Der Scheideweg
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Wer an dem Scheidewege steht,
Der frage nur sein Herz,
Und höre, was die Liebe fleht,
Und blicke himmelwärts.
Auf einem Hügel des bergischen Landes liegt unfern einer Stadt eine Kapelle. In den angenehmen Tagen des Frühlings und Sommers wird in derselben Früh-Andacht gehalten, und die Bewohner der Stadt und der Umgegend besuchen gerne diese heilige Stätte an den geweiheten Tagen.
Lieblich klangen die hellen Töne der kleinen Glocke von dem Hügel an dem Frühmorgen eines Sonntags [80] im Sommer, und schon Viele waren hinausgewandert, dem freundlichen Hügel zu. Auch Karl Friedmann und Heinrich Rohr, zwei junge Freunde, welche als Nachbarkinder mit einander aufgewachsen, und dem Jünglingsalter nahe waren, gingen Hand in Hand aus der Stadt, die Kapelle zu besuchen.
Karl, ein gefühlvoller Knabe, schaute mit sehnenden Blicken nach dem Ziele ihrer kurzen Wanderung. Heinrich, der nicht ohne Gefühl, aber leichtsinnig war, schaute rechts und links umher. Sie sprachen über dies und das; als sie auf einmal an einen Weg kamen, der zu einem benachbarten Weiler von der Straße, auf der sie wandelten, abführte. Sieh! sagte Heinrich, da geht’s nach der Linde. Laß uns diesen Morgen dorthin gehen. Es muß daselbst an den Sonntagmorgen sehr angenehm seyn. Viele wandern dorthin, wenn sie einen Spaziergang in den Wald gemacht haben. Komm, Karl, wir werden daselbst viel Vergnügen finden. Nein, sagte Karl, es deucht mir besser, zur Kapelle zu gehen, denn ein größeres Vergnügen, als den Frühmorgen des Sonntags mit so vielen Bekannten da oben in der freundlichen Kapelle zu feiern, kenne ich nicht. – Heinrich hielt ihn an. Nur diesmal wollen wir wechseln, lieber Karl! sprach er. Ich verspreche dir [81] zugleich, künftig immer mit zur Kapelle zu gehen. – Karl aber blieb fest bei seinem Entschlusse, und bat Heinrich, von dem seinigen abzustehen, recht dringend. Dabei stellte er ihm den Unwillen der Eltern und Alles vor, was ihm nur einfallen mochte, um ihn von seinem Vorhaben abzuziehen; aber vergebens. Heinrich war so beredt, sein Vorhaben zu entschuldigen, daß Karl endlich unwillig wurde und sprach: Nun, so gehe du zur Linde, ich gehe zur Kapelle. Möge es dich nie gereuen! Betrübt bin ich, innig betrübt darüber, daß wir uns hier zum ersten Male auf einem Wege trennen. Horch! die letzten Töne der Glocke verhallen! Ich muß eilen. Komm doch mit mir! Lachend zog Heinrich seine Hand aus der Hand seines Freundes. Da- oder dorthin, sagte er, ist ja einerlei, und ging, den Weg ab zur Linde. Karl blickte noch einmal halb unwillig, halb wehmüthig ihm nach, und ging dann den Weg zum Hügel hinan.
An allen Orten ist wohl Gott,
Ihm dienen kannst du überall;
Doch besser da, wo nimmer Spott
Des Höchsten tönt mit rohem Schall.
Wo man vielmehr im frommen Kreis
Vernimmt des großen Namens Preis.
Schon schallte der feierliche mehrstimmige Choralgesang aus der Kapelle herab; als Karl daselbst ankam. Vor der Thür wartete er noch eine Weile, sich an der wunderlieblichen Harmonie zu ergötzen. Dann öffnete er leise die Thür, und trat in die Versammlung der andächtigen Christen. Nachdem er sich erst gesammelt, und Gott um Segen zu der Andachtsstunde gebeten hatte, setzte er sich hin, und sang noch die beiden letzten Verse des angefangenen Liedes mit. – Darauf bestieg der Pfarrer die Kanzel, und hielt, wie gewöhnlich, eine herzliche Anrede, und ein Gebet, worauf wieder Gesang und dann die Hauptrede folgte über die Textesworte Matth. 6, v. 28. 29. 30. – Schön wußte der würdige Pfarrer die Größe und Güte Gottes in der Erhaltung aller Dinge in der Natur zu schildern, darauf stellte er vor, wie der gute Gott sich von jeher der Menschen besonders angenommen habe und noch annehme, und er schloß dann mit einer kräftigen Ermahnung zur [83] Dankbarkeit gegen Gott, und zum Vertrauen auf ihn. – Dabei floß manche Thäne der Rührung von den Wangen der Zuhörer. Es war so still in der Versammlung, so feierlich! auf allen Gesichtern sprach sich die reine Freude der Andacht, die Sehnsucht nach dem Höhern und Bessern, und die kindliche Zuversicht zu dem himmlischen Vater aus. Ja, wer da nicht bewegt worden wäre, würde wohl nie zu bewegen gewesen seyn.
Vergnügt verließ die Versammlung nach beendigtem Gottesdienste die Kapelle. Karl Friedmann fühlte sich besonders bewegt. Es war ihm wohl und wehmüthig. Er konnte sich freuen, aber doch nicht mit lauter Lust. Ihm war dieser Morgen ein überaus herrlicher. Nur das trübte in etwa sein wonniges Gefühl, daß sein Freund Heinrich nicht mit ihm das Gute genossen, sondern einen andern Weg eingeschlagen hatte.
Heinrich hatte seinen Weg verfolgt. Noch ehe er an die Linde (so hieß ein Wirthshaus an der Straße vor dem Weiler) angekommen war, hörte er schon aus dem Hofraume vor dem Wirthshause ein Gejauchze, das Rollen der Kegelkugeln, und das Fallen der Kegelklötze. Als er daselbst ankam, schaute er erst schüchtern umher, ob auch einer der Anwesenden mit seinen Eltern in Bekanntschaft stände. Nachdem [84] er sich überzeugt hatte, daß Niemand anwesend war, von dem er etwas unangenehmes zu befürchten haben konnte, trat er in den Hof. An langen Tischen saßen da muntere Leute, welche Kaffee, Thee oder Wasser und Milch tranken. An einer anderen Seite des Hofes, wo die Kegelbahn war, standen ebenfalls einige Tische, um welche die Kegeler schwärmten, welche Bier und Branntwein tranken, und dabei grobe Redensarten, Flüche und Verwünschungen mit überlautem Gelächter und Toben ausstießen.
An den ersten Tischen, wo es ruhiger herging, achtete Niemand auf Heinrich, und er selbst hatte auch nicht Herz, mit Jemand eine Unterhaltung zu beginnen. Er ließ sich ein Glas Wasser und Milch geben, und zog damit zur Kegelbahn. Anfangs gęfiel es ihm auch hier nicht recht; allein nach und nach begann es ihm besser zu gefallen, denn er hörte manches derbe Witzwort, und die groben Scherze gefielen ihm nicht minder. Als ihn aber erst einer der jüngern Spieler anredete, ihn lobte, daß er auch einmal hierher gekommen sey, und versicherte, daß es jeden Sonntagmorgen hier so ergötzlich herginge, da fühlte er sich so angenehm berührt, daß er sich nicht entschließen konnte, sogleich wegzugehen, wie er sich schon zu thun vorgenommen hatte. Sein eben gewonnener Freund trank ihm ein Glas Branntwein [85] zu. Heinrich versicherte; daß er den Branntwein nicht liebe, weil er ihm nicht schmecke, und mochte nicht trinken; aber sein Freund lachte ihn aus und bestellte etwas Wohlschmeckendes, wie er sich ausdrückte. Ein süß gemachter Branntwein wurde hergebracht, Heinrich trank, und es schmeckte ihm ziemlich wohl. Durch längeres Verweilen, und durch das Trinken des Branntweins ermuthigt, wagte er es endlich auch einmal, einen Groschen auf einen Wurf zu setzen. Er gewann. Durch öfteres Setzen gewann er so viel Geld, daß er sich reicher schätzte, als er je gewesen war.
Es läutete zu Mittag, und nun wollte er zu Hause eilen; aber es wurde ihm schwer, sich von dem Zureden der Gesellschaft loszumachen. Als es ihm endlich gelang, lief er, wie gejagt, davon. In seinem halbberauschten Kopf gingen alle Reden herum, die er vernommen; dazwischen konnte er noch immer die Kegelkugeln rollen hören, und sah im Geiste die Kegel fallen. Sein Herz klopfte stark. Er merkte es; aber er sagte zu sich selbst: Das kommt vom Laufen. Dabei stiegen Gefühle in ihm auf, wobei es ihm unheimlich ward, und die er trotz aller Mühe, die er sich machte, sie zu unterdrücken, nicht zurückdrängen konnte. Er dachte an seinen Freud Karl, an seine Eltern, an die Kapelle. So [86] in sich von den quälendsten Gedanken gejagt, kam er zu Hause, wo er seinen Abweg vor seinen Eltern zu verheimlichen wußte. An diesem Tage sah er auch seinen guten Freund Karl nicht mehr, der mit seinen Eltern Nachmittags ausgegangen war.
Wer seine Zeit in stetem Fleiß
Verlebt, bangt vor der Prüfung nicht.
Sie bringt ihm seiner Mühe Preis —
Nur Trägen wird sie zum Gericht.
Es war von diesem Tage an ein ganz anderes Verhältniß zwischen Karl und Heinrich. Sie sahen sich zwar jeden Tag, und sprachen sich wie zuvor; allein Karl konnte es dem Heinrich nicht vergessen, daß er es vorgezogen hatte, zur Linde zu gehen, statt zu der Kapelle. Heinrich fand an seiner Seite auch das nicht mehr an Karl, was er früher gefunden. Er hielt ihn für einen guter Träumer, der aus Zaghaftigkeit nicht in Gesellschaften gehen und mitmachen wollte; sich selbst aber für einen jungen Menschen, der es den Erwachsenen gleich thun könne. — Nichts desto weniger ersuchte Karl ihn noch einigemal, an Sonntagmorgen den alten Weg zum [87] Hügel zu gehen; da Heinrich dies aber mit allerlei Vorwendungen ausschlug, so sagte Karl ihm endlich: Ich werde dich nicht mehr um dergleichen Wanderungen ersuchen, ich sehe auch, daß ich dir damit lästig werde. Es thut mir leid, daß wir nicht mehr zusammen gehen können; doch wohin du gehest, dahin mag ich nicht gehen, und darum mag es denn so bleiben.
So nahete der Herbst. Im Herbste fiel allemal die Schulprüfung vor, und die diesmalige war die letzte, welche Karl und Heinrich mitmachen sollten: denn sie waren 15 Jahre alt, und ihre Eltern wollten sie zur Arbeit gebrauchen. Karls Vater war ein Tischler, Heinrichs Vater ein Lohgerber. Die Söhne sollten des Vaters Geschäft erlernen.
Die Prüfung wurde gehalten und Karl bestand in derselben so vorzüglich, daß der Prediger Tags nachher zu seinen Eltern kam, und ihnen zuredete, daß sie Karl möchten studiren lassen. Gern, sagte der Prediger, werde ich nicht allein mit Rath, sondern auch mit That beistehen. Ihr Sohn hat gute Anlagen zu einem würdigen Seelsorger, und es würde Schade seyn, wenn solche Gaben verloren gingen. — Durch das Zureden des Pfarrers willigten die Eltern ein, und als Karl das hörte, da war er sehr vergnügt. Denn das war längst sein sehnlichster [88] Wunsch gewesen, den er aber nicht auszusprechen wagte. Heinrich dagegen hatte in der Prüfung schlecht bestanden. Man wunderte sich allgemein, daß er im letzten halben Jahre so zurückgeblieben war, und seine Eltern verdroß das sehr. Ei, dachte er aber bei sich, ich brauche kein Gelehrter zu werden, und verschmerzte die Vorwürfe leicht. Als er bald darauf vernahm, was aus seinem Nachbar Karl werden sollte, da mochte er gar nichts mehr mit ihm zu thun haben, und er nannte ihn spottweise bald den Frommen, bald den Weisen.
Wehe, wer die Rosenzeit
Nur zu rohen Spielen weiht!
Jüngling, streue reiche Saat
Auf den schönen Jugendpfad.
Von nun an widmete sich Karl ganz dem Studiren. Der würdige Pfarrer, sein Gönner, gab ihm täglich Unterricht in fremden Sprachen, und vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein saß Karl auf seinem Zimmer am Schreibtische. Um ihn her lagen Bücher und Schriften, und er fühlte sich dabei so wohl, daß er alles darüber vergaß, was er sonst [89] wohl zu seinem Vergnügen gemacht hatte. Seine Fortschritte waren schnell, so daß er im folgenden Jahre schon auf eine höhere Schule gehen konnte. Auch hier wendete er seine Zeit mit großem Fleiße an, und war nach Verlauf einiger Jahre fähig, die Universität zu besuchen.
Seinen Jugendfreund Heinrich finden wir in dieser Zeit am Spieltische. Er hatte, seitdem sein Vater ihn ans Handwerk setzte, wie er glaubte, nun ein großes Recht auf freien Besuch der Gesellschaftshäuser, und Ermahnungen, Drohungen, ja sogar scharfe Zurechtweisungen seiner Eltern nahm er nur flüchtig an. Spiel und Trank war sein größtes Vergnügen nach der Arbeit, und oft schlich er sich von der Arbeit ins Wirtshaus, wenn er gerade wußte, daß sein Vater ihm nicht aufpassen konnte.
Zwar kamen je zuweilen noch Augenblicke, wo ein besseres Gefühl in ihm erwachte, und ihm das Nichtige und Unwürdige seines Betragens vorkam, auch sah er das Gefährliche seines Hanges zu den unerlaubten Vergnügungen ein. Er konnte darüber wohl weinen, wenn er Abends einsam vom Spieltische nach Hause schlich, oder wenn in einer guten Stunde seine sanfte Mutter ihm Vorwürfe machte. Ja, oft versprach er es ihr, sich der Gesellschaft und des Spieles zu enthalten, und er bat dann [90] Gott mit Thränen um Vergebung, und gelobte Besserung seines Wandels; aber kam nach einigen Tagen einer seiner Spielgenossen zu ihm, und erzählte, was seitdem in dem gewöhnlich besuchten Hause Lustiges vorgefallen war, dann konnte er sich nicht überwinden, und war den nächsten Abend wieder mit dabei.
So verfloß seine schöne Jugendzeit in einem Rausche. Den Tag über war er unlustig bei der Arbeit, und wurde deßhalb von seinem Vater strenge gehalten. Dafür suchte er sich am Abend beim Spieltische wieder zu entschädigen, und kehrte er nach einigen Stunden, im lärmenden Kreise zugebracht, zurück, so fand er zu Hause wieder eine unfreundliche Aufnahme.
Und schlägt die ernste Abschiedsstunde,
Dann Segen unserm Freundschaftsbunde.
Wenn Lieb’ und Tugend uns verband!
Uns trennet dann nicht Meer, nicht Land.
Es war ein angenehmer Herbstabend, als Karl nach langer Zeit zum ersten Male wieder in seines Nachbarn Haus trat. Er kam, Abschied zu nehmen, indem [91] er den folgenden Tag zur Universität abreisen wollte. Heinrich fand er nicht zu Hause. Die Eltern desselben baten ihn, eine Weile zu warten, sie meinten, ihr Sohn würde bald kommen. Schon wurde es spät, und Heinrich kam nicht. Dennoch verweilte Karl bei seinen Eltern, denn er mochte gern vor seiner Abreise seinen Jugendfreund noch einmal sprechen, ihm noch einmal warm die Hand drücken und ein ernstes, mahnendes Wort zu ihm reden. Heinrichs Eltern wurden unwillig über das lange Ausbleiben ihres Sohnes. Der Vater sprach manches harte Wort über ihn, und die Mutter suchte vergebens ihre Seufzer zu unterdrücken. Karl redete das Beste zu den unangenehmen Verhältnissen, bis endlich Heinrich polternd ins Haus stürzte. Er wurde durch die Anwesenheit Karls betroffen, besann sich eine Weile, und ging dann mit Herzlichkeit auf ihn zu, und grüßte ihn mit dem Worte der Jugend: Guten Abend, lieber Karl! – Karl faßte seine Hand und sagte, daß er gekommen sey, Abschied von ihm zu nehmen. Es ist zwar spät, fügte er hinzu, laß uns aber noch einen kurzen Spaziergang mit einander machen, das werden die werthen Eltern wohl erlauben. Heinrich und die Eltern willigten ohne Zaudern ein. Karl nahm darauf Abschied von den Eltern Heinrichs. Sie segneten ihn mit [92] thränenden Blicken auf ihren Sohn. Die Jugendfreunde gingen hinaus.
Der Mond warf durch die heitere Herbstnacht sein sanftes Licht, und weckte wehmüthige Gefühle in der Brust beider Freunde. Schweigend gingen sie dahin, und ihre Blicke fielen oft zugleich auf die Spielplätze, wo sie ihre Kindheit so glücklich verlebt hatten. Dann sahen sie sich an, und gingen weiter. Sie kamen vor die Stadt, und gingen noch immer fast schweigend nebeneinander, indem sie nur einzelne Worte mit langer Zwischenräumen wechselten.
Da standen sie, ehe sie es gewahrten, an der Stelle, wo der Weg zur Kapelle, und der Seitenweg zur Linde führte. Unwillkührlich faßte hier Karl Heinrichs Hand und sprach wehmüthig: Heinrich! Heinrich! wärest du mit mir diesen Weg gegangen! Da fing Heinrich mit Schluchzen an zu stottern: Karl! lieber Karl! stände ich noch einmal in den Jahren hier! Aber ich fürchte, jetzt ist es zu spät! – Nein, nicht zu spät, sprach Karl. Kehre noch um auf dem Wege, den du wandelst. Noch ist es Zeit! Er schloß ihn dabei in seine Arme. Heinrich antwortete nur mit Thränen. Was Karl ihn Ermahnendes und Tröstliches sagen konnte, sagte er ihm mit aller Wärne der jugendlichen Freundschaft. Es war ihnen beiden, als wären sie noch Kinder, [93] so konnten sie nach langen Jahren der Zurückhaltung sich jetzt wieder aussprechen. – Heinrich versprach seinem Freunde, den bösen Weg zu verlassen, und sie kehrten in die Stadt zurück. Vor dem Hause Heinrichs wurde Abschied genommen. Schon war es Mitternacht.
Hinaus ins Leben! Sammle dort
Dir Kenntniß — Tugend hilft dir fort —
und kehrst bereichert du zurück,
Erwartet Liebe dich und Glück.
Karl reisete den folgenden Morgen ab. Die Segenswünsche seiner Eltern, die bis dahin viele Freude an ihm erlebt hatten, und noch mehr Freude an ihm zu erleben hofften, die guten Lehren des Pfarrers und auch dessen Segensworte begleiteten ihn. Er kam glücklich in der Universitäts-Stadt an. Hier stellte er sich den Lehrern an der höhern Schule mit seinen vortheilhaften Zeugnissen vor, und gewann durch sein bescheidenes Benehmen ihre Achtung, die bald, als sie ihn näher kennen lernten, in Liebe überging. Sein musterhaftes Betragen, verbunden mit einem unermüdeten Fleiße, erwarb ihm die [94] Freundschaft der edleren Studirenden, und sein anspruchsloses Wesen gab ihn Achtung bei allen übrigen Studenten.
Mit seinen Eltern und dem Herrn Pfarrer wechselte er regelmäßig monatlich Briefe, welche von seiner Seite die unverkennbarsten Ausdrücke kindlicher Liebe und Achtung enthielten. Nie fiel er ihnen durch Ansprüche lästig, die sonst aus der Ferne so oft ohne Noth von Kindern an Eltern und Verwandten gemacht werden. Man mußte sich vielmehr wundern, wie sparsam er mit seinem Gelde und mit allen seinen Sachen umzugehen wußte. So verflossen schnell und angenehm für Karl, wie für seine Eltern, die Jahre seines Verweilens auf der Hochschule, und nach glücklich überstandener Prüfung kehrte er in die Arme seiner Eltern zurück. Er war ein äußerst geschickter junger Mann, der mit den beßten Zeugnissen seines Fleißes versehen, alle Ansprüche auf ein glückliches Fortkommen hatte.
Nicht so angenehm und glücklich verflossen diese Jahre für Heinrich. Er blieb seinen Vorsätzen nicht treu. Das böse Beispiel wirkte zu stark auf ihn, und die eigene Neigung zu Ausschweifungen war zu groß, als daß er den Lockungen zum Bösen immer glücklich hätte widerstehen können. Darüber lebte er mit seinen Eltern fortwährend in unangenehmen [95] Verhältnissen. Sie konnten das mit Bitten nicht mehr erreichen, was sie vielleicht früher mit Gewalt hätten durchsetzen können. Sie beklagten nun sich und ihren Sohn, daß sie nicht früh genug mit seinem unordentlichen Leben und mit seinen bösen Gesellschaften bekannt geworden wären, und es fehlte dann nicht an Vorwürfen von beiden Seiten. Nichts war indeß Heinrich bitterer, als wenn sie ihm seinen Jugendfreund stark zum Muster aufstellten. Er verachtete sich selbst, daß er so schlecht sein gegebenes Versprechen hielte!
So mochte nach Karls Abreise ein halbes Jahr verflossen sein, als Heinrich auf einmal den Entschluß faßte, sich auf die Wanderschaft zu begeben. Seine Eltern willigten ein, in der Hoffnung durch Trennung von seinen Kameraden möchte es ihm leichter werden, zu Ordnung und Sitten zu gelangen. Doch konnte die Mutter ein unheimliches Gefühl nicht unterdrücken, und ein Schauer überfiel sie allemal, wenn sie an Heinriche Wanderschaft dachte. Sie hörte nicht auf, ihn zu lieben, weil bei all seinem bösen Thun sein Herz nicht ohne Güte, und sein Wesen nicht ohne einnehmende Gefälligkeit war. Es blieb beschlossen, und Heinrich stand zur Abreise bereit. Seine Mutter hielt ihn in ihren Armen, als wenn sie sich nicht von ihm trennen, ihn nicht loslassen [96] könnte. Mir ahnet nichts Gutes, sagte sie mit bebender Stimme. Heinrich! Heinrich! Halte dich zu Gott, daß er sich zu Dir halte! Heinrich, drücke uns nicht ins Grab! – Sie vermochte nicht mehr zu reden. – Der Vater hielt ihn in tiefem Ernste nochmals seinen bisherigen bösen Wandel vor, warnte ihn mit väterlicher Liebe, und drohete ihm, daß er ihm nie wieder unter die Augen kommen sollte, wenn er sich in der Fremde unwerth mache, sein Sohn zu heißen.
Auch diese Stunde rührte Heinrich. Er reisete ab, von einen Schwarme lustiger Brüder bis an’s nächste Dorf begleitet. Das sollte die letzte Freude seyn, die er mit ihnen genösse, sagte er sich selbst zu.
Die Fremde gefiel ihn so lange, als er noch Zehrpfennige im Beutel hatte, und er von einer Stadt zur andern wandern konnte, ohne an Arbeit zu denken. Als er sich aber genöthigt sahe, sich um Arbeit umzusehen, wenn er nicht betteln wollte, da wurde es ihm unwohl zu Muthe. Er suchte Arbeit, und fand sie. Sein Meister war in den ersten Tagen mit ihm zufrieden, und Heinrich würde es sehr gut bei ihm gehabt haben, wenn sich nicht gar zu bald seine große Neigung zu Spiel und Trank gezeigt hätte. Die Bemerkungen, welche sein Meister ihm darüber machte, erwiederte er mit Grobheit, [97] und er mußte weiter ziehen. So ging es an mehreren Orten, bis er zuletzt nicht mehr so weit kommen konnte, sich seine Kleidungsstücke ausbessern zu lassen. Er hatte von Hause sehr gute Kleidungsstücke mitgenommen, allein durch Reisen und Schwärmen waren sie schnell abgenutzt. Jetzt erst, da er in Lumpen einherging, fiel es ihm ein, an seine Eltern zu schreiben.
Mit Sehnsucht erwarteten diese schon lange einen Brief von ihm, und freudig nahmen sie den angekommenen von der Post an. Ihre Freude wurde indeß sehr getrübt, da er nichts als Klagen und Bitten um Geld enthielt. Sie antworteten ihm bald, schickten auch Geld dazu, doch mit dem Bemerken, daß er künftig dergleichen Bitten zurückhalten solle, da er fähig sey, sich seinen Unterhalt zu verdienen. – Heinrich las den Brief bis dahin, wo diese Ermahnung begann, legte ihn bei Seite, und zog mit dem erhaltenen Gelde in die Schenke, seinen Aerger über sich selbst zu verscheuchen.
[98]
O schönes Loos, die Menschenseelen
zu führen auf der Wahrheit Bahn;
Daß sie zu ihrem Heile wählen
Den, der für sie so viel gethan!
Es war eine aufrichtige Freude in der ganzen Stadt, als Karl Friedmann, der junge Kandidat, zum ersten Male in der Kapelle predigte. Er hatte dieselben Textesworte zu seiner Predigt gewählt, die ihm vor vielen Jahren hier so wichtig geworden waren, als sein Freund Heinrich auf den Wege zum Hügel sich von ihm trennte. Damals dachte er oft im Stillen, was wird aus mir werden? – Zu dem Handwerke seines Vaters fühlte er nicht viel Lust; er glaubte dazu nicht stark genug zu seyn; zu einem anderen Handwerke konnte er sich nicht bestimmen, und sah auch wohl ein, daß seine Eltern das ungern zugeben würden. Da hörte er die tröstenden Worte des Pfarrers, sie richteten sein Gemüth auf, und er erfuhr immer mehr, daß Gottes Vaterliebe mehr für die Menschen sorgt, als sie selbst begreifen können. Der gute Gott, der die Lilien des Feldes kleidet, hatte auch ihm bis hieher geholfen. Das, und die Erinnerung jener Stunde rührte sein Herz, und seine Rührung sprach sich in einer Rede aus, die mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde.
[99] Was seine Eltern bei den Glückwünschen ihrer Freunde und selbst fremder Menschen empfanden, ist schwer zu beschreiben. Es muß ein unvergleichlich angenehmes Gefühl seyn, das Eltern über gut gerathene Kinder empfinden!
Der Ruf des Kandidaten Friedmann verbreitete sich in der ganzen Gegend. Man lud ihn bald hier bald dort ein, zu predigen, und ehe ein Jahr verfloß, wählte ihn die Gemeinde in Thaldorf zum Pfarrer. Mit Dank gegen Gott nahm er den Beruf an. Seine Eltern und der Pfarrer, der ihm diesen Weg zu wandeln bezeichnete, und so gern sein Führer auf demselben gewesen war, begleiteten ihn, als er in die Gemeinde einzog. Ein großer Zug kam ihnen entgegen, und jubelnd führte derselbe den neuen Pfarrer zu seiner Wohnung. Aber wie wurde er hier überrascht! Alle Bedürfnisse bei Einrichtung einer Haushaltung fanden sich reichlich vor, wodurch die Gemeinde auch äußerlich ihre Liebe zu erkennen geben wollte.
Die Pfarrwohnung lag in geringer Entfernung von der Kirche, um dieselbe wechselten Baumhöfe, Gärten, Wiesen und Lustwäldchen mit einander ab, und das ganze Pfarrgebiet glich einer großen schönen Anlage, die zum Vergnügen bestimmt ist.
[100] Nach der feierlichen Einsegnung, die des nächsten Sonntags nach dem Einzuge in die Gemeinde Statt fand, trat der junge Pfarrer sein wichtiges Amt an. Wo er auftrat, suchte er Liebe und Friede um sich her zu verbreiten, vor allem aber seine Heerde dem großen Seelenhirten zuzuführen. Dabei blieb er von seiner Gemeinde geliebt und geehrt.
Wo Liebe wohnt und Frömmigkeit,
Da hat der Herr ein Heiligthum.
Da ist ihm alles Thun geweiht,
und Alles dient zu seinem Ruhm,
Schaust du auch deinem Pfad hinein,
Sprich: auch bei mir soll's also seyn.
Als der junge Pfarrer einige Zeit im Amte war, machte er die Bekanntschaft eines alten Pfarrers in der Nachbarschaft. Er besuchte denselben seitdem wegen seiner heitern Frömmigkeit sehr gern. Dieser Mann war durch ein verhängnißvolles Leben gewandert, und hatte Gottvertrauen, Demuth und Liebe von seinen Schicksalen gewonnen. Schon seit zwanzig Jahren vereinte er Vater- und Mutterliebe in sich für seine einzige Tochter, welche seit einigen [101] Jahren bei einem Verwandten im Oberlande weilte, um daselbst in häuslichen Geschäften und weiblichen Arbeiten unterrichtet zu werden. Sie kam kurz nachher zurück, als der junge Pfarrer in der Nachbarschaft eingezogen war. Bei den Besuchen, welche derselbe ihrem Vater machte, lernte er sie als ein häusliches, frommes Mädchen kennen. Er gewann sie lieb, und sie wurde seine Gattin.
Vergnügt lebten sie nun in ihrer Gemeinde, gingen oft zu dem Vater, und dieser besuchte sie wieder. Jährlich kamen die Eltern des Predigers auch einigemal zum Besuche dorthin, und das waren dann angenehme Tage. Gott gab ihnen drei Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen, welche zu ihrer Freude heranwuchsen. Geräuschlose Thätigkeit, herzliche Liebe und ungeheuchelte Frömmigkeit herrschte in diesem Familienkreise. Besonders schön ließ sich’s ansehen, wenn die Eltern der Familie anwesend waren. O, ein Blick in diesen Familienbund entzückte! Alles beeiferte sich, den Großeltern Liebe und Ehre zu beweisen. Und wie sich dann die guten Alten an der Liebe und an dem Wohlstande ihrer Kinder und Enkel ergötzten! Dankende Blicke richteten sie dabei zum Himmel.
[102]
Wonne! wer auf seinen Wegen
Trifft den Jugendfreund im Segen.
Schrecklich! wer mit Angst und Grauen
Auf den Jugendfreund muß schauen.
Der Freund des alten Predigers, bei dem die junge Pfarrfrau einige Jahre in Pension gewesen war, sprach in allen seinen Briefen, die er an seinen alten Freund schrieb, die dringendsten Wünsche aus, daß derselbe mit seinen Kindern ihn besuchen möchte. So oft man dies versprochen, so oft war es auch aufgeschoben worden. Endlich entschlossen sich die jungen Eheleute, da in einem schönen Herbste gerade die Weinlese begann, die versprochene Reise zu machen. Sie kamen glücklich zu dem Orte ihrer Bestimmung und genossen eine herzliche Aufnahme. Nach einigen Wochen schickten sie sich erst zur Heimreise an.
Diese fanden sie nicht so angenehm, besonders in den unwirthsamen Gegenden des Spessarts, die sie passiren mußten. Die Witterung war trübe, die Wege waren schlecht, und der Mietwagen erlitt manchen harten Stoß. Plötzlich krachte ein Rad zusammen – und der Wagen hing auf einer Seite. An Fortsetzung der Reise war für den Augenblick nicht zu denken. In der Nähe kein Haus, geschweige ein Dorf zu sehen. Der Mietkutscher schien verlegen [103] zu werden, die Pfarrfamilie fühlte größere Verlegenheit. Nach kurzer Berathung entschlossen sie sich, beim Wagen zu verweilen, indeß der Kutscher ins nächste Dorf gehen, und sich ein anderes Rad anschaffen sollte. Das geschah. Der Kutscher kehrte nach einigen Stunden mit einem neuen Rade zurück, und die Reise ging wieder vorwärts. Aber durch diesen Unfall konnte die nächste Station vor einbrechendem Abende nicht mehr erreicht werden, und zu ihrer größten Unruhe mußten sie noch eine Waldstrecke passiren. Tiefe Stille herrschte auf den Höhen des Spessarts. Vor den Reisenden lag der dunkele Wald wie eine schwarze Wolke, Die Gattin des Pfarrers und die Kinder äußerten bange Besorgnis, als der Wagen in’s schauerliche Dunkel einzog. Der Pfarrer sprach ihnen Muth ein. Auf den schlechten Wegen ging der Wagen langsamer, und die hohen schwarzen Tannen rauschten unheimlich. Das vermehrte die Angst der Reisenden. – Halt! donnerte es plötzlich vor dem Wagen. Schüsse fielen hinter demselben. Gott stehe uns bei! sagte der Pfarrer. Gattin und Kinder umklammerten ihn, und stießen Angstgeschrei aus. Der Kutscher hatte angehalten, und war schon von seinem Sitze gerissen. Man versuchte von außen die Wagenthüren zu erbrechen. – Freunde, sagte der Prediger ruhig, wir sind in euren [104] Händen; aber auch in Gottes Händen. Was wollt ihr von uns? Heraus! schallte die rauhe Antwort, und du wirst sehen, was wir wollen. Gut, sagte der Prediger, wir steigen willig hinaus. Wollt ihr das Wenige, was wir mit uns führen, es wird euch übergeben. Aber habt Mitleiden mit meiner zagenden Familie, und laßt uns ruhig weiter fahren. – Das wäre eben recht, rief einer der rohen Menscheit, und riß den Pfarrer aus dem Wagen. Seine Gattin sprang ihm nach, und hielt ihn umfaßt, so wie ebenfalls die Kinder aus dem Wagen taumelten, und sich an ihr hängten. Fort mit ihnen! tönte da eine Stimme, für das Uebrige werden wir sorgen.
Vier Räuber, denn nichts anders als solche waren diese frechen Menschen, umringten die Familie, und zogen sie durch die verschlungensten Gänge des Waldes, durch Haide, Dornen und Gesträuch. So mochten sie eine halbe Stunde, die schrecklichste in ihrem Leben, fortgeschleppt worden seyn, als sie aus einem tiefen Grunde einen hellen Schein empor steigen sahen. Die Räuber pfiffen. Es folgte aus dem Grunde Antwort. Und nun stiegen sie über große Steinnmassen hinab.
Welch ein Anblick für die Pfarrfamilie! – In einer Felsschlucht um ein großes Feuer Menschen, [105] Weiber und Kinder, von schrecklichem Ansehen gelagert, Gewehre, Pistolen, Säbel und Gepäcke rund umhergestreut. Es standen Gefäße verschiedener Form um das Feuer, und vor jeglichem Räuber eins. Sie schienen ihr Abendessen zu verzehren. Alle aber richteten jetzt ihre Köpfe entpor, und schauten auf die Eingebrachten. Der Pfarrer wurde um das Feuer in den Hintergrund der Schlucht geführt. Da saß einsam auf einem Felssteine ein starker Mann, dessen Kleidung und Anstand sich über die andern Räuber hervorhob. Auf seinem Kopfe trug er eine mit großen Federn gezierte Mütze. Hier, Hauptmann, rędete ihn einer der Räuber an, bringen wir einen guten Fang für diesen Abend. Er trat zurück. Der Hauptmann richtete einen scharfen Blick auf den Pfarrer und fragte: Wer? und woher? – Der Pfarrer antwortete: Mein Name ist Friedmann, Pfarrer zu … Friedmann? fiel ihm der Räuber ins Wort, Karl Friedmann? Wo zu Hause? Aus dem Bergischen, war die Antwort des Pfarrers. Rasch sprang der Räuberhauptmann von seinem Sitze auf, griff den Pfarrer an die Hand, zog ihn wild ans Feuer und schaute ihm ins Gesicht. Karl! Karl! kennst du mich nicht mehr? rief er dann, und zog ihn wieder in den Hintergrund zurück. Der Prediger sah ihn an und sann. – Er glaubte bekannnte [106] Züge zu finden. Sehe ich recht, sagte er, fände ich hier Heinrich Rohr? – Ja, Heinrich Rohr ehemals, sagte der Räuberhauptmann schmerzlich lächelnd, jetzt Heinrich Wild. Gnädiger Gott! rief der Pfarrer, so muß ich dich wiederfinden? Heinrich !
In Nacht und Dunkel, Höhl’ und Wald
Verbirgt sich Schuld und Missethat.
O Jammer! wer den Aufenthalt,
Den traurigen, zu suchen hat.
Ja, so findest Du mich wieder, sagte der Räuberhauptmann. – O! wer hätte das gedacht, sprach der Pfarrer wehmütig, als wir noch Arm in Arm zur Schule gingen, daß wir uns einmal in der Fremde so treffen sollten? Heinrich, erzähle mir deine Geschichte, und laß uns dann sehen, was wir thun kömmem, dich in die große Gesellschaft der Menschen zurückzuführen.
Der R. Das letzte ist vergebens. Meine Geschichte ist kurz. Du kennst den Weg, den ich einschlug, als ich dich an jenem Morgen zum ersten Male allein wandern ließ. Er hat mich hierher geführt.
[107] Der P. Aber, Heinrich, sein Ende? –
Der R. Wird dunkler, immer dunkler, wie diese Herbstnacht, in welcher die Wipfel der Tannen seufzen.
Der P. Wie kamst du zu diesen Menschen?
Der R.. Ich zog, wie du wissen wirst, in die Fremde, um zu versuchen, ob mir die Besserung da leichter werden würde, wo ich die gewohnten Gefährten und ihr böses Beispiel nicht um mich hatte. Doch vergebens ist es, dem Bösen entfliehen zu wollen, wenn man selbst das Böse in seiner Brust trägt und nährt. Das Böse findet sich dann überall wieder. Ich blieb meinem Wandel treu. Mit dem, was ich verdiente, konnte ich meine Lust zu Trank und Spiel nicht befriedigen. Meine Eltern, ach! meine armen Eltern setzten mir zu, bis ich’s nicht mehr wagte, mich an sie zu wenden. Hier hielt er inne.
Dann fuhr er fort: Ich wurde so zu sagen landflüchtig, suchte im Soldatenstande Schutz und Ruhe, und fand züchtigende Strenge. Ich verließ ihn, irrte Wochen und Monate hindurch auf einsamen Wegen in Wäldern umher. Endlich wagte ich mich wieder unter die Menschen, ach! und ich traf in den niedrigen und immer niedrigern Schenken, die ich aufsuchen mußte, um nur unentdeckt zu bleiben, solche Leute, die ich noch nie geachtet hatte, die mir aber jetzt schon willkommene Gefährten [108] waren. Sie gaben mir Aussichten auf dieses freie Leben, das ich jetzt führe. Es entstand ein fürchterlicher Kampf in meinem Herzen, ob ich ihnen folgen sollte oder nicht. Der Gedanke an meine Eltern verfolgte mich Tag und Nacht. Da hörte ich, als ich mich einem Landsmanne einst unbekannt näherte, daß der Gram über mich sie ins Grab gebracht hätte. Wo konnte ich noch Aufnahme, wo Achtung finden? – Was ich nicht wollte, mußte ich. Ich trat in den unseligen Bund, den du dort gelagert siehst. Er hat mich in Folge einiger Wagnisse, und weil er Achtung für meine Gerechtigkeit gewann, die noch nicht ganz aus meiner Brust geschwunden ist, zum Anführer gewählt. Wo konnte ich ein besseres Loos in meinen Umständen finden? Wo die Achtung? Wo? –
Hier unterbrach ihn der Prediger. Wärest du zu mir gekommen, Heinrich, mit einem Herzen voll Reue, ich hätte dir Aufnahme verschafft. O, komme noch!
Der R. Jetzt ist's zu spät. Ich sehe, du bist Gatte und Vater. Auch ich bin es. Siehe da meine Frau und zwei Kinder. Unglückliche Geschöpfe! Im Walde geboren, unter Rohheit und Zügellosigkeit aufgewachsen. Meine Frau, ein unglückliches Wesen, das sich einst auf einem Jahrmarkte mit mir einließ, das ich darauf entführte, und da erst mit meiner [109] Lebensart bekannt machte. Sie theilt ein Leben treu mit mir, das reich an Jammer ist, wenn man ein besseres kennt.
Der P. Ach, so führte denn der Leichtsinn dich nicht allein in dieses Elend! O, wie bedaure ich dich!
Der R. Das thue nur immer. Ich bedaure mich selbst. Sieh dort deine zarte unschuldige Gattin zittern in dem rohen Gelage meiner Gesellen. So hat sie das Leben noch nie erkannt. Sieh dort Deine Kinder zagen beim Anblicke dieser Menschen, welche an und in sich die Spuren der Niederträchtigkeit und der Verworfenheit tragen. Stelle sie gegen die meinigen. Ein Unterschied, als wenn ich die guten Geister des Himmels, die ich mir in der Jugend beim Anhören der Erzählungen aus der heiligen Geschichte vorstellte, gegen die des Abgrundes halte. Und doch sind sie mir lieb. Ich bin ihr Vater. Sie machen mir Freude durch ihre rohe Natur.
Der P. O, ist es so weit mit dir gekommen? Heinrich! Ja, das Böse hat schreckliche Folgen.
Der R. Ja, Karl, so weit ist es gekommen mit mir. Uns scheidet eine zu große Kluft. Uns vereint nichts, als die Erinnerung meiner unschuldigen Jugend, die mir noch immer lieb, aber auch immer quälend ist. Unsere Wege laufen für immer [110] auseinander. Gehe! gehe du wieder in dein stilles Thal zurück. Sey Lehrer und Seelsorger. Warne, warne vor Leichtsinn und Verführung, und bete, wenn du kannst, für den unglücklichen Heinrich Rohr und die Seinigen.
Der P. Höre noch eine Bitte, Heinrich! Kehre um! Noch mag’s Zeit seyn.
Der R. Davon nicht mehr, Karl! Ich geleite dich aus dem Walde. Dir soll kein Leid geschehen. Vielleicht, vielleicht sehen wir uns wieder!
Der Räuberhauptmann kommandirte darauf einigen seiner Leute, daß sie die Pfarrfamilie mit ihrem Reisegepäcke wieder zu dem Wagen führen sollten. Zitternd hatten die Pfarrfrau und die Kinder dem Gespräche des Pfarrers mit dem Hautptmann zugesehen, und schwebten zwischen Furcht und Hoffnung. Jetzt wurden sie etwas ruhiger, als man sie mit Schonung behandelte und zurückführte. Der Hauptmann selbst begleitete sie bis an den Wagen, und führte dann die Räuber an, die als Bedeckung bei dem Wagen beordert waren. Am Ende des Waldes streckte er seine Hand in den Wagen, drückte stark die Hand des Predigers, sagte dumpf ein Lebewohl! und war verschwunden.
[111]
Eine Mitleidsthräne falle
Still auf des Verirrten Grab.
Junger Pilger, geh’ und walle
Du den rechten Pfad hinab.
Diese schreckliche Nacht hatte die Pfarrfamilie sehr angegriffen. Sie verweilte auf der nächsten Station bis an den Morgen, und eilte dann eine Gegend zu verlassen, die solche fürchterliche Auftritte ihr unvergeßlich machten. Der Verfolg ihres Weges versüßte in etwa das Erlittene durch angenehme Begebenheiten, und sie kam glücklich in die Arme des Großvaters zurück. Nur diesem allein erzählte der Prediger die schauerliche Geschichte. Der Alte schüttelte den Kopf mit den grauen Locken, und Thränen strömten von seinen Wangen. Die Gattin des Pfarrers vermochte die Erzählung nicht mehr anzuhören.
Schon war der Eindruck, den dieses Zusammentreffen auf den Prediger gemacht hatte, durch die Zeit in etwas geschwächt, als ein Brief ankam, der sehr sonderbaren Inhalts war. Eine Gerichtsbehörde einer fernen Gegend ersuchte ihn, zu einem eingezogenen Räuber daselbst zu kommen, indem sein Besuch für denselben wichtig seyn könnte. In diesem Schreiben lag ein offener Brief von der Hand seines Jugendfreundes, des Räuberhauptmanns. Er bat, er [112] beschwor ihn, daß er ihn vor seinem Lebensende, das von den Gerichten bestimmt war, noch einmal besuchen möchte. „Komme doch, lieber Karl, vielleicht rettest du noch eine Seele.“ – war der Schluß.
Diese beiden Briefe brachten große Bewegung in die Gemüther der Pfarrfamilie. Der Prediger fühlte sich zwar geneigt der Einladung zu folgen; aber seine Gattin und Kinder konnten sich nicht drein ergeben. Nach vielem Besprechen darüber trat endlich der Großvater mit Ernst und Würde auf und sagte: Möchtet ihr nicht wünschen, daß eine Seele gerettet würde? Und möchtet ihr den aufhalten, der es vielleicht könnte? – Da gaben sie es zu. –
Der Prediger reisete ab. Er fand seinen Jugendfreund in einem engen Kerker und in tiefem Kummer, der in quälende Gewissensangst überging. Das Zusammentreffen war erschütternd,
Der Prediger hat viel mit ihm geweint und gebetet, und durch Ringen und Kämpfen ward es ruhiger in der Seele seines Freundes.
Die Gerechtigkeit übergab ihn dem höheren Richter. Möchte ihm die ewige Barmherzigkeit dort das Wort geredet haben: Gnade!
Für die hinterlassene Frau und ihre Kinder sorgte der Prediger nach dem Versprechen, das er seinem Jugendfreunde gab. Sie wurden einer wohlthätigen Anstalt übergeben, die sich solcher Unglücklichen annahm.
Oft erzählte mit inniger Rührung der Pfarrer diese Geschichte den Kindern seines Ortes.
Da- oder dorthin? meine Kinder!