Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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von Halikarnassos, Historiker (54 v. Chr.–7 n. Chr.)
Band V,1 (1903) S. 934971
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113) Dionysios von Halikarnassos, kam nach dem definitiven Siege des Augustus über Antonius, wie er selbst sagt, in der Mitte der 187. Olympiade = 30 v. Ohr. nach Rom und blieb dort mindestens 22 Jahre; im J. 7 v. Chr. erschien seine römische Archäologie (I 7, 2. 3, 4). Mehr ist über sein Leben nicht bekannt; die römischen Gönner, denen er ab und zu eine Schrift widmete, sind keine vornehmen Leute gewesen; man muss sich seine Existenz als eine ziemlich obscure vorstellen.

I. Die römische Archäologie. Dionysios giebt selbst an (I 7, 4. 2. 3, 4), dass er die ,alte römische Geschichte’ während seines römischen Aufenthalts geschrieben und im J. 7 v. Chr. herausgegeben habe. Schon die Wahl des von der Gegenwart weit abliegenden Themas zeigt, dass das Werk der in speziellem Sinne rhetorischen Geschichtschreibung angehört, derjenigen nämlich, welcher die Redekunst nicht blos als ein Kunstmittel neben anderen gilt, sondern umgekehrt der historische Stoff nichts weiter ist als ein Objekt, an welchem diese Kunst gezeigt und dokumentiert wird, gewissermassen das Thema einer μελέτη grossen Stils (vgl. Herm. XXXIV 454). D. will im Grunde in seinem Geschichtswerke ein παράδειγμα des Classicismus liefern. Nach der von ihm im Brief an Pompeius oder richtiger in Περὶ μιμήσεως entwickelten Theorie ist das erste Erfordernis eines Geschichtswerkes ein schöner, d. h. zum Ruhm der Hellenen beitragender und grosser Stoff: diesem Erfordernis genügte die Urgeschichte der weltbeherrschenden Stadt, die nach D. von hellenischen Emigranten gegründet ist. Die überaus klägliche Ausführung des Gedankens einer griechisch-römischen οἰκουμένη, der von Polybios und Poseidonios imposant in die Geschichtschreibung eingeführt war, verrät, dass D. ausgewittert hatte, wohin der Classicismus der neuen Monarchie lief, und ohne Selbständigkeit den Tendenzen folgte, die zu seiner Zeit Gemeingut waren; die tragischen Schmerzen, die jenen echten Hellenen das Begreifen des römischen Primats gekostet hatte, sind dieser kleinen Seele fremd. Mechanisch übertrug er jenen Gedanken auf den Teil der römischen Geschichte, auf den er nicht passte. [935] und wählte, ohne inneren Trieb, ohne Gefühl auch nur für das Romanhafte, vom Künstlerischen zu schweigen, die älteste römische Geschichte, weil er hier keinen griechischen Vorläufer zu haben, und die, welche da waren, so zu übertreffen glaubte, wie Herodot über Hellanikos und Charon hinausragte (ep. ad Pomp. 3, 7, vgl. I 8, 3 οὔτε ταῖς χρονικαῖς παραπλήσιον ἃς ἐξέδωκαν οἱ τὰς Ἀνθίδας πραγματευσάμενοι· μονοειδεῖς γὰρ ἐκεῖναί τε καὶ ταχὺ προςιστάμεναι τοῖς ἀκούουσιν). Der Seitenhieb auf die, welche über ruhmlose, schlechte, uninteressante Dinge Geschichte schreiben (I 1, 3), ist vielleicht mehr als rhetorische Floskel: sein classicistischer Rival Caecilius (Athen. VI 272f) hatte sich zum Objekt des neuen, alleinseligmachenden Stils die Sclavenkriege ausgesucht, allerdings ein πρᾶγμα ἄδοξον καὶ πονηρόν. An der guten Gesinnung, die D.s Meinung nach der Geschichtschreiber haben muss (ep. ad Pomp. 3, 15), die sich freut, wenn es den Helden des eigenen Werks gut, und trauert, wenn es ihnen schlecht geht, lässt er es nicht fehlen, und sieht in ihr, weil sie so ganz uneigennützig ist, ein unverächtliches Zeugnis für seinen eigenen Charakter (I 6, 5): das zielt auf römerfeindliche Griechen, von denen noch mehr zu sagen sein wird. In dem Brief an Pompeius legt er grossen Wert auf die richtige Wahl des Anfangs- und Endpunkts (3, 8ff.). Weshalb er sein Werk mit dem Beginn des ersten punischen Kriegs schliesst (I 8, 2), verrät er nicht ausdrücklich, lässt aber durchblicken, dass von da an die ausführlichen griechischen Darstellungen einsetzen, während sie – aus guten Gründen, die D. nicht verstand – für die ältere Zeit sehr dürftig seien (I 5, 4ff.). Beginnen wolle er mit den alten Sagen, die kritisch zu behandeln seinen Vorgängern zu schwer gefallen sei (I 8, 1): aus ihnen führt er den Beweis des hellenischen Ursprungs der Römer, und beginnt so mit einem besonderen Ruhmestitel seiner Helden, wie es eines tugendhaften Geschichtschreibers Pflicht ist (vgl. die Kritik von Herodots und Thukydides ἀρχαί ep. ad Pomp. 3, 8. 9). Wie er in der Theorie Abwechslung vom Geschichtschreiber verlangt und Thukydides Kriegsgeschichte für einseitig und langweilig erklärt (ep. ad Pomp. 3, 11f.), so nimmt er sich vor, es in seinem eigenen Geschichtswerk besser zu machen (I 8, 3 σχῆμα δὲ ἀποδίδωμι δῆι πραγρματείαι οὔθ’ ὁποῖον οἱ τοὺς πολέμους ⟨μόνους⟩ ἀναγράψαντες ἀποδεδώκασι ταῖς ἱστορίαις), auch nicht – wie Aristoteles in den πολιτεῖαι und Polybios im VI. Buch – sich auf eine Darstellung der Verfassung zu beschränken (οὔθ’ ὁποῖον οἰ τὰς πολιτείας αὐτάς ἐφ’ ἑαυτῶν διηγησάμενοι), sondern sowohl für die Belehrung der Politiker und Philosophen – für ihn wie für Isokrates sind das dieselben Leute (XI 1) –, als auch für die Unterhaltung des gebildeten Lesers zu sorgen. Diesem letzteren Zweck dienen z. B. die ausführliche Erzählung der Gründungslegende (I 76ff.), die Märchen von Numa (II 60ff.), die grosse Episode über Aristodem von Kyme (VII 3ff., vgl. ep. ad Pomp. 6, 4 über Theopomp καὶ γὰρ ἐθνῶν εἴρηκεν οἰκισμοὺς καὶ πόλεων κτίσεις ἐπελήλυθε βασιλέων τε βίους καὶ τρόπων ἰδιώματα δεδήλωκε), die Abhandlung über die pompa der Ludi Romani (VII 70ff., zu den einleitenden Worten 70, 1 vgl. ep. ad Pomp. [936] a. a. O. καὶ μηδεὶς ὑπολάβηι ψυχαγωγίαν ταῦτ’ εἶναι μόνον· οὐ γὰρ οὕτως ἔχει, ἀλλὰ πᾶσαν ὡς ἔπος εἰπεῖν ὠφέλειαν περιέχει). Alles in allem ist die ,römische Archäologie' – so bezeichnet er I 6, 1 selbst seinen Stoff mit Anspielung auf den von ihm gewählten Titel – ein genauer Commentar zu seinen theoretischen Ausführungen über Historiographie, auch darin, dass sie praktisch die Vermutung bestätigt, welche jedem bei der Lektüre des Briefes an Pompeius sich aufdrängen muss, dass D. von dem, was die antike Historiographie wollte und konnte, auch nicht die ersten Elemente begriffen hat: sie ist ein trauriges Dokument dafür, wie tief die geistige Potenz noch mehr als die Bildung der Griechen gesunken war, nachdem die hellenistischen Staaten verfallen waren und ehe der Weltfriede des Kaiserreichs neue Samen hatte reifen lassen.

Für die römische Geschichte war, wenn es sich nicht um Monographien handelte, die annalistische Form gegeben, die römische Annalistik hat sogar den Versuch gemacht, sie auch für die Königszeit durchzuführen (vgl. II 31, 1. IV 6, 4). D. verwirft sie theoretisch (ep. ad Pomp. 3, 13) und teilt demgemäss die Königsgeschichte in Friedens- und in Kriegsthaten der Herrscher (II 30, 1. III 42, 1. 67, 1. IV 26, 6, 59, 1. 63, 1); aber in der Geschichte der Republik war die Magistratstafel das nicht zu beseitigende Fundament, und D. hielt es um so mehr aufrecht, als die permanente Mischung von Ständekampf und auswärtigem Krieg seiner Meinung nach die Gefahr chronikartiger Monotonie aufhob. Ein Lateiner konnte sich auf die Consularfasten und die Stadtaera beschränken, so lange die römische Geschichte nicht über Italien hinausging: die Griechen, die eine wissenschaftliche Chronologie besassen, mussten die römische Tradition mit dieser ausgleichen, auch abgesehen davon, dass ein so pedantischer Pragmatiker wie D. die chronologische Übung, die er sich bei seinen litterargeschichtlichen Arbeiten erworben hatte, für eine ausreichende Schulung ansehen konnte, um das Gestrüpp der römischen Zeitrechnung zu einem reinlichen Zahlenschema umzubilden. Um sein Werk nicht zu sehr zu belasten, setzte er die Grundlagen, nämlich die eratosthenischen Fundamentaldaten und die Gleichungen zwischen römischen und griechischen Jahren in einer Monographie auseinander (I 74, 2), von der ein Citat sich in Clemens chronologisches Allerlei (strom. I 102) verloren hat. Als erstes Jahr der Stadt setzt er a. a. O. an Ol. 7, 1 = 752/1 oder abgekürzt 751. Da nämlich das im Herbst beginnende, mit dem attischen Archontenjahr geglichene Olympiadenjahr der griechischen Chronologie für D. die Einheit ist, auf welche er die Daten reduziert, ist es von vornherein wahrscheinlich, dass er in der Weise des Polybios diesem Jahr das in ihm beginnende, nicht, wie wir, das ablaufende römische Jahr gleichsetzt. Diese Erwägung wird bestätigt durch das dreifach ausgedrückte Datum I 3. 4, da aus den Worten ταῦτα δε πέντε καὶ τετταράκοντα ἤδη πρὸς τοῖς ἑπτακοσίοις ἔτεσιν ἐστιν εἰς ὑπάτους Κλαύδιον Νέρωνα τὸ δεύτερον καὶ Πείσωνα Καλπρούρνιον (747 varron.), οἳ κατὰ τὴν τρίτην ἐπὶ ταῖς ἐνενήκοντα καὶ ἑκατὸν ὀλυμπιάσιν ἀπεδείχθησαν die Gleichung [937] 745 der Stadt = Ol. 193, 1 = 7 v. Chr. mit grosser Probabilität, wenn auch nicht mit unbedingter Notwendigkeit sich ergiebt; ferner wird. II 25 das Consulat des M. Pomponius und C. Papirius (231 v. Chr.) in Ol. 137 (232–228) gesetzt: da D. die einzelnen Olympiadenjahre genau anzugeben pflegt, darf die einfache Angabe auf Ol. 137, 1 gedeutet werden. Endlich verweise ich auf die von mir oben S. 697ff. angestellte Bechnung. Ich setze also im folgenden nach der Formel Ol. 1 = 775 die Daten an.

D. gewinnt das Gründungsdatum durch die Combination des eratosthenischen Ansatzes der Zerstörung Trojas 1183 mit dem catonischen Intervall von 432 Jahren (I 74); über seine albanische Königsliste vgl. Abhdlg. d. Gött. Ges. d. Wiss. XL 1ff. Die römische Königsliste, die sorgfältig Regierungsdauer, Olympiaden- und Archontenjahr jedes Regierungsantritts angiebt, ist die vulgäre:

Romulus Ol. 7, 1 = 751; 37 Jahre (II 56, 7),
Einjähriges Interregnum (II 57, 1),
Numa Ol. 16, 3 = 713 (II 58, 3); 43 Jahre (II 76, 5),
Tullus Ol. 27, 2 = 670 (III 1, 3); 32 Jahre (III 35, 1),
Ancus Ol. 35, 2 = 638 (III 36, 1); 24 Jahre (III 45, 3),
Tarquinius Ol. 41, 2 = 614 (III 46, 1); 38 Jahre (IV 1, 1),
Servius Tullius Ol. 50, 4 = 576 (IV 1, 1); 44 Jahre (IV 40, 1),
Tarquinius Sup. Ol. 61, 4 = 532 (IV 41, 1); 25 Jahre (IV 85, 4).

Die Königszeit umfasst 244 Jahre (V 1, 1): das erste Jahr der Republik ist (V 1, 1. I 74) - 245 der Stadt = Ol. 68, 1 = 507.

Von da an gleicht D. regelmässig die Consulate mit den attischen Archonten und alle vier Jahre mit den Olympiaden; auf rechnerische Spielereien, mit den verschiedenen Daten des Amtsantritts lässt er sich vernünftigerweise nicht ein. Dagegen notiert er gelegentlich die Stadtjahre:

IIVI 34, 1 260 der Stadt = Ol. 71, 4 = 492
VIII 83, 1 270 = (Ol. 74. 2 = 482)
VIX 53, 1 301 = Ol. 82, 1 = 451

In der Lücke von XI 51 ist ein Consulat ausgefallen; da das erste Kriegstribunat (310 varronisch) XI 62 in Ol. 84, 3 = 441, der Sturz der Decemvirn in Ol. 83 = 447 (XI 1) gesetzt wird, für dies Intervall aber alle Consullisten nur 6 Eponymen geben, muss D. das zweite, illegitime Amtsjahr der zweiten Decemvirn voll gezählt haben, so dass vom J. 305 der Stadt seine Stadtjahre den vulgären um 1 vorauslaufen. Dazu stimmt, dass er, sich auf ein Censusdatum berufend (I 74), das Consulat des L. Valerius Potitus und T. Manlius Capitolinus (362 varr. = 392) in das 119. Jahr der Republik = 363 der Stadt, den Galliereinfall zwei Jahre später in das Archontat des Pyrgion. Ol. 98, 1 = 387 (= 365 der Stadt = 364 varr. setzt. Die 120 Stellen, die er bis zum Galliereinfall zählt, sind die um das dritte Decemviratsjahr vermehrten 119 Eponyme der vulgären jüngeren Überlieferung, während die ältere (s. oben S. 703) wahrscheinlich 121 zählte: die Namen der dionysischen Fasten sind bis auf unbedeutende Differenzen dieselben, wie die der [938] capitolinischen und livianischen. Wie er sich zu der Schwierigkeit stellte, dass die Magistratstafel von dem Jahr des Galliereinfalls, dies eingerechnet, bis zu 300 v. Chr., von wo an die römischen und griechischen Jahre ebenmässig fortlaufen, nur 81 Consulate hatte (s. oben S. 700), lässt sich ziemlich sicher aus dem falschen Datum berechnen, das er I 8, 2 für den Anfang des ersten punischen Krieges ansetzt, Ol. 128, 3 = 265. Das Intervall also, das er von dem Jahr des Galliereinfalls bis zum Beginn des ersten punischen Kriegs ansetzt, beträgt, Anfangs- und Endpunkt eingerechnet, 123 Magistratsjahre, 5 Stellen mehr als die römische Eponymenliste von 364 varron. – 490 varr. aufführt. Danach ist es sehr wahrscheinlich, dass D. ebenso wie die von Livius benützten Annalen mit der fünfjährigen Anarchie, aber nicht mit den vier Dictatorenjahren rechnete und den Fehler, der durch das Hinaufschieben des Galliereinfalls um ein Jahr, von 386 auf 387, entstanden war, in den Kauf nahm: die Zeiten, in denen er ihn hätte merken müssen, behandelte er ja nicht mehr.

Die Reden sind der Teil des dionysischen Geschichtswerks, auf den er den grössten Wert gelegt, die meiste Mühe verwandt hat, und der seine schriftstellerische Unfähigkeit in hellstem Licht zeigt. Sie beanspruchen Musterstücke des Classicismus zu sein; mit mühseligem Fleiss hat Flierle (Über Nachahmungen des Demosthenes, Thukydides und Xenophon in den Reden d. röm. Archäol. des D., Progr. d. Ludwigs-Gymn. in München 1889/90) die wichtigsten Vorbilder gesammelt; leider fehlt noch die Vergleichung mit Isokrates, ausserdem bringt, wer die nötige Entsagung besitzt, vielleicht durch Untersuchung der Dispositionsschemata noch etwas heraus. Flierles Nachweise genügen, um jeden Zweifel daran niederzuschlagen, dass D. selbst die in endloser Menge und Breite sich abspinnenden Reden componiert hat; man darf aber weiter gehen und behaupten, dass er gelegentlich die Erzählung vergewaltigt hat, um für eine oder mehrere Reden Raum zu schaffen. Es war z. B. völlig überflüssig, Coriolan den Volskern auseinandersetzen zu lassen, wie sie einen gerechten Krieg mit Rom anzetteln könnten (VIII 5ff.), nachdem dies durch die von Coriolan und seinem volskischen Gastfreund ins Werk gesetzte Intrigue schon erreicht war (vgl. VIII 8, 2 = 2, 3|; aber D. wollte mit der Rede, die bei Thukydides (VI 89ff.) der verbannte Alkibiades in Sparta hält, concurrieren. Wenn er aus dem exilium, des altrömischen Criminalrechts eine von den Comitien über den anwesenden Angeklagten verhängte Strafe macht (VII 64, 6), so ist dies grobe Missverständnis, wenn nicht allein, so doch sehr wesentlich dadurch veranlasst, dass er sich die Gerichtsverhandlung mit nicht weniger als vier Reden (VII 60–63) nicht entgehen lassen wollte; der Concetto, durch den der Tribun Decius die Verurteilung Coriolans erreicht, dürfte ebenfalls seiner Erfindung angehören. Es mag die Construction eines Annalisten sein, dass Brutus mit einem consilium, das offenbar den Senat vertreten soll, die republicanische Verfassung vorberät (IV 72ff.), obgleich es ebenso möglich ist, dass D.s Lieblingsvorstellung des Probuleuma ihn diese Umständlichkeiten hat aushecken lassen; [939] bei der Darstellung des συνέδριον selbst hat ihm jedenfalls die berühmte Beratung des Dareios und seiner Freunde bei Herodot (III 80ff.) vorgeschwebt. Es muss verwundern, dass in der Senatsverhandlung über die den abtrünnigen und besiegten Latinern zu gewährenden Friedensbedingungen (VI 19. 20) Sp. Cassius, der später die Latiner bei der Verteilung des ager publicus mit heranziehen will (VIII 69ff.), die härteste Behandlung vorschlägt. Ich vermute, dass D. denjenigen, den er als gefährlichen Demagogen in den Annalen geschildert fand, ausersah, um die Rolle des thukydideischen Kleon zu spielen und die Beratung über Mytilene (Thuc. III 37ff.) ins Römische oder das, was D. für römisch hielt, umsetzte. Den Widerspruch, der auf diese Weise entstand, suchte er wenigstens teilweise dadurch zu beseitigen, dass er bei dem Abschluss des foedus mit den Latinern Sp. Cassius nicht erwähnt (VI 85), im Gegensatz zu der von Livius angeführten (II 33, 9) Urkunde, und dies Verdienst zu einem rhetorischen, von Sp. Cassius selbst in seiner letzten Verteidigungsrede angeführten (VIII 70, 2) Argument degradiert. Mit alledem ist nicht gesagt, dass D. nicht auch Reden und Verhandlungen aus den römischen Annalisten übernommen hätte, meist freilich mit starker Verwässerung, so dass sie wenig lehren. So liegt der Debatte in dem von den zweiten Decemvirn berufenen Senate (XI 4–20) eine annalistische Darstellung zu Grunde, wie die hier ausserordentlich nahen Berührungen mit Livius (III 39–41) verraten, und ähnlich steht die Sache VI 37–39, vgl. Liv. II 29. In den meisten derartigen Fällen (vgl. III 7–11 mit Liv. I 23; III 16. 17 mit Liv. I 24, 4; in 28–30 mit Liv. I 28; IV 4 mit Liv. I 41; IV 11 mit Liv. I 46, 1; IV 31. 32 mit Liv. I 47; IV 47 mit Liv. I 51; V 10 mit Liv. II 5ff.; VII 22–24 mit Liv. II 34, 9–11; VIII 23–35 mit Liv. II 39, 10. 11; VIII 48–53 mit Liv. II 40; IX 29–32 mit Liv. II 52, 7; XI 29–32 mit Liv. III 44–46; XI 40. 41 mit Liv. III 50; XI 55. 56 mit Liv. IV 6, 6. 7) muss D. entweder die Vorlage sehr erweitert oder die Reden erst ausgearbeitet haben, während sie in den Annalen nur skizziert oder erwähnt waren. Gelegentlich hat umgekehrt Livius aus rhetorischen Gründen eine Rede gekürzt oder gestrichen, während D. auf den von den Annalisten gebotenen Anlass hineinfällt; vgl. z. B. Liv. I 59, 11 mit IV 77–83 oder Liv. III 47, 5 mit XI 36, wo freilich D., der die vindiciae in libertatem nicht verstand, albern erfindet. Livius Erzählung und rhetorische Pointierung gewinnt bei dem Vergleich durchweg; vgl. z. B. IX 9 mit Liv. II 45, 12. 13 und die unsäglich geschmacklose Verführungsrede der Tullia an Tarquinius IV 29 mit der viel geschickteren Wendung bei Liv. I 46, 8, wo an Stelle der Rede die wiederholten Gespräche treten. Wie die classicistische Rhetorik bei D. jedes Gefühl für die künstlerischen Erzählungsgesetze zerstört hat, mag das geleckte Gespräch zwischen Aeneas und Latinus (I 58) zeigen oder die rhetorische Frage, die er IV 60, 4 dem Buben des etruskischen Sehers in den Mund legt.

Die Schilderungen von Senatssitzungen und Contionen, die D. bei den Annalisten der sullanischen und ciceronischen Zeit fand, werden schwerlich [940] eine reizvollere Lectüre gewesen sein, als seine classicistischen Allerweltsphrasen; aber die staatsrechtlichen und parteipolitischen Discussionen, die kaum gefehlt haben können, würden, wenn er sie mit leidlicher Treue wiedergegeben hätte, einen relativen historischen Wert besitzen. D. ist auch dazu nicht im Stande, seine unlebendige Rhetorik hat ihm die den Hellenen sonst eigene Fähigkeit, fremdes Wesen zu verstehen, geraubt. Die Lectüre seiner Gewährsmänner, deren politische Speculationen immer juristisch gefasst waren, zwang ihn zum Nachdenken über das Gefüge des römischen Staats und verlockte ihn, in der Erzählung zu politisieren; dem Classicisten schoben sich aber an die Stelle der schwierigen Begriffe des römischen Staatsrechts oberflächliche Erinnerungen an die attische Politie des 4. Jhdts., die er ebenfalls nur als Rhetor durch das trübe Medium der classischen Redner kannte. So construiert er sich mit der vorlauten Borniertheit, wie sie für die politische Ignoranz aller Zeiten charakteristisch ist, aus den pseudohistorischen, aber juristisch gedachten Constructionen oder Widerlegungen der Senatsherrschaft, die er bei den Annalisten fand, seltsame Ungeheuerlichkeiten zusammen, welche die moderne Forschung lange genarrt haben. Wenn er ab und zu πατρίκιοι einsetzt, wo die patrum auctoritas gemeint ist (II 60, 3. VI 90, 2. IX 42, 3), so ist das eine verzeihliche Ungenauigkeit, und wenn er sich die Aufnahme von Plebeiern in den Senat als personale Verleihung des Patriciats vorstellt (die Stellen bei Mommsen St.-R. III 41), so ist das zwar gründlich falsch, aber schwerlich mehr als ein Missverständnis des Terminus patres, den schon die römische Annalistik unscharf gebrauchte (Mommsen a. a. O. III 15; πατρίκιοι = patres = Senat z. B. VIII 21, 4). In viel gefährlicherer Weise hat der classicistische Terminus προβούλευμα gewirkt (vgl. Mommsen Röm. Forsch. I 235); diese sehr unzeitige Reminiscenz an die attischen Redner hat D. das Verständnis des Verhältnisses, in dem der Senat zur Magistratur und zu den Comitien stand, versperrt. Einem Griechen fiel es schon an und für sich schwer, in den feinen und echt römischen Unterschied zwischen formalem Recht und aristokratischem Herkommen sich hineinzuleben; das von D. fortwährend in die Erzählung und die Debatten hineininterpolierte προβούλευμα verhindert mehr als alles andere, dass die Auffassung der jüngsten Annalistik vom Ständekampf, d. h. die Rückspiegelung der Revolutionsperiode in die Werdezeit der Republik, bei ihm zu leidlich reinem Ausdruck kommt. Es giebt Stellen, an denen man sich die Bezeichnung des Senatusconsults als προβούλευμα gefallen lassen kann, wie z. B. VIII 78, 1. IX 37, 2. XI 21 a. E.; dagegen ist die Formulierung des Vorberatungsrechts des Senats IV 80, 2. VI 66, 2 zum mindesten schief, weil sie Herkommen und Recht verwechselt und über dem Verhältnis des Senats zum Volk die Magistratur vergisst. Aus dem Wort προβούλευμα leitet sich für D. die Vorstellung ab, als wenn die Beschlüsse der Comitien Bestätigungen der Senatusconsulte (IV 75, 2. 84, 2. V 57, 4. VII 58, 3. 59, 2. VIII 91, 4) wären, und diese Auffassung ist bei ihm nicht eine unschädliche Redewendung [941] geblieben, wie etwa bei Polyb. VI 16, 2. Er setzt bestätigende Beschlüsse der Comitien zu, wo sie nicht hingehören (XI 60), und lässt sogar Senatusconsulte durch Volksbeschlüsse amendieren (V 32, 1); solche Monstrositäten kann er bei einem römischen Annalisten nicht gefunden haben. Es vermehrt die Confusion, wenn in der ,Bestätigung’ nichts anderes steckt, als die lex curiata, wie V 70, 4. IV 80, 2; die grösste Verwirrung hat D. aber damit angerichtet, dass er auch in der patrum auctoritas ein Probuleuma erblickte. Auf diese Weise verwandeln sich ihm patrum auctoritas und lex curiata zu einem vom ,Demos’ bestätigten Beschluss der ,Bule’ (III 36, 1. IX 42, 3. 41, 3. X 4 p. 6, 1 Kiessl.; dass an den beiden letzten Stellen die in Curien stimmende Plebs mit den Curiatcomitien verwechselt wird, ist tralaticischer Annalistenirrtum, vgl. Mommsen Röm. Forsch. I 183). D. ist zu seinem Irrtum verleitet durch den laxen Sprachgebrauch der jüngeren und jüngsten Annalistik, die patrum auctoritas und senatus consultum nicht ordentlich schied (Mommsen St.-R. III 1033); die groben Fehler hat aber erst sein eigenes, unzeitiges Nachdenken hineingebracht, mit dem er die unscharf redende Vorlage und seine Missverständnisse auszugleichen versuchte und zwar so auszugleichen, dass er ,attische’ Termini verwenden konnte. Auf diese Weise kommt er dazu, auch richtige und scharf gefasste Bemerkungen seiner Gewährsmänner bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Liv. I 17, 9 ist eine Fundamentalstelle für die Lehre vom Bestätigungsrecht des patricischen Senats; Dionys. II 14, 3 hat bei seinem Gewährsmann etwas ähnliches gefunden, aber thörichtes Zeug daraus gemacht. Wenn er dabei stehen geblieben wäre, die Plebiscite, bei denen die patrum auctoritas wegfallen musste, ἀπροβούλευτα zu nennen (IX 44, 7. X 4), so wäre das ein sehr unglücklicher Ausdruck und nichts weiter; weil er aber den Ausdruck voll nimmt und ausdeutet, so construiert er eine Theorie, dass die Plebiscite des προβούλευμα des Senats bedürften, und retouchiert danach die Erzählung (bei der publilischen Rogation IX 49, 4; bei der terentilischen X 26. 48. 52; bei der canuleischen XI 54. 61; ebenso dürften die seltsamen Senatsdebatten vor dem Process Coriolans aufzufassen sein, VII 38ff., vgl. X 34, die ausserdem noch dadurch verwirrt werden, dass an Stelle des concilium plebis die von den Tribunen berufenen Tributcomitien des populus treten). Livius weiss von diesen staatsrechtlichen Phantasien nichts, schliesst gelegentlich (II 35, 4. 5. 56, 4) ein Rechtshinderniss geradezu aus; auch die Erzählungen III 11. 14 sind nur unter dieser Voraussetzung verständlich. Wendungen wie III 30, 5 expressit hoc necessitas patribus oder IV 6, 3 vidi tandem patres, ut de conubio ferretur, consensere sind absichtlich unklar gehalten, dasselbe gilt von III 19, 1 consul .. negare passurum agi de lege, vgl. 25, 4. 31, 6. Es ist wohl zu beachten, dass die gleiche Vorstellung von einem factischen, nicht auf eine juristische Norm sich stützenden Widerstand des Senats und der Consuln gegen tribunicische Rogationen bei D. keineswegs fehlt, vgl. IX 41, 4. 44, 1. 2. 49, 1. X 4. 18. 40. 41; ja X 1 und XI 59 erscheinen Feldzüge [942] in ähnlicher Weise als Hinderungsgrund, wie bei Liv. III 9, 6. 24, 1. 29. 8. Das zwingt zu dem Urteil, dass D. selbst die Verantwortung dafür zu tragen hat, dass seine Darstellung mit dem Probuleuma des Senats bei Plebisciten operiert, also, in dieser Beziehung wenigstens, von allen Ausmalungen des Ständekampfes die wertloseste ist. Die annalistischen Versuche, sich ein Bild von dem Widerstand des Senats und der Consuln gegen die Beschlüsse der Plebs zu machen, gehen durchweg aus von der factischen Macht des Senats und der rechtlichen Bindung des populus durch das Plebiscit, können also schon darum nicht wirkliche Geschichte sein, der vielmehr die Vermutung am nächsten kommen dürfte, dass das Plebiscit vor dem hortensischen Gesetz (vgl. über dieses Mommsen St.-R. III 159ff.) rechtlich nichts anderes war als die Verpflichtung der Plebs zur Selbsthülfe, wenn die Magistrate nicht dem Beschluss der Plebs gemäss handelten. Aber die Farben, mit welchen die Annalisten die grossen Lücken der Überlieferung überpinselten, sind darum noch nicht unecht; sie sind der Zeitgeschichte entlehnt und lagen D. in sehr viel frischerem Glanz vor, als uns bei Livius; D. erst hat durch seine unjuristischen und unrömischen Begriffe auch das, was in jenen Darstellungen noch echt und wenigstens relativ historisch war, verfälscht.

Andere Schiefheiten und Missverständnisse stelle ich nur kurz zusammen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Kein Annalist der Popularpartei, und mochte er noch so rabiat sein, kann die Criminalgerichtsbarkeit der Plebs in so ausschweifender Weise aus der provocatio ad populum, abgeleitet haben, wie es D. einen Tribun in einer Rede thun lässt (VII 41); das ist rhetorisches δίκαιον schlechtester Sorte. Die Erzählung XI 21 widerspricht der Geschäftsordnung des Senats und wirft die perrogatio sententiarum und die discessio durcheinander (Mommsen St.-R. III 980); so etwas ist einem republicanischen Annalisten nicht zuzutrauen. Stellen wie IX 41, 3. 43. 4 verraten, dass D. den Begriff der Collegialität nicht kennt. Ist es schon grotesk, dass er VI 90, 2 den Tribunat unter die lex curiata stellt, so wird dies noch überboten durch die Rolle, die er die Fetialen bei der Aussöhnung zwischen Patriciern und Plebeiern spielen lässt (VI 89, 1); hier verleitet das griechische Wort εἰρηνοδίκαι in ähnlicher Weise zu thörichten Ausdeutungen, wie προβούλευμα. II 22, 3 ist der Haruspex mit dem Augur verwechselt, und die inauguratio gründlich missverstanden (Mommsen St.-R. II 34); was II 73 über die Competenz der Pontifices vorgebracht wird, ist ein wahrer Rattenkönig von Irrtümern. Ein arges Missverständnis ist es ferner, wenn VIII 79 (in einer Variante, nicht in der Haupterzählung) für das beim Hausgericht übliche consilium der Senat gesetzt wird; Val. Max. V 9, 1 zeigt, wie es entstehen konnte. Welche Früchte D.s eigenes Nachdenken zu zeitigen vermag, dafür ist das Capitel über die Viehbussen (IX 27, vgl. Mommsen Röm. Strafrecht 51) ein erheiterndes Beispiel. Die sonderbare tribunicia potestas, die XI 6. 39 von den Decemvirn in Anspruch genommen wird, ist schwerlich mehr als ein persönlicher Anachronismus des D.; im übrigen sind Spuren der augusteischen Zeit [943] selten und unsicher. Die Theorie vom ager regius (II 62, 4. III 1, 4), die Mommsen (St.-R. II 1088) mit einer für D. zu feinen Interpretation den augusteischen Staatsrechtslehrern zuschreiben möchte, findet sich schon bei Cic. de rep. V 3; ob man II 52, 5 nach Analogie von Tac. hist. II 95 mit den Consecrationen der augusteischen Zeit zusammenbringen darf (Mommsen St.-R. III 97), ist mir sehr fraglich; der personale Patriciat lässt sich anders erklären, s. o.

Aus diesen Beobachtungen ergiebt sich, dass D. – man muss sagen leider – auf eigenes Nachdenken bei der Abfassung seines Werkes nicht verzichtet hat; er hat nicht einfach abgeschrieben, sondern aus seinen Vorlagen das ausgewählt, was ihm passte, und unter Umständen die Erzählung selbständig zurechtgeschoben. Die Versuche, ihn unter bestimmte Gewährsmänner aufzuteilen, sind von vornherein aussichtslos, und die Analyse wird nur unter besonders günstigen Umständen und in sehr seltenen Fällen zu bestimmten Resultaten führen. Dagegen lassen sich einige Vorfragen mit genügender oder annähernder Sicherheit erledigen.

Plutarch hat aus D. die Biographie Coriolans, von der de fort. Rom. 5 nicht zu trennen ist, entlehnt, und zwar nur aus ihm (vgl. Mommsen Röm. Forsch. II 117; verfehlt Bocksch Lpzg. Stud. XVII 194ff); dass er ab und zu das Detail etwas anders arrangiert (vgl. Plut. Cor. 5. 6; 22. 23; 27 Anf.; 34), beweist nichts gegen die Abhängigkeit, sondern zeigt nur, dass Plutarch die Technik der Erzählung besser versteht als D. Die Reflexionen (vgl. besonders 32, das aus Dionys. VII 39, 2 θείωι τινὶ παραστήματι κινηθεῖσα herausgesponnen ist) und die antiquarischen Zusätze (1. 3. 9. 11. 14. 24. 25. 39) lassen sich leicht und einfach ausscheiden; dass Plutarch Coriolans Mutter Volumnia statt Veturia, die Gattin Verginia (oder Vergilia?) statt Volumnia nennt, kann nur ein Versehen sein; wie er Tullus Attius genannt hat, steht nicht fest, da die Überlieferung (Coriol. 22) schwankt und ausserdem ungenügend bekannt ist. Cap. 26 wird D. – dass er und kein anderer unter ἔνιοι zu verstehen ist, zeigt comp. Alc. et Cor. 2 – nicht für eine Variante citiert, sondern für einen der Haupterzählung nicht widersprechenden Umstand, für den Plutarch selbst die Verantwortung ablehnt, weil er ihm in das Gesamtbild seines Helden nicht zu passen scheint; hätte er einen Zeugen gehabt, der seine Kritik auch nur durch sein Stillschweigen bestätigte, so würde er ihn angeführt haben.

Tm Romulus citiert Plutarch D. (II 34, 2, vgl. Liv. I 11, 2) einmal (16), um ihn zu bestreiten; er kann das Citat sehr wohl selbst zugesetzt haben. Es fehlt im Romulus und im Numa nicht an Stellen, in denen er mit D. übereinstimmt (vgl. z. B. Plut. Rom. 6 ὡς δ’ ἔνιοί φασι – γεγονότας = Dionys. I 84, 1–3. 5. Rom. 9 οἲ δέ = I 86. Rom. 13 von καὶ τοῦτο μὲν ἦν an = II 9. 10. Numa 16 a. E. = II 76; an anderen Stellen, wie Rom. 10 vgl. I 87, 2. Rom. 13. 20 vgl. II 12. 47, 1. Rom. 26 vgl. II 13, 2. Numa 10 vgl. II 67, hat Plutarch entweder mehr oder in unmittelbarer Nähe so starke Differenzen, dass die Abhängigkeit von D. mehr als problematisch wird), und die Möglichkeit, dass er einiges aus D. übernommen [944] hat, muss zugegeben werden; viel kann es nicht gewesen sein, und die Hauptmasse der beiden Viten weicht durchaus von D. ab. Umgekehrt ist die Hypothese, dass der oder die gelehrten Antiquare, welche Plutarch auszog, ihrerseits D. benutzten (vgl. Plut. Rom. 14. Dionys. II 30, 6. 47, 4), abzuweisen.

Der Biographie Poplicolas oder wenigstens ihrer Hauptmasse liegt nachweislich ein Autor zu Grunde, der den oder einen der von D. benützten Berichte überarbeitete (vgl. meine Notae de Romanorum annalibus, Progr. Gött. 1903). Wäre die Behauptung Kießling (De Dionysi Halicarnassei antiquitat. auct. latinis, Diss. Bonn. 1858, 20ff.; dagegen Korber De font. Plutarchi in vitis Rom., Berlin 1885) richtig, dass Plutarch Valerius Antias ausschrieb, so müsste D. Annalen vor sich gehabt haben, welche die Grundlage von Valerius Erfindungen bildeten. Das führt zu Consequenzen, die den tralaticischen Argumenten der Quellensucher sehr gefährlich werden. Bis zum Überdruss ist jede Hervorhebung der gens Valeria als sicheres Indiz für Valerius Antias angepriesen worden. Nun tritt z. B. Publicolas Tochter Valeria (Plut. Popl. 18. 19; mul. virt. 14. Dionys. V 32, 3) in beiden Berichten stark hervor, aber bei Plutarch mehr als bei D. Ist Plutarch = Antias, dann hätte dieser nichts anderes gethan,- als schon vorhandene Elemente weiter entwickelt, und das Indiz der gens Valeria wird unbrauchbar. Für die andere Alternative, dass bei D. Valerius Antias vorläge, liesse sich geltend machen, dass für den bei Plutarch (Popl. 19) als Variante erwähnten Bericht, der die Cloelia zu Gunsten der Valeria gänzlich eliminiert, Plinius (n.h. XXXIV 29) Annius Fetialis als Gewährsmann citiert. Dann schwindet vollends jede Möglichkeit aus fingierten Ruhmesthaten der Valerier auf Valerius Antias als ,Quelle’ zu schliessen. Man muss sich eben in die Thatsache finden, dass spätestens, nachdem der Gegensatz zwischen Optimaten und Popularen die römische Geschichtsschreibung anfing zu beherrschen und zu verfälschen, die demokratischen Valerier zu einem immer von neuem verwerteten Motiv wurden, dessen mannigfaltige Entwicklung nicht durch das unleidliche Operieren mit einer zufälligen Homonymie verdunkelt werden darf. Mit dem zweiten Argument, das Kiessling zuerst für Valerius Antias ins Feld führte, den grossen Zahlen, steht es nicht besser. Beide, D. (V 42, 4. 49, 1) und Plutarch (Popl. 20), geben unerhört hohe Verluste der Sabiner, 13 500 oder 13 000, an, aber für verschiedene Kriege. Diese selbst sind zwar ähnlich, aber nicht identisch dargestellt; dass nach Plutarch M. Valerius keine Verluste hatte, geht mit Dion. V 38, 3. 39, 1 nicht zusammen, und Popl. 22 ist der unwahrscheinliche Nachtkampf bei Dionys. V 41. 42 durch Morgennebel ersetzt und mit dem Schwiegersohn Publicolas ein neuer Acteur in den historischen Roman eingeführt, während die Gesamtanlage die gleiche bleibt. Wem sind nun die grossen Zahlen eigen, Valerius Antias, seinem Nachtreter oder seinem Vorbild? Die hohe Verlustzahl ist einmal für einen Sabinerkrieg erfunden und dann verschoben, wie z. B. die Notiz über den, der zuerst als Privater vom Magistrat die Erlaubnis erhielt, zum Volk zu sprechen (Dionys. V 11, 3. Plut. Popl. 3); daraus [945] ergiebt sich, dass die hohen Zahlen eine Manier waren, die bei mehr als einem Annalisten vorkam, als Indiz für Valerius Antias also nicht zu brauchen sind. Die Coincidenz Dionys. V 39, 4 = Plut. Popl. 20 geht auf Varro zurück und schliesst Valerius Antias geradezu aus (Ascon. in Cic. Pison. p. 12 Kiessl., vgl. Mommsen CIL I² p. 190); D. und Plutarch werden die Notiz eingelegt haben. Auch II 30. 47 folgt D. der Correctur, die Varro Valerius Antias hatte zu teil werden lassen (vgl. Plut. Rom. 14). In der tralaticischen Zusammenstellung von Varianten über die Herkunft des Ser. Tullius fehlt die Version des Valerius Antias (Plut. de fort. Rom. 10), wie bei Livius (I 39), so auch bei D. (IV 1f.).

Plutarchs Camillus ist zum weitaus grössten Teil aus Livius entlehnt; ein besonders starkes Indiz ist Cap. 5 die falsche Übersetzung von exta prosecuisset (Liv. V 21, 8); Cap. 6 ist Λίουιος (V 22, 5) δέ φησιν nicht Variante, sondern das vorhergehende φασίν giebt das livianische fabulae adiectum est wieder, das Citat ist der Ansicht beigefügt, für die Livius selbst eintritt. Dass Plutarch für die iuvenes des Livius Camillus selbst einsetzt, ist biographische Manier, die 36Liv. VI 20, 10. 11 (wo nicht die Militär-, sondern die Volkstribunen zu verstehen sind) wiederkehrt. Aber Livius ist nicht der einzige Gewährsmann. Wenn auch zugegeben werden kann, dass in den nicht auf Livius zurückgehenden Partien manches sich mit D. vergleichen lässt (vgl. Plut Cam. 3 mit XII 10 (11); 4 mit XII 11 (13). 12 (16); 26 mit XIII 7 (9); 27 mit XIII 8 (11), die Fassung steht Diod. XIV 116, 6 näher als Liv. V 47, 4; 28 mit XIII 9 (13); 40 mit XIV 9 (13)ff.), so ist doch die Übereinstimmung nicht gross genug, um den Schluss zu gestatten, dass Plutarch Livius aus D. ergänzte, und da D. in diesen Abschnitten nicht mehr vollständig vorliegt und das argumentum ex silentio wegfällt, so ist zu einem sicheren Resultat nicht zu gelangen.

Nicht viel anders steht es mit der Vita des Pyrrhos, obgleich das zweimalige ausdrückliche Citat des D. (17. 21) bezeugt, dass Plutarch ihn eingesehen hat. Coincidenzen kommen ausserdem vor (Plut. Pyrrh. 13 = Dion. XIX 8, vgl. Dio frg. 39, 10; 16 = XIX 9ff. 12), lassen sich aber nicht verwerten, da weder D. noch Livius vollständig vorliegen und die Entwicklung oder richtiger Verfälschung der Überlieferung über den pyrrhischen Krieg sich nur sehr im allgemeinen verfolgen lässt. Warum Niese (Herm. XXXI 481) vermutet, dass D. seine Darstellung auf Livius aufgebaut habe, verstehe ich nicht; die Erzählung der Schlacht bei Asculum (Plut. Pyrrh. 21. Dionys. XX 1–3) zeigt zur Genüge, dass die tendenziös römische Fälschung bei D. zwar schon vorhanden, aber doch noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie bei den von Livius (Oros. IV 1, 19–22, vgl. besonders die Verlustzahlen mit denen des D. bei Plut. Pyrrh. 21) und Dio (Zonar. VIII 5) benutzten Annalisten.

Über das Verhältnis Appians und Dios zu D. habe ich Bd. II S. 217f. und Bd. III S. 1692ff. gehandelt: weder der eine noch der andere haben, soweit das unvollständige Material einen Schluss gestattet, D. direct benutzt. [946]

Livius kann aus chronologischen Gründen D. nicht vor sich gehabt haben; dagegen ist das Umgekehrte denkbar und thatsächlich behauptet worden (Volkmar De annal. Roman. quaest., Diss. Marb. 1890). Von allen Versuchen, das Rätsel der zwischen D. und Livius in verwirrender Mannigfaltigkeit hin- und hergehenden Bezüge zu lösen, bietet dieser von vornherein die geringste Aussicht, auch nur irgend ein Einzelproblem befriedigend aufzuklären. Kein einziges Jahr ist bei D. so erzählt, dass Livius allein zu Grunde liegen könnte, auch wenn ein recht starkes Mass eigener Erfindung für D. in Rechnung gestellt wird; wenn aber zugegeben wird, dass D. erheblich über Livius hinausging und auf dessen Vorlagen zurückgriff, so müssen schon sehr durchschlagende Beweise, nicht einfache Coincidenzen, beigebracht werden, um es glaubhaft zu machen, dass der pedantische, altkluge Pragmatismus des D. an der dem Staatsrecht aus dem Wege gehenden, Widersprüche verschluckenden, die annalistische Breite stark reducierenden Romantik des Livius Gefallen gefunden haben sollte. D. ist im Anfang viel breiter als sein römischer Concurrent; seinen vier ersten Büchern entspricht ein livianisches, Liv. II umfasst die Stadtjahre 245–286 (vulgär 509–468), mit denen D. V–IX 58, also fast fünf. Bücher füllt. Von jetzt ändert sich das Verhältnis, Liv. III gleicht etwa zwei dionysianischen Büchern (IX 59–XI 52), und vergleicht man die Erzählung im einzelnen, so ist sehr häufig die livianische ausführlicher und detailreicher. Nimmt man hinzu, dass gerade mit dem Anfang des dritten Buches Livius sich in erheblich stärkerem Mass von der dionysianischen Erzählung entfernt . (vgl. Boesch De XII tabularum lege a Graecis petita, Diss. Gott. 1893, 28ff.) als vorher, so wird schon durch diese einfache, von jedem anzustellende Beobachtung die Wahrscheinlichkeit, dass er D. auch nur partiell zur Vorlage diente, auf ein Minimum reduciert. Einzelbeobachtungen verwandeln sie in eine Unmöglichkeit. Der Process des Kaeso Quinctius wird von beiden (Dionys. X 5–8. Liv. III 11–13) im wesentlichen identisch dargestellt, es fehlt auch nicht an Coincidenzen im einzelnen (Liv. III 11, 6. 12, 8 = Dion. X 5). Doch ist die Verhandlung bei Livius mehr ausgeschmückt, indem bei ihm ausser dem Vater noch andere Fürsprecher auftreten, welche das Lob des Angeklagten übernehmen, so dass der Vater sich auf das Bitten beschränkt. Bei D. muss der Vater allein beides besorgen, und da Livius mit den Worten non iterando laudes ne cumularet invidiam (III 12, 8) auf eine solche Darstellung hinzuweisen scheint, liegt die Vermutung nahe, dass er einen Annalisten benutzte, der die bei D. vorliegende Erfindung weiter ausmalte und überbot. Das wird bestätigt, wenn man die nur ähnlichen, nicht identischen Berichte beider über das falsche Zeugnis des M. Volscius hinzuzieht. Die Differenz beider beruht im wesentlichen darauf, dass bei Livius die Erzählung des Volscius von vornherein auf ihre Widerlegung eingerichtet ist, vgl. III 24, 4; bei ihm wird denn auch schliesslich dem falschen Zeugen der Process gemacht (III 24. 25. 29, 6). D. begnügt sich mit der vagen Bemerkung, dass Volscius Zeugnis sich später als falsch herausgestellt habe [947] (X 8), ähnlich wie Cicero (de domo 86, vgl. Mommsen Strafrecht 482) die Restitution des Kaeso Quinctius behauptet: von einem gegen Volscius angestrengten Process weiss er nichts. Hätte ihm Livius vorgelegen, er würde sicherlich die Widerlegung von Volscius Zeugnis sich nicht haben entgehen lassen; dass er darüber schweigt und somit den Beweis für jene Bemerkung, dass das Zeugnis falsch gewesen sei, schuldig bleibt, ist für jeden, der seine in solchen Dingen bis zur Peinlichkeit genaue Art kennt, ein Anzeichen, dass er in dem ihm zugänglichen Material nicht mehr fand und weder Livius noch dessen unmittelbare Vorlage gekannt hat. Livius (I 11, 6) giebt in der Tarpeialegende als Haupterzählung eine pragmatisch nüchterne Umdeutung und fügt die Vulgata unter der Rubrik additur fabulae hinzu. Von dieser Vulgata fand D. nur eine Abweichung, die des Piso (II 39, 1 μέχρι μὲν δὴ τούτων συμφέρονταιπάντες οἱ Ῥωμαίων συγγραφεῖς); auch Livius (I 11, 9) erwähnt sie. Die Livius eigentümliche Version ist also D. unbekannt geblieben und das an einer Stelle, an der Variantenangaben tralaticisch waren.

Livius II 58. 59 und Dionys. IX 50 sind identisch, nur in zwei Abweichungen verrät sich eine andere Technik der Erzählung. Man kann zweifeln, ob die Anordnung, nach der Ap. Claudius zuerst auf Bitten der Officiere keine contio abhält (Liv. II 59, 4. 5, vgl. Dionys. IX 50, 6), oder diejenige, die mit dieser contio operiert (Dionys. IX 50, 5), die ältere ist: es ist nicht zweifelhaft, dass Livius dadurch, dass er die erste römische Niederlage durch einen partiellen Erfolg abmildert (II 59, 3), die Erzählung unendlich verbessert. D. weiss die Rettung des Lagers nur sehr mässig zu motivieren (IX 50, 4): nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ist seine Erzählung die ältere, mag nun Livius Gewährsmann oder, was ich für sehr viel wahrscheinlicher halte, Livius selbst sie zurechtgerückt haben.

Die enge Verwandtschaft der Darstellungen des Decemvirats bei D. und Livius ist öfters nachgewiesen worden (ausser Volkmar in der angeführten Dissertation vgl. Boesch De XII tabularum lege 33ff.); auch hier ist die verkehrteste Erklärung die, welche D. zum directen Ausschreiber des Livius macht. So nahe sich beide Erzählungen berühren, so wenig dürfen diese Berührungen darüber täuschen, dass beide Berichte verschieden orientiert sind, gerade in den besonders verwandten Partien. Bei D. (vgl. besonders X 60. XI 2) sind die Decemvirn tyrannische Oligarchen, die alle anständigen Elemente fortschaffen oder ohnmächtig machen wollen; in diesem Zusammenhang hat die willkürliche Justiz der Machthaber ebensogut einen Sinn, wie dass die Senatoren, die patres sowohl wie die conscripti, Rom verlassen. Sobald der Senat zusammentritt, bricht die Opposition los. Beides, der Missbrauch der Jurisdiction (III 36. 8) und das Entweichen der Senatoren aus der Stadt (III 38, 11–13), kehrt bei Livius wieder, auch die Opposition des Senates wird andeutend hervorgehoben (III 39, 1); aber die Spitze der Darstellung ist verschoben, sie ist ausgesprochen populär, den Patriciern und dem Senate feindlich. Die Decemvirn verurteilen nur Plebeier (III 36, 7 abstinebatur a patribus), [948] ihre Clique greift nur Plebeier an (III 37, 7); die Patricier sehen dem Treiben des Ap. Claudius mit ingrimmiger Schadenfreude zu (III 37, 1-3), der Senat rafft sich zu nichts auf (III 41, 4–6), auch nicht nach dem Tode der Verginia (III 49, 8). Damit hängt der von D. (X 58) vermiedene Fehler zusammen, sämtliche Decemvirn für Patricier auszugeben (Liv. IV 3, 17, vgl. Mommsen Röm. Forsch. I 95. 296). Livius stilistische Kunst vermag den Widerspruch nicht wegzuschaffen, in dem die wirklich oder scheinbar populäre Tendenz seiner Darstellung zu der Flucht der Senatoren aus Rom steht, und eine Spur davon, dass die decemvirale Jurisdiction auf die Tyrannis, nicht auf die Schädigung der Plebs abzielt, ist III 37, 8. 9 stehen geblieben. Kurz und gut, die den Optimaten – denn die stecken hinter den Patriciern – feindliche Tendenz, welche vor evident falschen Deutungen der Überlieferung nicht zurückschreckt (vgl. Liv. III 40, 5–7. Dionys. XI 15. 20 und Mommsen St.-R. III 979), ist bei Livius deutlich in eine ältere Erzählung hineingetragen, die bei D. noch reiner vorliegt. Auch bei diesem führt die Opposition des Senats zu keinem Resultat (XI 21) und kann es nicht, da die alte, nicht zu beseitigende, Überlieferung (vgl. XI 1. Diod. XII 24. Cic. de rep. II 63) den Sturz der Decemvirn von dem Aufstand des Heeres ableitete; aber das dürfte deutlich sein, dass die Übermalung, welche dem Senat einen Anteil bei dem Widerstand gegen die Gewaltherrschaft vindiciert, älter ist als die, welche diesen Anteil mit halbem Erfolg wieder zu eliminieren versucht. Die patricische Jugend, die sowohl bei D. (X 60) als bei Livius (III 37, 6) auftritt, scheint freilich besser zu Livius Tendenz zu passen; aber sie ist aus älterer Überlieferung (Diod. XII 25, 1) entnommen, und ihr treten bei D. (XI 22) die sodalicia des Valerius und Horatius entgegen; bei Livius (III 49, 3) sind die beiden duces multitudinis. Somit verrät die bei D. hervortretende Auffassung der Decemvirn als oligarchischer, den Patriciern nicht minder als den Plebeiern feindlicher Tyrannen ein früheres Stadium der Fälschung, und dass D. durch eigene Kritik es fertig gebracht haben sollte, die livianischen Incongruenzen zu corrigieren und die Erfindung gewissermassen wieder zurückzuschrauben, ist unglaublich; viel eher liesse sich die Meinung verteidigen, dass Livius aus künstlerischen Gründen den Senat zurückdrängte, um die Verginialegende mehr hervortreten zu lassen, für welche die empörte Plebs einen dramatischeren Hintergrund abgab als die tugendhaften Aristokraten Valerius und Horatius.

Der gangbaren ,Quellenforschung’ kann also das Recht nicht bestritten werden, Coincidenzen zwischen Livius und D. auf einen oder mehrere ältere Gewährsmänner zurückzuführen. Trotzdem hat sie mit diesem Geschäft wenig Glück gehabt. Nitzsch (Röm. Annalistik) und Voigts (Abhd. d. Sächs. Gesellsch. d. Wiss. VII 682ff.) bodenlose Phantasien werden zwar als Ganzes nicht mehr verteidigt, aber die principiell falsche Methode wirkt immer noch nach, bei Virck (Die Quellen d. Livius und D., Diss. Strassburg 1877), Bocksch (Leipz. Stud. XVII 167ff.; Griech. Stud. f. H. Lipsius 169ff.), Boesch (De XII tabularum [949] lege a Graecis petita, Diss. Goett. 1893), Soltau (Livius Geschichtswerk, Leipz. 1897) u. a. Man jagt nach Namen und untersucht die Traditionen nicht.

Nur in seltenen Fällen gelingt es, einen bestimmten Autor zu fassen, bei Livius sowohl wie bei D. Liv. III 4, 5 stammt der Hauptsache nach aus Valerius Antias; das zeigt III 5, 13. Ein älterer Bericht, den Valerius überarbeitete, liegt bei Dionys. IX 62–66 vor; vergleicht man IX 62, 4. 5 mit Liv. III 4, 7. 8; 63, 1 mit 4, 8. 9; 66 mit 5, 9, so tritt deutlich hervor, wie Valerius Motive zusetzt, chargiert, die Ereignisse kunstvoller anordnet. Leider lässt sich das Resultat, dass D. Annalisten benutzt hat, die vor Valerius liegen, weder praecisieren noch verallgemeinern.

D. berichtet zu den Stadtjahren 249–252 (vulgär 505–502) über nicht weniger als vier Sabinerkriege (V 37ff.). Die beiden letzten fehlen bei Livius nicht nur, sondern scheinen ausdrücklich abgewiesen zu werden (II 16, 6 ut diu nihil inde rebellionis timere possent). Über die D. bestätigenden Überlieferungen vgl. Mommsen Röm. Forsch. II 156ff. Nun hat nach Dionys. V 47, 3 Licinius Macer jedenfalls die Ovation des Postumius (V 44) gekannt; es muss ferner auffallen, dass gerade die beiden Plebeierfreunde, Agrippa Menenius und Sp. Cassius mit Siegen über die Sabiner bedacht werden; Plinius n. h. XV 125 berichtet über Postumius Ovation in einer Weise, dass ein Sieg des Menenius ausgeschlossen ist. Nimmt man hinzu; dass mehr als ein Zug aus den von den Valeriern geführten Kriegen (vgl. V 37, 2 mit 44, 1; 37, 3 mit 45, 1; 39, 3 mit 46, 5; 42, 4 mit 49, 1) sich in auffallender Weise wiederholt, so ist der Verdacht schwer niederzukämpfen, dass D. hier eine Erfindung Macers conserviert hat, die Livius zurückweist, nicht von richtiger Kritik geleitet, sondern um eine andere Doublette einfügen zu können, vgl. Mommsen a. a. O. Auch dies noch dazu unsichere Resultat bleibt vereinzelt. Die ,Quellenforscher’ pflegen gemeiniglich Macer und Valerius Antias an das Ende der Livius und D. vorliegenden Annalistik zu stellen, höchstens wird noch mit Tubero gerechnet. Es ist schwierig, über Valerius Zeit zu urteilen; ich möchte auf Ciceros Schweigen mehr Gewicht legen, als jetzt geschieht; wie Tubero sich zu Valerius verhielt, weiss niemand. Jedenfalls kannte D. nicht nur Macer,; sondern auch Annalisten, die ihn benutzten. Das verraten die XI 62 über die Magistratstafel von 310 (nach D. 311, vulgär 444) mitgeteilten Varianten; sowohl D. als Livius (IV 7, 10ff, credo darf nicht täuschen) folgen einem Compromiss zwischen der älteren Überlieferung (Diod. XII 32) und Macers Fälschung; nach Liv. IV 23, 1. X 9, 10 liegt es nahe, an Tubero zu denken.

D.s seichter Pragmatismus, der mit seiner Unfähigkeit zu erzählen zusammenhängende Mangel an archaischem Colorit, der seine Darstellung gegenüber der livianischen sehr in Nachteil setzt, haben es bewirkt, dass sein Werk allgemein als ein Niederschlag der jüngeren Annalistik angesehen wird, nicht mit Unrecht; nur ziehe man aus der zwischen D. und Livius obwaltenden Verschiedenheit keine falschen Schlüsse. XI 1 gesteht D. selbst ein – was Livius nicht thut, [950] obgleich er es ebenso macht –, dass er die pragmatische Ausmalung zu der vulgären Legende hinzufügt. Was Liv. III 23, 7 behauptet, bei den älteren nicht gefunden zu haben, steht bei Dionys. X 21. Übrigens folgt aus der kurzen Anmerkung des Livius noch lange nicht, dass seine Haupterzählung älter und besser als die des D. ist; dass er die letztere im folgenden (III 24, 8, vgl. auch die Triumphaltafel) voraussetzt, ist von Boesch (De XII tabularum lege 30) richtig bemerkt. Nach Liv. II 18, 5 setzten die ,ältesten’ Annalisten den ersten Dictator T. Larcius ins Stadtjahr 253 (vulgär 501), D. führt ihn (V 72, 3) drei Jahre später auf. Zu beachten ist aber, dass Livius Motivierung auf das Jahr des D., nicht auf sein eigenes passt und ihre Spitze nicht gegen die chronologische Differenz, sondern gegen die bei Fest. s. optima lege p. 198 M. wiederkehrende Behauptung richtet, dass M.’ Valerius M. f. der erste Dictator gewesen sei; dass T. Larcius von der alten Überlieferung als erster Dictator genannt wurde, beweist Cicero (de rep. II 56). Mit der Verschiebung des ersten Dictators hängt die des zweiten, des A. Postumius, zusammen. Livius (II 19, 3) setzt diesen 255 (vulgär 499), D. (VI 2, 3) 258 (vulgär 496) an; dieser Ansatz wird von Livius (II 21, 3) erwähnt, dagegen fehlt bei D. jede Spur der von Livius bei beiden Dictaturen erwähnten Meinung (II 18, 4), welche die Einsetzung eines Dictators darauf zurückführte, dass die Consuln als Angehörige der tarquinischen Partei verdächtig geworden wären. Übrigens setzt auch hier wieder Livius den späteren Ansatz der Regillusschlacht und den bei D. vorliegenden Bericht in seiner Erzählung voraus (Liv. II 22, 1. 2. Dionys. VI 3, 2. 3; 4, 2. 3; 23, 1), und selbst angenommen, dass seine chronologischen Ansätze wirklich die älteren sind, so bleiben sie doch, an seiner übrigen Darstellung gemessen, Gewaltacte, Gewaltacte freilich, die er sehr geschickt benutzt hat. Bei D. schleppt sich die Vorgeschichte des Latinerkriegs durch eine Reihe von Jahren hindurch (V 50. 51 [253]. 52 [254]. 58 [255]. 59-62 [256]. VI 1 [257]), für Livius fällt durch den früheren Ansatz der Regillusschlacht die Notwendigkeit fort, die J. 256 (vulgär 498) und 257 (vulgär 497) mit leeren Verhandlungen zu füllen. Da er nun aber in dem Bericht über das J. 259 (vulgär 495) in die Tradition, welche die Regillusschlacht ins J. 258 (vulgär 496) setzt, einlenkt (s. o. und vgl. die in II 22, 5 steckende Anspielung auf die von Dionys. VI 18. 21 berichteten Friedensverhandlungen), so muss er deren Voraussetzungen auch aufnehmen und hilft sich mit der kurzen Phrase (II 21, 1) triennio (255–257) nec certa pax nec bellum fuit, die man ebensowenig zur Spur einer ,älteren Quelle’ machen darf wie die scheinbar abgerissenen Notizen II 19, 1. 2 zu den J. 254 (vulgär 500) und 255. Dass Fidenae nur belagert, nicht erobert wird, erklärt sich, wenn man bedenkt, dass es bei D. erst 256 (vulgär 498) fällt, ein Jahr nach dem livianischen Datum der Regillusschlacht, und zu den Worten nec ultra bellum Latinum gliscens iam per aliquot annos dilatum liefert die mit Doubletten vollgestopfte, nicht von der Stelle rückende Darstellung des D. den Commentar.

[951] Ähnliche Processe lassen sich in der Geschichte des Ständekampfes verfolgen. Bei D. (V 63ff.) setzt er ein in dem Jahr der ersten Dictatur, der des T. Larcius, 256 (vulgär 498); das ist begreiflich und nicht von D. erfunden. Daneben gab es aber, was ebenso begreiflich ist, einen anderen Anfang, der nicht zufällig an das Consulat eines Ap. Claudius 259 (vulgär 495) angeknüpft war und keiner zu langen Fortsetzung bedurfte, um in die Einsetzung des Tribunats 261 (vulgär 493) auszulaufen. Dieser Anfang ist die berühmte, kunstvoll componierte Scene, in welcher der misshandelte nexus auf den Markt stürzt und das Volk aufwiegelt, während zugleich die Latiner melden, dass ein Volskerkrieg droht. D. (VI 26) und Livius (II 23) haben das offenbar tralaticische Glanzstück beide aufgenommen, aus demselben Original, wie die wörtlichen Übereinstimmungen zeigen; aber wie verschieden beide von der Kunst Geschichte zu schreiben dachten, tritt hervor in der Art, wie sie das Stück in ihre Darstellung einfügen. Bei D. werden beide Anfänge des Ständekampfes durch eine lahme Erfindung (VI 1,1) mit einander verknüpft; es ist gleichgültig, ob man ihn oder einen Annalisten dafür verantwortlich machen will. Er brauchte ja auch nur für das eine Jahr 257 (vulgär 497) zu sorgen, das folgende war durch die Regillusschlacht so wie so ausgefüllt, ferner gehörte keine Phantasie dazu, die 259 einsetzende Bewegung ein Jahr vorher allmählich entstehen zu lassen. Für Livius lag die Sache anders: behielt er die Motivierung der Dictatur des T. Larcius durch den Ausbruch des Ständekampfes bei, so musste er sich mit dem Intervall von 254–258 (500–496 vulgär) abfinden. Das ging schlecht, und darum liess er jene Motivierung der ersten Dictatur fallen, aber – und das ist bezeichnend – nicht ganz. Um doch etwas von dem ersten Dictator zu erzählen, berichtet er den Schrecken, den er mit den Zeichen seines summum imperium der Plebs einflösst, die noch gar nichts gethan hat (II 18, 8); bei D., wo die Plebs schon rebellisch geworden ist, ist das ein wesentlicher und motivierter Zug (V 75, 2. 3). Fiel nun aber jener frühere Anfang des Ständekampfes fort, so trat der zweite wieder in seine alten Rechte ein, und Livius war durchaus der Mann dafür, diesen Vorteil gründlich auszunutzen; seine Darstellung wirkt bis heute nach.

Boesch (De XII tabularum lege) hat nachgewiesen, dass die bei D. und Livius vorliegende Tradition von der Gesandtschaft, welche zur Vorbereitung der Zwölftafelgesetzgebung nach Griechenland geschickt wird, erst in den letzten Decennien der Republik aufgekommen sein kann. Ich habe den Nachweis geführt (Notae de Roman. annal., Progr. Gött. 1903), dass ein boshafter Annalist den zufälligen Umstand, dass der Consul des J. 254 (vulgär 500) M’. Tullius heisst, benutzt hat, um Ciceros Consulat zu persiflieren; dass D., der den Spass nicht gemerkt hat, ihn aus einem Annalisten entlehnte, schliesse ich daraus, dass auch Dio (Zonar. VII 13) darauf hereingefallen ist. Ebenso jungen Ursprungs ist die Darstellung der ersten Secession. Bei D. (VI 39ff.) wie bei Livius (II 30. 31) bildet die Dictatur und Abdankung des M. (Livius) oder M’. [952] (D.; über die Discrepanz muss ich mich begnügen, auf Mommsen CIL I² p. 189 zu verweisen) Valerius ein wichtiges Moment in dem Auf und Nieder der Bewegung. Cicero (Brut. 54, wohl aus Atticus liber annalis) und das inschriftliche Elogium (CIL XI 1826 = I² p. 189 = Dessau 50) schreiben diesem Dictator, den wiederum Cicero M., das Elogium M’. nennt, das Verdienst zu, die Plebs in die Stadt zurückgeführt zu haben. Die bei D. und Livius auftretende Degradierung dieser Dictatur zur Resultatlosigkeit ist augenscheinlich eine jüngere Erfindung, die für die bekannte Rolle des Agrippa Menenius Raum schaffen soll. Auch diese braucht man wegen des livianischen prisco illo dicendi et horrido modo (II 32, 2) mit nichten für uralt zu halten, doch trage ich Bedenken, sie zu einer sehr jungen Erfindung zu stempeln; denn jener oben erwähnte gefälschte Sabinersieg des Menenius spricht dafür, dass er wie Sp. Cassius in der Überlieferung zum Volksfreund geworden war. So ist der Gang der Tradition wohl der gewesen, dass zunächst ein Valerius Maximus den Agrippa Menenius verdrängte und dann einen Teil seines frischen Lorbeers an den wieder hervorgezogenen Concurrenten abgeben musste; nimmt man an, was möglich ist, dass im Elogium M’. Valerius nicht als Dictator die Plebs zurückführt, und sieht in Dion. VI 57ff. 71ff. 88 einen Rest dieser Version, so liegen bei D. zwei Umbildungen der Dictatur des M’. Valerius vor. Diese nicht alten und doch schon sehr verwickelten Processe mit bestimmten Annalistennamen zu etikettieren, überlasse ich anderen.

Zwei Merkmale sind für die Annalistik, die hinter D. und Livius steht, besonders charakteristisch. Erstens die rücksichtslose Verfälschung der Überlieferung durch die Manier, die Kämpfe und Debatten der aufgeregten Gegenwart in die geduldige Vergangenheit zu projicieren. Ein bekanntes und berühmtes Beispiel ist die Übermalung des ohne Motive und Detail überlieferten Untergangs des Sp. Cassius (vgl. Mommsen Röm. Forsch. II 153ff.). Das Beispiel ist zugleich instruetiv für die Art, wie diese Übermalungen die Tradition allmählich zersetzen. Die ursprüngliche Erfindung sollte wahrscheinlich den Vorschlag des Drusus. den Italikern das Bürgerrecht zu geben, als ein Streben nach der Tyrannis kennzeichnen und ihn durch die Consequenz ad absurdum führen, dass die Ackergesetze dann nicht mehr der römischen Plebs allein zu gute kämen; für die nichtlatinischen Italiker wurden die Herniker eingesetzt; Latiner und Herniker haben in der Annalistik das vertreten, was man später socii nomenve Latinum nannte (vgl. z. B. Dionys. VIII 83, 4. IX 5, 2. 16, 4. 35, 6. 59, 2. 67. 4. X 15. XI 2; ferner Valerius Antias bei Liv. III 4, 111. Diese Erfindung kümmerte sich weder um das von Sp. Cassius mit den Latinern geschlossene Bündnis, das erst sehr spät, durch die Antiquare, in die Annalen gelangt zu sein scheint (Mommsen Röm. Forsch. II 159), noch um die Nachricht, dass Sp. Cassius in seinem dritten Consulat über die Herniker triumphiert hätte (Dionys. VIII 68f.). Bei D. sind die Versuche namentlich den letzteren Widerspruch auszugleichen, noch sehr kümmerlich ausgefallen (VIII 69, 2. 4. 71, 5. 77, 3); die livianische (II 40. [953] 41) Darstellung beseitigt die ärgsten Anstösse; die Besiegung der Herniker ist ein Jahr zurückgeschoben, und zwei Drittel ihres Landes sollen an Römer und Latiner verteilt werden. Wenn nun freilich diese Behandlung der Herniker für so verdächtig milde erklärt wird, dass daraus geschlossen werden könne, Sp. Cassius habe die Herniker für seine Pläne gewinnen wollen (II 40, 6), so ist das barer Unsinn, auf den nur der verfallen konnte, der die bei D. vorliegende Version II vor Augen hatte.

Ein zweites Beispiel mag noch angeführt werden, weil ich es nirgendwo erwähnt finde. Nach D. (IV 43, 2. 81, 2. V 2, 2) ist das Verbot der collegia compitalicia ein Symptom des regnum, ihre Wiederherstellung ein Zeichen republicanischer Freiheit. Der Senat verbot sie im J. 64, P. Clodius stellte sie während seines Tribunats 58 wieder her (Wissowa Relig. d. Röm. 151f.); damit ist Tendenz und Zeit jener Erfindung klargestellt. Die Möglichkeit, auch das caesarische Verbot heranzuziehen, kann ich nicht bestreiten, verlange dann aber weitere Fälle, in denen bei D. eine Beziehung auf die caesarische Monarchie unleugbar ist. Mir sind keine bekannt. Man könnte ja z. B. nach Plut. Brut. 1 annehmen, dass die Ausführung Dionys. V 18, 1 eine Pointe gegen den Stammbaum des Caesarmörders Brutus enthalte; sie kann aber ebenso gut auf Poseidonios zielen (Plut. a. a. O.), der sicher nicht dem Caesarmörder sondern D. Iunius Brutus Gallaecicus einen patricischen Stammbaum vindicierte. Die Aufgabe ist also die, die Fälle zu sammeln, in welchen eine bewusste und gewollte Protection der Gegenwart in die Vergangenheit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vermutet werden kann. Um der Fragestellung willen ist daher eine Arbeit wie der erste Teil der Volkmarschen Dissertation (De annal. Romanor.) freudig zu begrüssen, wenn auch die Resultate im einzelnen verworfen werden müssen. Das Quellensuchen hat hier, wie fast immer, die Probleme verdunkelt. Statt auf Piso, Antias, Tubero u. s. w. zu raten, sollte man sich die Frage vorlegen, auf welche Weise die Motive des nexum, des Widerstands der Ärmeren gegen den dilectus, der tribunicischen Processe u. a. m. in die Ausmalung des Ständekampfes gelangt sind, die Farben im einzelnen auf ihre Echtheit prüfen, die Analogien des Erzählten mit dem in der Revolutionsepoche Geschehenen und Gewollten so exact wie möglich nachweisen. Eine Schwierigkeit liegt freilich darin, dass die gracchische Revolution, der Bundesgenossenkrieg und der Kampf der Popularen gegen die sullanische Restauration in ihrem Detail – und darauf kommts beim Vergleichen an – nur sehr ungenügend bekannt sind. Um ein Beispiel statt vieler anzuführen, die milde Behandlung Fidenaes, die D. zweimal erzählt (V 43. 60), sieht sehr nach politischer Exemplification aus; man ist in Versuchung, zu vermuten, dass mehr als ein Annalist an diesem Beispiel entwickelte, wie man mit Fregellae hätte verfahren sollen, dessen Abfall und Zerstörung starken Eindruck gemacht hat, wie die Beispiele der Rhetorenschulen (Cic. de inv. I 11. Auct. ad Herenn. IV 22. 37) beweisen. Aber die dürftige Überlieferung macht es unmöglich, diese Vermutung im Detail zu sichern.

[954] Dies ist aber nicht die einzige Schwierigkeit; es liegt ausserdem die Gefahr vor – und mancher ist ihr erlegen – mit der Tendenz falsch und oberflächlich zu operieren. Es wird gemeiniglich zu wenig beachtet, dass die Annalistik der republicanischen Epoche ein Product vornehmer Dilettanten ist; Senatoren, Politiker, nicht Gelehrte und Litteraten, haben im republikanischen Rom Geschichte geschrieben. Die unentbehrliche Technik entlehnten sie, meist roh und ungeschickt, von der hellenistischen Historiographie, die politische Auffassung gaben sie selbst her. Seit der Gracchenzeit kam diese ins Wanken, stärker und stärker wurden die Schwingungen der Parteikämpfe, und die Zügellosigkeit des politischen Geschehens übertrug sich auf die Erfindungen der Geschichtsbücher. Wenn schon im Wirklichen die politischen Meinungen und Standpunkte der Einzelnen viel bunter durcheinandergingen als der grosse Gang der Ereignisse erkennen lässt, so konnten die schriftstellernden Politiker erst recht in die Überlieferung alles das hineintragen, was nach ihrem Credo und ihrer Erfahrung politisch gut nützlich oder das Gegenteil war; es ist thöricht, den Gegensatz der Optimaten und Popularen zu schablonisieren und danach auf Macer oder Antias zu raten, als wenn in der langen Reihe der Annalisten, deren Namen wir zum guten Teil gar nicht einmal kennen, nicht jeder seit der Gracchenzeit zu den Fragen der leges agrariae, der Behandlung der Bundesgenossen, des Provocationsrechts, des Volkstribunats u. s. w. in der einen oder anderen Weise hätte Stellung nehmen müssen. In dem deutlichsten Beispiel dieser Rückspiegelungen, der bei D. erhaltenen Kritik von Ciceros Kampf gegen die Catilinarier, wage ich nicht zu entscheiden, ob ein Optimat oder ein Populare die scharfen Pointen geschliffen hat; und wer zwingt uns, anzunehmen, dass nur die extremen Anschauungen sich zu historischen Erfindungen crystallisiert haben ?

Zugleich und oft im inneren Zusammenhang mit der politisierenden Fälschung wird die von D. und Livius benützte Annalistik charakterisiert durch die Fülle der Wiederholungen, der versuchten und missglückten Ausgleichungen, die sich nicht selten so verschlingen und verwirren, dass die ursprünglichen Fäden des Lügengewebes sich nur mit Mühe oder gar nicht erraten lassen. Zwei Beispiele aus einer grossen Anzahl mögen zum Beweis dafür genügen, dass schon die D. und Livius vorliegenden Annalen complicierte Gebilde waren, in denen verschiedene Schichten über einander lagen.

Was an dem Überfall des Ap. Herdonius, den D. (X 14ff.) und Livius (III 15ff.) erzählen, historisch ist, wird sich kaum jemals feststellen lassen: in der ältesten Überlieferung wird die Verknüpfung mit dem Ständekampf gefehlt und die von Tusculum geleistete Hilfe den Kern der Geschichte gebildet haben. Nun stellen aber D. (X 9ff.) und Livius (III 15), der allerdings die Inconcinnität der im Sande verlaufenden Erzählung besser zu verstecken weiss, in dasselbe Jahr die seltsame Erfindung, dass die Tribunen eine Verschwörung der Patricier, um Kaeso Quinctius zurückzuführen, erdichtet hätten, zu dem Zwecke die gefährlichsten Gegner der terentilischen Rogation zu beseitigen. Es dürfte klar sein, dass diese Erfindung [955] ursprünglich den Überfall des Herdonius ganz beseitigen sollte, und zwar eine Darstellung, welche diesen Überfall zu einer patricischen Verschwörung stempelte (vgl. Liv. III 16, 5). Diese Darstellung ist wiederum durch eine der in der pseudo-pragmatischen Geschichte des Ständekampfes gewöhnlichen Ausmalungen ersetzt und mit jener Erfindung zu einem sonderbaren Monstrum vereinigt, und zwar vor D. und Livius: denn wenn auch Livius die Pseudoverschwörung geschickt zurückdrängt und für den Überfall selbst reichere Farben verwendet, so decken sich doch die Berichte beider in allen Hauptpunkten derart, dass ein gemeinsamer, das Material ungeschickt combinierender Gewährsmann angesetzt werden muss. Ein sehr viel bunteres Durcheinanderschieben successiver Traditionen lässt sich in den Darstellungen der J. 259 (vulgär 495) und 260 constatieren. Vorwegzunehmen ist die Beobachtung, dass der doppelte Volskerkrieg des J. 259 kaum anders zu erklären ist, als dadurch, dass ein einfacherer Kriegsbericht (Dion. VI 25. Liv. II 22, 1. 2) verschmolzen ist mit dem schon oben berührten pompösen Gemälde, das ein sehr begabter Annalist von dem Anfang des Ständekampfes unter dem Consulat des Ap. Claudius componiert hat. Zu jenem einfacheren Kriegsbericht liegt eine doppelte Doublette vor, die erste in dem Aurunkerkrieg, den Livius in die J. 251 (vulgär 503) und 252 an Stelle der von D. (V 44–46. 49) berichteten Sabinersiege des Menenius und Sp. Cassius setzt (II 16. 17, vgl. besonders II 16, 9 mit II 22, 2. Dion. VI 25, 2. 30, 1); die zweite in dem Aurunkerkrieg, den D. (VI 32. 32) und Livius (II26), im einzelnen stark divergierend, zum J. 259 (vulgär 495) erzählen. Ob die Volsker durch die Aurunker, oder die Aurunker durch die Volsker ersetzt sind, kann ich nicht entscheiden; eine bestimmte ethnographische Theorie liegt dem Wechsel sicher zu Grunde. Ferner besteht zwischen dem Aufbau der Ereignisse in den J. 259 und 260 eine solche Gleichartigkeit, dass die Darstellung des einen Jahres das Original, die des anderen die Copie sein muss. 259 melden die Latiner, dass ein Volskerkrieg drohe (Dion. VI 25, 3. 27, 2. Liv. II 22, 4. 24. 1), 260 bitten sie um Hilfe gegen die Aequer (Dionys. VI 34, 4. Liv. II 30, 8); in jenem Jahr wird gegen die Volsker und Sabiner (Dion. VI 29. 31. Liv. II 25. 26|, in diesem gegen die Volsker, Sabiner, und Aequer gekämpft (Dion. VI 42. Liv. II 30. 31 , vgl. das Elogium des M.’ Valerius, CIL I² p. 189), das erstemal wird den Volskern Suessa (Dionys. VI 29. Liv. II 25). das zweitemal Velitrae (Dionys. VI 42, 2. Liv. II 31, 4) abgenommen. Und nicht nur in den Kriegsberichten waltet eine verdächtige Symmetrie: dem volksfreundlichen Consul Servilius, den der Senat chicaniert (Dionys. VI 30; Liv. II 27 hat eine Ausmalung jüngsten Datums, wie schon die zweideutige Rolle zeigt, die er Servilius spielen lässt; sie ist auf die seltsame Dedication des Mercurtempels zugespitzt, vgl. Mommsen St.-R. I 42. II 620), entspricht der vom Senat im Stich gelassene Dictator M.’ Valerius (Dionys. VI 43ff. Liv. II 31, 8ff.). Auch hier treten die Verschmelzungen und Verdoppelungen zum grössten Teil bei beiden Geschichtschreibern auf, können also [956] D.s und Livius eigener Thätigkeit nicht gutgeschrieben werden. Daneben liegen zahlreiche Divergenzen, so dass um die Annahme nicht herum zu kommen ist, dass selbst die complicierte Tradition, die D. und Livius gemeinsam ist, wiederum weitere Entwicklungen durchgemacht hat.

Die Eigentümlichkeiten der Annalistik, auf der D. und Livius weiterbauten, können sich nur so gebildet haben, dass die späteren immer wieder auf mehrere Vorgänger zurückgriffen, von den vorhandenen Bausteinen die einen verwarfen, die anderen neu verwandten, ganz Neues anflickten: Versuche, kritisch einzugreifen, wie sie schon Piso unternommen haben muss (vgl. Dionys. IV 7, 5), machten die Verwirrung nur grösser. Das Bewusstsein von der Mannigfaltigkeit der Überlieferung kann der Annalistik, wenigstens in der sullanischen und ciceronischen Zeit, nicht gefehlt haben, und damit war die Sitte, Varianten anzuführen, gegeben: man konnte um so dreister lügen, wenn man ab und zu andeutete, dass die Autoritäten differierten. D. und Livius haben diese Sitte übernommen, pflegen ihrer freilich in etwas verschiedener Weise. Livius, der die Geschichte vornehmlich als Künstler behandelt, streut kurze Notizen ein, ohne sie einzuarbeiten; er will gewissermassen ab und zu dem Leser einen raschen, nur interessanten, nicht belehrenden Einblick in das Gewoge der Überlieferung geben, aus dem sich seine eigene Darstellung herausgehoben hat (gut urteilt Pais Storia d’Italia I 1, 86). Bei D. sind Citate und Hinweise auf abweichende Überlieferungen seltener, dann aber ausführlicher und oft von breitem Raisonement umkleidet: er bleibt auch hier der pseudo-pragmatische Rhetor, der von historiographischer Kunst, um von historischer oder auch nur vernünftiger Kritik zu schweigen, nicht das mindeste versteht. Während er seine ohnehin nicht schwer zu begreifenden Erwägungen geschwätzig auskramt, pflegt Livius die Controverse nur schwach anzudeuten, wie in der Chronologie der Tarquinierdynastie (Dionys. IV 6. 7. 30. Liv. I 46, 4), oder geht der Schwierigkeit mit stilistischen Kunstgriffen aus dem Wege (I 42, 1 iuvenibus regiis statt filiis), auf die Vergesslichkeit der Leser rechnend (vgl. Dionys. IV 64. Liv. I 34, 3. 57, 6): II 50, 11 entspricht ein bequemes constat D.s umständlichen Auseinandersetzungen (IX 19ff.), II 19, 6 bezeugen die Worte quam quam iam aetate et viribus erat gravior, dass Livius eine ähnliche Kritik gelesen hat, wie die, welche D. gegen Licinius Macer und Gellius richtet (VI 11, 2, vgl. 4, 1), sich aber dadurch den Schlachtroman nicht verderben lassen will, so wie er I 13, 7 Varros sachliches Argument verschweigt und über seine rationalistische Pedanterie (vgl. Dionys. II 47, 4) elegant hinwegschlüpft. Umgekehrt wird man bei D., wenigstens in der Geschichte der Republik, solche scheinbar kritischen Stossseufzer vergeblich suchen, wie sie Livius gelegentlich ausstösst (II 18, 4. 21, 4), um durch ein künstliches und gewolltes Halbdunkel den romantischen Eindruck des Altertümlichen zu erhöhen, und z. B. auch nur anzudeuten, dass über die Zahl der Volkstribunen die Tradition schwankte (Liv. II 33, 1ff. 58, 1ff.), kommt dem Pragmatiker, der die römische Verfassung von Grund aus zu verstehen glaubt, gar nicht in den [957] Sinn. Eines ist aber unter allen Umständen zu beachten: die Variantenangaben sind tralaticisch, und wenn damit auch nicht gesagt sein soll, dass nicht D. und Livius wie ihre Vorgänger an solchen Stellen selbst die Autoren nachschlugen, auch wohl diesen oder jenen Zug oder Namen hinzufügten, so geben doch die Citate für die Analyse nur in besonders günstigen Fällen etwas aus. Nach Dionys. I 80 scheint Tubero das Lupercalienmotiv in den ἀναγμωρισμος des Romulus und Remus eingeführt zu haben: nichts wäre verkehrter, als daraus, dass Livius (I 5) dies Motiv aufgreift, zu schliessen, dass er die Gründungslegende aus Tubero entlehnt hätte. Er hat nur eine Variante in seine Erzählung hineingeleitet, wie man daraus sehen kann, dass bei ihm gemäss seiner Anlage der ganzen Geschichte Räuber, nicht wie bei Tubero Hirten des Numitor, die Lupercalienfeier zum Überfall benützen. Um den vorwiegend tralaticischen Charakter der Varianten zu erweisen, genügen folgende Zusammenstellungen: II 31, 1 Plut. Rom. 14 (über die Motive des Weiberraubs); II 38, 3 Liv. I 11, 8. 9 (über Tarpeia); II 76, 5 Plut. Numa 21 (über Numas Nachkommen); III 61, 2 Liv. I 8, 3 (über den Ursprung der Lictoren; es ist bezeichnend, dass sowohl D. wie Livius sich persönlich für die vermittelnde Ansicht erklären); VIII 79 Liv. II 41, 10 (über Sp. Cassius, vgl. Mommsen Röm. Forsch. II 174ff.; beide entscheiden sich für die gleiche Version); XI 62 Liv. IV 7, 10–12 (über die Magistrate des Stadtjahres 310, s. o:); XII 10 = Liv. V 13, 7. 8.

Nicht einzelne, durch die Analyse wiederzugewinnende schriftstellernde Individuen stecken in den Werken des D. und Livius verborgen, sondern die von der decadenten Republik erzeugte Annalistik, in welcher das Individuelle von dem mos maiorum, dem Standesgefühl, der Parteipolitik ebenso niedergehalten wurde, wie in der wirklichen Geschichte. Diese Beobachtung erklärt, weshalb es sich bis jetzt immer gerächt hat, wenn D. und Livius in der historischen oder litterargeschichtlichen Betrachtung gesondert wurden, warum es ferner nicht geglückt ist und nicht glücken kann, ihre Werke an einzelne Gewährsmänner zu verteilen, wie etwa Diodors Bibliothek oder Strabons Geographie. Aber auch die Annalistik, welche ein Spiegelbild der Revolution war und sein wollte, liegt bei beiden mit nichten rein und unmittelbar vor, sondern sie ist von Missverständnissen und Irrtümern abgesehen, modificiert durch die geistigen Strömungen der augusteischen Epoche, und wenn man sich auch hüten muss, den persönlichen Anteil, den der Grieche und der Paduaner an der Modifikation des stadtrömischen Gewächses gehabt haben, zu unterschätzen, so sind sie doch keinenfalls allein für sie verantwortlich zu machen, sondern müssen schon Vorgänger gehabt haben. Freilich wirkt im Eigenen wie im Übernommenen der neue Geist bei beiden nicht ganz nach derselben Seite hin. Bei Livius drängt sich das Nationalgefühl des Imperium Romanum mächtig voran und drückt den in seinen republicanischen Vorlagen sich breit machenden Parteihader zu einem die Erzählung belebenden dramatischen Motiv herab. In dem romantischen Schimmer, der über seiner [958] Erzählung von den Anfängen und der Königszeit liegt, verrät sich der Einfluss der gegenwärtigen und unmittelbar vorhergegangenen Poesie, die es den griechischen Dichtern abgelauscht hatte, wie man vom ,Altertum’ erzählen soll: erst diese Zeit z. B. hat es fertig gebracht, an Stelle der sabinischen Weiber, die in feierlicher Gesandschaft zu Titus Tatius gehen (so noch Dionys. II 45ff., auf dessen Seite die gesamte ältere Tradition steht, Gell. frg. 15. Varro bei Dionys. II 47, 4. Cic. de rep. II 13), das anmutige Bild der Frauen, die sich zwischen die Kämpfenden werfen, zu setzen (Liv. I 13. Plut. Rom. 19 u. a. m.). Das künstlerische Vermögen dieser Zeiten, über das nur die Oberflächlichkeit absprechende Urteile fällt, darf nicht zu einer Überschätzung des Stofflichen verführen; wer das ,alte Rom’ des Livius bewundert, weil er es für alt hält, der thue desgleichen mit dem Rom des Vergil und Properz I oder mit dem ,alten’ Griechenland des Kallimachos: so wenig Geschmack ich im übrigen Pais (Storia d’Italia I 1.2) Behandlung der Tradition abgewinnen kann, Livius hat er richtiger eingeschätzt als die meisten deutschen Kritiker. Was bei Livius wirklich alt ist, wie die ab und zu angeführten Formeln (z. B. Liv. I 24. 26. 32), das ist durch die Antiquare in die Annalistik gekommen, die der Romantik der Augusteer reiches Material geliefert haben, wie diese umgekehrt Varros ungefüge und oft geschmacklose Gelehrsamkeit erst flüssig und geniessbar gemacht hat.

D. ist aller Poesie bar und denkt nicht daran, den vorliegenden Stoff künstlerisch zu verwerten. So tritt bei ihm der tendenziös-politische Charakter, das raisonnierende Element der jüngeren republicanischen Annalistik bestimmter hervor als bei Livius; D. versteht es ausserdem nicht, die dilettantische Erzählungstechnik, welche schon Cicero den römischen Geschichtschreibern vorwarf, zu korrigieren, im Gegenteil, seine philisterhafte, abstracte, unplastische Allerweltsweisheit hat sie noch verschlechtert. So sehr er aber seine Vorlagen verdorben hat, in ihrem Wesen hat er sie nicht so umgestaltet, wie Livius, und es dürfte sich eher aus ihm als aus diesem eine annähernde Vorstellung von der Annalistik der Revolutionszeit gewinnen lassen. Er war freilich lange genug im augusteischen Rom, um von den Forschungen und der Bedeutung Varros zu hören, so dass er es für nötig hielt, die libri Antiquitatum gelegentlich (I 14. 15. II 21, 2. 47, 4, wovon 30, 6 nicht getrennt werden kann. 48. IV 62) zu Rate zu ziehen, besonders in den Partien, in denen schon die Annalistik antiquarischen Charakter angenommen hatte. Aber tief geht das nicht; man braucht nur Plutarch, der von antiquarischen Notizen wimmelt, mit ihm zusammenzuhalten, um zu sehen, dass der classicistische Rhetor der römischen Realphilologie wenig Geschmack abgewonnen hat. Sie war dem Puristen schon aus formalen Gründen unbequem: lehrreich ist die Bemerkung II 50, 3 καὶ ἄλλοις θεοῖς ὧν χαλεπὸν ἐξειπεῖν Ἑλλάδι γλώττηι τὰ ὀνόματα. Der eigentümliche Erdgeruch, den die Forschung Varros für die Römer hatte, dessen Zauber auch Cicero empfand (acad. post. I 9), wirkte auf den pedantischen Graeculus nicht, dagegen begriff er, dass in dem römisch-griechischen Weltreich es nützlich [959] und vorteilhaft sei, gegenüber illoyaler Opposition das Lob der Römer als der echten Vertreter des Hellenismus zu singen. Er wendet sich direkt gegen eine, wie er behauptet, bei den Hellenen weitverbreitete Anschauung, nach der die Römer ein zusammengelaufenes Barbarengesindel seien; ihre Erfolge verdankten sie der blind waltenden Tyche, die den Besitz der Hellenen an diejenigen Barbaren gebracht habe, die es am allerwenigsten verdienten (I 4, rückverweisend I 89, 1 VII 70, 1; über die Tyche vgl. noch II 17, 8). Dass er eine bestimmte Persönlichkeit und zwar einen Historiker im Auge hat, verrät der Schluss des Angriffs (I 4, 4): ὅπου γε καὶ τῶν συγγραφέων τινὲς ἐτόλμησαν ἐν ταῖς ἱστορίαις ταῦτα γράψαντες καταλιπεῖν, βασιλεῦσι βαρβάροις μισοῦσι τὴν ἡγεμονίαν, οἷς δουλεύοντες αὐτοὶ καὶ τὰ καθ’ ἡδονὰς ὁμιλοῦντες διετέλεσαν, οὔτε δικαίας οὔτε ἀληθεῖς ἱστορίας χαριζόμενοι In irgend einer Weise hängt dieser antirömische Historiker mit den von Livius (IX 18, 6) angegriffenen levissimi ex Graecis zusammen, wenn er nicht mit diesen oder richtiger diesem identisch ist, vgl. darüber Bd. IV S. 1888ff.; für die sensationell hellenisierende Tendenz des Trogus, der ja auch in den Partherkönigen die Nachfolger der Diadochen sieht, ist es bezeichnend, dass er dieselben Angriffe gegen die Römer, wie sie D. erwähnt, den Aitolern und Mithridat in den Mund legt (XXVIII 2, 8ff. XXXVIII 7, 1). Eine scharfe Spitze erhalten diese Entladungen hellenistischer Antipathie gegen die Römer in der späten und schlechten Erfindung von dem durch Romulus gestifteten Asyl: D. hält es für nötig, sie umzubilden (II 13), während Livius sie aufnimmt, aber einen scharfen Hieb gegen die attische Autochthonie zusetzt (I 8, 5 vetere consilio condentium urbes, qui obscuram atque humilem conciendo ad se multitudinem natam e terra sibi prolem ementiebantur). Eine tendenziöse Umdichtung steht bei Plutarch Rom. 1: da sind aus den heimatlosen Flüchtlingen umherschweifende Pelasger (vgl. Herod. I 56) geworden. Der Hauptzweck der Erfindung des Asyls war, den Römern jedes Götter- und Heroenblut abzusprechen, sie zu einer geschichtslosen Bande zu degradieren: neben dem nationalen Hass wirkte mit das griechische Erstaunen über das römische Princip, nach dem Freilassung und Aufnahme in die Bürgerschaft zusammenfallen. Es ist daher nicht zufällig, sondern ein integrierender Bestandteil der Polemik, welche D. gegen jenen antirömischen Historiker führt, wenn er nicht nur dem König Ser. Tullius eine Rede zu Gunsten jenes Princips in den Mund legt (IV 23), sondern darnach selbst das Wort ergreift und auseinandersetzt, dass das Princip zwar durch die jetzigen Missstände arg discreditiert, aber darum nicht an und für sich verwerflich sei. Wem die Auseinandersetzung gilt, sagt er deutlich am Schluss (IV 24, 8): ταῦτα μὲν οὐν τῆς ὑποθέσεως ἀπαιτούσης ἀναγκαῖόν τε καὶ δίκαιον ἔδοξεν εἶναί μοι πρὸς τοὺς ἐπιτιμῶντας τοῖς Ῥωμαίων ἔθεσιν εἰπεῖν. Eine gewisse Kenntnis der römischen Institutionen hat jener Schriftsteller gehabt: die Etymologie von patricius, die er in antirömischem Sinne verwertet (Dionys. II 8, 3, vgl. Liv. X 8, 10. Plut. Rom. 13, der hier schwerlich aus D. schöpft), ist die richtige, und was an derselben Stelle D. [960] aus ihm über einen alten Unterschied zwischen Patriciern und Plebeiern anführt, ist zwar eine unklare Reminiscenz an die comitia calata curiata und centuriata (Gell. XV 27), aber mindestens nicht schlechter als D.s Wiederlegung, der den Hauptirrtum, dass die comitia calata curiata auf die Patricier beschränkt werden, nicht gesehen hat. Der apologetisch-panegyrische Standpunkt, oder wie D selbst sagt ἡ διάθεσις ἡ πρὸς τὰ πράγματα περὶ ὧν γράφει (ep. ad Pomp. 3, 15), beherrscht im letzten Grunde seinen ganzen Pragmatismus: die römische Geschichte dient dem Ruhm der Hellenen und ist zugleich das beste παράδειγμα für die Allerweltsweisheit, die er nach Isokrates Vorgang φιλοσοφία nennt (I 2ff. V 56. XI 1). Daneben führt er aber auch in einzelnen Excursen, über Romulus Ordnungen (II 7ff. 14. 17ff. 22. 24ff. 28), über die Dictatur (V 74), über die zwölf Tafeln (XI 44, verloren), über die Erteilung des Bürgerrechts an die Tusculaner (XIV 8ff.), über die römische Censur (XX 13), aus, dass die römischen Institutionen den hellenistischen sei es verwandt, sei es vorzuziehen seien. Das passte zu den hellenisierenden Tendenzen der ältesten Annalistik, und in diesem Zusammenhang hat D. die Beschreibung der Ludi Romani, welche einst Fabius Pictor für das hellenische Publicum geschrieben hatte, aufgenommen (VII 70ff.) und seinerseits mit hellenischen Parallelen glossiert. Endlich dient lediglich diesem apologetisch-panegyrischen Zweck das erste Buch; die Vorgeschichte soll den Beweis liefern, dass die Römer echte Hellenen sind (vgl. I 89. VII 70). Die Elemente der römischen Nation, die Aboriginer, Pelasger, Arkader, Peloponnesier, Troer sind, wie umständlich bewiesen wird, sämtlich Hellenen oder hellenischen Ursprungs. Das ist eine Theorie, welche Ideen ausführt, die in der älteren Annalistik, bei Cato und Tuditanus, angedeutet waren (vgl. I 11, 1); varronisch ist sie durchaus nicht, das muss der im übrigen flüchtigen und gedankenarmen Arbeit von Jacobson (D. Verhältnis d. D. v. Halik. zu Varro in der Vorgeschichte Roms, Jahresber. d. Drei-Königs-Schule z. Dresden-Neustadt 1895) zugegeben werden. Nach D. (I 11ff.) sind die Aboriginer arkadische Oinotrer und die ersten Hellenen, die nach Italien kommen, auf sie folgen die Pelasger. Varro machte Oinotros zum König der Sabiner (Serv. Aen. I 532) und erklärte die Pelasger für die ersten griechischen Einwanderer (Isid. orig. IX 2, 74); ihm waren die Aboriginer Italiker, und das grosse Excerpt aus ihm (I 14. 15) ist in einen nicht varronischen Zusammenhang hineingestellt. Ebenso ist zwar nicht zu bezweifeln, dass I 18, 2. 19, 2. 3 Varro (vgl. Macrob. I 7, 28ff. Plin. n. h. III 109. Varro de l. l. V 53) zu Grunde liegt, aber auch hier ist varronisches Gut mit anderem von D. verquickt. Er zieht die Pelasger des Hellanikos heran, welche nichts anderes sind als mythische Etrusker, combiniert Hellanikos Speculationen über die zu Etruskern gewordenen Pelasger (I 18, 3. 20, 4. 28, 3) mit denen des Myrtilos (123. 24. 28, 4) über die zu Pelasgern gewordenen Tyrrhener und rührt in diesen schon sehr missratenen Brei die varronischen Pelasger hinein, bei denen Varro selbst gar nicht an die Etrusker gedacht hatte; sie kommen bei ihm nicht über Umbrien, sondern aus Latium, wo sie [961] auf der Fahrt von Griechenland gelandet sind (Isid. orig. IX 2, 74. Macrob. I 7, 28), nach dem ,Nabel Italiens’ in die Feldmark von Reate. Was D. von Euandros und Herakles erzählt, ist im Detail mit den Resten Varros nicht zusammenzubringen (vgl. I 40, 1 mit Macrob. III 12, 3. Serv. Aen. VIII 276; I 40, 2 mit Macrob. III 6, 17; I 43, 1 mit Serv. Aen. VIII 51. Varro de l. l. V 53). I 55, 4 steht neben der varronischen Sagenconstruction die des Demetrios von Skepsis und Alexander Polyhistor (Maass Herm. XVIII 321ff.), und wenn auch Wissowa (Herm. XXII 40ff.) nachgewiesen hat, dass D. Varros Penatenhypothese wiedergiebt, so hat doch er selbst schon beobachtet, dass der Anschluss kein unbedingter und vollständiger ist. Es ist überall dasselbe Verhältnis; die sagengeschichtlichen Constructionen des D. setzen Varros Forschungen voraus, arbeiten, zum grossen Teil wenigstens, mit seinem Material, aber sie sind nicht eine einfache Wiedergabe des grossen römischen Antiquars, sondern geringwertige Neubildungen, für welche D. selbst verantwortlich zu machen ist.

Nach den Angaben des Photios (Cod. 84) hat D. selbst eine kürzere Ausgabe des grossen Werks in fünf Büchern hergestellt. Photios las diese σύνοψις noch, und es liegt kein Grund vor, seinem Bericht zu misstrauen; fraglich ist aber, ob sie identisch war mit der Epitome, von der Stephanos von Byzanz zweimal (s. Ἀπίκεια. Κορίολλα) das 6. Buch citiert. Da das zweite Citat sich auf VI 92 beziehen muss, das erste sich auf VI 32 beziehen kann, ist in diesem Auszug die Buchzählung des Originals beibehalten.

Über die älteren Ausgaben, die Controversen über die Recensio, die Auffindung neuer Bruchstücke orientieren ausgiebig die Jahresberichte von C. Jacoby (Philol. XXXVI. XXXVII), Schenkl (Bursians Jahresber. XXXIV 199ff.) und Krebs (ebd. LXXIX 41ff.). Buch I—IX-sind in der neuen Teubneriana von C. Jacoby gut recensiert, für X, XI und die Fragmente ist man einstweilen noch auf die Kiesslingsche Teubneriana und die Didotiana von Prou angewiesen. Die ersten 10 Bücher (die Zeit bis 304 d. St. = 450 vulgär umfassend) sind im wesentlichen durch zwei alte, nah verwandte und sich ergänzende Handschriften, den Chisianus 58 und den Urbinas 105, erhalten: das XI., durch grosse Lücken verstümmelte Buch liegt nur in einigen Handschriften des 15. Jhdts. vor. Die zweite Dekade, XI—XX, ist verloren; ausser constantinischen Excerpten bieten, von diesen gänzlich unabhängige, den Wortlaut des Originals weniger streng wahrende Auszüge im Ambros. Q. 13 sup., einer jungen Handschrift, die A. Mai fand und veröffentlichte, einen gewissen Ersatz. Die wenigen Citate bei Stephanos von Byzanz reichen nicht aus, um den Umfang der einzelnen Bücher sicher abzugrenzen: die Einteilung in den Ausgaben ist fictiv.

II. Über die rhetorischen Schriften des D. orientieren F. Blass De Dionysii Halicarnassensis scriptis rhetoricis, Diss. phil. Bonn 1863 und W. Rhys Roberts Dionysius of Halicarnassus, The three literary Letters, Cambridge 1901, 4—34, jetzt auch Max. Egger Denys d’Halicarnasse, Essai sur la critique littéraire et [962] la rhétorique chez les Grecs au siècle d’Auguste, Paris 1902. Die Zeitfolge hat nach dem Vorgang von Blass H. Rabe festzulegen versucht (Rh. Mus. XLVIII 147—151). Ich folge ihm in der Behandlung der einzelnen Schriften, von denen übrigens keine vor das J. 30 n.Chr. fällt (Usener-Radermacher Praef. XXXV).

Der erste Brief an Ammaios, jedenfalls vor περὶ ἀρχαίων geschrieben (Rabe 147), veranlasst durch die Behauptung eines ungenannten Zeitgenossen, dass Demosthenes die Redekunst von Aristoteles gelernt habe, zeigt auf Grund genauer chronologischer Fixierung des Lebens und der Schriftstellerei der beiden Männer und aus eigenen Angaben des Aristoteles, dass dessen Rhetorik erst nach den wichtigsten Staatsreden des Demosthenes erschienen sein müsse. Quelle für die Angaben aus der Zeitgeschichte ist Philochoros, der mehrfach citiert wird. Dass der βίος des Aristoteles aus Apollodor’s Chronik stammt, bemerkte Diels (Rh. Mus. XXXI 43). Das Geburtsjahr des Demosthenes wird nach Olympiaden bezeichnet, während die Reden nach Archonten festgelegt sind; also sind hier zwei Quellen contaminiert. Wichtig ist die Schrift auch wegen ihrer Anführungen aus der aristotelischen Rhetorik (H. Sauppe Bedeutung der Anführungen aus A. Rhetorik bei D. von H. für die Kritik des Aristoteles, Göttingen 1863). Sonderausgabe mit kurzem Commentar von H. Weil, Paris 1879.

Verloren und vielfach übersehen oder missverstanden ist die Schrift ὑπὲρ τῆς πολιτικῆς φιλοσοφίας πρὸς τοὺς κατατρέχοντας αὐτῆς ἀδίκως, die de Thuc. p. 814 R. erwähnt wird. Sie war die einzige Streitschrift, die D. nach eigenem Zeugnis bis dahin verfasst hatte, und im Tone sehr kräftig ausgefallen, wie die Andeutungen a. a. O. und der Vergleich mit dem Ammaiosbrief, den D. als polemisches Stück offenbar überhaupt nicht einschätzt, schliessen lassen. Dass mit der πολιτικὴ φιλοσοφία die Rhetorik gemeint sein muss, kann kein Zweifel sein (Blass a. a. O. 22. Radermacher Rh. Mus. LII 21, 1). Dadurch bestimmt sich die Stellung der Schrift als einer von den vielen, die im Streit der Rhetoren und Philosophen (v. Arnim Das Leben und die Werke des Dion von Prusa, Einleitung) verfasst worden sind. Wohl möglich ist, dass unter den κατατρέχοντες auch der in Rom sehr angesehene Philodemos gesucht werden darf (Usener a. O. XXXV), einmal weil er älterer Zeitgenosse des D. war, und zweitens weil er gerade in einem dickleibigen Werke vom Standpunkt der epikureischen Philosophie aus die Rhetorik abzuthun versucht hatte. Blass hat (23) auf diese Schrift eine bei Diog. Laert. X 4 erhaltene Notiz bezogen, nach der D. von Halikarnass eine Reihe von Skandalgeschichten über Epikur verbreitet hat; das würde in den angenommenen Zusammenhang vortrefflich passen. Denn auch der Hieb am Schluss von de comp. verb. 24: Ἐπικουρείων δὲ χορόν, οἷς οὐδὲν μέλει τούτων, παραιτούμεθα, an den sich sofort ein Ausfall gegen Epikur selbst anschliesst, wird am natürlichsten auf Philodemos und dessen Kreis bezogen; Polemik des Philodem gegen die rhetorische Lehre von der Wortfügung liegt uns ja jetzt authentisch vor (Rhet. I p. 162 Sudh.). Wenn wir nun diese [963] Verteidigungsschrift des D. und den ersten Ammaiosbrief als seine ältesten erreichbaren rhetorischen Erzeugnisse auffassen, so ist das rein subjectives Empfinden; aber beide gehören als Tendenzwerke offenbar zusammen, beide treten für die Rhetorik ein und wenden sich gegen Philosophen; sie mögen den Zweck gehabt haben, in den massgebenden Kreisen einen jungen Mann, der eben nach Rom gekommen war, als gesinnungstüchtig zu empfehlen.

Vor περὶ ἀρχαίων β’ liegt jedenfalls περὶ συνθέσεως ὀνομάτων (ὑπομνηματισμοί) de Dem. c. 49), dem jungen Melitius Rufus zum Geburtstag gewidmet (Minucius Rufus emendierte Sylburg, Rufus Petilius Weismann; vgl. Blass 8). Diese umfangreichste Abhandlung des D. behandelt ausführlich die Theorie der Wortfügung und versucht für sie eine Dreiteilung in αὐστηρά, γλαφυρά (oder ἀμθηρά) und κοινή (oder μέση) σύνθεσις durchzuführen. Jede der drei Arten erläutert sie durch ausgewählte Beispiele aus Poesie und Prosa; sie giebt nebenbei eine Fülle von trefflichen Notizen über antike Grammatik, Metrik und Musik. So ist sie für uns unter den erhaltenen Schriften weitaus die wichtigste. Die Dreiteilung der Wortfügung hat Rabe (De Theophrasti περὶ λέξεως libris, Diss. Bonn 1890) auf Theophrast zurückführen wollen; zweifellos ist die Bevorzugung der μέση peripatetisch, und hier (c. 24) beruft sich D. auch ausdrücklich auf Aristoteles, allerdings in allgemeiner Wendung. Andere, so zuletzt Ammon (Bl. für d. Bayr. Gymn. 1898, 731) haben D. als Erfinder der Drittelung angenommen. Thatsache ist, dass die drei Arten der σύνθεσις sich mit den drei Arten der λέξις, wie sie Theophrast bestimmte, nicht decken; die αὐστηρά mag dem αὐστηρὸς χαρακτὴρ, die κοινή) allenfalls dem μέσος entsprechen, aber die γλαφυρὰ ἢ ἀνθηρά entspricht nicht dem ἰσχνὸς λόγος, der überhaupt keine σύνθεσις hat. Andrerseits lehren uns heute die Reste der philodemischen Poetik (Gomperz Philodem und die ästh. Schriften der herc. Bibliothek 43ff.), dass in der Theorie der Dichtkunst längst die drei Arten der Wortfügung bekannt waren. Ob sich die Poetik hierbei im Schlepptau der Rhetorik befand (Radermacher Rh. Mus. LIV 368), ist nicht mit Sicherheit auszumachen; jedenfalls ergiebt sich, dass die Dreiteilung vor D. vorhanden war. Wir werden sie peripatetisch nennen, auch wenn sich nicht erweisen lässt, dass gerade Theophrast ihr Erfinder ist. Es muss als Möglichkeit gelten bleiben, dass D. die in der Poetik anerkannte Lehre zuerst auch auf die Prosa ausgedehnt hat; Beispiele aus Homer, Sappho, Simonides gehen ja bei ihm den prosaischen überall parallel. Die Schrift ist anscheinend in doppelter Recension erhalten, wie so manche Prosaschrift des Altertums (s. v. Wilamowitz S.-Ber. Akad. Berl. 1901, 13 [14]); die eine ist durch den Parisiensis 1741, die andere durch den Laurentianus plutei LIX cod. XV vertreten. Genaues wird hierüber erst die kritische Ausgabe von Usener bringen. Eine Epitome gab aus deutschen Hss. F. Hanow (Leipzig 1868) heraus. Sonderausgaben von G. H. Schäfer, Leipzig 1808. F. Goeller, Jena 1815.

De oratoribus antiquis (περὶ τῶν ἀρχαίων ῥητόρων, so auch citiert ad Ammaeum 2 [964] p. 789R., περὶ τῶν Ἀττικῶν ῥητορῶν ep. ad Pomp. I p. 758R., vgl. Blass 10. Rabe 148) ist dem Ammaios gewidmet. Die Einleitung hat Bedeutung für die Geschichte des Atticismus. Erhalten ist nur der erste Teil, Lysias, Isokrates, Isaios umfassend, und von der zweiten Hälfte die Schrift über den Stil des Demosthenes, während die über den πραγματικὸς χαρακτήρ des Demosthenes, die über Hypereides und Aischines verloren gegangen ist, wenn sie überhaupt je völlig ausgearbeitet wurde (Blass a. a. O. 12. v. Wilamowitz Herm. XXXIV 626ff. vgl. u.). Die Charakteristiken sind schematisch angelegt; sie beginnen mit kurzen Biographien, die nach älteren Quellen gemacht (darüber jetzt zusammenfassend Leo Die antike Biographie 32), durchweg nichts Neues geben und meist auffallend mit Plutarch stimmen, ohne dessen Quelle zu sein; dann folgt eine Darlegung der stilistischen Vorzüge, wofür Theophrast περὶ λέξεως mehrfach citiert, im wesentlichen die Grundlage liefert (Rabe De Theophrasti περὶ λέξεως libris. Radermacher Rh. Mus. LIV 374ff.), sowie des πραγματικὸς τύπος. Hier sind die Isokrateer Ausgangspunkt (vgl. Ammon De Dionysii Hal. in scr. rhet. fontibus 69), vνεώτεροι τεχνογράφοι im Isaios c. 14. Am Schluss erscheinen Belege; so ist uns im Lysias beinahe die ganze Rede gegen Diogeiton, ein grosses Stück des Ὀλυμπικός und eines συμβουλευτικός, im Isaios, abgesehen von anderem, die Rede für Euphiletos allein überliefert. Im Isokrates stehen Urteile der Älteren über diesen Mann, die litterarhistorisch bedeutsam sind (Berührung mit Philodem. rhet. I 198 Sudh. in c. 13). Diese Schrift ist mit besonderer Liebe ausgearbeitet; sie gipfelt in einer Verherrlichung des Ethos der Isokratesreden, während die Diction manchen Tadel erfährt. Die Schrift über Isaios gestaltet sich zu einem Vergleich zwischen ihm und Lysias, der durch zahlreiche Beispiele belebt wird. Am Ende (c. 19f.) kommt dann eine Rechtfertigung, weshalb nur diese und keine anderen Redner behandelt sind; sie giebt eine trotz ihrer Kürze wertvolle Charakteristik der attischen Beredsamkeit. Wertvoll ist sie allein darum, weil sie zeigt, wie viel Material D. noch in Händen hatte; es dürften damals doch wohl noch mehr als zehn attische Redner vorgelegen haben (vgl. de Thucyd. c. 51), eine Annahme, für die übrigens auch noch manche andere Gründe sprechen.

Die Schrift über Demosthenes, die früher in den Ausgaben für sich gestellt war und (nach p. 1129 R.) περὶ τῆς λεκτικῆς Δημοστθένους δεινότητος überschrieben wurde (περὶ τῆς Δ. λέξεως die Hss.), hat nach ep. ad Pomp. p. 758 R. als Anfang des zweiten Buches περὶ τῶν ἀρχαίων ῥητορῶν zu gelten; die verstümmelte Einleitung, die im 5. Jhdt. n. Chr. noch vollständig vorhanden war (Usener Praefat. p. XIIIl, lässt sich aus dem Hermogenescommentar des Syrian wenigstens in einem wichtigen Teile ergänzen. Die Abhandlung ist mit ausführlicher theoretischer Begründung breit angelegt, beginnt mit einer durch ihre Beispiele wertvollen Charakteristik der drei Stilarten und verfolgt ihren Zweck, den Demosthenes als grössten Darstellungskünstler und Meister in allen Stilen zu erweisen, unter beständigen Vergleichungen mit den übrigen Grossen [965] der Zeit, namentlich Platon und Isokrates. Quelle für die theoretischen Anschauungen ist auch hier im wesentlichen Theophrastos (vgl. c. 3), dessen dreiteilige Stillehre D. übernommen hat; im zweiten Hauptteil, der von der Wortfügung handelt, finden sich zahlreiche Beziehungen zu de compositione verborum. Namentlich das Urteil über Platon, das D. klugerweise hauptsächlich auf den Menexenos gründet, ist einseitig und ungerecht. Aber die zahlreichen polemischen Beziehungen, die das ganze Buch durchziehen und zumal am Schluss kräftig hervortreten, zeigen, dass gegen Überschätzung und Geringschätzung des Demosthenes zu streiten war, und dass die Gegner in ihren Angriffen gleichfalls nicht gerade objectiv verfuhren (zu p. 1125 R. vgl. Philodem. rhet. XI² fol. 109 frg. 17 Sudh. II). Dies ist immerhin eine gewisse Entschuldigung für die Einseitigkeit des D., der für seine Überzeugung mit allen Kräften eintritt.  ! Dass das zweite Buch περὶ ἀρχαίων vollständig ausgearbeitet wurde, lässt sich aus der Einleitung zum Deinarchos nicht mit Sicherheit erschliessen. Die Schrift über Demosthenes, an sich schon ungefähr so lang wie die drei Abhandlungen des ersten Buches, zersprengt jedenfalls den alten Rahmen, indem sie einseitig die stilistischen Vorzüge des Redners behandelt. Dann heisst es zum Schluss: ἐὰν δὲ σῷηῃ τὸ δαιμόνιον ἡμᾶς, καὶ περὶ τῆς πραγματικῆς αῦτοῦ δεινότητος ἔτι μείζονος ἢ τοῦδε καὶ θαυμαστοτέρου θεωρήματος ἐν τοῖς ἑξῆς γραφησομένοις ἀποδώσομέν σοι τὸν λόγον Daraus folgt, dass der uns erhaltene Demosthenes als ein fertiges Stück gedacht worden ist und ohne Fortsetzung veröffentlicht wurde. Hierzu treten zwei weitere Zeugnisse, einmal die Bemerkung ad Amm. II 1. 788, 1: ἐγὼ μεν ὑπελάμβανον ἀρκούντως δεδηλωκέναι τὸν Θουκυδίδου χαρακτῆρα ... πρότερον μὲν ἐν τοῖς περὶ τῶν ἀρχαίων ῥητόρων πρὸς τὸ σὸν ὄνομα συνταχθεῖσινὑπομνηματισμοῖς, ὀλίγοις δὲ δὴ πρόσθεν χρόνοις ἐν τῂ περὶ αὐτοῦ τοῦ το Θουκυδίδου κατσσκευασθείσῃ γραφῇ προσειπὼν τὸν Αἴλιον Τουβέρωνα. Folglich ist de Thucydide nach de Demosthene geschrieben, in dessen Anfang die Charakteristik des Thukydides steht. Nun liest man weiter in de Thucydide selbst wieder die Worte, D. habe sich an diese Abhandlung gesetzt (p. 811 R.) ἀναβαλόμενος τὴν περὶ Δημοσθένους πραγματείαν, ὣν εἶχον ἐν χερσίν. Auf eine dritte Schrift über Demosthenes, von der gleich die Rede sein wird, können sie sich nicht beziehen, denn diese war fertig, als D. περὶ τῆς Δημοσθένους λέξεως schrieb (vgl. c. 57 dieses Werkes). Er behauptet de Thucydide, an einer Abhandlung περὶ Δημοσθένους zu arbeiten (); das kann wiederum die uns erhaltene schon deshalb nicht sein, weil aus den oben angeführten Worten des zweiten Ammaiosbriefs geschlossen werden muss, dass zwischen ihr und de Thucydide ein ziemlicher Zeitabstand bestanden hat (πρότερον μὲν – ὀλίγοις δὲ πρόσθεν χρόνοις)). So bleibt doch als der natürlichste Schluss der, dass D. mit der Andeutung in de Thucydide die versprochene Schrift περὶ τῆς πραγματικῆς Δημοσθένους δεινότητος gemeint hat; indem er sich ihr zuwandte, nahm er die unterbrochene Arbeit an περὶ ἀρχαίων β’ wieder auf. Natürlich folgt daraus nicht, dass er sie je fertig [966] gestellt hat, noch weniger, dass der Aischines und Hypereides erschienen ist. Aber nun besitzen wir doch Bruchstücke einer ins einzelne gehenden Beurteilung des Aischines (Usener-Radermacher ed. p. 254); diese kann schwerlich anderswo als in περὶ ἀρχαίων β’ gestanden haben (doch vgl. v. Wilamowitz a. O.) das erhaltene iudicium de Isaco beweist, dass D. sehr wohl in dieser Art sich auf Details einlassen konnte. Dann hätten wir den nicht erhaltenen Rest von περὶ ἀρχαίων nach de Thucydide anzusetzen. Die dritte Schrift über Demosthenes, die zuerst Ranke (Epistula ad Adolphum Ziemannum p. IV, vgl. Blass 12ff.) nach Andeutungen des D. abschied, befasste sich nach Art des Deinarchos mit der Echtheitskritik der Demosthenesreden. Die wenigen erhaltenen Bruchstücke stehen in der Ausgabe von Usener-Radermacher p. 290ff. (dazu v. Wilamowitz Herm. XXXIV 627). Ähnliche kritische Untersuchungen über Andokides, Lysias, Isokrates, Isaios sind uns zum Teil von D. selbst bezeugt, aber nur in geringen Spuren erhalten (Blass 15ff. Usener-Radermacher 283ff. Rössler Dionysii Hal. scriptorum rhetoricorum fragmenta, Lips. 1873).

Die Schrift über Deinarchos (περὶ Δεινάρχου hsl. Titel) ist eine im Anschluss an περὶ ἀρχαίων ῥητόρων gemachte Untersuchung über das Leben und den rednerischen Charakter des Mannes; angehängt ist ein am Schluss verstümmelter kritischer Katalog der echten und unechten Reden, dem die alexandrinischen und pergamenischen Verzeichnisse zu Grunde liegen. Veranlasst ist diese Schrift einesteils durch den Umstand, dass sich eine Gemeinde von Verehrern des Deinarchos gebildet hatte (c. 1), andernteils dadurch, dass über sein Leben und seine Thätigkeit als Redner nichts Genaues bekannt war, sodass die Angaben über die Zahl seiner erhaltenen Reden zwischen 1 und mehr als 160 schwankten (vgl. ebd.). Eine Biographie zu schreiben wird D. durch den Fund der Proxenosrede in stand gesetzt, in der der Redner selbst sich über seine Lebensverhältnisse ausspricht. Aber die Charakteristik des Deinarchos als Redner gelingt nicht recht; er erscheint vielmehr wie ein Proteus, der alle Stile beherrscht (c. 6). In Echtheitsfragen muss also das entscheidende Kriterium sein, dass er allen Grossen, dem Lysias so gut wie dem Hypereides und besonders dem Demosthenes, zwar nahe kommt, aber sie nicht erreicht (c. 7). Die ἐπιγραφαὶ τῶν βυβλίων haben keinen Wert (p. 641 R.). So bleibt für D. das wichtigste Hülfsniittel die Chronologie; was zeitlich jenseits des Archon Nikophemos und diesseits des Philippos (? s. v. Wilamowitz Antigonos v. Karyst. 240) liegt, muss als unecht wegfallen, indem angenommen wird, dass Deinarchos vor seinem 26. und nach seinem 70. Lebensjahr keine Reden verfasst habe (p. 638 R.). Diese Abhandlung nimmt in der antiken Litteratur eine besondere Stellung ein, weil sie die einzige erhaltene ist, die Fragen der höheren litterarischen Kritik ausführlich discutiert und entscheidet. Wir lernen, wie man damals durchschnittlich in solchen Fällen gearbeitet hat. Dass es im Altertum scharfsinnigere und gewissenhaftere Gelehrte gegeben hat als D., ist ja einzuräumen, aber dass er das gute Mittelmass darstellt, [967] und dass beispielsweise sein jüngerer Zeitgenosse Caecilius nicht besser verfahren ist, dafür giebt es genug Anzeichen. Wir sehen ferner, wie leichtsinnig man mit Autorennamen um sich warf, wie schwach begründet die Überlieferung in vielen Fällen war, und wie wenig Zeit die alexandrinischen und pergamenischen Bibliothekare hatten, die Bücher auch von innen anzusehen. Dass Deinarch in der Proxenosrede über sein Leben ausführlich handelt, war unbekannt geblieben bis auf D., und so konnten allerhand Fabeleien in die Welt gesetzt werden (c. 1). Die Rede κατὰ Δημοσθένους παρανόμων (p. 661 R.), die D. dem Deinarchos abspricht, stand im alexandrinischen Verzeichnis unter dessen Namen, im pergamenischen unter dem des Kallistratos, die demosthenische Rede πρὸς Βοιωτὸν ὑπὲρ τοῦ ὀνόματος anscheinend in einem Verzeichnis unter dem Namen des Deinarchos (p. 665 R.; vgl. auch Radermacher Philol. N. F. XII 168, 9). Man hat die Empfindung, dass Deinarchos auch noch für D. der Mann ist, der für alles herhalten musste, was sonst auf einen bekannten Namen nicht recht passte (vgl. bes. p. 640f. E.), eine Art Sammelstelle für herrenlose Reden der demosthenischen Zeit. Jeder Philologe muss die Schrift lesen, um die Ehrfurcht vor überlieferten Büchertiteln zu verlieren.

Die Schrift über die Nachahmung in drei Büchern, an einen Demetrios adressiert und von D. selbst mehrfach erwähnt, diente den Zwecken der Schule, indem sie festzustellen suchte, welche Schriftsteller der Vergangenheit als Muster für die stilistische Ausbildung am ersten herangezogen zu werden verdienten. Sie ist blos fragmentarisch erhalten. Das zweite Buch besitzen wir teilweise im Auszug. Ergänzend tritt hinzu die Epistula ad Pompeium vom 3. Capitel an, wo D. sich auf περὶ μιμήσεως ausdrücklich bezieht und auch den Inhalt der Schrift kurz skizziert (alles jetzt bei Usener Dionysii Halicarnassensis librorum de imitatione reliquiae epistulaeque criticae duae, Bonn 1889). Sie hat wegen ihrer deutlichen Berührungen mit Quintilians 10. Buche seit alters das Interesse der Gelehrten erregt und meist als dessen Quelle gegolten. Erst Usener (a. a. O. 110ff.) hat durch Heranziehung des ciceronischen Hortensius, der XVIII. Rede des Dion Chrysostomos und des Laterculus Coislinianus den Kreis dieser Schriftstellern erweitert (vgl. auch Plut. quaest. conv. 706 d) und nach der gemein¬samen Quelle aller dieser Kunsturteile gefragt. Er führt sie unter Hinweis auf Ruhnken (Historia crit. orat. Graec. p. 95f.) auf den Kanon des Aristophanes von Byzanz und Aristarch zurück. Dass sie ihren Grund haben in der Thätigkeit älterer Philologen, lässt sich heute schlechterdings nicht bezweifeln; über die Zusammenhänge im einzelnen und über Umfang und Bedeutung des ,alexandrinischen Kanons’ gehen die Ansichten noch ziemlich auseinander (vgl. Heydenreich De Quintiliani institutionis oratoriae libro X; De Dionysii Halicarnassensis de imitatione libro II; De canone qui dicitur Alexandrino quaestiones, Diss. Erlang. 1900, daselbst 58f. Verzeichnis der älteren Litteratur v. Wilamowitz Die Textgeschichte der griechischen Lyriker 63f. Radermacher Rh. Mus. LVII 140f.). Ein drittes Buch über die [968] Nachahmung, in dem die Frage πῶς δεῖ μιμεῖσθαι (ad Pomp. p. 766 R.) erörtert wurde, war noch unvollendet, als D. den Brief an Pompeius schrieb; es hat sich keine Spur von ihm erhalten.

Der Brief an Gnaeus Pompeius ist ein Rechtfertigungsversuch des ungünstigen Urteils, welches D. in der Schrift über Demosthenes, die p. 758 citiert wird, in Bezug auf Platon gefällt hatte. Es handelt sich dabei für ihn natürlich blos um die λέξις. Daran schliesst sich c. 7ff. eine Charakteristik des Herodot, Xenophon und Thukydides als Geschichtschreiber; sie wird durch einen Hinweis auf die parallelen Ausführungen in περὶ μιμήσεως eröffnet. Wie anderswo urteilt auch hier D. vom Standpunkt des rhetorischen Theoretikers, und wird bei der Vergleichung mit Herodot dem Thukydides in keiner Weise gerecht. Als Widerpart des Xenophon wird Philistos eingeführt. Daran schliesst sich (c. 6ff.) eine sehr warm gehaltene Zeichnung des Theopompos. Diese Partien müssen uns die verloren gegangenen Stücke aus περὶ μιμήσεως ersetzen.

Die Abhandlung περὶ Θουκυδίδου, im Anschluss an περὶ μιμήσεως verfasst (vgl. p. 810 R.) und an Aelius Tubero adressiert, zeigt, dass die Schätzung des Thukydides als des grössten griechischen Historikers damals in weiten Kreisen feststand. Das Urteil des D. lautet weniger günstig, und er fühlt sich deshalb genötigt, mit Andeutungen über den schlechten Ton, der damals in der Polemik üblich war, seine eigene Sachlichkeit vorweg zu betonen und sein Recht auf Kritik gegenüber den Leuten, denen jeglicher Tadel der Alten wie ein Verbrechen erschien, ausführlich zu begründen. Die Charakteristik des Thukydides lehrt insbesondere, welchen Begriff sich D. selbst von der Aufgabe eines Ge¬schichtschreibers gemacht hatte. Am schlimmsten kommt die Anordnung des Stoffes weg; hier folgt er bei seinem Tadel nach eigner Angabe Vorgängern (c. 10). Auf die Anschauungen der Rhetoren weist er im 19. Capitel hin. Aber Wahrheit ist ihm doch das höchste Ziel des Geschichtschreibers; das ist gegenüber der rein rhetorischen Theorie eine erhebliche Veränderung (vgl. Norden Kunstprosa 82ff.). Vorangestellt ist den beiden Hauptteilen der nach dem πραγματικός und λεκτικὸς τόπος gegliederten Abhandlung eine Charakteristik der Vorgänger, namentlich der Logographen, für uns das Wertvollste an der ganzen Schrift. Capitel 51 beweist, dass sich damals die grammatischen Erklärer eingehend und notgedrungenerweise mit Thukydides beschäftigen mussten, weil das Durchschnittspublicum nicht alles mehr verstand (Specialausgabe von C. W. Krüger mit der Epistola ad Cn. Pompeium und ad Ammaeum 2, Halis Saxonum 1823).

Der zweite Brief an Ammaios fasst die Ergebnisse der Schrift über Thukydides noch einmal kurz zusammen und begründet sie im einzelnen durch Beispiele. Die Übereinstimmung dieser Beobachtungen mit der erhaltenen grammatischen Litteratur zu Thukydides ist augenfällig (Usener Dionysii de imit. lib. 73. 99f.). Sie erklärt sich blos dadurch, dass D. Scholien benutzen konnte, die älter sind als Didymos (Usener a. O. 73f.). Wahrscheinlich hat er eine Thukydidesausgabe [969] ausgeschrieben, die mit kritischen Zeichen und Scholien ausgestattet war (Usener a. O.). Trotz geringen Umfanges ist der Brief von ausgezeichnetem Wert, weil er lehrt, wie die Philologen damals interpretiert und ästhetische Kritik geübt haben.

Ein Buch des D. über die Figurenlehre bezeugt ausdrücklich Quintilian (inst. or. IX 3, 89), aber erhalten hat sich nichts daraus (Blass 29). Die Bemerkung des Tzetzes bei Cramer Anecd. Oxon. IV 126: πρὸ Ἑρμογένους ἔγραψαν καὶ ἄλλοι γὰρ ἰδέας, αὐτὸς ὁ Διονύσιος σὺν ᾧ καὶ Βασιλίσκος ist eitel Flunkerei, wenn sie sich nicht darauf bezieht, dass das Wort ἰδέα in den erhaltenen Schriften häufig vorkommt. Ob das περὶ συνθ. p. 6 dem Melitius Rufus für das folgende Jahr verheissene Werk περὶ ἐκλογῆς ὀνομάτων überhaupt ausgeführt worden ist, sind wir nicht im stande festzustellen (Blass 10); ein Buch χαραλτῆρες τῶν ἁρμονίων hat es von D. nie gegeben.

Eine echte τέχνη ῥητορική hat Blass vermutet; aber aus der sehr allgemeinen Wendung des Quintilian (inst. or. III 1, 16) folgt blos, dass D. als rhetorischer Schriftsteller bekannt war, nicht, dass er eine Ars verfasst hat. Die Definition der Rhetorik, die Spätere ihm beilegen, kann in περὶ μιμήσεως gestanden haben oder, was mir sehr viel wahrscheinlicher ist, in der Schrift ὑπὲρ τῆς πολιτικῆς φιλοσοφίας. Der Streit um die unechte τέχνη (Blass 24ff.) darf heute durch das Zeugnis der allein massgebenden Hs., des Parisinus 1741, als erledigt gelten (vgl. Sadée De Dionysii Halic. scriptis rhet. 29ff. Usener Praefatio seiner Ausg. p. V). Nichts darin gehört dem D. Das erhaltene Werk zerfällt in zwei ganz verschiedene Teile; der erste giebt Excerpte aus einem Handbuch der forensischen Beredsamkeit aus der Zeit der Antonine (Usener a. O. p. Vff.), der zweite, wertvollere, umfasst zwei Capitel περὶ ἐσχηματισμένων, ein drittes περὶ τῶν ἐν μελέταις πλημμελουμένων und ein viertes περὶ λόγων ἐξετάσεως, alles aus derselben Schule und zeitlich noch dem 1. Jhdt. n. Chr. zuzuweisen (Usener p.VI). Die beiden ersten sind Colleghefte, das eine von einem sorgfältigen, das andere von einem nachlässigen Zuhörer geschrieben. Die beiden letzten stammen entweder von der Hand des Professors selber oder sind Stenogramme (Usener p. VI; vgl. übrigens Thiele Gött. Gel. Anz. 1897, 237f.). In den rhetorischen Unterrichtsbetrieb der ersten Kaiserzeit gewähren diese Stücke einen lehrreichen Einblick.

Eine bis zum J. 1900 reichende Bibliographie der Ausgaben und Erklärungsschriften giebt W. Rhys Roberts a. a. O. 209ff. Die einzelnen Abhandlungen sind nicht auf einmal und nicht von denselben herausgegeben worden. Die erste Gesamtausgabe hat F. Sylburg Frankfurt 1586 gemacht; auf ihm beruht die eilfertige, aber mit ausgezeichneten Nachträgen versehene Ausgabe von J. J. Reiske (Lpz. 1774—1777). Neue kritische Bearbeitung von Usener-Radermacher (Dionysii Halicarnasei opuscula. Vol. prius, Lipsiae 1899); hier ist die hsl. Überlieferung zum erstenmal in möglichstem Umfang ausgenützt. Es sind uns Reste dreier antiker D.-Ausgaben erhalten; zunächst steht für sich der [970] berühmte Parisinus 1741 mit epistula ad Ammaeum II und de compositione verborum. Weiter hat selbständige Bedeutung der Laurentianus plutei LIX cod. XV saec. XII mit 1) de compositione verborum, 2) de oratoribus antiquis I, 3) de Dinarcho. Dazu kommt eine Reihe von Hss., durch die eine Ausgabe von 1) de antiquis oratoribus I, 2) epistula ad Pompeium, 3) de Thucydide, 4) de Demosthene, 5) ad Ammaeum I erhalten ist. Unter ihnen ist die wichtigste der Ambrosianus D 119; daneben sind bei Radermacher-Usener ein Parisinus (bibl. nat. gr. 1742) und ein Vaticanus Palatinus gr. LVIII herangezogen. Eine Hs. aus Venedig scheint sie jedoch an Wert zu übertreffen (s. Usener Praef. p. XXf. Fuhr Gött. Gel. Anz. 1901, 103f.); dagegen hat ein Mutinensis (68, vgl. Stud. ital. IV 430) nach unseren neueren Ermittelungen keinen besonderen Wert. Über Oxforder Hss. von de compositione verborum handelt A. B. Poynton Journal oi' Pbilology XXVII 1899, 70—79. Für die unechte Ars kommt der Parisinus 1741 allein in Betracht. Endlich besteht noch für den Lysias eine besondere Überlieferung in deutschen und französischen Codices; sie ist aus dem Laurentianus geflossen und (trotz Desrousseaux Denys, Jugement sur Lysias IX 19 und Blass Litt. Ctrlbl. 1899, 1365) interpoliert, daher mit Vorsicht zu benützen (s. Radermacher Jahrb. f. Philol. 1895, 243; Rh. Mus. LVII 158f. Fuhr Gött. Gel. Anz. 1901, 105). Vgl. H. Usener De Dionysii Halicarnassensis libris manu scriptis, Ind. lect. Bonn. 1878 und Vorrede der Ausgabe von Usener-Radermacher. H. Schenkl Zur Überlieferungsgeschichte der rhetorischen Schriften des Dionysios von Halicarnass, Wiener Stud. 1880, 21—32. L. Sadée De Dionysii Halicarnassensis scriptis rhetoricis, Diss. Strassb. 1878. L. Cohn Hsl. zu Dionys von Halicarnass, Philol. 1890, 390ff.

Die Bedeutung des D. für die Folgezeit liegt nicht in seiner Thätigkeit als rhetorischer Theoretiker, sondern in der ästhetischen und litterarischen Kritik, die er geübt hat. Hier ist er neben Caecilius zu kanonischem Ansehen gelangt und trägt den Ehrentitel ὁ κριτικός. Aber wenn man fordert, dass nur feinsinnige und geistreiche Leute in künstlerischen Dingen ein Urteil haben sollen, so ist es mit D. schlecht bestellt; denn er ist das eine nur wenig und das andere gar nicht. Dazu kommt seine vorwiegende Richtung auf das Stilistische; gleich Isokrates ist ihm nicht Hauptsache, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird. Endlich seine sehr einseitige Begeisterung für Demosthenes; da ist es kein Wunder, wenn er überragenden Geistern von der Art eines Thukydides und Platon nicht gerecht zu werden vermag. Übrigens ist auch seine Beurteilung des platonischen Stils vom Geiste der Parteilichkeit getragen und bisweilen einfach kleinlich. Er selbst schreibt in grossen Perioden ein zweifellos elegantes Griechisch, freilich in völliger Unfähigkeit, sich kurz zu fassen. Dennoch ist das wegwerfende Urteil, mit dem man wohl heute über ihn weggeht (s. z. B. Norden Kunstprosa 79ff.). übertrieben und unbillig. Im Rahmen seiner Zeit betrachtet, ist D. eine durchaus achtungswerte litterarische Persönlichkeit; hat er nichts eigenes erdacht, so hat er doch von dem, was ältere ihn lehrten, einen selbständigen Gebrauch gemacht, [971] und er ist wenigstens immer vernünftig, zuweilen ist er es sogar zu sehr. Auch verlieren seine Kunsturteile nicht dadurch an Wert, dass sie auf den Anschauungen eines Theophrastos und ähnlicher Männer begründet sind. Schwer hält es, ihn mit seinem Nebenbuhler Caecilius zu vergleichen, weil wir von diesem so viel weniger wissen. Jedenfalls hat sich Caecilius so einseitig für Lysias begeistert wie D. für Demosthenes, und den Platon, dessen Gorgias die Rhetoren nie verwinden konnten, hat er noch schlechter behandelt. In Echtheitsfragen war Caecilius toleranter (s. Philolog. LVIII 169), und das wirft gerade kein gutes Licht auf ihn. D. war offenbar der κριτικώτερος, indes auch seine Art, philologische Kritik zu üben ist so, wie wir sie oben skizzierten, wenig imponierend.