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Ersch u. Gr. a. a. O. S. 62; Duncker a. a. O. S. 1130). Die eigentliche Theologie thut in Justin in denkender Reflexion über die christliche Wahrheit die ersten Schritte; von Orthodoxie im späteren Sinne kann deshalb keine Rede sein; manches Rohe, Unvermittelte, Ungegorne, vor Allem manche Unbeholfenheit des Ausdrucks war hier unvermeidlich. Es ist Aufgabe des Beurtheilers, sich an die Sache selbst zu halten, das Disparate und Getrennte möglichst zu einem Gesammtbild zu vereinen.

 So ist die Theologie Justin’s von der Idee der Freiheit getragen. Es sind die höchsten sittlichen Interessen, die Justin bestimmen, mit solchem Nachdruck diese Idee zu betonen. Den Vorwurf der Unsittlichkeit gibt Justin dem Heidenthum zurück und findet die Untergrabung und Aufhebung aller sittlichen Prinzipien in dessen Determinismus und Fatalismus. Seine Freiheitslehre ist der unmittelbare Appell an das Gewissen der Heidenwelt, sich von den Banden dämonischen Zaubers zu lösen und der neuen Welt der Wahrheit und sittlichen Reinheit, die im Christenthum zur Erscheinung gekommen, Eingang zu gestatten. Allerdings thut dies Justin mit großer Einseitigkeit, am meisten in der Stelle I, 10. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Justin den natürlichen Kräften des Menschen zu viel einräumt, und so ernst er auch über die Sünde urtheilt und die ganze Furchtbarkeit ihrer geschichtlichen Erscheinung gar wohl erkennt, doch nicht in die innerste Tiefe des menschlichen Verderbens hinabschaut.

 Gleichwohl scheint v. E. mit der Behauptung: Sünde und Abfall von Gott ändere an der Wahlfreiheit nichts (S. 155), viel zu weit zu gehen. Justin kennt neben der Freiheit auch eine Gebundenheit und nach I, 61 wird der Mensch erst durch die Wiedergeburt ein Kind der Wahl, der Freiheit (προαιρέσεως). Es ist charakteristisch, daß Justin unmittelbar nach jener starken Betonung menschlicher Freiheit von der Macht der Dämonen und einer mit diesen verbündeten, in jedem Menschen vorhandenen, zu allem Bösen geneigten mannichfaltigen Begierde redet (I, 10). Der Herr Verf. findet, daß Justin sich hier mit der dualistischen Denkweise berühre (S. 160), aber S. 161 gibt er zu, daß derselbe unwillkürlich dem ächt christlichen Gedanken folge, wonach die erste Sünde Auflehnung wider Gott war und darum den Menschen unfähig machte, das Gute zu wollen und zu thun; Justin sei wenigstens geneigt, dies zu glauben.

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Adolf von Stählin: Justin der Märtyrer. Dörffling und Franke, Leipzig 1880, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_Justin_der_M%C3%A4rtyrer.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.10.2017)