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Voraussetzungen der apostolischen Ideen von Seiten der Heidenchristen ab. Aber hatte denn nicht z. B. Justin eine bewundernswerthe Kenntniß der Schrift A. T.? Und kehrt bei dieser Erklärung nicht wesentlich dieselbe Frage wieder? Muß nicht davon ausgegangen werden, daß es für die natürliche Denk- und Sinnesweise überhaupt das Schwierigste ist, die Rechtfertigung aus Gnaden in ihrer vollen Tiefe zu erfassen und als beherrschenden Mittelpunkt des gesammten Lebens fest zu halten, weil gerade in dieser Lehre die Nothwendigkeit der Verleugnung aller Ansprüche des natürlichen Menschen dem h. Gott gegenüber und das volle Majestätsrecht des Gerechten und Gnädigen dem Sünder gegenüber hervortritt? Das Volk Israel war durch eine thatsächliche, Jahrhunderte lang währende heilsgeschichtlich-gesetzliche Pädagogik innerlich auf diese Dinge vorbereitet; die Heiligkeit des lebendigen Gottes und der Ernst der Sünde trat ihm allenthalben nahe. Die Schärfung des Sündenbewußtseins ist aber die reinste Empfänglichkeit für die Einwirkung Christi, sagt Ritschl sehr richtig (a. a. O. S. 202). Gleichwohl waren es nur wenige, die durch’s Gesetz dem Gesetz zu sterben lernten. Dem naturwüchsigen Heidenthum fehlte aber die Zucht und Vorschule der alttestamentlichen Bundes- und Gesetzesökonomie und damit die wirksamste geschichtliche Potenz zur Vorbereitung des Verständnisses der paulinischen Ideen. „Man muß das A. T. nicht blos wissen, sondern muß es mitgelebt haben (Vilmar).“

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 Wenn der Paulinismus aber in jener Periode nur in gebrochener Gestalt auftrat, so folgt daraus nicht, daß die Substanz des Christenthums selbst nicht mehr vorhanden war. Die Heilsthatsachen, das Wort von Buße und Glaube, von Sündenvergebung und Wiedergeburt im Allgemeinen wurde im christlichen Sinne festgehalten. Die Unbefangenheit und Ungenauigkeit im Ausdruck darf nicht angeführt werden, um die Lehre der Kirche jener Zeit als unsicher und schwankend darzustellen (Thiersch, Gesch. des apost. Zeitalters. 3. Aufl. S. 348). Dies gilt auch für Justin. Nur allmählich, nur auf dem Wege einer wirklichen geschichtlichen Entwickelung konnte die Kirche andererseits in die unerschöpfliche Fülle der Heilsoffenbarung für ihre denkende Reflexion, ihr erkennendes Selbstbewußtsein eindringen. Mit dem Elementaren, Fundamentellen, Objektiven mußte die theologische Arbeit beginnen. Ohne Irrthum verläuft die Periode der geschichtlichen Auswirkung des Verständnisses der Offenbarung

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Adolf von Stählin: Justin der Märtyrer. Dörffling und Franke, Leipzig 1880, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_Justin_der_M%C3%A4rtyrer.pdf/12&oldid=- (Version vom 1.10.2017)