kommen läßt, die sich bekehren (S. 301), so ist dies doch wohl so unrichtig nicht. Wenn Justin das Heilswerk und die Heilsaneignung nicht mit erwünschter Klarheit auseinander hält, weil er die volle Einsicht in den biblisch paulinischen Glaubensbegriff nicht hat, so hat er doch das Erlösungswerk selbst als für Alle gültig angesehen (I, 63; Dial. 95). Daß er eine ganz unrichtige Vorstellung über diese Dinge gehabt habe (S. 302), ist eine unbillige Behauptung und wiederspricht übrigens der Ansicht einer blos formelmäßigen Wiedergabe des Gemeindeglaubens; eine bestimmte Vorstellung hat hiernach J. denn doch, wenn auch eine unrichtige. Justin sieht das Erlösungswerk im Zusammenhang des Ganzen an. Wenn Justin beschuldigt wird, daß er die christliche Lehre umdeute, sofern sie ihm nicht Offenbarung unbekannter Rathschlüsse, sondern nur völlige Bekanntmachung des bisher schon mehr oder weniger Bekannten sei (S. 452), so ist dies offenbar zu weit gegangen. Justin redet allerdings teilweise sehr intellektualistisch über das Christenthum, betrachtet es öfters anscheinend nur als Lehre und Erkenntniß. Wie er aber bei einseitiger Betonung des Ersteren das Andere nicht verabsäumt, davon ist vielleicht II, 13 der merkwürdigste Beweis. Justin sagt hier, daß Philosophen, Dichter und Geschichtschreiber Einzelnes richtig erkannt, es aber doch zu einer völligen, widerspruchlosen Wahrheits-Erkenntniß nicht gebracht haben. Was immer, sagt nun Justin, von Allen richtig vorgebracht worden ist, das gehört uns Christen an, fügt aber sofort bei: denn wir beten nächst Gott den von dem ungezeugten und unaussprechlichen Gott geborenen Logos an und lieben ihn, weil er um unsertwillen Mensch geworden ist, damit er unserer Leiden theilhaft die Heilung uns brächte. Hier ist Lehre und Thatsache auf’s Innigste verbunden. Wenn Justin ferner sagt, daß Christi Lehre zur ἀλλαγή und ἐπαναγωγή des Menschengeschlechts diene (I, 23), so ist dies nicht im Gegensatz zur Thatsächlichkeit| des Christenthums gesagt, sondern gerade dieser Ausdruck zeigt, daß Justin das Christenthum nicht blos als Lehre vom Wesen Gottes (S. 98), wie denn das ταῦτα in c. 23 klar auf die in c. 22 u. 21 berichteten Heilsthaten zurückweist, sondern auch als solche faßt. Das Christenthum ist Justin wenn auch nicht begrifflich doktrinär, aber nach seiner ganzen klar vorliegenden Anschauung Lehre von Thatsachen, nicht weniger als z. B. dem Irenäus. Der Sache nach ist es ganz richtig, wenn Dorner die angeführte Stelle so erklärt: „Der Zweck seiner Erscheinung war die Umwandlung und Emporführung des Menschengeschlechts (Lehre von der Person Christi I, S. 417).“ Der Aeußerung S. 176: „Auf Erden ist sein Beruf ausschließlich Belehrung über die Gerechtigkeit und Frömmigkeit“, widerstrebt der wirkliche Justin ganz entschieden. Hätte v. E. hierin Recht, so hätte man Justin seither ganz falsch verstanden. Duncker z. B., auf welchen v. E. sich S. 463 beruft, sagt a. a. O. S. 1133: „Das in Christo tatsächlich erschienene Heil ist die Grundvoraussetzung und der Ausgangspunkt seines gesammten Strebens und Wirkens, und er erkennt darin das neue Lebensprinzip, das heilend, umwandelnd und vollendend auf die kranke, unvollkommene Welt einwirken soll etc.“ Das große Wort οἰκονομία braucht Justin im Sinne des erfüllten Rathschlusses von der Menschwerdung und dem Leiden Christi, wie von beiden zugleich (Dial. 45, 103, 67). Menschwerdung und Leiden Christi hängen bei Justin auf’s Genaueste zusammen. Ganz treffend bemerkt Weizsäcker: „Ueberhaupt ist es der wesentlichste Gesichtspunkt für die Fleischwerdung, daß Christus dadurch παθητός geworden ist (a. a. O. S. 114).“ Dagegen ganz unrichtig v. E.: „Justin konnte dem Tode Christi nur insofern Bedeutung abgewinnen, als er ihn in unmittelbare Beziehung zur Verherrlichung des Erlösers setzte.“ Nach J. hat Christus in seinem Tode für das ganze Menschengeschlecht die Flüche aller auf sich genommen (Dial. 95). Gerade die dortige Auseinandersetzung ist charakteristisch für die Behandlung des dogmatischen Stoffes von Seiten Justin’s; er hebt das Gegensätzliche und scheinbar Widersprechende hervor, ohne beides klar innerlich zu vermitteln und auf eine einheitliche Anschauung zurückzuführen. Nach J. hat Christus den Fluch des gesammten Geschlechts getragen, und doch war seine κατάρα eine δοκοῦσα, d. h. er war kein gottverfluchter Sünder im Sinne Tryphon’s. Mit großer Entschiedenheit ohne alle Berücksichtigung dessen, was| andere Theologen gesagt, wird von v. E. gerade hier alles verneint, was bei Justin irgend an die kirchliche Lehre anklingen soll (S. 299. 301). Darin hat Hilgenfeld in seiner Recension in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie Recht, daß sich v. E. fast Mühe gegeben hat, Justin so viel als möglich heterodox erscheinen zu lassen. Und doch haben zwei so unbefangene Forscher wie Neander (K.-G. 2. Aufl. II, S. 1108) und Dorner (a. a. O. I, S. 418 f.), wie wir glauben, ganz mit Recht, die wesentlich kirchliche Anschauung in jener Stelle gefunden. Wenn nun aber v. E. offen behauptet, J. verrathe hier seine Unfähigkeit, in den Sinn der christlichen Sprache einzudringen, die er „mit so großer Plerophorie und Geläufigkeit handhabt“ (S. 301), so erhält man hierdurch eine geradezu unwürdige Vorstellung von Justin; ein Theologe ist er dann nicht mehr, ein Apologet und ein Christ von sehr zweifelhaftem Werth. In seiner klaren und nüchternen, der Sache selbst aber gerecht werdenden Weise spricht sich wieder Otto über diese Materie aus: „Justin erblickt in Christo den größten Wohlthäter der Menschen, welcher diese von Satans und der Dämonen Herrschaft erlöst, der Sünde ein Ende gemacht, den Tod durch sein Sterben und Auferstehen überwunden und die Gläubigen zur Verachtung des Letzteren geführt habe“ (Ersch u. Gr. XXX, S. 73). Hiernach ist Christus nicht blos Lehrer, sondern Erlöser, wofür ihn die Kirche je und je gehalten.
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 S. 292 lesen wir, daß auch das Dogma von der Geburt aus der Jungfrau von Justin nur festgehalten wurde, weil es einen integrirenden Bestandtheil des Gemeindeglaubens bildete; er macht keinen Versuch, diese Lehre zu der Präexistenz oder zu seiner Sündlosigkeit in Beziehung zu setzen. Aber abgesehen von der schon angeführten Stelle S. 98 lesen wir S. 186, die einzelnen Momente im Leben des Erlösers seien als nothwendig dargethan, die Geburt aus der Jungfrau folge aus der Präexistenz. So ist es wirklich; Justin konnte von seinen eigenen Prämissen gar nichts anderes als die Geburt von der Jungfrau lehren. Die Vorzeitlichkeit und die Sündlosigkeit Christi fordern gleichermaßen die letztere. Beide bringt er nun auch Dial. 23 mit dieser in unmittelbare Verbindung. Wir lesen dort: nach dem Willen des Vaters ist der Sohn Gottes Jesus Christus ohne Sünde (δίχα ἁμαρτίας) von der Jungfrau geboren worden. Man sollte glauben, hier ist Alles klar nach Justin’s eigenen sonstigen Aeußerungen. Wenn alle Menschen einer Wiedergeburt| bedürfen, eben weil sie sündig sind von der ersten Geburt her (I, S. 61), wenn in Allen die zu allem Bösen geneigte Lust von Natur waltet (I, 10), so konnte der allein heilige und sündlose doch nicht auf dem Wege gewöhnlichen menschlichen Entstehens in die Welt treten. Justin kannte Joh. 3 sehr genau; er hat auch ohne Zweifel 3, 6 gelesen und verstanden, von Ps. 51, den er jedenfalls auch gekannt, abgesehen. Gleichwohl finden wir S. 286 bei Besprechung dieser Stelle Folgendes: „Das ist eben das Charakteristische seines Standpunktes, daß er nicht so denkt wie er redet, und daß er Reden im Munde führt, die er nicht zu deuten weiß. Diejenigen, welche ihn lediglich nach dem beurtheilen, was er „denkt“, gehen ebenso irre, wie die, welche die christlichen Worte und biblischen Wendungen, deren er sich bedient, als „seine Lehre“ deuten. Die „Orthodoxie der Kirche“, in deren Interesse man die Kirchenväter orthodox machen will, verliert nichts von ihrem Glanze, sondern erscheint in einem ganz neuen Lichte, wenn man scharf unterscheidet zwischen dem, was die Väter sagen und was sie lehren. Sie reden orthodox, aber sie denken ganz anders. So ist es auch mit Justin der Fall.“ Diese in der That höchst unvorsichtige, mit Recht von Hilgenfeld befremdend gefundene Aeußerung, wonach Justin „anders denkt und glaubt, als er spricht“, macht eigentlich jede theologische Beurtheilung desselben unmöglich; bei der Annahme eines so scharfen Dualismus zwischen Wort und Gedanken kann aus einem Schriftsteller Alles herausgelesen werden. Justin seinerseits verwahrt sich gegen eine solche Annahme: „Ich bin nicht so erbärmlich, daß ich etwas anderes sage, als ich denke (Dial. 80)“, und: „Ich kümmere mich um nichts, als daß ich die Wahrheit sage, und fürchte dabei Niemand, selbst wenn ich auf der Stelle von euch sollte zerstückt werden (Dial. 120).“
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 Doch wir eilen zum Schlusse. Der dritte Abschnitt enthält im Einzelnen viel Treffendes und die historische Forschung Förderndes. Das Resultat des Vergleichs Justin’s mit den apostolischen Vätern erscheint uns aber nicht gelungen. Barnabas und Clemens stellt v. E. zu hoch, Hermas wohl zu tief. In der Hauptsache stehen sie alle auf gleichem Standpunkt: keiner versteht mehr das Paulinische Evangelium in seiner vollen Tiefe. Offenbar ist v. E. von dem Streben geleitet, Uebergänge für eine Entstellung und Verfälschung des Christenthums, wie sie ihm bei Justin gegeben ist, zu finden.| Denn unmittelbar an die Zeiten der Apostel kann diese doch nicht hinanreichen. Allein Barnabas steht nicht, wie v. E. behauptet, dem apostolischen Christenthum näher als Justin. Man vergleiche doch, von den typologischen Ungeheuerlichkeiten und anderem abgesehen, die letzten Abschnitte bei Barnabas: Weg des Lichts und Weg der Finsterniß, wo sich in der That moralistische Verflachung findet, mit den erhabenen Schilderungen christlichen Lebens bei Justin! Ganz richtig sagt Ritschl: „Die Anschauung des Barnabas trägt überhaupt alle die von uns ermittelten Merkmale des katholisch werdenden Heidenchristenthums an sich (a. a. O. S. 295).“ Es bleibt nichts übrig: entweder muß man Justin auslegen, wie es gewöhnlich geschieht, d. h. in der Weise von Otto, Semisch, Neander, Dorner, Duncker, wo dann die wesentliche Einheit mit den apostolischen Vätern von selbst gegeben ist, oder man muß die bei ihm angenommene Verschlechterung des Christenthums, einen Rückfall in’s Heidenthum, auch jenen zutheilen, und diesen Rückfall dann hart an die Grenze der apostolischen Zeit setzen. Es entstehen bei des Verfassers Anschauung Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Hermas und Justin sollen einander wesentlich gleichstehen. Der philosophisch nicht geschulte Hermas soll dieselbe Richtung haben, die bei Justin nur aus heidnisch-philosophischen Einflüssen sich erklären läßt.
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 Am bezeichnendsten drückt v. E. das Wesen des Justin’schen Christenthums nach seiner Fassung S. 482 f. aus: „Darin besteht sein Moralismus – in den er nothwendig verfallen mußte – daß er an die Stelle des Glaubens an Gott das Wissen von Gott und die Nachahmung Gottes im Thun seiner Gebote setzt, und die Gerechtigkeit des Sünders nicht durch den Glauben an die Gnade Gottes in Christo, sondern dadurch zu Stande kommen läßt, daß der Mensch, nachdem er durch Christus das vollkommene Wissen von Gott als dem Welterzeuger, Weltgesetzgeber und Vergelter empfangen hat, die Gebote Gottes in Kraft des freien Willens befolgt. Die Vorstellung aber, daß Frömmigkeit und Gerechtigkeit im Wissen um Gott und in der thätigen Nachahmung Gottes besteht, hat nur dort Sinn und Geltung, wo Gott nicht Persönlichkeit, Liebe und Gnade, sondern die schöpferische Urvernunft ist, die man zu erkennen hat, und das Weltgesetz, welches man zu thun hat.“ Beigefügt wird noch, daß die religiöse Färbung, die dieser Moralismus bei Justin hat, ihn noch nicht als christlich legitimirt, und deutlich| zu verstehen gegeben, daß von eigentlicher Religion bei Justin keine Rede sei, wie denn v. E. die seltsame Behauptung Overbeck’s von der rein moralischen Weltanschauung auch Justin’s billigt (S. 60), obwohl auch Ritschl von den „religiösen Grundanschauungen“ Justin’s redet (a. a. O. S. 298). Ohne alle Reserve wird in jener abschließenden Charakterisirung Justin zum Heiden gestempelt. Allerdings kommt die Restriktion später nach. Die Unvollziehbarkeit der gegebenen Charakteristik besteht schon darinnen, daß das heidnische und das doch immer noch angenommene christliche Element in der Justin’schen Richtung sich nicht gegenseitig aufnehmen, sondern jedes möglichst für sich zu stehen kommt. Justin ist vollkommener Heide und ist dann doch wieder vollkommener Christ. Das Vorwiegende freilich, dasjenige, was das ganze Buch auch erweisen will, ist Justin’s wesentlich ethnischer Charakter.
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 Justin ist Heiden-, nicht Judenchrist. Aber wohl niemand, der letzterer Ansicht zugethan war, hat je den Judenchristen Justin so judaisirt, als v. Engelhardt den Heidenchristen paganisirt hat. Es steht hier jedenfalls ein Extrem dem andern gegenüber. Wir beugen uns vor jedem wirklichen Resultate der historischen Kritik; ein solches ist uns aber in dem Buche des Herrn Verfassers, so viel Gutes es sonst enthält, in seinem Schlußurtheil über Justin schlechterdings nicht gegeben. Andererseits hat die Kirche Christi doch einiges Interesse, einen Mann, der als der Vertheidiger ihrer Sache vor den römischen Cäsaren, vor der Heiden- und Judenwelt aufgetreten, und der sein Zeugniß mit seinem Blute besiegelt hat, als einen der Ihren im vollen Sinne des Wortes ansehen zu dürfen. Hat v. E. Recht, dann hatte Piper sehr Unrecht, Justin in sein evangelisches Jahrbuch aufzunehmen. Da von Aubé ganz abgesehen werden muß, so hat v. E. für seine Anschauung nur einen Vorläufer, Semler, auf den er sich S. 462 mit geringer Restriktion ausdrücklich beruft, und dessen Urtheil er ein überaus zutreffendes nennt, v. E. hat die Semler’sche Anschauung erneuert, und sie, allerdings mit mehr Geist und Würde, als sie dort schon in ihren flüchtigen Umrissen auftritt, durchgeführt. An die Stelle der Semler’schen „Ausdrücke der Apostel“ wird der Anschluß an den Gemeindeglauben gesetzt. Dieser Anschluß ist aber theils ein formelmäßiges Nachsprechen ohne klaren, sichern Gedanken, theils eine totale Umdeutung der christlichen Lehre, wenn nicht eine Verkehrung derselben in ihr| Widerspiel. „Justin acceptirt die Lehre und deutet sie in seinem Sinne (S. 269)“. S. 208 redet v. E. von Worten und Wendungen, Formeln und Sprüchen, die Justin im Munde führt, und die etwas anderes bedeuten, als was er ihnen entnimmt. Ja selbst den Glauben an eine Menschwerdung des göttlichen Logos hielt er fest, „nicht weil seine eigenen Reflexionen eine solche nothwendig erscheinen ließen, sondern weil die christliche Gemeinde den Glauben an den Sohn Gottes als den Kern und Stern des Christenthums behandelte und ihm erlösende Macht zuschrieb (S. 209)“. Um der Gemeinde willen also hielt Justin an dem Mittelpunkt des christlichen Glaubens fest, ohne diesen Glauben zu verstehen; in seiner eigenen Vorstellung war Christus ja nur Lehrer. Und doch lesen wir sofort: „Der Glaube an die Erlösung durch Gottessohn und die Anbetung des Erlösers wirkten in Justin’s Seele religiöses Leben, dessen Wesen er nicht zu erläutern und über dessen Ursprünge er Andere nicht zu belehren vermochte. Dieser Glaube machte ihn gerecht, wirkte in ihm Wiedergeburt etc.“ Justin hat den gerechtmachenden und wiedergebärenden Glauben, obwohl er nach seiner, das Ganze beherrschenden heidnisch-moralistischen Anschauung an die Stelle des Glaubens das Wissen von Gott gesetzt hat. Das Christenthum Justin’s ruht weder auf sicherem Erkenntnißgrund, noch hält es sich selbst auf dem Erkenntnißgebiet irgend fest. Es ist auf magischem Wege, ohne klare intellektuell ethische Vermittelung in Justin zu Stande gekommen, es nimmt in dem Geistesleben des Justin eine ganz vereinsamte, abgeschlossene Stellung ein: „Denn die christliche Lehre, die er im Munde führte, drängten ihm Gedanken und Vorstellungen auf, die zu seinen eigenen nicht stimmten und oft genug geradezu im Widerspruche standen (S. 210)“, d. h. die eigensten Vorstellungen Justin’s blieben heidnisch. Gleichwohl behaupteten die christlichen Vorstellungen ihre Herrschaft und bestimmten sein Leben in wirksamerer Weise als seine eigenen Reflexionen (S. 210). „Für den Christus, der ihn und die Welt von Sünde, Tod und Teufel erlöst hatte, war er bereit sein Leben zu lassen; in seiner „Dogmatik“ wußte er ihm keine andere Stelle anzuweisen, als die des christlichen Lehrers (S. 186)“. Wir gestehen, daß wir von diesem Dualismus, bei welchem die Rollen des Heiden und Christen in unverfolgbarer Weise aneinander ausgetauscht werden, keine Vorstellung haben. Nur eines ist uns klar, daß hier ein Begriff des christlichen Glaubens substituirt wird, der| der bedenklichsten Entwerthung desselben gleichkommt, und noch tiefer steht als die fides implicita der katholischen Kirche.

 Soll man sich wundern, wenn dem gegenüber selbst Hilgenfeld den kirchlichen Charakter Justin’s einigermaßen in Schutz nimmt, unter anderem ausruft: Wo hat denn Justin den Gottvater als Gott des Bundes und Heils nur irgend verleugnet? und wenn derselbe meint, daß die Vorwürfe, welche v. E. erhebt, selbst die jüdischen Zeitgenossen gegen Justin nicht erhoben haben (Zeitschr. für wissensch. Theol. 1879. 4. Heft. S. 500. 502).

 Wir haben uns alle Mühe gegeben, des Herrn Verf. innerste Anschauung von der Sache uns klar zu machen. Wir vermögen aber zu keinem anderen Resultate zu gelangen. Wir lesen S. 210, Justin wolle Christ sein, er sei aber in Allem, was er sagt, von der heidnischen Anschauung abhängig; S. 484 wird uns gesagt, daß das Heidnische in den Tiefen seines Geistes wurzelte, daß es nicht blos einzelne Mißverständnisse verschuldete, sondern die Grundanschauung vom Wesen des Christenthums und der Religion bestimmte. Seine Grundanschauung von diesem stammte aus dem Heidenthum, lesen wir S. 372, was man bisher doch nur von den Gnostikern gesagt hat. Nach S. 485 redet Justin die christliche Sprache, aber er redet sie wie eine fremde, und merkt gar nicht, daß er mit dem Glauben an den Sohn Gottes in einen ganz neuen Gedankenkreis eingetreten ist; er deutete alle Worte, die hier und dort dieselben sind, nach den ihm geläufigen Begriffen und Vorstellungen, „und weiß es nicht, daß sie hier einen andern Sinn haben als dort; vgl. 1 Kor. 2, 13. 14.“ Also der natürliche Mensch, der nichts vom Geiste Gottes vernimmt, denkt in Justin, redet aus Justin, wie wir unmittelbar vorher lesen, daß die heidnische Weltanschauung es ist, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen, in der er zu Hause ist und in der er denkt (S. 485). Hiermit ist doch unmißverständlich klar gesagt, daß Justin Heide geblieben ist. „Beurtheilt man ihn nach seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen, so ist er Heide“ (S. 485). Justin lebt und stirbt für die christliche Idee, weiß aber nicht, was es um diese ist; er lebt im Vollgenuß des Neuen, wähnt aber, dies Neue sei wesentlich das Alte, im Gegensatz zu welchem es erstand. Wenn er nun doch die Sprache der Gemeinde redet, so sollte man glauben, er habe der christlichen Lehre als rein symbolischer Hülle zur Einkleidung seiner heidnischen Anschauungen mit Absicht sich| bedient, mit andern Worten, Justin sei Gnostiker gewesen. Aber das ist er nicht; er redet von den teuflischen Blasphemien der Gnostiker und hat gegen sie mit aller Macht gestritten. Er ist auch nach v. E.’s Meinung trotz seiner vielfachen Berührungen mit dem Gnosticismus nicht Gnostiker, sondern er ist, obwohl Heide in seiner ganzen Denkweise, doch Christ, Justin ist Christ und Heide zugleich (S. 485); er hat, obwohl er nun einmal kein Verständniß hat für die religiösen Grundgedanken des Christenthums (S. 167), obwohl er mit allen Fasern seines Wesens im Heidenthum wurzelt, obwohl er als Heide, als natürlicher Mensch denkt und spricht (S. 484. 485), die religiös-sittliche Denkweise und die christliche Weltanschauung im Prinzipe sich angeeignet (S. 486); er ist Christ nicht blos der Gesinnung und dem unklaren Gefühle nach, sondern er hat auch durch den Glauben an den Sohn Gottes die Weisheit der Welt im Prinzip überwunden (S. 487). Es ist nun nicht mehr noth, gegen den Herrn Verf. zu streiten; er nimmt in den angeführten Worten im Grunde genommen alles vorher Erwiesene selbst wieder zurück. Das widerspruchvolle Bild, das v. E. von Justin entwirft, hebt er selbst, wenigstens einigermaßen, dadurch auf, daß seine Schrift, wir möchten sagen zu unserer Freude, mit einem großen Selbstwiderspruch endet. Wer ein wirklicher Christ nach allen Seiten hin ist, nicht blos in Gesinnung und Gefühl, wer im Glauben an Christum allen Gedanken und Willensbewegungen eine andere Richtung gegeben hat, was Andere und auch wir von Justin glauben, und was v. E. S. 486 f. selbst ihm zugesteht, der kann nicht mehr in all dem, was er redet und denkt, von der heidnischen Weltanschauung abhängig sein, der kann das Christenthum, noch dazu unbewußt, nicht wurzelhaft umsetzen und theilweise in sein Gegentheil verkehren.
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 Aber freilich steht es nur so, daß zwei Behauptungen, die einander gegenseitig aufheben, ohne Vermittlung neben einander gestellt sind. Der Heide kann nicht Christ sein, und der Christ nicht Heide sein. Und wenn auf der letzten Seite der Glaube an Jesus Christus als den Sohn des einen und wahren Gottes als das Entscheidende hingestellt wird, so muß dem entgegengehalten werden, daß das ganze Buch darauf ausgeht, nachzuweisen, daß Justin unter Glaube und unter Sohn Gottes etwas anderes versteht als Schrift und Kirche. Wenn nach Justin’scher Anschauung Christus| nur der göttliche Lehrer ist (S. 138), wenn die Menschwerdung des Logos, weil sie nicht Menschwerdung Gottes, sondern Erscheinung der göttlichen Vernunft und des göttlichen Gesetzes in Person ist, nichts an der Regel ändert, daß die vernünftige Kreatur und besonders der Mensch sich durch Erkennen der göttlichen Wahrheit und Thun des göttlichen Willens die Frömmigkeit und Gerechtigkeit, die Vernünftigkeit und Vollkommenheit zu erwerben hat, die ihn Gott ähnlich macht, und ihm ein Anrecht auf gottgleiche Existenz (?) in einem unvergänglichen Leben verleiht (S. 138 f.); wenn der Glaube an Christus nichts Anderes bedeutet als die vollkommene Gotteserkenntniß und die völlige Gewißheit, daß Christi Lehre Gottes Lehre und Christi Forderungen Gottes Forderungen sind; wenn die Waschung mit dem Blute Christi identisch ist mit Buße und Besserung; wenn dem Menschen die σωτηρία als Lohn für die durch Gesetzeserfüllung hergestellte Gerechtigkeit zu Theil wird (S. 256 f.); wenn durch Wissen und Thun der göttlichen Lehre der Mensch gerecht und vom Tode erlöst wird (S. 461), so ist doch klar, daß der Glaube an den Sohn Gottes bei Justin nicht das entscheidende Moment sein kann, das ihn von allen Gnostikern scheidet und ihm ein Anrecht gibt auf den Christennamen (S. 490), nicht die Kraft ist, wodurch die sündige Natürlichkeit und die Weisheit der Welt im Prinzip überwunden ist (S. 487). Ein Glaube an den Sohn Gottes, der für die Vorstellung und Erkenntniß von allen religiösen und ethischen Momenten losgelöst ist, die je und je auf Grund der Schrift und Erfahrung mit demselben verbunden wurden, die seine Eigenthümlichkeit konstituiren, seine Heils- und Lebenskraft allein bedingen, führt diesen Namen nur ganz mißbräuchlicher Weise. Nach v. Engelhardt ist Justin ein wiedergeborener Christ, obwohl er schlechterdings keine Wiedergeburt anerkennt, er hat Vergebung der Sünden, obwohl er den biblischen Begriff letzterer völlig aufhebt, er ist gerechtfertigt, obwohl er einem System vollkommenster Selbstgerechtigkeit huldigt, er ist erlöst von Sünde, Tod und Teufel, obwohl er mit dem Worte von der Erlösung keinen klaren Begriff verbindet und es nur formelmäßig verwendet, er hat christliches Leben und christliche Gesinnung (S. 453), obwohl er über alle christlichen Fragen durchaus heidnisch denkt und auch die letzte Voraussetzung allen Christenthums, die Vorstellung vom persönlichen Gott, preisgibt, er erwartet alles Heil von Christo und vom ewigen| Leben, obwohl er in seiner Anschauung von letzterem nicht die Grenzen überschreitet, bis zu welchen allenfalls auch ein Philosoph mitgehen konnte (S. 483 f.). Es ist ja gewiß, daß wirklich christliches Leben oft in großer Stärke vorhanden sein kann bei viel Irrthum und ungeachtet sehr verkehrter Anschauungen. Nach dem v. E. über Justin gezeichneten Bilde wird aber ein Dualismus zwischen dem innersten Sein eines Menschen und seiner geistig sittlichen Gesammtrichtung, zwischen Erkenntniß und Leben, Glauben und Wissen, Denken und Reden, subjektivem und objektivem Christenthum, Religion und Theologie angenommen, der psychologisch völlig unvorstellbar ist und alle ethische Einheit zerstört. Namentlich ist der Glaube in keiner Weise mehr Prinzip der Erkenntniß; er gibt seine innerste Natur als einer den ganzen Menschen erfassenden und durchwirkenden ethischen Macht auf, sofern er bei jedem Hinausschreiten auf das Erkenntnißgebiet die Beute fremdartiger Anschauungen wird. Man hat mit Recht in unsern Tagen Glaube und Wiedergeburt als den letzten Quell aller christlichen Gewißheit bezeichnet; bei Justin’schem Glauben und Justin’scher Wiedergeburt ist nach v. E.’s Darstellung, obwohl jene an sich das wahrhaft christliche Gepräge tragen sollen, ein System nicht der Gewißheit, sondern der Unsicherheit und des Schwankens, des unfreiwilligen Beherrschtseins von außer- und unchristlichen Richtungen, der naiven Selbsttäuschung, wenn nicht mehr gegeben. Denn Justin der Apologet will durchaus Christ sein, ist aber in Wahrheit Heide geblieben. Man wird dem Herrn Verf. nicht vorwerfen dürfen, daß er auf dem Titel seiner Schrift Christenthum und Theologie verwechselt habe. Von einer Theologie Justin’s kann v. E. bei seiner Auffassung nicht reden; nach letzterer ist jede Reproduktion christlicher Lehre aus dem Quell christlichen Bewußtseins und christlichen Lebens ausgeschlossen. Er braucht aber das Wort Christenthum offenbar in dem weitesten Sinne, wonach es jede Richtung bezeichnet, die in irgend welchem Zusammenhang mit dem geschichtlichen Begriff des Christenthums steht, mag sie etwa auch die Frage veranlassen, ob sie den Namen Christenthum noch verdiene.
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 Wenn wir an jene zusammenfassende Definition des Justin’schen Christenthums S. 482 denken, und dessen Verwandtschaft mit dem philosophisch gerichteten Heidenthum (S. 483) so evident ist, daß sich v. E. des näheren Nachweises überhoben erachtet, so ist es doch| sehr eigentümlich, daß gleichwohl Philosophen von Fach von diesem Getränktsein der Justin’schen Schriften von philosophischen Lehren und Anschauungen weniger wahrnehmen. Heinrich Ritter findet bei Justin wenig Philosophie, seine Beweise tragen keinen philosophischen Charakter an sich; seine Lehre ist nicht ohne philosophischen Hintergrund; er stand in einem Kreise philosophischer Begriffe und sah diese mit Auswahl für geeignet an, „der christlichen Lehre“ einverleibt zu werden und zur Stütze zu dienen (a. a. O. V, 300. 308). So sehr sich Ritter teilweise mit v. Engelhardt berührt, so ist sein Gesammturtheil über Justin doch von dem letzteren wesentlich verschieden. Auch Huber erkennt an (Philosophie der Kirchenväter S. 15. 19), daß Justin in Christo ein neues Lebensprinzip in die Welt eingetreten sah, und daß seine Lehren größtenteils mit den christlichen Dogmen übereinstimmen. Es ist merkwürdig, daß während neuester Zeit Theologen in Justin nur Metaphysik und Philosophie wahrnehmen, Philosophen ihm den Rang als Theologen ungeschmälert lassen und seine wesentliche Uebereinstimmung mit den Lehren des Christenthums anerkennen.
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 Es ist allerdings ein großes, forschungswürdiges Problem, das Verhältniß des Christentums zu der sittlich-religiösen Denkweise des Alterthums überhaupt und nach seiner besonderen Erscheinung in den Apologeten näher zu bestimmen. S. 455 ff. sagt v. E. hierüber Beifallswerthes. Wenn wir nun aber jene bereits angeführte Definition „des Justin’schen Christentums“ S. 482 näher ansehen, wonach dieses nichts anderes als der wieder aufgenommene oder vielmehr festgehaltene Moralismus des Heidenthums ist, so müssen wir vor Allem bemerken, daß hiernach Justin tiefer zu stehen kommt als so viele Weise des Alterthums, deren Richtung doch offenbar etwas Höheres, etwas Idealeres hatte als Justin nach dortiger Darstellung, und die schlechterdings nicht als reine Moralisten zu bezeichnen sind. Justin erscheint von Neuem als eine wunderlich widerspruchsvolle Persönlichkeit. Offenbar hat vor Allem ein religiös ideales Streben Justin der Platon’schen Philosophie zugeführt („es war vielmehr das religiöse als das philosophische Interesse, was ihn dem Platonismus zuführte“, Neander, Dogmengeschichte I, 64). Es geht dies klar aus dem Dialog hervor. Nachdem er nun auch in der Platon’schen Philosophie trotz der Ideenlehre, die seinem Geist Flügel verliehen, keine Befriedigung, wohl| aber im Christenthum Alles was er suchte gefunden hatte, soll er doch als Christ jener Richtung huldigen, die tiefer steht als Platon’s jedenfalls von einem idealen Geiste getragene, einem religiösen Zuge angehauchte Philosophie. Freilich behauptet v. E., die Religion finde im Platon’schen System keine Stelle. Aus concessis argumentirt er hier aber nicht (vgl. dagegen z. B. die immer noch sehr lesbare Schrift von Ackermann: Das Christliche in Plato; Luthardt: Vorträge über die Moral des Christenthums S. 14 ff.: „Bei Plato hat die Moral noch einen religiösen Charakter“). Wer das religiöse Element in Plato’s Philosophie leugnet, muß auch das theistische leugnen, muß ihn, wie Teichmüller (Die platonische Frage) und Aubé thun, und wozu auch v. E. geneigt zu sein scheint, zum konsequenten Pantheisten machen. Es ist aber sehr Vieles, was dieser Anschauung entgegen steht, und sind sehr Viele, die dem widersprechen, Theologen, Philosophen und Philologen (vgl. Neander, Wissenschaftl. Abhandlungen S. 175: „Im Ganzen werden wir durch Platon’s Aussprüche veranlaßt, das höchste Wesen als persönlichen Geist zu denken“; ganz richtig Ackermann, Das Christl. in Pl. S. 330: „Nicht eigentlich systematisch durchgeführten Pantheismus, sondern mehr nur pantheistische Richtungen und Ideen enthält die Platon’sche Philosophie, und zwar von der besten und edelsten Art“).
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 Wahrlich die ganze reiche Welt sittlich-religiöser Ideen, welche vor allem das Volk der Hellenen in tiefer Versenkung in den natürlichen Wahrheitsgrund der Menschheit und unter besonderer geschichtlicher Führung zu Tage gefördert (vgl. Kähler, Das Gewissen I, z. B. S. 200: „Dem sittlichen Ernst der Griechen verdanken wir die Entdeckung des Gewissens“), geht nicht in demjenigen auf, womit v. E. das Justin’sche Christenthum charakterisirt. An die sittlichen Erkenntnisse, welche in der griechischen Philosophie sich finden und welche in gewissem Betracht selbst eine Ergänzung des vor Allem in religiösen Gedanken, in den Gedanken der Heilsoffenbarung und der Heilsführung sich bewegenden alten Testaments bilden, konnte nicht blos, sondern mußte die Apologetik des Christenthums anknüpfen (vgl. Neander a. a. O. S. 142: „So hat das Christenthum aus den ethischen Elementen des klassischen Alterthums Vieles in sich aufgenommen und verklärt, was es aus dem Judenthum nicht hätte entnehmen können“). Es handelt sich aber hier nicht blos um die κοιναὶ ἕννοιαι, welche die nothwendige Voraussetzung in Geltendmachung| des ethischen Charakters des Christenthums bilden, sondern um etwas noch Tieferes, um ein ideal-prophetisches Element in der sittlich-religiösen Anschauung des klassischen Alterthums. Man darf wohl sagen, es finden sich in letzterem nicht blos Anklänge, sondern theilweise sehr deutliche Ausführungen der sittlichen Forderungen, auch Präfigurationen der Heilsgedanken und selbst einzelner Heilsthatsachen des Christenthums, obwohl die sittliche Praxis eine ganz andere war und Alles in einem anderen Zusammenhange als dem der tatsächlich gegebenen Heilsoffenbarung auftrat. Auch von Demuth und Feindesliebe ist die Rede; von der Sünderliebe Gottes, von der Liebe zu Gott als der Quelle alles Lebens und aller Tugend wird gesprochen; die Begriffe des Heils, der Erlösung, der Bekehrung, der Wiedergeburt finden sich bei Plato und anderswo. Es mag zu viel gesagt sein, wenn Ackermann behauptet: das Heil ist unverkennbar der begeisternde Hauptgedanke und Endzweck der Platon’schen Philosophie (S. 291); aber ganz ohne Wahrheit ist das Gesagte nicht. Allerdings trat nun diesen christlichen Anklängen der herrschende Intellektualismus als ächt heidnisches Moment entgegen, wonach Wissen und Kontemplation zur Verwirklichung des Ideals verhelfen sollte. Von ihm hat kein Philosoph sich völlig freigehalten; aber eine vereinzelte Durchbrechung der intellektualistischen Richtung findet sich doch, vor Allem in der Platon’schen Philosophie. Huber behauptet geradezu, daß zur Zeit Christi die Lehre, wonach die Tugend von der göttlichen Gnade abhängig gemacht wurde, fast allgemein war (a. a. O. S. 6). Worin besteht nun der Unterschied des Christenthums von all diesem, auch von den edelsten und idealsten Kundgebungen der klassischen Welt? Darinnen, daß es verwirklichte Idee und Forderung ist, daß es Geschichte, Thatsache, Offenbarung des Heils ist und daß es auf Grund dessen ein neues Geistesprinzip, eine neue bisher nicht dagewesene wesenhaft göttliche Lebenskraft zur geschichtlichen Entfaltung bringt.
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 Dies hat Justin zum Christenthum geführt, er sah in ihm die Einheit von Idee und Wirklichkeit, worauf seine Lehre vom Logos und dessen Menschwerdung in Christus unmittelbar zielt. Weil er in ihm nach seiner eigenen Bezeugung (Dial. 7) Heilsoffenbarung, Heilsthatsache, einen Gott des Heils gefunden hatte, darum war sein innerstes Geistesleben nicht mehr Wissen, sondern Glauben und Hoffen. Dem Heilsgott und der Heilsthatsache gegenüber gibt es| kein anderes aufnehmendes Organ als den Glauben. Hier tritt ein ethisch persönliches Verhältniß zu Gott und seiner Offenbarung ein. Hierdurch unterscheidet sich das Christenthum vom Heidenthum; es ist nicht mehr Wissen, sondern Glauben, Glauben als ethisch persönliche Hingebung, die, wie wir meinen, bei Justin offen genug zu Tage tritt, Glauben, welches freilich selbst wieder gewissestes Wissen über Anfang, Mitte und Ende der Wege Gottes ist. Von diesen weiß Justin bekanntlich zu reden. Nachdem Uhlhorn in seinem schönen Werke: Der Kampf des Christenthums etc. S. 119 f. von Justin gesprochen, sagt er sehr richtig: „Ohne Zweifel war es das vor Allem, was die Heiden anzog und festhielt, daß bei den Christen volle Gewißheit des Glaubens auf Grund einer göttlichen Offenbarung zu finden war.“ Auf den letzten Seiten seines Buchs S. 488 f., wo das früher Gesagte theilweise geradezu zurückgenommen wird, sagt v. E. selbst: wie ihn religiöse und sittliche Motive, das Verlangen nach Erkenntniß des wahren Gottes, nach Gemeinschaft mit ihm, nach Vergebung der Sünde, nach wahrer Gerechtigkeit und nach völliger Gewißheit in Betreff des zukünftigen Lebens zum Glauben an Christus, den Sohn Gottes, geführt hatten, so hatte er sich auch zu allen Lehren des Christenthums rückhaltlos bekannt; wie stimmt dies aber mit dem ganzen Buch und namentlich mit S. 482 f., wo alles specifisch Christliche aus der Richtung Justin’s eliminirt ist. Es ist aber an sich und nach unserm Sinne das ganz Richtige, obwohl v. E. unter dem Bekenntniß nur das Bekenntniß zum Worte, nicht zur Sache der christlichen Wahrheit verstehen kann und die Restriktion sofort nachfolgt. Hat Justin jene Güter wirklich erlangt, dann hat er nicht an die Stelle des Glaubens das Wissen gesetzt, dann steht er gerade im wahren, ächten Christenglauben; er glaubt und hat nicht blos die schöpferische Urvernunft, sondern den lebendigen, persönlichen Gott, den Gott des Heils und der Gnade. Hat er jene Güter nicht, dann ist er ohne Grund zum Christenthum übergetreten. Daß er sie hat und daß er im Christenglauben voll und ganz steht, davon zeugen seine Schriften, davon zeugt, wie wir glauben nachgewiesen zu haben, seine ganze Theologie.
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 Die Aeußerung, die jenen bereits angeführten Worten nachfolgt: „weil er aber aus dem griechischen Heidenthum herkam, und der irrthümlichen Ueberzeugung lebte, daß der Monotheismus der| griechischen Philosophen dem der christlichen Kirche entspreche, hielt er am Gottesbegriff der griechischen Philosophie fest (S. 489)“, woraus alle Alteration der christlichen Lehre floß, ist doch sehr auffallend. Justin hat nicht mit Gottesbegriffen gerechnet. Daß Justin mit Liebe sich in das Edle und Wahre der heidnischen Vorzeit versenkte ungeachtet des tiefsten Gegensatzes gegen das empirische Heidenthum, theilt er mit der ganzen Kirche seiner Zeit als einen ihrer hellsten Züge. Daß er in der Entdeckung des Verwandtschaftsverhältnisses von Christenthum und Heidenthum zu weit ging, ist ebenso gewiß. Aber Justin hielt hierin noch Maß. Bei Athenagoras, noch mehr in dem schönen klassisch geformten Gespräch des Minucius Felix, Octavius, in welchem übrigens des specifisch Christlichen unendlich weniger gegeben ist als bei Justin, findet sich weit Auffallenderes. Welche testes veritatis treten hier auf! neben Euripides, Sophokles und dem „himmlischen“ Plato auch Thales, Anaxagoras, Epikur; es wird der Schluß gezogen, daß entweder jetzt die Christen Philosophen sind oder die Philosophen schon Christen gewesen sind (Octav. 20). In Wahrheit wurde eine gewisse Phase des vorchristlichen Geisteslebens christianisirt, nicht das Christenthum ethnisirt. Minucius Felix meint, des Thales Meinung von Gott stehe mit der christlichen ganz in Einklang, er hat aber damit nicht dessen Gottesbegriff in das Christenthum herübergetragen. Daß Gott absolute Persönlichkeit ist, war mit dem Glauben an Gott den Schöpfer und Erlöser von selbst gegeben (vergl. Thomasius, Dogmengeschichte I, S. 264). Daß Justin die Idee der göttlichen Persönlichkeit nicht festgehalten haben soll, gehört uns zu dem Unfaßbarsten des Buchs, besonders wenn auf ein und derselben Seite (S. 136) zu lesen ist: „er selbst dachte sich Gott unzweifelhaft als persönliches Wesen“, und: „auch er personificirt nur die Gottheit.“ Im Vergleich zu dem vielen höchst Seltsamen, das sich auf jenem Gebiete findet, ist das Christsein des Sokrates und Anderer, wovon Justin redet, im Grunde geringfügig. Daß dies im weiteren Sinne zu nehmen sei, hat schon Weizsäcker bemerkt (a. a. O. S. 74). Justin selbst spricht an der zweiten Stelle, II, 8, wo derselbe Gegenstand behandelt wird, weit weniger auffallend als in Apol. I, 46. Was den Sokrates insbesondere betrifft, so hat der Philologe Lasaulx, der auf katholischer Seite eine ähnliche Stellung einnahm wie Nägelsbach auf protestantischer, in seiner Schrift: Des Sokrates| Leben, Lehre und Tod, obwohl er sich in derselben entschieden zum Glauben an den Gottmenschen bekennt, S. 120 Justin’s Aeußerung über das Christsein des Sokrates ausdrücklich gut geheißen, von Hamann’s starken Worten in seinen sokratischen Denkwürdigkeiten und Zwingli’s Urtheil über edle Heiden abgesehen. Wir sind weit entfernt, das Irrthümliche abzuleugnen. Aber diese Parallelen aus so später Zeit beweisen um so mehr, wie unberechtigt es sei, aus den übereilten Aeußerungen eines Mannes, der zuerst ein nicht so leicht zu lösendes Problem berührt hat, Schlüsse auf dessen Grundanschauung vom Christenthum zu ziehen.

 Am wenigsten ist aus einzelnen gleichlautenden Worten und Wendungen zu folgern; diese erklären sich leicht aus der Coincidenz mancher Vorstellungen in Folge des vorhin angegebenen, dem Christenthum zugewandten Charakters des klassischen Alterthums. Wenn Justin z. B. den Zustand der Seligkeit mit Worten der griechischen Philosophie (S. 483) zu bezeichnen pflegt, so stimmen diese Worte zugleich sehr genau mit Offenb. Joh. 21, 3; daraus ist doch nicht zu entnehmen, daß Justin heidnische Anschauungen sich angeeignet, sondern daß er christliche Ideen in heidnische Anklänge an das Christliche gekleidet und diesen dadurch zur vollen Wahrheit verholfen hat. Manche Parallelen können auch rein zufällig sein und beweisen nur, daß auch im Heidenthum Wahrheit war. So redet Justin und Plato gleicherweise von der Nachahmung Gottes; davon haben aber auch der Herr und seine Apostel gesprochen. Was er aber wirklich aus dem heidnisch philosophischen Sprachschatz aufnahm, hat er theils geradezu umgeprägt, wie den λόγος σπερματικός, theils hat er es mit dem specifisch christlichen Inhalt gefüllt. Wenn er Gott den Vater des Alls nennt, so meint er es doch anders, als die heidnischen Philosophen; Justin hat in seinem Schöpfungsbegriff den Dualismus und Emanatismus überwunden und betrachtet die Schöpfung durchaus als freien Akt göttlicher Macht und Güte. Nicht Rückbildung in das Heidenthum, sondern Einbildung und Umbildung in das Christenthum ist mit all dem gegeben.

 Damit ist durchaus nicht geleugnet, daß in der Theologie Justin’s genug Reste heidnischer Vorstellungen sich finden; seine Theologie hat vielfach Fremdartiges, Bizarres, Irrthümliches aufgenommen; auf die Anthropologie hat die Stoa, auf die Christologie die philonisch-| alexandrinische Weisheit vor Allem trübend eingewirkt. Aber gleichwohl ist Justin nicht blos durch und durch Christ, sondern er ist im Grund und Wesen auch durchaus christlicher Theologe. Daß der erste Theologe auch Fehlgriffe machen mußte, sollte sich doch von selbst verstehen; der erste Theologe verdient aber auch unsere ganze Bewunderung, wenn wir sehen, mit welcher Geistesbeweglichkeit er fast alle theologischen Probleme berührt und wie er auf die Lösung nicht weniger mit Umsicht und Scharfsinn eingeht. Seine Theologie bewahrt sich ihren ökumenischen Charakter dadurch, daß Christus ihr großer, allbeherrschender Mittelpunkt ist. Christi Person ist die Frage des Christenthums aller Zeiten; mit Christi Person beginnt der theologische Proceß in Justin. Die göttliche Herrlichkeit Christi hat er mit aller Entschiedenheit und Geistesenergie Juden und Heiden gegenüber behauptet. Das Kreuz ist ihm das Zeichen der Macht und des Sieges seines Herrn. Diese Lebensmacht schaut er in einer neuen Lebensschöpfung mitten in einer von dämonischen Mächten geknechteten Welt, in der auf dem ganzen Erdkreis aufblühenden Gemeinde Gottes. Er hält eine große Umschau über die Wege und Thaten Gottes aller Zeiten, lebt und webt mit vollster, eigenster Ueberzeugung in den Thatsachen des Heils und schaut deshalb mitten im Drange der Verfolgung in unerschütterter Hoffnung auf den ewigen Sieg und Triumph des erhöhten Christus über alle feindlichen Gewalten. Der Gott, an den er glaubt und den er bekennt, ist nicht die „personificirte Substanz“, sondern der Gott des alten und neuen Bundes, der Gott des Wunders und der Offenbarung, der Gott des Heils und der Gnade. Schöpfung, Erlösung und Wiederherstellung aller Dinge schaut Justin in ächt christlicher und biblischer Harmonie.

 Er steht mitten in der Kirche und theilt ihren Glauben. An den Gemeindeglauben knüpft seine Theologie durchaus an, ihm dient sie. Bei allem Eifer und aller Inbrunst, mit welcher er diesen Glauben gegen die offenen Gegner wie diejenigen, welche den Christennamen borgen, um unter seiner Hülle außer- und widerchristlichen Spekulationen nachzugehen, in Schutz nimmt, bewahrt er sich doch große Milde gegen schwache Glieder, auch solche, die noch am Gesetz Mosis hangen und zum Glauben an die vorweltliche Gottessohnschaft Christi nicht durchgedrungen sind.

 Justin war ein geheiligter Christ. Dies und eine ungeheiligte,| von den στοιχείοις τοῦ κόσμου, den natürlichen Lebens- und Geistespotenzen beherrschte und zersetzte Theologie passen nicht zusammen. Der Glaube ist nicht mehr Glaube, wenn er nicht irgendwelche Glaubenswissenschaft in dem zu wissenschaftlicher Erkenntniß überhaupt Befähigten aus sich zu erzeugen vermag. Ein wirklicher Christ kann den heidnischen Theologen nicht zum Doppelgänger haben. Das Leben der Heiligung ist aber zunächst Sache des Einzelnen; die Erschließung der unendlichen Heils- und Weisheitsfülle in Christo für das denkende Bewußtsein ist Arbeit und Aufgabe der ganzen Kirche. Um so mehr kann die Theologie des Einzelnen dem Irrthum unterworfen sein. Ueber das Maß des Irrthums bei Justin wollen wir mit niemand rechten. Es ist aber doch merkwürdig, daß z. B. Duncker, der auf der Basis gründlichster Untersuchung in seinen Abhandlungen über die Logoslehre und die Anthropologie der Apologeten störende, von Außen kommende Einflüsse auf die Theologie Justin’s bereitwilligst zugibt, Heidnisches und Jüdisches in ihr findet, ebenso rückhaltlos behauptet, die Elemente der früheren Bildung seien für Justin nur der Stoff, den er dem neuen lebendig gestaltenden Prinzip anzueignen und durch dasselbe umzubilden bemüht ist, und durch jede gründliche Untersuchung werden wir immer entschiedener in der Erkenntniß befestigt werden, daß diese fremdartigen Elemente nur das verschwindende und durchaus untergeordnete Moment in seiner eigenthümlichen Auffassungsweise bilden (a. a. O. S. 1133). Dies ist das gerade Gegentheil von dem, was v. E. behauptet. Diese gegentheilige Ansicht ist aber überhaupt die vorherrschende. Ganz gut äußert sich schon der Zeitgenosse Semler’s Schröckh: „Und selbst Justinus, der einen fremden überflüssigen Schmuck für eine der Hauptlehren des Christenthums borgte, trug sie doch sonst ohngefähr wie Jesus und seine Apostel, wenn gleich nicht genau mit den Bestimmungen der späteren Christen vor (Christl. K.-G. III, 34).“ v. Otto hat schon im Jahre 1841 gesagt: huc accedit, quod ecclesia formulas dogmatum e philosophia academica depromserat; sed cave, ne ipsa placita ecclesiastica Platonismo opineris corrupta et depravata (a. a. O. S. 79). Es lautet dies geradeso, als sei es bereits gegen v. E. gerichtet. In den Jahren 1852 und 1853 wiederholt er diese Anschauung mit den Worten: „Sein Platonismus hält sich durchaus auf der Basis des Christenthums“ (Ersch u. Gr. XXX, S. 63. Sitz.-Ber. etc. S. 174).| Auch Weizsäcker, obwohl er z. B. meint: die Bedeutung des Todes Christi kann von Justin „kaum“ anders denn als eine symbolische aufgefaßt werden (a. a. O. S. 115), geht lange nicht so weit, wie v. E. Es kann wenigstens einen ganz richtigen Sinn haben, wenn er sagt: „Das Dogma auf dieser Stufe der Entwickelung (der apologetischen) muß daher auch mit der entsprechenden Einseitigkeit behaftet sein“ (S. 64). Ein besonderes Verdienst ist es aber, daß der Genannte das Moment der Hoffnung als ein in der Theologie Justin’s durchschlagendes hervorhebt. Sehr richtig ist, was wir am Schlusse lesen: „Es ist nicht sowohl der kirchliche Glaube als solcher und die bewußte Autorität der Ueberlieferung, welche demselben (dem philosophischen Element) Schranken setzt, als vielmehr gerade der Standpunkt, welchen Justin mit der nachapostolischen Kirche theilt und auf welchem die christliche Zukunftserwartung in ihrer festen Gestalt das Alles überwiegende Moment bildet (a. a. O. S. 119)“. Der eigentliche Lebenspuls seiner Theologie und seines Christenthums ist die christliche Hoffnung. Hiermit ist die beständige Behauptung v. E.’s, daß bei Justin die Grenzen von Frömmigkeit und Gerechtigkeit verwischt und beide nur als Leistungen neben einander hergehen, allein schon widerlegt. Gerade in der Hoffnung zeigt sich die volle innere Einheit des religiösen und ethischen Moments bei Justin, sofern hier alle sittlichen Lebenszwecke einem höchsten, dem vom hoffenden Glauben erfaßten, verheißenen Gute des ewigen Lebens und eines mit der Zukunft Christi gegebenen ewigen Reiches unbedingt sich unterordnen. Hiermit ist auch die harte Kluft, welche nach v. E.’s Anschauung zwischen der dogmatischen und ethischen Seite der Justin’schen Theologie trotz aller Bemühung, auch jene ihres christlich-kirchlichen Charakters möglichst zu entkleiden, bestehen bleibt, ausgefüllt. Justin hat die Lehre von der Rechtfertigung in ihrer centralen Bedeutung nicht erkannt; daß er die Sache gar nicht kenne, ist damit natürlich nicht gesagt (vgl. Thomasius, Dogmengeschichte I, S. 113); er kennt ja eine wirkliche Sündenvergebung in der Taufe; durch den Empfang dieser ist er gerechtfertigt. Er streift auch nicht selten ganz nahe an die Lehre von der Rechtfertigung, so in der schönen Stelle Dial. 47: die Güte und Liebe Gottes und sein unermeßlicher Reichthum sieht den von der Sünde sich Bekehrenden wie einen Gerechten und Sündlosen an. Durch die Hoffnungslehre selbst ist aber der stärkste| Markstein gegen heidnischen Moralismus aufgerichtet. Wird überhaupt in’s Auge gefaßt, daß nach Justin’s Anschauung das Christenthum seinen heilkräftigen Ausgang in Glaube, Sündenvergebung und Wiedergeburt, sein Ziel und seine allvermögende Ueberwindekraft in der Hoffnung hat, daß die Hoffnung auf einem klar erfaßten Komplex göttlicher Thaten und Heilsveranstaltungen, im letzten Grunde auf Gnade und Verheißung ruht, und das Hoffnungsgut bei Justin noch nicht, wie dies sobald geschah, durch besondere, dem Jenseits angehörige Büßungen und Genugthuungen eingeschränkt und zurückgeschoben erscheint, wie denn der Märtyrer Lucius Gott dankt, daß er sterbend zum Vater und König des Himmels wandere (II, 2); daß die Ethik Justin’s inhaltlich angesehen, zwei Punkte ausgenommen, eine Veräußerlichung des Bußbegriffs und die Billigung einer auffallenden ascetischen Verirrung (I, 29), ein ächt christliches Gepräge hat, indem sie Gottesliebe bis zur unbedingten Selbstaufopferung und Lebenshingabe, fürbittende Feindesliebe, strengste Wahrhaftigkeit – dies auch im Gegensatz zu der Platon’schen Ethik – fordert und als tatsächlich geübt allenthalben voraussetzt, so wird man immerhin sagen dürfen, daß das Christenthum Justin’s ungeachtet seines stark ergistischen Zuges ein verhältnißmäßig reines, ungefälschtes, den biblischen Charakter nicht verleugnendes ist. Wenn Thiersch sagt: „So stand sie da, die altkatholische Kirche, ein freier, reiner, heiliger, einiger, geheimnißvoller Bund, nicht von dieser Welt, mächtig in der Hoffnung einer künftigen Herrlichkeit, wartend der Wiederkehr ihres Herrn vom Himmel und seines Weltgerichts, hoffend auf die Aufrichtung seines Friedenreiches auf Erden (Kathol. u. Protest. I, S. 170 f.)“, so ist es gerade Justin, der in dieser eschatologischen Gesinnung und Richtung vorangegangen ist und vorwiegend dazu verholfen hat, dem Christenthum der altkatholischen Kirche diesen wahrhaft ökumenischen Charakter einzuprägen. Von dem hoffnungsstarken, heiligungseifrigen, heldenmüthigen, opferfreudigen Christenthum des Märtyrers hat die Kirche aller Zeiten, hat auch der Christ des neunzehnten Jahrhunderts zu lernen.
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 Man fragt sich bei der v. Engelhardt’schen Darstellung: welches denn das Verdienst Justin’s gewesen ist? Wir wüßten nicht, was darauf geantwortet werden könnte. Und wenn das Christenthum Justin’s, wie es v. E. auffaßt, wirklich die Anfänge der katholischen| Glaubenslehre bezeichnet, so wird man die Dogmengeschichte fernerhin ganz anders auffassen müssen und wirklich auffassen, als bisher geschah, was auch bereits ganz offen angekündigt wird. Da aber das unbefangene Urtheil, wie wir es theilweise bei v. Engelhardt selbst sehen, doch wieder den Justin’schen Lehrbegriff ganz nahe an den neutestamentlichen rücken muß, so muß und wird die Anschauung von dem sachlich bestimmenden Einfluß einer heidnisch-jüdischen Philosophie und Metaphysik auf die Theologie der Kirchenlehrer auch auf die neutestamentlichen Urkunden ausgedehnt werden, wozu freilich schon genug Ansätze gegeben sind. Neben der Entwerthung des christlichen Glaubensbegriffs ist uns die hiermit eröffnete Perspektive das Bedenklichste in dem Buche v. Engelhardt’s, so reich das Maß des wirklich Fördernden und Anregenden in demselben anderweitig auch sein mag.
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 Wir können nicht umhin, im völligen Gegensatz zu v. Engelhardt zum Schlusse Worte von Thiersch aus dessen nunmehr vergriffenem Buche: Versuch zur Herstellung etc. (S. 282 f.) anzuführen, weil wir in demselben wesentlich unsere Anschauung wieder finden und sie vielleicht auch Einiges zur richtigen Würdigung Justin’s beitragen: Thiersch redet an jenem Orte von dem fremdartigen Eindruck, den die Kirchenväter zunächst auf ihn machten und fährt dann fort: „Er erinnert sich wohl, wie sonderbar es ihm Anfangs erschien, hier nichts von jenen Wahrheiten zu finden, welche die Quelle seines ganzen religiösen Lebens bildeten, nichts von dem Wege, den der Sünder zu betreten hat, um zum Frieden zu gelangen und der göttlichen Gnade gewiß zu werden, nichts von Christi Verdienst als der alleinigen Ursache der Vergebung, nichts von der immerwährenden Buße und dem stets neuen Schöpfen aus dem Quell der freien Gnade, nichts von der hohen Zuversicht des gerechtfertigten Christen. Statt dessen fand er, wie alles Gewicht gelegt wurde auf die Menschwerdung des göttlichen Logos, auf die richtige Erkenntniß des großen Gegenstandes der Anbetung, auf das objektive Mysterium der Trinität und der Menschwerdung, auf den Zusammenhang der Schöpfung, der Erlösung und der einstigen Wiederherstellung des Geschöpfes in der Verklärung auch der menschlichen Leiblichkeit, auf die Freiheit des Menschen und auf die Realität der göttlichen Gnadenwirkungen in den Sakramenten. Allein es ward ihm nicht allzuschwer, sich in diese ganze Denkweise hineinzuleben, und mit Festhaltung des wahren| und unveräußerlichen am protestantischen, namentlich am lutherisch-protestantischen Bewußtsein, dessen Einseitigkeit durch lebendige Aneignung der Theologie der Väter zu überwinden. Er erkannte bald, daß den Irrlehren der Gegenwart, ihrem Pantheismus, ihrem Spiritualismus und ihrer Verkennung der Bedeutung der Leiblichkeit gegenüber, die christliche Kirche einer entschiedenen Wiederaufnahme des Wahren im Gedankengehalte der patristischen Theologie bedarf etc.“ Der Gegensatz mag auch hier zu stark gefaßt sein, um so mehr freuen wir uns der zugleich anerkannten Einheit. Nicht Alles, aber das Meiste paßt auch auf Justin. Es ist ein durchaus einseitiger protestantischer Standpunkt, von dem die v. Engelhardt’sche Darstellung Justin’s ausgeht.

 Groß ist in Justin der Zug zu dem Objektiven, zu dem Fundamentellen im Christenthum, groß ist es, wie er in der Zukunft wurzelt, groß aber auch, wie er aus der Enge einer mit Blut getauften Märtyrerkirche in die Weite blickt, wie er in der verfolgten Gemeinde den Mittelpunkt der Welt II, 7 und in der von ihr vertretenen Wahrheit die Sonne schaut, deren Strahlen rückwärts und vorwärts leuchten; groß, wie er sich mit denen zusammenschließt, die allen weltlichen Dingen bis zum Tode entsagt haben (Dial. 119) und zugleich weiß, daß den verachteten Christen die Zukunft und ein ewiges Reich gehört. Je länger man mit Justin’s Schriften sich beschäftigt, desto verehrungs- und liebenswürdiger erscheint er, desto mehr wird man trotz der oft recht unscheinbaren Gestalt seiner Rede von der eigenthümlichen Seelengröße und dem Geistesadel des Mannes erfaßt. So denkt und spricht kein Mann, der das Christenthum rationalistisch verflacht und es als Einkleidung fremdartiger, ihm entgegengesetzter Anschauungen benutzt, so spricht nur ein Zeuge Christi im urchristlichen Sinne des Wortes, bei dem Wort, Leben und That aus einem Gusse sind.

 Was in Justin lebte und was er im Worte bezeugte, hat er mit dem Tode besiegelt. Sein Martyrologium ist nach allgemeiner Annahme ächt. Darnach hat er noch in seinen letzten Worten sein ganzes Christenthum und seine ganze Theologie zusammengefaßt. Er bekennt den Einen Gott, den Schöpfer aller Dinge und den Sohn Gottes, den Lehrer der Wahrheit und den Herold der Seligkeit; von seiner ewigen Gottheit genügend zu reden, vermag er in seiner Schwachheit nicht. Er wünscht nichts mehr, als für ihn zu| leiden, um freudig vor seinem Gerichte zu erscheinen und Christi Gnadengeschenk zu erhalten.

 Hermas vergleicht die Kirche mit einem Thurme, der aus den lebendigen Gliedern der Gemeinde sich auferbaut; Justin gehört in der That zu den weißen Quadersteinen, mit welchen der geistliche Bau anhebt.




Druck von Ackermann u. Glaser in Leipzig.