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Anschauungen befangenen Mann anzusehen, dessen Christenthum, so weit es in Lehre und Anschauung hervortritt, diesen Namen offenbar nur in sehr uneigentlichem Sinne trägt. Wenn nun dessenungeachtet v. E. Justin alle wesentlichen Charakterzüge subjektiven Christenthums in Wiedergeburt und Erlösungsgewißheit vindicirt und durch beides die geschichtlichen Räthsel, die der Person und Richtung Justin’s anhängen, gelöst zu haben glaubt, so schließt für uns sein Resultat gerade mit einem psychologischen, ethischen und religiösen Räthsel ab, für welches es uns an der Möglichkeit jeder sichern Vorstellung, geschweige denn einer genügenden Lösung gebricht.

 Der gründlichen und allseitigen Orientirtheit über den reichhaltigen Stoff, der scharfsinnigen Zergliederung des Einzelnen, der fördernden Untersuchung einschlägiger allgemeinerer Fragen zollen wir alle Anerkennung. Wir haben das Werk mit regstem Interesse gelesen und dem eingehendsten Studium unterzogen; wir verdanken ihm des Anregenden und Belehrenden ungemein viel. Das Gesammtresultat aber hat uns je länger je mehr zu entschiedenem Widerspruch herausgefordert.

 v. Engelhardt verfährt nicht synthetisch, sondern analytisch. Nach einer überaus sorgfältigen und instruktiven Uebersicht über die bisherige Beurtheilung Justin’s behandelt er den Gegenstand in den drei Theilen: das Christenthum Justin’s nach den beiden Apologien, dasselbe nach dem Dialog, das Christenthum Justin’s und das Christenthum seiner Zeit. Man darf vielleicht sagen, das analytische Verfahren ist des Buches Stärke und Schwäche zugleich. Es war bei demselben kaum zu vermeiden, daß die Grundanschauungen Justin’s zuerst nach den Apologien eruirt und daß der Dialog dann unwillkürlich nach dem aus diesen gewonnenen Resultate angeschaut wurde. Nun unterliegt es aber gar keinem Zweifel, daß der Dialog die Apologien an unmittelbarem christlichen Gehalt weit überragt und viel tiefer als diese in die eigentliche Theologie einführt. Diese aus der verschiedenen Gegnerschaft in beiden Schriften leicht erklärliche Thatsache kommt bei S. G. Lange (Gesch. d. Dogmen I, S. 138. 140) zum entschiedenen, wenn auch einseitigen Ausdruck. Mit Recht nennt er den Dialog eine der vorzüglichsten Schriften des christlichen Alterthums (S. 145 ff.), er findet in ihm die wesentlich christlichen Lehren; Lange hat allerdings die Apologien zu tief gestellt und mit Unrecht

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Adolf von Stählin: Justin der Märtyrer. Dörffling und Franke, Leipzig 1880, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_Justin_der_M%C3%A4rtyrer.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.10.2017)