Geschichte der Stadt Basel. Zweiten Bandes zweiter Teil/8. Stadt und Gesellschaft von der rudolfinischen Zeit bis zur Reformation/6. Die Kirche/2

Schule und Gelehrsamkeit Geschichte der Stadt Basel. Zweiten Bandes zweiter Teil/8. Stadt und Gesellschaft von der rudolfinischen Zeit bis zur Reformation
von Rudolf Wackernagel
Lebensformen und Gesinnung
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Anmerkung WS: Aus technischen Gründen muss das Kapitel „8. Stadt und Gesellschaft von der rudolfinischen Zeit bis zur Reformation/6. Die Kirche“ in zwei Teilen dargestellt werden. Erster Teil

[759] Auch die Kapellen des Münsterkreuzganges mögen hier Erwähnung finden: die reichausgemalte Nicolauskapelle, die 1467 f. an Stelle eines ältern Baus errichtete Katharinenkapelle, die Maria Magdalenenkapelle; die beiden erstgenannten wurden mit Obergeschossen gebaut, die über der Nicolauskapelle den Sitzungssaal des Domkapitels, über der Katharinenkapelle eine Sakristei aufnahmen.


Unter diesen belebten Kirchenräumen öffneten sich da und dort in der Tiefe die Krypten: Orte der ernstesten Andacht und für Viele des Geheimnisses. Sie wiesen zurück auf frühe Zeiten, da man Altäre gern über einem Märtyrergrab errichtet, dann die Gruft zu einem Oratorium ausgebaut hatte. Solche Krypten haben sich erhalten unter den Chören des Münsters und von St. Leonhard; St. Peter hatte gleichfalls eine Krypta. Diejenige zu St. Leonhard war schon in romanischer Zeit erweitert, diejenige des Münsters ebendamals durch Einbau in die Vierung vergrößert und bis an die Grenze des Langhauses geführt worden, wodurch ein Raum von überraschender Weite entstand. Aber auch St. Oswald hatte eine Krypta, und von einem Raume dieser Art unter der ältern Katharinenkapelle beim Münster ist wiederholt die Rede. Die Altäre, die sich in diesen Krypten erhoben, machten sie zu eigentlichen Unterkirchen; Lampen erhellten sie; zu St. Leonhard konnte in der Tiefe ein Heiliges Grab verehrt werden; in der Krypta des Münsters schmückten Gemälde die Wände und Gewölbefelder. Die ganze Ausstattung, namentlich auch die Verwendung für Beerdigungen und die Stiftung von Seelenmessen an den Altären zeigen uns, wie sehr die ungewöhnliche Weihe dieser Räume empfunden wurde. Neben der Devotion wirkte hier eine eigenartig erregte Phantasie.


Zu nennen bleiben noch die Sakristeien.

Sie lagen stets beim Chor und waren direkt mit ihm verbunden; nur beim Münster machten die größeren Verhältnisse die Situation und Verbindung umständlicher. So unentbehrlich die Sakristeien aber zu sein scheinen, entstanden sie doch nicht überall zugleich mit dem Chore. Das Steinenkloster z. B. behalf sich jahrhundertelang ohne Sakristei und baute sie erst im Jahre 1505. Der Bau der Sakristei im Klingental 1441 f., die Wölbung der Sakristei zu St. Martin 1451, der Bau zweier Sakristeien zu St. Peter 1459 und einer neuen Sakristei beim Münster 1467 deuten wenigstens auf ein Wachsen der Bedürfnisse. Bei den Stiftern bestanden mehrere Sakristeien und wurden unter Chorherren und Kaplänen geteilt.

[760] Was Sakristei hieß, diente verschiedenen Zwecken. Bei St. Peter z. B. auch als Sitzungsraum des Kapitels. Sonst zu Aufbewahrung der Gewänder und Geräte, als Ankleideraum Schatzkammer Archivkammer. Von den zwei durch Propst Ner 1459 erbauten Gewölben bei St. Peter wurde das untere als armarium bestimmt, das obere als vestibulum, in dem aber auch Urkunden und Kleinodien verwahrt werden sollten. Die beiden Kammern lagen übereinander an der Nordseite des Chores, ihnen gegenüber an der Südseite die später errichtete, zu ähnlichen Zwecken bestimmte Treßkammer. Daß diese als Raum von Bedeutung galt und viel gebraucht wurde, verrät ihr ungewöhnlich reicher malerischer Schmuck. Die Sakristei der Prediger hatte eine das Kreuzgewölbe tragende, freistehende Säule mit zierlichem Kapitäl und in einer der Fensternischen eine Piscine mit laufendem Wasser. Sonst lernen wir die Ausstattung der Sakristeien fast nur aus den Inventarien kennen; das schönste Erhaltene ist wohl der große Prachtschrank der Münstersakristei von 1518.


Vom Bau und vom Aussehen der zahlreichen isolierten Kapellen wissen wir wenig. Die Elendenkreuzkapelle vor dem Riehentor wurde 1403, die St. Annakapelle vor dem Bläsitor 1407 gebaut, letztere 1493 umgebaut. Auch der Bau der Brückenkapelle 1478, der ebenfalls auf städtische Kosten geschah, ersetzte ein früheres, aus dem Ende des XIV. Jahrhunderts stammendes Gebäude. 1516 kam es zum Abbruch der alten und zum Bau einer neuen größern St. Elisabethenkapelle, zufolge Vermächtnis des Hieronymus Bär. In der Geschichte der Ausstattung dieser Kapellen ist das am meisten Charakteristische die Anhäufung kostbaren Gerätes und Bildwerkes sowie ungewöhnlich zahlreicher Reliquien in der Krämerkapelle zu St. Andreas; das kunsthistorisch Wichtigste aber wohl die Dekoration der Elendenkreuzkapelle vor dem Riehentor, die 1418 durch den Maler Hans Tiefental auf Befehl des Rates geschah und zwar, wie der Rat ausdrücklich vorschrieb, nach einem Muster in der Karthause von Dijon. Auch die bei der Heiligkreuzkapelle vor dem Spalentor 1487 aufgestellte Kreuzigungsgruppe aus gebranntem Ton ist von Interesse. 1494 erhielt die St. Johannskapelle auf Burg ihr großes Wandgemälde des Jüngsten Gerichtes, auf Bestellung des Johann Bergman von Olpe als Kämmerers der Bruderschaft.


Die Anlage der Klöster geschah nach einem allgemeinen Schema. Die Verbindung des Lebens in der Klausur mit einer Kirche und einem Kirchhof, die beide auch den Laien zugänglich sein sollten, und mit Einrichtungen [761] für Haushalt Landbesorgung Vermögensverwaltung führte zu Formen, die in der Hauptsache überall wiederkehrten. Doch fand dieser Typus einige prachtvolle Steigerungen durch die Situation: bei den vom Strom bespülten Klöstern Klingental und Karthaus und bei dem hochgelegenen burgartigen St. Leonhard.

Die großen baugeschichtlichen Daten 1356 und 1417 waren natürlich von Bedeutung auch für die Geschichte der Klosteranlagen. Bei beiden Katastrophen wurde St. Alban hart mitgenommen, nach dem Brande von 1417 mußte es größtenteils neu aufgebaut werden. Vernichtung durch Feuer hatte auch das Barfüßerkloster 1298 getroffen und traf das Klingental 1466. 1340 wurde das Steinenkloster durch Blitzschlag und zweimaliges Hochwasser schwer geschädigt.

Was zu diesen Nachrichten von Zerstörung an Nachrichten von Klosterbau tritt, ist mit Ausnahme der Berichterstattung über die erste Anlage und den allmählichen Ausbau der Karthause nicht belangreich. Zu erwähnen bleibt nur die Verlegung der Klingentaler Klostergebäude von der Gegend am Teich auf die andere Seite der Kirche sowie die wiederholte Erweiterung des Augustinerklosters durch Hinzunahme von Nachbarliegenschaften 1306, 1311, 1313, 1340. Noch spät, 1457, ist von Erweiterung des Gnadentals die Rede. Im Johanniterhause soll der letzte Komthur tausend Gulden verbaut haben.

Den Kern der Klosteranlage bildete in der Regel ein Komplex von Gebäuden, die als Dormenter und als Kapitels- oder Konventshaus den Klosterfriedhof umschlossen.

Unter Dormenter haben wir in dieser Zeit nicht mehr einen gemeinsamen Schlafsaal, sondern eine Gesamtheit einzelner Zellen samt dem Gang oder Saale zu verstehen, auf den diese Zellen sich öffnen; den eigentlichen Wohnraum also, das lebenerfüllte Zentrum des Klosterwesens, wo die Ordensleute ihre meiste Zeit verbringen. Daher z. B. im Dormenter der Prediger ein Gnadenbild der heil. Jungfrau aufgestellt war. Die verschiedenen Namen des Raumes: im Augustinerkloster oberer und niederer Dormenter, an den Steinen alter neuer langer kleiner hoher Dormenter usw., weisen auf allmähliche Erweiterung oder Änderung. Im Steinenkloster wurde in den Jahren 1409, 1431, 1441, 1442 an diesen Dormentern gebaut und noch 1520 eine neue Zellenreihe aufgeführt. Am mannigfaltigsten gestaltet war diese ganze Anlage jedenfalls im Klingental; außer dem „alten Dormenter“, der auf der Südseite der Kirche zwischen ihr und dem Teiche lag und das Schlafhaus der ursprünglichen Anlage gewesen [762] war, wurden im jetzigen Kloster mehrere Dormenter unterschieden: der Siechendormenter, der hintere Dormenter, der neue Dormenter. Der letztere war ein offenbar wohlausgestattetes Hauptgebäude; als er 1466 niederbrannte, gingen in ihm hundert Betten, viel Geschirr und Hausrat, insgesamt im Werte von mehr als zwölftausend Gulden zu Grunde, darunter als Prachtstücke ein silbernes Schiff und drei köstliche Könige von Silber und Gold. Überall ist dabei an Gebäudetrakte oder Stockwerke zu denken, die auch gemeinsame Räume enthalten mochten, größtenteils aber einzelne Zellen enthielten; oft bildeten mehrere solcher Zellen, samt Kammern und Küche, zusammen ein Appartement für eine Klosterdame. Die ganze Einrichtung war wohl behaglicher und schmucker als in andern Klöstern. Die Zellen von St. Klara z. B. hatten weißverputzte Wände mit schwarzem Fachwerk, dunkle Balkendecke und Fußböden aus roten Fliesen; im Steinenkloster wurden 1520 neue Zellen gebaut, mit Holzwänden, jede Zelle elf Schuh lang und neun Schuh breit.

Neben diese üblichen Dormenter stellte die Karthause das ihr eigene Zellensystem: lauter einzelne Häuslein mit je einem zugehörigen ummauerten Gärtchen. Rings um den großen Kreuzgang lagen diese Zellen, sechzehn an der Zahl, jede von einem Mönche bewohnt, jede von tiefem Schweigen erfüllt und umgeben, der Vorstellung des auch im Kloster möglichen Anachoretenlebens entsprechend.

Eine Spezialität war auch St. Leonhard, wo als Rest des ursprünglichen, durch die Regel doch nicht völlig bezwungenen Kollegiatzustandes neben eigentlichen Zellen über dem Kreuzgang auch separate Wohnungen oder Häuser einzelner Chorherren in den mächtigen Gebäuden um den Hof bestanden.

Ausgezeichnet durch Lage Größe und Einrichtung war allenthalben der Wohnraum des Klostervorstehers: in der Karthause die größte Zelle in der südwestlichen Ecke des Kreuzgangs, im Augustinerkloster eine Stube mit Kammer, im Predigerkloster eine aula. Die Äbtisse des Klingentals wohnte abseits am Rheinufer in einem Hause, diejenige von St. Klara im hintern Klostergarten. Als Freiherr Thüring von Ramstein 1417 im großen Brande sein Haus verloren hatte, zog er nach St. Leonhard hinauf zum Propst Oflater und wohnte bei diesem zwei Jahre lang, bis sein Hof wieder gebaut war.

Im Konvents- oder Kapitelshause, das mancherorts die Auszeichnung eines Glockentürmchens auf dem Dache hatte, lag zumeist, im Erdgeschosse und vom Kreuzgange her direkt zugänglich, die Konventsstube (Kapitelsaal), sofern eine solche überhaupt als eigener Raum bestand. Außer ihr fand sich in diesem Hause das Refektorium Refental. Dieses war der größte [763] Innenraum des Klosters. Ohne Zweifel auch der wohnlichste und geschmückteste und wohl immer mit einem Ofen versehen. Zu St. Alban waren an die Wände dieses Saales die Wappen der Basler Bischöfe mit großen Schildhalterfiguren gemalt. Für Beleuchtung des Klingentaler Refektoriums bestand eine eigene Stiftung. Es handelte sich bei dieser um das alte Refektorium, das offenbar den Brand von 1466 überdauerte und 1490 „underschlagen“ wurde. Das „neue Refektorium“ dagegen, das die Klingentalerinnen 1508 zwischen dem Hause ihres Beichtvaters und dem alten Dormenter erbauten, mit neun Fenstern gegen den Rhein, also außerhalb des Klausurbezirkes, kann nur ein Refektorium für Konversen und Gäste gewesen sein; es ist das noch heute am Rheinquai stehende Hauptgebäude des kleinen Klingentals. Dagegen hat als Refektorium der Klosterfrauen selbst zu gelten der 1520 aufgeführte Neubau im Steinenkloster.

Nicht nur die geräumigsten Refektorien fanden sich in den von großen Konventen bewohnten, unaufhörlich durch Gäste besuchten Mendikantenklöstern, sondern diese scheinen sogar zwei solcher Säle besessen zu haben: einen größern für den Sommer, einen kleinern für den Winter. In diesen Refektorien, die bei den Barfüßern und den Predigern auch als Konventsstuben dienten, haben zur Konzilszeit zahlreiche Sitzungen und Versammlungen stattgefunden, bis zur letzten großen Abschiedsszene am 28. Juni 1448 im Barfüßerrefektorium.

Neben diesem wichtigsten Raume des Konventshauses befand sich zu Predigern die nur von ihm her zugängliche Bibliothek.

Auch die Gelasse für diejenigen Gäste des Klosters sind hier zu nennen, die Zutritt in die Klausur hatten. Die Dominikaner besaßen mehrere solcher Gaststuben; auch im Augustinerkloster war eine „Kammer des Provinzials“ mit großem Himmelbett.

Vom Typus dieser örtlichen Zusammenordnung wich wiederum die Karthaus ab, hier offenbar deswegen, weil auf den von früher her vorhandenen, noch wohl benützbaren bischöflichen Palast an der Stadtmauer Bedacht genommen werden mußte. In diesem Hause, unmittelbar bei Speisesaal und Wohnung der Laienbrüder, also auf der profanen Seite der Anlage, war auch das 1507 erneuerte Refektorium der Mönche eingerichtet, während Kapitelsaal Bibliothek und Zellen auf der andern Seite der Kirche in der Klausur lagen. Im großen Hause befanden sich auch Stube und Schlafkammer der Gäste, erbaut 1509; die Kammer, mit Prachtbett und reichverzierter gewölbter Holzdecke, war ein weithin berühmtes Gemach, dessen Lob noch bei Fischart im Gargantua tönt.

[764] Badstuben werden mehrfach erwähnt. 1503 finden wir im Predigerkloster einen Kerker zur Bestrafung von Brüdern, in der Karthause sogar ihrer zweie; auch das Klingental besah ein Haftlokal, und die der Brandstiftung beschuldigte Nonne Amalia von Mülinen starb in ihm Hungers. Auch von den Abtritten ist gelegentlich die Rede; jede der Karthäuserzellen hatte ihren eigenen. 1477 bauten die Prediger, die sich früher mit einem Abtritturm auf ihrer Liegenschaft beholfen hatten, eine Leitung durch den Stadtgraben in den Rhein.

Charakteristisch für die Klosteranlagen war, daß dies ganze Wohnwesen von Kirchlichkeit umgeben und allenthalben Gelegenheit zu Zeremonie und Anbetung geboten war. Im Kapitelsaale der Karthause stand ein Altar, auf dem Gange des Predigerdormenters ein für Kniebeugungen und Gebete mit Ablaß begabtes Bild der hl. Jungfrau.

Charakteristisch auch die Anwendung des Klausurgrundsatzes im Baulichen. Da das Kloster auf Kirchenbesuch und Begräbnis von Laien nicht verzichten wollte und auf persönlichen Verkehr der Einzelnen, auf Gastlichkeit, auf Geschäfte und Vermögensverwaltung, auf Annahme von Pfründern usw. nicht verzichten konnte, so ergab sich ein Nebeneinander von Klausurgebiet claustrum emunitas und äußerm, gleichsam profanem Klosterbezirk.

Zwischen den beiden Bereichen liefen Hofmauern oder Gebäudefronten, die septa monasterii mit den portae conventuales, hinter denen im Klostergebiet für Unerfahrene alle Herrlichkeiten und Heimlichkeiten lagen. Auf dieser Grenze befanden sich in den Weiberklöstern neben dem Tore das Rad oder die Winde, an einer andern Stelle das Redfenster, jenes für Hinaus- und Hineingeben von Gegenständen, dieses für mündlichen Verkehr bestimmt.

Aber schon im äußern Bezirke begann für Stadt und Welt das Klostergebiet. Es hatte seine Mauer und seine Eingänge und neben diesen die Stube oder Wohnung des Pförtners. Beim Klingental wurden das „obere“ und das „nidere tor“ unterschieden; jenes, am Teiche bei der Drachenmühle stehend, war mit einem Gemälde der hl. Jungfrau, der Euphrosyne und der Ursula geschmückt; das niedere Tor stand bei der Ziegelmühle (Untere Rheingasse 19) an der Einmündung des Klingentalgäßleins. Auch über dem 1503 erbauten Portal der Karthause war ein Gemälde mit Heiligenbildern zu sehen, und beim Tore des Steinenklosters stand das 1410 errichtete „gloghüslin“.

In diesem äußern Bezirke war der Zugang zur Laienkirche und lag der Laienkirchhof, befanden sich allerhand Nebengebäude, war der Wirtschaftshof. [765] Wer mit dem Kloster irgendwie zu tun hatte, ging hier zum Redfenster oder zum Rade. Hier im neutralen Gebiete traf man sich, fanden Verhandlungen und Konferenzen statt. Hier verteilte das Kloster seine Spenden, schenkte Klingental Wein aus, tagte das Propstgericht von St. Alban. Die Köstlacher Bauern, die dem Steinenkloster ihren Zins brachten, fanden hier Herberge und Stallung; im Hofe des Klingentals hatten 1473 Herren aus dem Gefolge des Kaisers Quartier; auf dem Atrium der Barfüßer fand der städtische Markt statt, bis er ihnen 1410 genommen wurde. Mit aller Mannigfaltigkeit des Lebens zeigen uns Urkunden und Inventare die Lokalitäten: Speicher jeder Art, Stuben und Kammern, Ställe, Gesindeküche, Backofen und Waschhaus; das Steinenkloster hatte hier in früherer Zeit auch eine Mühle, und in den Höfen andrer Klöster finden wir die Bäckerei, die Weberei, die Schusterei, die Herrenstube (für die Kapläne), die Bauernkammer, die Keller, die Trotte, das Mehlhaus usw. Hier befand sich auch die Scherstube und befanden sich überdies das Siechenhaus sowie bei Weiberklöstern das Wohnhaus des Beichtvaters. Dasjenige des Steinenklosters, aus einem Geschenke der Frau Zibol gebaut, lag am Steinenberg und wurde später Pfarrhaus zu St. Elisabethen; dasjenige des Klingentals lag am Rheine beim untern Klostertor und wurde später Amtswohnung des Kleinbasler Stadtschreibers, 1803 Amtswohnung des Appellationsgerichtsschreibers, 1859 Pfarrhaus (Klingental No. 13).

Endlich die offenen, aber immer noch im Klosterbezirk gelegenen Flächen: die Gemüsegärten; der Rebacker am Abhange hinter dem Steinenkloster; aber auch Blumenbeete und schattige Gänge wie der „innere“ und der „hintere lustgarten“ der Prediger an der Lottergasse, große reichangebaute Flächen, deren Schönheit noch Beatus Rhenanus rühmte. Wo Gelegenheit war, leiteten die Klosterleute Wasser in diese Gärten, freuten sich an seinem Spiel und bauten Fischteiche, die der städtische Ersatz sein mußten für die kühlen klaren Forellenbäche von Klöstern wie Schöntal und Beinwil. So hatten die Klingentalerinnen ihr „Nonnenbächlein“, das aus dem Teiche kam und um Kirche und Konventshaus in den Rhein floß; Ähnliches fand sich bei St. Klara und dem Steinenkloster; zu St. Alban lag hinter dem Chore der Klostergarten mit einem durch Propst Löwlin angelegten großen Weiher.


Stiftswohnungen der alten ursprünglichen Art fanden sich in der uns beschäftigenden Zeit schon lange nicht mehr. Kein Mensch in diesen Kapiteln dachte an vita communis; statt ihrer galt durchweg die lockere [766] Zusammenordnung einzelner Häuser, die wir bei Betrachtung der Stifter Dom und St. Peter wahrgenommen haben. Aber auch bei ihnen erinnerten die Kreuzgänge noch an die frühere Zeit.

Kreuzgänge bestanden nur bei Klöstern und Stiftern, nicht bei Pfarrkirchen. Sie waren die Verbindung jener mit den zugehörigen Chören. Nicht als einzelner kurzer Gang, sondern als Viereck, dessen eine Seite sich an die Kirche legte. Meist als vorgebaute Halle, seltener als überbautes Erdgeschoß.

Die Karthause besaß die in den Häusern dieses Ordens übliche Zweizahl von Kreuzgängen; auch die Barfüßer und das Domstift besaßen ihrer zweie. Der ausgedehnteste der Klosterkreuzgänge scheint der größere der Barfüßer gewesen zu sein; er öffnete sich in achtzig Bogenfenstern.

Der Kreuzgang war der Raum, der den Klosterbewohnern die Bewegung in freier Luft auch innerhalb der Klausur ermöglichte. Er war Wandelgang für Kontemplation und Gespräch. Ausnahmsweise konnte er auch als Ort von Geschäften und Gerichtsverhandlungen dienen. Er war aber auch Begräbnisplatz. Er war ein geweihter Ort und die feierlichste Bahn für Prozessionen.

Er war aber nicht unentbehrlich. Daher auch der Bau mehrerer Kreuzgänge auffallend spät geschah: im Klingental von 1437 an, ungefähr zur selben Zeit in der Karthaus und im Steinenkloster; zum Bau des letztern stiftete die Witwe Zibol die steinernen Säulen und den Bodenbelag. Beim Münster bestand ein Kreuzgang schon in früher Zeit; neugebaut wurde er vor der Mitte des XIV. Jahrhunderts, wieder aufgerichtet und erweitert seit den 1420er Jahren, vollendet 1488.

Wie schlicht die bauliche Anlage meist war, mit einfachen wenig verzierten Öffnungen, unverkleidetem Sparrenwerke des Daches usw., zeigen z. B. noch Abbildungen der Kreuzgänge der Augustiner, der Prediger, zu St. Alban. Nur im Münsterkreuzgange war all dies Architektonische auf reiche Weise durchgebildet und in der prächtigen vielgestalteten Weite dieses Raumes zu höchster Wirkung gesteigert. Hier fanden sich auch die meisten Altäre und jedenfalls der kostbarste bunteste Schmuck an Schnitzfiguren und Malereien. Eine große plastische Gruppe, die Geburt Christi darstellend, rief hier zur Andacht, und der an der Westseite der großen Mittelhalle stehende Thron des Bischofs zeigte, daß man sich im Hause des Kirchenfürsten befand. Was wir sonst von Ausstattung der Kreuzgänge mit Altären Gemälden Wappenschilden u. dgl. vernehmen, ist das Übliche. Zahllos sind diese Einzelheiten bis zum Weihwasserstein im Karthauskreuzgang, bis [767] zu den Opferstöcken des hl. Erasmus und der elftausend Jungfrauen und zur Kapitelglocke im Kreuzgange des Steinenklosters, zur Leuchte beim Grabmal Johann Parzifals im Kreuzgange von St. Peter.


Alle diese kirchlichen Gebäude waren auch Begräbnisorte. Sämtliche Kirchen und Klöster, sowie einige Kapellen, hatten ihre Kirchhöfe; ebenso das Spital. Als im Jahre 1450 der Rat das bei Beerdigungen einzuhaltende Tiefenmaß bestimmte, war dieser Beschluß an neunzehn Kirchen u. dgl. mitzuteilen.

Für Jeden stand in erster Linie das Begrabenwerden in seiner Kirchgemeinde, und das Wachstum der Parochiebevölkerungen führte daher zur Überfüllung von Kirchhöfen, wenn auch das einzelne Grab nach Ablauf einer Zeit meist wieder benützt wurde. So mußten einzelne Kirchhöfe erweitert werden, im Pestjahre 1349 derjenige zu St. Theodor, 1423 derjenige zu St. Peter. Auch zu St. Ulrich kam es 1401, da der Bau der äußern Stadtmauer eine dichtere und konstantere Bewohnung der Vorstädte bewirkt hatte, zur Anlegung eines Begräbnisplatzes neben der Kirche.

Außerdem aber erschien das Begräbnis im Kloster Vielen als erwünscht, und so finden wir ein für die Bestattung von Laien bestimmtes Gräberfeld bei allen Klöstern. Aber getrennt vom Kirchhofe der Klosterleute; der Klausurbegriff galt auch für die Toten und umgab im Kloster der Lebenden dasjenige der Abgeschiedenen, das claustrum defunctorum, mit dem Kreuzgange, stellte es geradezu ins Zentrum der innern Anlage. Draußen, vor der Klausur, lag der Laienkirchhof; ihm entsprachen die Gräber in der Laienkirche außerhalb des Chores, unter welchem der stille Konvent schlief.

Daß freilich vom Grundsatze strenger Trennung dieser Begräbnisorte auch abgewichen wurde, zeigt sich mehrfach. Stiftern und großen Freunden der Klöster öffnete sich wenigstens als Toten die Klausur, sodaß z. B. im Nonnenkirchhof an den Steinen die Vitztum und der Klosterpfleger Irmi, im Chore zu Barfüßern Kuno Iselin 1380 ihre Gräber erhielten.

In solcher Weise ruhte bei jeder Kirche die Gemeinschaft ihrer Toten. Bei der Elisabethenkapelle eine Grabgemeinde besonderer Art; hier wurden bestattet die Ertrunkenen, sowie Pilger und andre unbekannte Fremde, namentlich aber die Hingerichteten. Nur Gerichteten von Rang und Distinktion wurde etwa ein Grab in besserer Gesellschaft zugestanden, so 1426 dem Ritter Daniel Auer zu Barfüßern und 1496 dem Heinrich Rieher zu Augustinern; aber der 1461 enthauptete Jörg zur Sonnen kam nach St. Elisabeth.

[768] Beerdigung im Innern der Kirche war das Würdigste Ehrenvollste, und hier fanden sich auch die schönsten Grabmäler, die größte Mannigfaltigkeit der Grabformen. Von der in den Fußboden gesenkten Platte zur ausgemalten Nische und der hohen reichverzierten, oft umgitterten tumba; von den Inschriften und Wappen zu den mächtigen Gestalten kelchtragender Priester, schlafender Bischöfe und Edeln. Unter den zahlreichen Prachtgräbern, die namentlich im Münster sich erhoben, war vielleicht das schönste jenes mausoleum sumptuosum, das sich Bischof Friedrich schon bei Lebzeiten in der Mitte der Mainzerkapelle erbaut hatte.

Nicht Grabmal, wenn auch oft in der Nähe des Grabes befindlich, sondern Denkmal und einzig dem Verlangen nach Unvergänglichkeit des Namens dienend waren die Memorientafel und der Totenschild. Steinerne Tafeln jener Art, nachträglich zum Gedächtnis früherer Bischöfe angefertigt und deren Wappen mit der Nennung ihres Todestages tragend, finden sich noch im Münster. Zahlreicher waren die von Enea Silvio bewunderten Totenschilde, bunte Werke der Holzschnitzerei oder Lederplastik, die an den Mauerflächen und Pfeilern aufgehängt wurden; in der Barfüßerkirche sah man solche Schilde der Freiherren von Ramstein, der Sevogel, der Waltenheim, von solchen der Herren von Eptingen mehr als dreißig; in der Karthäuserkirche die Schilde eingeborner Wohltäter wie Zibol Sennheim Rot Zscheckabürlin neben den fremdartig gezierten von Konzilsprälaten; unter den Arkaden des Mittelschiffes im Münster zogen sich zu beiden Seiten lange Reihen von Totenschilden hin.

Auch die Kreuzgänge galten als erlesene Orte der Bestattung, und namentlich die Ordens- und Stiftspersonen behielten diese freien und doch schön beruhigten und geschirmten Hallen oder Gänge sich selbst zur Grablege vor, nahmen nur Wohltäter und gute Freunde des Hauses auch hier auf. In den Münsterkreuzgängen lagen die meisten Domherren und Domkapläne; als zu Predigern ein Laienbruder achtlos durch den Kreuzgang zum Läuten sprang, vernahm er eine Stimme aus der Tiefe, die ihm gebot, mit mehr Ehrerbietung zu gehen, weil jeder seiner Schritte einen Heiligen treffe.

Die offenen Gräberfelder endlich waren für die Massen bestimmt, und nur ausnahmsweise wählten auch Vornehme sich hier ein Grab. Hans Kilchman z. B.; er wollte im allgemeinen Theodorsgottesacker bestattet sein, allerdings auch da auf ansehnliche Weise, daher er bestimmte, daß auf diesem Grabe gesetzt werde ein starkes „fulment“ von gehauenen Steinen, darauf ein großes Kreuz mit einem „geschnittenen herrgott“, ein Dächlein darauf und ein Betstuhl davor.

[769] Zubehör des Kirchhofs waren das hohe Kreuz in seiner Mitte sowie die Totenleuchte. Es war dies eine freistehende Säule mit einem Aufsatz, in dem das „Armeseelenlicht“ zu Ehren der Verstorbenen brannte. Solche Leuchten finden wir auf dem Laienkirchhofe des Klingentals, im Wasen des größern Münsterkreuzgangs, auf dem Kirchhofe zu St. Elisabeth, auf dem Predigerkirchhofe; diesen schmückte auch ein durch den Gewandmann Dietrich Krebs gestifteter Ölberg.

Keinem Kirchhofe fehlte ein Beinhaus zur Bewahrung der ausgegrabenen Knochen; die ansehnlichsten dieser Gebäude waren die als Kapellen geweihten bei St. Theodor und St. Peter; jenes die Allerheiligenkapelle, als Ersatz eines frühern Beinhauses 1514 neu erbaut, mit zwei gewölbten Schiffen, und durch den Basler Weihbischof konsekriert; zu St. Peter war die Niklauskapelle, die 1427, wohl infolge der Kirchhoferweiterung, durch Konrad zum Haupt erbaut und mit einer Kaplaneipfründe dotiert wurde, das alte Beinhaus und hieß deswegen gemeiniglich der Gerner.

Aber Basler Kirchhöfe waren ausgezeichnet, ja weitherum und über die Jahrhunderte hin berühmt durch die Glasgemälde, die sie in der Karthaus, und die Totentanzbilder, die sie zu Predigern und im Klingental umgaben. Die Stimmung des Ortes war in diesen Zyklen mit der höchsten Kraft, wenn auch in durchaus verschiedener Richtung, ausgesprochen. Dem Glanze der bunten Fensterreihen, durch die hohe Donatoren ihr Andenken in aller Pracht und Herrlichkeit festzuhalten sich vermaßen, standen die herben, jedes Machtgefühl vernichtenden Todesbilder gegenüber; bald wehmütig bald mit wildem Hohne führten sie die Gestalt des Todes im Reigen um das Gräberfeld, nichts Anderes verkündend als die Gewißheit des Unterganges.


Wir suchen nunmehr das Leben zu erkennen, dem alle diese Institutionen und Formen dienten.

Kern und tiefste Kraft des Ganzen war der geordnete Gottesdienst, der namentlich in den Klöstern mit dem Anspruch auf unausgesetzte Dauer, als cultus diurnus et nocturnus, auftrat.

Diesem Kultus galt Alles: der Bau der Kirche, die Gründung des Stifts und des Klosters, jedes Statut, jede Vergabung. Es war nicht der Gottesdienst der einsamen Seele, unabhängig von Ort und Stunde, sondern der sichtbare und hörbare, der in äußeren festen Formen, „im heiligen Bezirk und zu heiligen Zeiten“ gefeierte. Ein Gottesdienst im Angesichte der [770] ganzen Stadt und durch den Schall der Glocken ihr unaufhörlich kundgetan. Ein Gottesdienst an einem geweihten Orte, den bald das Verschlossenfeierliche des klösterlichen Oratoriums, bald die stets offene Herrlichkeit der Volkskirche hoch über alles Irdische hob. Hinter den Kramläden an der Kirchenwand, nach den Bettlern und Krüppeln, die das Portal umlagerten, öffnete sich dieser geheiligte Raum.

Hier war die Wohnung des geistlichen Amtes, das in der Messe, im Stundengebet, in der Predigt, in der Spendung der Sakramente seine Pflichten hatte.

Aber um diese einzelnen mächtigen Tätigkeiten legte sich eine stets wachsende Fülle von Feiern Benediktionen und würdevollen Begehungen, unter denen zwar keine als unentbehrlich und wesentlich für den Gottesdienst gelten konnte, deren Gesamtheit aber, indem sie den kirchlichen Betrieb eigenartig gestaltete und den einzelnen Gläubigen immer wieder in Anspruch zu nehmen vermochte, von der höchsten Bedeutung war.

Allem voran vernehmen wir den großen festlichen Rhythmus des Kirchenjahres.

Aus dem XIII. Jahrhundert waren zunächst die allgemein üblichen Feste der Heiligen Jungfrau, der beiden Johannes Peter und Paul Georg Nicolaus Martin Jacobus Katharina Maria Magdalena usw. übernommen worden, neben denen die Sonderheiligen der Orden — Franciscus Dominicus Katharina von Siena Peter Martyr Augustinus — engere Bezirke der Andacht schufen. Voll Leben und Reiz ist nun, wie in diesen Kreis leuchtender Vorstellungen, die nicht Basel allein angehörten, hier neue Mythen und Gestalten eintraten. Einzelne Stifterfamilien brachten den Kultus eigener Heiliger: die Fröwler den der Verena ihrer Heimat, die Tiersteiner Grafen den des Vincenz. Namentlich aber sind Spezialitäten der Basler Kirche zu nennen: die Feste der Bistumsheiligen Randoaldus Morandus Germanus Imerius Pantalus; die Verehrung der beiden großen, im Kultus oft verbundenen Heiligenschwärme der zehntausend Ritter und der elftausend Jungfrauen, unter denen St. Ursula und St. Euphrosyna besonders ausgezeichnet wurden; die durch die Kaufleute bevorzugte Verehrung der Drei Könige als der Reisepatrone. Das Ganze ein ehrwürdiger Besitz, der nie mehr vermindert, stets nur gemehrt wurde. Als solche Erweiterung des alten Zyklus ist zu nennen vorerst das Fest der heiligen Elisabeth, das in den 1310er Jahren hier Aufnahme fand. Sodann das zu Beginn des XIV. Jahrhunderts allgemeiner werdende Fronleichnamsfest. In Basel scheint dieses Fest nicht vor den 1320er Jahren eingeführt worden zu sein; [771] 1351 galt seine Begehung durch eine feierliche Prozession als bekannt, und seitdem war es das größte Fest jedes Jahres und als so unentbehrlich geltend, daß der Bischof gelegentlich mit der Drohung, diese Festfeier ausfallen zu lassen, die Stadt zu seinem Willen zu zwingen suchte. In der glänzenden Prozession, bei der an diesem Tage das Heiligtum des Münsterhochaltars durch die Gassen geleitet wurde, vereinigten sich mit der Domgeistlichkeit die Orden, die Kirchspiele, die Zünfte und Bruderschaften; das Flimmern der zahlreichen Reliquienschreine, die im Zuge mitgetragen wurden, die Kreuze, die Fahnen, der reiche Baldachin über dem Allerheiligsten, die Kerzen, die klingenden Zymbeln, das Rosenstreuen und die Laubkränze schufen ein Bild voll Weihe und sommerlicher Pracht. Aber daß die gesamte Bürgerschaft in den Zünften mitschritt, machte das Fest nicht zu einem städtischen; es war ein reines Kirchenfest; Bürgermeister und Rat blieben dem Zuge fern, nur der Oberstzunftmeister nahm Teil und mit den vier Amtleuten der Schultheiß, worin alte bischöfliche Herrschaft noch spät ihren zeremoniösen Ausdruck fand.

Den Fronleichnam feierte Basel mit der ganzen Christenheit; sein eigenes Hausfest erhielt es am Heinrichstage.

Die Erinnerung an St. Heinrich, den großen Wohltäter des Bistums, war in Basel lange Zeit merkwürdig schwach; nur beim Domstifte lebte sie in Bildern sowie in einigen Prachtstücken des Schatzes. Erst die 1340er Jahre brachten eine Änderung. Es war der Subkustos Johann von Landser, den St. Heinrich nicht schlafen ließ; all sein Streben ging dahin, von dem in Bamberg ruhenden Leibe des Heiligen Teile für Basel zu erhalten, das ja gleich Bamberg durch Heinrich begabt worden war. Er gewann seinen Bischof zunächst dafür, durch Erlaß vom 28. Juni 1347 den Heinrichstag zum Festtage der Basler Diözese zu erheben, und auf Grund hievon konnte dann das Begehren um Überlassung der Reliquien an Bamberg gestellt werden. Vielleicht war es nicht Zufall, daß dies zur selben Zeit geschah, in der Karl IV. als neugewählter König gegen Ludwig den Bayern auftrat und durch Bischof Johann von Basel sofort anerkannt wurde. Ihm, der allenthalben die Behälter und Gräber aufzutun und Partikeln heiliger Leiber an sich zu nehmen liebte, war der Eifer des kleinen Subkustos in Basel verständlich, und gern ergriff er diesen Anlaß, um den Bischof für seine Parteinahme zu belohnen. Zu Beginn des Septembers 1347 ging das Heiltum von Bamberg ab, als Sendung desselben Marquard von Randegg, Dompropsts von Bamberg, der kurz danach im Auftrage Karls zum Papste ging und von Avignon heimkehrend am 20. Dezember 1347 mit [772] dem Kaiser in Basel zusammentraf. Während die Reliquien unterwegs waren, starb Ludwig; am 4. November langten sie in Basel an. Aber noch war die Stadt nicht vom Bann absolviert; erst als dies geschehen, konnte der Heinrichskult feierlich promulgiert werden, am 4. Juli 1348.

Endlich St. Theobald, der durch Stiftung des Hüglin von Schönegg eine Kapelle bei der St. Leonhardskirche erhielt; sein 1369 in dieser Kapelle niedergelegtes Heiltum aus Gubbio wurde als wundertätig besucht und verehrt.

In der Tat war keine stärkere haltbarere Einbürgerung eines Heiligen in Basel zu denken, als eine solche durch Gewinnung seiner Reliquien. In diesen Stücken lebte er hier leiblich; ritt ein Fürst ein, so konnten ihn neben den profanen Stadtbewohnern auch diese hier heimischen Heiligen empfangen. Dazu traten das Hochgefühl der über den Gräbern der Märtyrer triumphierenden Kirche, der Glaube an wunderbare Heilkraft und der tatsächliche ökonomische Vorteil, den der Besitz eines solchen Schatzes bringen konnte. Wir verstehen daher den Eifer, mit dem z. B. 1319 nicht nur der Klerus, sondern offiziell auch die Stadtgemeinde Kleinbasels sich für ein Armstück des heiligen Theodor aus Bischofszell bemühte, 1360 das Domkapitel den Gnadentaler Frauen einige Reliquien aus San Silvestro a porta Settimiana in Trastevere abjagte.

Der allenthalben in den Basler Gotteshäusern anzutreffende Vorrat solchen Heiltums war groß und weitberühmt, am zahlreichsten natürlich im Münster, dann zu St. Andreas, zu St. Leonhard usw., und wie die Kirche die Wiedergewinnung eines ihr abhanden gekommenen Stückes dieser Kostbarkeiten zu belohnen pflegte, erfuhr Greda zum goldenen Ringe; sie verschaffte dem Domkapitel einen Splitter des heiligen Kreuzesholzes wieder, der ihm gestohlen worden war, und erhielt dafür die feierliche Begehung ihres Anniversars im Münster.

Wir haben nicht nur an die gottesdienstliche Feier der Festtage zu denken, viele wurden begangen tam in foro quam in choro. Die Schülerfeste an den Tagen der Heiligen Gregorius und Nicolaus, der Marientag im September „den man nennt zem Turney ze Basel“, das große Jugendfest am Georgstage mit dem Auszuge nach Haltingen oder einem andern muntern Orte der Nachbarschaft zeigten sehr weltliche Formen der Festandacht. Aber noch in anderer Weise konnten die jährlich wiederkehrenden kirchlichen Festtage mit ihren Gebräuchen und Leistungen — den Lichtmeßkerzen, den Ostereiern und Osterlämmern, den Lukasschuhen, den Martinszinsen, den Speisebesserungen für Spitalkranke usw. — in einzelnen, sonst vielleicht monotonen Lebensgängen zu Ereignissen werden.

[773] Auch bei den Benediktionen griff die Kirche vielfach über das eigentlich Gottesdienstliche hinaus und überspann alles profane Leben mit dem Gold ihrer Segnungen Weihen und Exorcismen. Die Wetterprozessionen, die Weihung der Flur, die vom Bischof am Hochaltar des Münsters vollzogene Segnung des Schwertes für den neuen Ritter, die Aussegnung der Wöchnerinnen mögen aus der Menge genannt werden; namentlich aber verdient Beachtung das große Gebiet der Exequien sowie der Segnung Besprengung Bezündung und Bestreuung der Gräber.

Das Meiste geschah doch in den Kirchen und als rein gottesdienstliches Handeln. Welche Formen man ihm zu geben verstand, zeigen die Statuten, die Einträge in den Anniversarienbüchern, das große Zeremonialbuch des Domkaplans Brilinger. Es öffnen sich dabei die schönsten Blicke auf Kircheninterieurs, auf feierliches Auf- und Niedersteigen über Stufen, auf Bewegen und Reichen; und erstaunlich ist auch, bei aller Verschiedenheit sowohl der äußern Mittel als der Gesinnung, die allerorts aufleuchtende Pracht der Ausstattung mit Geweben Perlenstickereien Gemälden Goldgefäßen usw. Über all diesen Prunk hinweg wirken noch stärker die in den reichen wohlerwogenen Geberden, im Aufbau des Ganzen, in Reihenfolge und Tempo sich bezeugende Kunst, der Geist und das Stilgefühl feinster Art.

Diesen Aufwendungen und Repräsentationen, die beinah alle sich regelmäßig wiederholten, standen jene nur einmaligen Akte gegenüber, die deswegen, aber auch um ihres Gehaltes willen, als die bedeutendsten gelten konnten: die Weihen kirchlicher Räume. Doch kamen sie in dieser spätern Zeit selten vor. Die Kirchen standen schon; das mächtige Gefühl und die Freude, die einst ihre Weihung begleitet hatten, lebten nur noch entartet in den jährlichen Kirchweihfesten, deren größtes die „kalte Kirchweih“ des Münsters am 11. Oktober war; aus der ganzen Umgegend strömte das Volk an diesem Tage hier zusammen, zum Gepränge des Kirchenfestes sowohl als zum Jahrmarkt auf dem Münsterplatz unter den mit hellen Fähnlein geschmückten Türmen. Ernst und schön standen neben solchem Treiben die wirklichen Weihungen, die jetzt noch geschahen. So die grandiose Szene der Reconciliation des im Erdbeben verschütteten Münsterchores am 25. Juni 1363. Und welche Fülle des Gefühls, welcher Glaube an Überirdisches und an die Sorge der Himmlischen und Ewigen für die Menschennot, welcher Glanz von Namen, von Morgenland und Altertum, welche Wucht und Würde der Zeremonie hart neben der Alles überwindenden Kraft stillen Wandels lebt noch heute in der großen Prachturkunde von [774] 1441 über die Weihe von Kreuzgängen Altären Sakristei und Kapelle der Karthause durch Bischof Stephan von Marseille.

Die stärkste Form der feierlichen großen Kultusgeberde war die Prozession, das Vereinigen aller Beteiligten und ihr gemeinsames Dahinschreiten durch den heiligen Raum: das Innere der Kirche, die Kreuzgänge, das Atrium.

Solche interne Prozessionen fanden häufig statt, am häufigsten wohl beim Domstift; jährlich am Lukastage zogen die Nonnen des Steinenklosters die Litanei singend durch ihren Kreuzgang, zur Erinnerung an das große Erdbeben und „damit sie Gott fürder behüte“.

Aber hiebei konnte es nicht bleiben. Was in jeder einzelnen Kirche sich bewegte, strömte gelegentlich aus mehreren oder aus allen Kirchen der Stadt zu einem einzigen prächtigen Ganzen zusammen. Dies konnte geschehen, um einen bestimmten Zusammenhang zu dokumentieren; so in Kleinbasel am Antonius- und am Thomastage die Prozession von St. Theodor nach der Antonierkapelle zur Wahrung der Pfarreirechte. In den großen Prozessionen der drei Tage vor Himmelfahrt und des Markustages offenbarte sich die alte Einheit des städtischen Kirchenwesens; mit dem Domklerus zogen da die Geistlichen und Untertanen der Großbasler Kirchspiele, voraus ein Wald von Fahnen Kreuzen Kerzen, dann die Personen.

Im Übrigen waren die Prozessionen große Kultusformen, Verlegung des Gottesdienstes auf die Straße, Andachtsübung, prunkende Sammlung der Gläubigen als der Gefolgsleute eines Heiligen. So stellt sich uns der Prachtaufzug des Fronleichnamstages dar, so das große Ehrengeleite der Theobaldsreliquien 1369 usw. Neben der Pfarrgeistlichkeit nahmen auch die Mönche teil, bei den Untertanen neben den Männern auch die Frauen. Und zum allerhöchsten Pathos erhob sich die Veranstaltung in der Form erregter Bittgänge der ganzen Stadt, Groß- und Kleinbasels, bei drohender Teurung, bei Gefahr und Sterbensnot; über die Stadtgrenzen hinaus, bis zu fernen Gnadenorten — Totmoos Einsiedeln — gingen einzelne dieser Züge.

Durchweg aber galt die strengste Ordnung. Nicht nur die Tage der meisten Prozessionen waren vorausbestimmt; auch der Weg, den sie zu nehmen hatten, die Stationen, die sie unterwegs machten, ihre Gesänge und ihre Gebete, Alles war geregelt. Die steile Treppe hinter dem Chor von St. Martin hinauf, dann durch die Kirchen St. Martin und der Augustiner, ohne Rücksicht auf deren Meßfeier und Gottesdienst, ohne Pause, zuletzt pompös rings um das Atrium des Münsters zog Jahr um Jahr am Markustage die große Prozession der Kleinbasler. Auch die Reihenfolge [775] der Körperschaften im Zuge, der Personen und Würdenträger innerhalb jeder Körperschaft war festgesetzt; aber die Verhältnisse wechselten und die Ambitionen wuchsen, sodaß sich das Konzil in endlosen Verhandlungen mit solchen Präzedenzstreitigkeiten des Basler Klerus zu befassen hatte. Das Volk der Untertanen scheint meist in der Gruppierung nicht der Kirchspiele, sondern der Zünfte (Bruderschaften) mitgeschritten zu sein; die Kerzen, die es trug, bildeten einen wesentlichen Teil der ganzen festlichen Erscheinung.


In solcher Weise gestaltet waren der Gottesdienst und die Tätigkeit des geistlichen Amtes, die dem Einzelnen unaufhörlich nahe traten, die mit ihren Worten, ihren Sakramenten, ihren Gnaden und Gebräuchen seine Seele und seine Sinne von allen Seiten her ergriffen.

Um so gewaltiger ist daher die Vorstellung davon, daß die Kirche nicht allein die Macht hatte, sondern auch ihrem Interesse gemäß finden konnte, diesen ganzen Komplex kirchlichen Lebens zu Zeiten aufzuheben und ihre gewohnten Gaben und Leistungen zu versagen.

Zunächst durch das Mittel des Bannes oder der Exkommunikation d. h. der Ausstoßung aus der sichtbaren Gemeinschaft der Gläubigen. Der Exkommunizierte hatte keinen Zutritt zum öffentlichen Gottesdienst; in seiner Gegenwart durfte keine Messe zelebriert werden; er erhielt keine Sakramente und kein kirchliches Begräbnis. Seine Exkommunikation wurde von der Kanzel verkündet sowie durch Anschlag an der Kirchentüre bekannt gemacht.

Diese kirchliche Strafgewalt vollzog sich frei und mächtig, ohne Rücksicht auf weltliche Gewalten. Ja wir sehen, daß auch im Gebiete der letztern die kirchlichen Forderungen hinsichtlich der gesellschaftlichen und rechtlichen Nachteile des Bannes erfüllt wurden. Exkommunizierte Mitglieder des Rates und des Gerichtes waren von den Sitzungen dieser Behörden ausgeschlossen; dem Gebannten war auch jede Gemeinschaft seiner Zunft oder Gesellschaft verwehrt; kam er gleichwohl auf die Stube, so wurde er gestraft. Kein Knecht und Geselle durfte ihm dienen oder werken. Vor Gericht konnte er keine Klage anbringen und Niemand war ihm vor Gericht zu antworten schuldig. Als 1395 der päpstliche Kommissär zahlreiche Münsterkapläne wegen Renitenz gebannt hatte, durfte Niemand mehr mit ihnen verkehren, Keiner zu ihnen sprechen, sie grüßen, sie herbergen, mit irgendwelcher Sache oder Arbeit ihnen beistehen, ihnen leihen verkaufen raten usw. Die gesamte Lebensgemeinschaft, Handel und Wandel waren ihnen genommen.

Daß die Kirche schwere Sünden in solcher Weise ahndete, ist begreiflich. Aber anstößig und von ruchloser Härte war, wie sie den Bann als [776] Strafe und Nötigung in Verwaltungsdingen, zur Handhabung kirchlicher Disziplin, ja im Kampf um ihre weltliche Macht gebrauchte. Es war die widerlichste Vermischung des Heiligen mit rein äußerlichen und zeitlichen Interessen, wenn die Kurie 1395 jene Kapläne deswegen exkommunizierte, weil sie einen von ihr providierten Kanoniker nicht anerkannten, oder wenn 1475 wegen einer ähnlichen Differenz sämtliche Domherren in den Bann getan wurden. Aber das Schlimmste, eine wahre Entwürdigung der Kirche und ihrer Kraft war die häufige, ja ganz normal gewordene Anwendung des Kirchenbannes als prozessuales Zwangsmittel. Die Folgen der Maßregel waren in jedem Falle ungeheuer. Handelte es sich um Kleriker, die als gebannt ihr Amt nicht versehen konnten, so litten die Gläubigen; „was geht uns der Pfaffen Streit an?“ fragten sie erbittert und verlangten ihren Gottesdienst; auch in Beschwerdeschriften des Rates kehrt die Klage wieder, daß etliche Pfaffen schon Jahr und Tag wegen Schulden im Banne seien und man um ihretwillen in mehreren Parochieen ohne Gottesdienst sein müsse. Viel häufiger aber war natürlich die Exkommunikation von Laien in Prozessen. Als der Rat 1498 das Fröhnungsverfahren seines Schultheißengerichtes verbesserte, dessen Mängel Manchen zum Offizial getrieben hatten, wollte er damit den Leuten nicht nur die Mehrkosten des geistlichen Rechtsganges, sondern auch die Beschwerung und Schädigung ihrer Seelen durch den Bann ersparen. Peter von Weißenburg hatte des Hans Rot Frau mit geistlichem Recht in den Bann gebracht; trotzdem sie einen Teil ihrer Schuld erlegt hatte, wollte er sie noch nicht „usbannen“; da nun 1510 Weihnachten bevorstand, mußten sich die Zunftherren bei Peter für die Schuldnerin verwenden, damit sie aus dem Banne kommen und der heiligen Zeit genießen konnte. 1454 wurde gefragt, ob der Totengräber zu St. Leonhard, der wegen Geldschuld exkommuniziert worden, gleichwohl die Leute begraben dürfe.

Vom Banne verschieden war das Interdikt d. h. die Einstellung des öffentlichen Gottesdienstes und die Sistierung der meisten kirchlichen Funktionen. Die Glocken verstummten, die Kirchtüren blieben geschlossen, keine Eucharistie und keine letzte Ölung wurde gespendet, kein kirchliches Begräbnis gewährt. Es war ein Zustand, der nur als seltene Ausnahme möglich gewesen zu sein scheint. Statt dessen wurde das Interdikt unaufhörlich ausgesprochen, und auch hier wieder zeigt sich uns das furchtbare Schauspiel, daß die Kirche zu politischen Zwecken, zu Wahrung ihrer Macht und ihrer Disziplin ein Mittel anwendete, das Tausenden von Unschuldigen und Unbeteiligten die schwersten Beängstigungen brachte. Ganze Strecken des XIV. Jahrhunderts und auch im XV. Jahrhundert noch manche [777] Jahre sind als Zeiten gekennzeichnet, während derer die Stadt von solcher Züchtigung heimgesucht wurde: beim Streite Gerhards und Lütolds 1310, Johanns und Hartungs 1325 um das Bistum; beim Streite des Domkapitels mit dem Rat über Erhebung eines Ungelds 1317; bei den Beginenkämpfen 1318 f. und 1405 f. Während des Kampfes König Ludwigs mit dem Papste bestand das Interdikt in Basel über ein Jahrzehnt lang; es wiederholte sich unter Johann von Vienne 1366, beim Schisma 1382 f. Zuweilen suspendiert, aber erbarmungslos immer wieder erneuert. Daß die Kirche dergestalt nach Willkür ihren Gnadenschatz schloß oder öffnete und ihren Dienern verbot oder erlaubte, dem Volke beizustehen, schuf eine Not ohne Gleichen. Vor Allem natürlich beim Volke. Aber auch beim Klerus, der in schwere Konflikte geriet und für den, weil er nicht vom Gehorsam gegen die Obern, sondern vom Amte lebte, die Sistierung dieser Amtstätigkeit durch das Interdikt empfindliche Folgen ökonomischer Art hatte.


Das normale Verhältnis des Einzelnen zur Kirche, die offiziell anerkannte Äußerung religiösen Sinnes zeigt sich uns in verschiedenen Formen.

Neben der Teilnahme am Gottesdienste, dem Anhören von Messe und Predigt, dem Empfangen von Sakramenten und Benediktionen war es die Anbetung der Reliquien, das Geleiten des Fronleichnams, das Mitgehen in Prozessionen. Sodann das Bekennen von Sünden und die Übernahme der Buße, für uns in der Überlieferung festgehalten durch die Vorschriften für die alljährlich am Gründonnerstage vor dem Portal des Münsters stattfindende große Zeremonie der öffentlichen Bußzucht, und durch die diskreten Buchungen einst veruntreuten oder vorenthaltenen, nun in Folge der Beichte nachgelieferten Gutes in den Rechnungen einzelner Kirchen und der Stadt. Was zur Absolution hinzutrat, war das Abbüßen zeitlicher Sündenstrafen, die Genugtuung durch verdienstliche Werke: Gebet Enthaltung Opfer.

Das Letzte, die Gabe an die Kirche, war die für uns sichtbarste Form des guten Werkes. Man schenkte Geld, Zinsen oder Kapitalien, große oder kleine Summen. Man schenkte Häuser Liegenschaften Kleider Waffen Pferde Hausgeräte. Man stiftete dauernde Einrichtungen und Zierstücke. Ritter opferten ihre seidenen Waffenröcke, damit aus ihnen Meßgewänder, Kaufleute ihre silbernen Schalen und Löffel, damit aus ihnen Kelche gemacht würden. Was Kirchenbau und Kirchenausstattung hieß, kam zu Stande hauptsächlich durch Leistungen von Wohltätern. Andre Absichten wieder führten zur Stiftung von Messen, von Pfründen, von Prozessionen, von ausgezeichneter Begehung einzelner Feste. Werke großer Art waren die [778] Stiftungen ganzer Beginenkonvente durch die Goldschmiedin, Johann Relin, Katharina am Wege u. A. Als das Höchste endlich durfte die Klostergründung gelten: 1313 die Gründung der Himmelspforte durch Otto Münch, hundert Jahre später die Gründung der Karthause durch Jacob Zibol.


Völlig eine Sache für sich war die Gabe an die Armut, die Fürsorge für Kranke Verlassene Fremde. Vor Allem ist an die dauernde und tausendfältige Wohltätigkeit der Einzelnen zu denken, eine ungeheure Gesamtheit von Leistungen, deren wenigste natürlich uns bekannt werden. Wir nennen die Adelheid Biderman, die täglich vor ihrer Haustür Almosen austeilt und täglich bedürftige Kleriker an ihrem Tische speist, oder die Witwe Waltenheim 1479, deren einzige Tochter früh gestorben ist und die nun arme Kinder um Gottes Willen zu sich nimmt und aufzieht. Großes taten auch unaufhörlich die Klöster mit hospitalitas und elemosyna; wiederholt regelt Cluny die Übung dieser hochgehaltenen Ordenspflichten zu St. Alban, und von den Spenden, die auf dem Klosterhofe zu Klingental regelmäßig ausgeteilt wurden, ist oft die Rede. Auch der Rat der Stadt mochte nicht zurückbleiben; sein offizielles Wohltun präsentiert sich uns vor Allem als das beständige Almosengeben an die im Rathaus vorsprechenden Bettler; gelegentlich ist es aber auch das Beschäftigen Arbeitsloser, das Austeilen von Getreide in Teuerungszeiten, und in kalten Wintern die Einrichtung von Wärmestuben.

Das Wirksamste waren einige große Stiftungen und Vergabungen.

Hans Wiler, der seine niedre Sundgauer Abkunft so schnell in den höchsten Ämtern der Stadt vergessen konnte, scheint doch als der Heimischgewordene gerne für die Fremden, die Hilf- und Obdachlosen gesorgt zu haben. Er gründete eine Elendenherberge d. h. ein Hospiz, „fremde bylgrin und arme elende lüte darin ze herbergende“. Zuerst in der Nähe des Spitals. Dann 1413 verlegte er die Anstalt in das von ihm erworbene Haus beim Spalenschwibogen, das die Trinkstube der Schmiede gewesen war; hier wurde die Herberge durch Hinzunahme eines zweiten Hauses erweitert und erhielt 1423 eine Ordnung von Bischof Johann. Aber auch in diesem Zustande genügte sie mit der Zeit der Menge der sie aufsuchenden Pilger und Reisenden nicht mehr, sodaß eine nochmalige Verlegung nötig wurde. Diese geschah durch Konrad zum Haupt, dessen lebensvolle Gestalt sich uns bei diesem Anlaß am deutlichsten zeigt.

1392 wird er Bürger und ist zuerst safranzünftig; dann geht er zu den Achtburgern und wird diesem Vornehmwerden gerecht durch Erwerb [779] des alten Ritterhauses der Münch bei St. Peter. In allen möglichen Geschäften treibt er sich herum, ist Bankier der Straßburger Müllheime, Großkreditor der Stadt Colmar und des Herzogs Friedrich von Österreich; die Herzogin Katharina nennt ihn ihren Apotheker. Zuletzt schließt er, der neben mehreren Bastardkindern eine einzige eheliche Tochter hat, mit einigen frommen Donationen großen Stils seine Tätigkeit.

Er wurde der zweite Stifter der Elendenherberge Wilers, indem er ihr 1441 den Münchenhof samt großem kostbarem Hausrat schenkte, „damit die sechs werk der erbarmherzigkeit an armen fremden elenden lüten, geistlichen und weltlichen, jungen und alten, desto vollkommener vollbracht werden mögen“; im folgenden Jahre gab Bischof Friedrich hiezu seinen Willen, unter Aufhebung des frühem Hospizes, dessen Rechte und Güter sämtlich auf das neue übertragen wurden.

Ähnliches geschah in Kleinbasel durch Ludwig und Hans Kilchman 1502. Diese beschlossen, „ein ewiges gotteshaus und herberge der armen fremden pilger, so des heiligen almosens würdig seien“, in ihrem Seßhaus an der Rheingasse einzurichten, und verschrieben dieser Herberge ihr gesamtes Gut auf die Zeit ihres Todes. Nach dem Tode des Hans Kilchman konnte diese Herberge 1521 eingerichtet werden. Auch sie war Erneuerung einer frühern Anstalt dieser Art, die ebenfalls in der Rheingasse bestanden hatte.

Zahlreich waren die Stiftungen einzelner Almosenverteilungen oder Spenden. Als einmaliger Leistung etwa in der durch Jacob Waltenheim gewählten Form, der 1469 festsetzte, daß während der dreißig Tage nach seinem Tode täglich zwölf Arme in seinem Hause gespeist werden sollten. Häufiger ist, daß der Donator eine Summe bestimmt, aus der jährlich zur gegebenen Zeit, meist an seinem Anniversartage, Geld oder Brot unter die Armen verteilt werden soll. Diese Spende ist öffentlich anzusagen; sie geschieht vor der betreffenden Kirche, zuweilen am Grabe des Stifters, auf das die Spendbrote gelegt werden. Meist wird die Spende Armen überhaupt verheißen, da sich dann Alles auf den Spendeplatz drängen kann; oder aber nur Hausarmen Kindbetterinnen Spitalkranken Feldsiechen, ehrbaren Töchtern zur Aussteuer für die Ehe usw. Auch von Anderem als von Geld und Brot ist etwa die Rede, namentlich von Schuhen und von Tuch; deren Verteilung geschieht zu Winteranfang am Lukastag und gibt ihnen den Namen von Luxröcken und Luxschuhen. Urkunden der Andreaskapelle, Listen des Petersstifts usw. zeigen, wie allenthalben und wie oft solche Spenden stattfinden, wie ihre Besorgung ein selten unterbrochenes Geschäft der Kirche ist.

[780] Daneben bestanden aber noch selbständige dauernde Almosenfonds. So das Almosen zu St. Nicolaus in Kleinbasel, das Almosen zum Elendenkreuz vor dem Riehentor, das 1523 durch Peter von Weißenburg gestiftete Almosen, das Almosen auf Burg usw. Die Verwaltungen dieser Fonds waren für Besorgung des Almosengebens in den verschiedensten Formen organisiert; sie übernahmen (meist in der Gestalt von Käufen) die Ausführung zahlreicher, an Heiligen- und Festtagen bald in dieser bald in jener Kirche auszuteilenden Spenden samt der Entrichtung von Gebühren an die dabei tätigen Geistlichen Glöckner usw.

Bemerkenswert ist die enge Verbindung dieser Caritas mit der Kirche, ihr Gebundensein an deren Vermittelung. Zum Glauben an das ewige Verdienst des guten Werkes tritt die Auffassung von der Glorie der Armut, von der Heiligkeit des Almosens. Vor der Kirchtüre werden die Spenden ausgeteilt und ist der Liegeplatz der Bettler und Krüppel. Die stolzen Adelshöfe zu St. Peter hegen in ihrer Mitte die Elendenherberge samt ihrer Kundschaft. Arme Weiber und Männer müssen klagend um die Bahre des Reichen sitzen, sind die würdigsten Statisten der standesgemäßen Totenfeier.


Mit aller Macht aber läßt uns die Fülle der Zeugnisse bewußt werden, daß das gesamte Kirchengut und Armengut durch Schenkungen geschaffen und erst nachträglich Gegenstand geschäftlicher Mehrung geworden ist. Und wie unübersehbar groß, den städtischen Bereich weit hinter sich lassend, ist der Kreis dieser Schenkenden, wie mannigfaltig Art und Maß der einzelnen Leistung, von den zahllosen kleinen, in Opferstöcken und durch Kollekten zusammengebrachten Gaben namenloser Hilfsbereitschaft bis hinauf zu mächtigen Stiftungen, mit denen Herrscher und Herren der Kirche dienen.

Die Tendenz dieser Liberalität kann natürlich in jedem einzelnen Fall ein andere sein. Menschenfreundliches Gefühl streitet mit dem selbstsüchtigen Verlangen nach himmlischem Lohne. Reine Liebe zur Kirche, Freude an Gottes Dienst bestimmen Viele zur Dahingabe selbst ihres Köstlichsten. Und hart daneben leitet eine andere Gesinnung die Oblationen an das Kloster, in dem die Schwester wohnt, und an die Pfründe, deren Kaplan der Sohn ist.

Auch sonst zeigen sich Spezialitäten: die Dotierung eines Katharinenaltars aus dem Bußgelde, das ein Jude wegen Schmähung dieser Heiligen hat erlegen müssen; die Stiftung einer Kaplanei in der Niklauskapelle durch Hans und Werner Sürlin zur Sühne für den am Domherrn Hans Werner Münch verübten Totschlag 1414.

[781] Dabei ist zu beobachten, wie Frömmigkeit Kunstfreude und Ruhmsinn sich begleiten und antreiben. Daher die Stifterwappen an Pfeilern Wänden Kelchen Priesterkleidern. Daher auch beim Grabe Johanns zu Rhein in der Johanniterkirche die monumental in Stein gehauene Urkunde über seine Altarstiftung von 1307. Am stärksten, vielleicht durch italiänische Vorbilder angeregt, offenbart sich solche Absicht auf Verherrlichung des eigenen Andenkens in der Kapelle des Marschalls von Spoleto, Hüglin von Schönegg, zu St. Leonhard mit ihrem Prunke von Wappenschilden und Statuen.

Während die Stiftung einer Messe, eines Lobgesanges, einer Leuchte usw. nur den Gottesdienst bereicherte, brachte die Pfründenstiftung eine Vermehrung des kirchlichen Personals. Sie schuf ein neues Benefiz, eine durch Willen und Bedürfnis des Stifters geordnete neue Kultusstelle in der Kirche. Sie war deshalb auf den Konsens des Kirchherrn angewiesen, und in der Regel stand die Besetzung dieser neuen Pfründe dem Stifter, nach seinem Tode dem Kirchherrn zu, sofern nicht Jener den Patronat seinen Nachkommen reservierte und damit die Kaplanei zur Familienpfründe machte.

Wie viel eine einzelne Pfründenstiftung bewirken konnte, sahen wir bei St. Andreas; dort erwuchs aus ihr der tatsächliche Zustand einer der Safranzunft vorbehaltenen Kapelle. Ähnlichen Eindruck machen die Stifterkapellen, z. B. die Kapellen der Schaler und der Fröwler beim Münster. Nur daß hier zur Benefizstiftung noch die große bauliche Leistung trat; wenn dann in einer solchen Kapelle sich Inschriften Wappen Grabmäler und einzelne persönliche Erinnerungsstücke ansammelten, konnten sie die Vorstellung eines eigentlichen Familienraumes geben.

Tausende dieser Vergabungs- und Stiftungsdokumente liegen vor uns, und in wie vielen verbergen sich die bewegtesten Vorgänge der Wirklichkeit, bei denen auch andere als die schon erwähnten Mächte mitwirken: die Todesangst, die Reue, das Vertrauen, die Gedanken an Kinder und Erben, das Beugen unter den Willen des Beichtigers u. s. f.


Was am meisten trieb, war doch immer die Hoffnung auf ewigen Lohn. Die alte Formel vom himmlischen Ernten des auf Erden Gesäeten lebte noch immer. „Nichts ist ungewisser als der Tod, nichts ungewisser als seine Stunde, nichts Anderes folgt dem Menschen von dieser Welt in die Ewigkeit nach als seine guten Werke“, schrieben unzählige Notare vor den Krankenbetten auf ihre Papiere. Wer der Kirche spendete, hoffte damit seiner Seele eine Hilfe zu bereiten, eine Milderung ihrer Pein im Fegefeuer; in ergreifender Weise sehen wir die dauernde Lobpreisung Gottes [782] in den Bauwerken und in der Köstlichkeit alles Gerätes begleitet durch das notvolle Bemühen um die Ruhe der Seele, um Seligkeit und Erlösung.

Dem Seelenheile sollte zunächst die Fürbitte der Lebenden dienen. Sie war es, die etwa der müde Schreiber am Ende seiner Arbeit für sich aufrief, die aber vor Allem von der Kanzel und im Klosterchore geschah und deren Macht sogar auf dem Grabsteine noch durch den Toten erbeten wurde.

Aus diesem Begriff der Fürbitte erwuchs der gleichsam eine vertragliche Sicherung des Seelenheils gewährende Jahrtag mit der gestifteten Messe. „Erst diese gab der Fürbitte durch das Eintreten des geopferten Christus zu Gunsten der Seele die Gewähr des Erfolges.“ Die Jahrtagstifter konnten bestimmen, daß schon zu ihren Lebzeiten an einem bestimmten Tag ein Gottesdienst für ihr Seelenheil gehalten werde, — so z. B. zu St. Peter Ursula von Laufen und Clara Rinkin —; ein solcher Gedenkgottesdienst hieß memoria. Viel häufiger war, daß die Stifter eine solche Feier für die Zeit nach ihrem Tode festsetzten durch Stiftung der jährlich an einem bestimmten Tage zu begehenden Totenmesse.

Dies waren die Seelgeräte, die Jahrzeit- oder Anniversarienstiftungen, bei denen aber der Stifter meist nicht für seine Seele allein, sondern zugleich für die Seelen seines Ehegatten, seiner Vorfahren, seiner Geschwister usw. besorgt war. Für die Seelen Aller, denen er Fürbitte schuldet, wie bei der Stiftung der Elisabeth Helbling 1321 gesagt wurde, oder mit anderer Wendung des Gedankens: für die Seelen aller der Vorfahren, die je Arbeit um das vergabte Gut gehabt haben. Aber wie man alten unbekannten Ahnen im Läuterungszustande des Purgatoriums beizustehen sich bemühte, so auch Fremden, ganzen Gruppen und Gemeinschaften. Das Domkapitel feierte die Jahrzeiten aller Prälaten und Domherren, aller Pfründenstifter, aller Wohltäter des Münsters. Auch Klingental, das St. Petersstift, die Bruderschaften und die Zünfte begingen solche Universalanniversarien, und nichts Anderes waren das große Requiem Kleinbasels am Mauriciustag und der Allerseelentag der gesamten Kirche am 2. November. Ähnliche Anschauung, aber bestimmten Taten Leiden und Errungenschaften geltend und von einem Gemeingefühl höchster Art getragen, lebte in den Schlachtjahrzeiten, die der Rat 1354 für die Toten von Tätwil, 1425 für die Toten des Ellikurter Krieges, später auch nach Grandson Murten und den italiänischen Feldzügen stiftete und die zugleich offizielle Dankfeste darstellten.

Um so individueller und der höchste Stolz einer Chorgemeinschaft waren die Jahrzeiten der Fürsten: der Könige Rudolf Wenzel Friedrich [783] und der Königin Anna im Münster, der Herzoge von Österreich ebenfalls im Münster sowie zu Predigern, im Klingental, im Gnadental, zu St. Klara, an den Steinen. Doch ruhten diese Jahrzeiten schwerlich auf Stiftungen, eher auf freier Gewährung der Kapitel und Konvente, die ihren Dank für Wohltaten, für dauernden Schutz und guten Willen in dieser feierlichen, bis zur Ewigkeit wirkenden Weise zu bezeugen suchten.

Das rührende Gegenstück solcher Feiern voll Glanz und Klang waren dann die Jahrzeiten der Unbekannten, kleiner Leute, deren Gaben aber nicht deren Namen im Jahrzeitbuch, z. B. des Klingentals, eingetragen waren. Gefahr war nicht dabei, wenn nur das Anniversar gefeiert wurde; denn Gott kannte die Namen.

Jährlich an dem in der Stiftung bestimmten Tage, nach geschehener Ankündigung von der Kanzel, wurde die Jahrzeit mit Vigilie und Seelenmesse begangen; an diese Feier im Chore schloß sich die Zeremonie am Grabe des Stifters, das mit einem Tuche bedeckt, mit brennenden Kerzen umstellt, unter Gesängen Gebeten und Segnungen durch die Priester besucht wurde. Für alle diese Leistungen der Kirche wurden die stiftungsgemäßen Gebühren an die Mitwirkenden entrichtet.

Dies war die Normalform des Anniversars, an die sich aber zahllose Varietäten legen konnten je nach Laune und Erfindung, Rücksicht auf Andre, Größe des Stiftungsgutes usw. Die Jahrzeit wurde nicht nur an einem Tage im Jahre gefeiert, sondern mehrmals; oder neben das Requiem traten noch zahlreiche gesprochene Messen, da dann so viele Priester mitwirkten als Messen zu zelebrieren waren; oder die Ankündigung geschah nicht allein von der Kanzel, sondern auch im Hause des Stifters oder seiner Nachkommen; oder ein Anniversar sollte das einzige bleiben, am gleichen Tag in derselben Kirche kein anderes gefeiert werden dürfen; oder es sollte in der Krypta begangen werden, nicht im Chor, um den ordentlichen Gottesdienst nicht zu stören; oder, wenn Jahrzeitkirche und Grabkirche nicht dieselben waren, wurde bei der Jahrzeitfeier im Chore der Katafalk, die „Chorbar“, errichtet mit Grabtuch und Kerzenglanz; oder ein und dasselbe Anniversar wurde gleichzeitig in mehreren Kirchen gefeiert, die alle der Stifter hiezu verpflichtet hatte; so sehen wir den Grafen Rudolf von Tierstein, den Klingentaler Kaplan Peter Schlatter, die Witwe Burchard Münchs und Andere ihre Jahrzeiten in fast allen Kirchen Basels zugleich bestellen; Walther von Roggenburg sicherte sich 1347 seine Jahrzeit in sämtlichen Barfüßerkonventen der Custodie Basel, das Geschlecht von Friesen die seine in den Cluniacenserprioraten St. Alban St. Morand und Feldbach.

[784] Das Ganze war ein Komplex der mannigfaltigsten Verrichtungen, jedes Anniversar hatte wieder seine Eigenart, und bei jeder Pfarrei, jedem Stift und Kloster mehrten sich die Anniversarienstiftungen unaufhaltsam. Die Kirche konnte diesen Pflichten nur durch die größte Ordnung, die sorgfältigste Buchführung gerecht werden, und überaus eindrücklich ist das Bild dieses Betriebes, das uns ihre Jahrzeitbücher bieten. Tag um Tag ist Jahrzeit, ist ein Ereignis in der Kirche, ist eine von den Beteiligten geglaubte und heilig gehaltene Wirkung ihres Handelns. Überall ein Hantieren mit Bahrtüchern und Kerzen, ein Messelesen Beten Singen Besprengen Räuchern Läuten.

Daß den bei solchen Jahrzeitfeiern Tätigen ihre Gebühren zukamen, ist schon gesagt worden; aber die Stifter sicherten nicht selten die Abhaltung auch noch auf andere Weise: sie machten, namentlich in Klöstern, die Insassen selbst und überdies die Armen zu „Aufsehern, indem sie anordneten, daß am Festtage Jenen ein besseres Mahl gegeben, Diesen eine Spende gereicht werden mußte“. Alle größeren Jahrzeitstiftungen enthalten diese Besserungen des Klostertisches, die Zugaben von Fleisch und Wein. Und noch weiter geht die Sorgfalt dadurch, daß sie auch die Bewohner anderer Gotteshäuser ins Interesse zieht; der Stifter setzt über das Gotteshaus, das seine Jahrzeit feiern soll, eine Kontrolle, indem er es verpflichtet, am Tage der Jahrzeitfeier einem andern Gotteshaus oder mehreren Gotteshäusern einen Betrag zu entrichten; er bestimmt zuweilen auch, daß im Falle der Nichterfüllung der Stiftungsvorschriften das Stiftungsgeld an ein anderes Gotteshaus fallen soll.


Wirksame Ergänzung dieses Systems der guten Werke war die Ablaßinstitution. Die Kirche konnte Demjenigen, der in aufrichtiger Reue und Bußbereitschaft solche Werke tat, den Erlaß der Sündenstrafen verheißen, nicht nur der durch sie selbst verhängten, sondern auch der im Jenseits seiner wartenden. Neben die Tilgung der Sündenschuld und der ewigen Höllenstrafe durch Gott im Bußsakramente trat hier eine Ablösung der zeitlichen im Fegefeuer zu duldenden Strafe.

Diese Möglichkeit, bei der Vielen der Ablaß ohne Weiteres als Vergebung der Sünden galt, gab dem Gnadenmittel die gewaltige Bedeutung; es erfüllte das gesamte kirchliche Leben mit seinem Wesen. Daher die Ablaßdokumente so sehr in der Überlieferung vorherrschen. Die Kirche kam dem Verlangen aufs Bereitwilligste entgegen. Von Päpsten und Legaten, Bischöfen und Weihbischöfen gelangten unaufhörlich solche Ablaßurkunden nach Basel; [785] viele von ihnen zu Rom oder Avignon ausgestellt durch jene Gruppen von Bischöfen in partibus, die gleichsam berufsmäßig als Ablaßgesellschaften arbeiteten und deren Autorität für Viele noch gehoben wurde durch die fremd und wunderbar klingenden Namen ihrer Bistümer. Am Platze selbst sorgten dann die Ablaßprediger für guten Ertrag des Geschäftes.

Bei der Weihe von Kirchen Kapellen Altären Kirchhöfen wurde regelmäßig allen Denen Ablaß verheißen, die in richtiger Gesinnung und mit offenen Geberhänden der Feier beiwohnten oder den geweihten Ort künftig besuchten. Jede Kirche und jedes Kloster kam auf diesem Wege zu seinem Schatze von Indulgenzen, durch den Wohltäter Förderer und Freunde gewonnen und belohnt werden konnten. Große langwährende Unternehmungen wie der Bau der Kathedrale werden uns in ihrem Fortgange, in Stockung und Wiederaufleben, durch solche Ablaßgewährungen am lebendigsten illustriert. Aber noch anderen Leistungen war diese Vergeltung zugesagt: dem Begleiten des Sakraments zum Sterbenden, dem Grabgefolge, dem andächtigen unter Gebet geschehenden Hinauf- und Hinabsteigen der via mala zwischen Martinskirche und Rheinbrücke u. dgl. m. Auch der Besuch der ewigen Stadt brachte dem Pilger Ablaß, am stärksten in den Jubiläumsjahren, und schon frühe wurden diese Jubiläumsindulgenzen ausnahmsweise auch ohne Pilgerfahrt gewährt. Für Basel zuerst 1351 den hier im Kapitel versammelten Augustinereremiten.


Hier ist endlich der Bruderschaften zu gedenken als der Verbände, in denen dies Verhältnis des Einzelnen zur Kirche eine genossenschaftliche Organisation erhielt. Mit der Gemeinsamkeit gottesdienstlicher Andacht und Opferung verbanden sie die gegenseitige Sorge der Genossen für Pflege Grab Gedächtnis und Seelenheil. Es handelte sich um Notwendigkeiten irdischer wie ewiger Art; was dem Einzelnen zu leisten vielfach unmöglich war oder schwer fiel (Kosten der Spitalverpflegung, des Begräbnisses, der Seelenmeßstiftung usw.) konnte durch den Zusammenschluß Mehrerer leicht aufgebracht werden.

Daß Geistliche selbst zu solchen Vereinen zusammentraten und daß dann um der dabei zu gewinnenden Vorteile willen auch Laien bei ihnen Aufnahme suchten und fanden, ist uns beim Domstift bekannt geworden.

Reine Laienbruderschaften sind uns bei Betrachtung der Zünfte begegnet. Der Verband, der die Gewerbsleute für den Betrieb ihres Berufes umschloß, war als Bruderschaft (Seelzunft) für Erfüllung kirchlicher Pflichten [786] und Dienste organisiert. Diesen Seelzünften gingen parallel die Bruderschaften der Gesellen.

Wie hier Gleichartigkeit oder Gemeinsamkeit einer fest und öffentlich geordneten Arbeit die Grundlage der Bruderschaft bildete, so traten in Verbänden dieser Art auch Solche zusammen, die fremd und jedenfalls zunftlos waren: die Schildknechte d. h. die Knappen und Diener vornehmer Herren und in der St. Jacobsbruderschaft die fahrenden Leute des Kohlenbergs. Ähnlicher Art waren die Bruderschaften des Arlberghospizes oder der Kapelle zu Oberbüren, in denen Reisende Kaufleute u. dgl. von Basel und andern Orten sich zusammenfanden.

Allen diesen Bruderschaften gegenüber zeigte diejenige des „Baus U. L. F. auf Burg“ ein anderes Wesen. Sie erwuchs sichtlich nicht aus der Initiative der schon im Übrigen durch Lebensweise oder Tätigkeit verbundenen Genossen; sondern was sie schuf war lediglich, daß die Kirche den Wohltätern des Münsters Teilnahme an ihren geistlichen Gütern und ihre fraternitas verhieß; dem entsprach auch das Fehlen der bei den Bruderschaften sonst üblichen Organisation.

In ähnlicher Weise scheinen diejenigen Bruderschaften, die sich zur Verehrung eines bestimmten Heiligen bildeten, eher Schöpfungen der Kirche als der Teilnehmer selbst gewesen zu sein. So die zur Zeit des großen Sterbens 1349 entstandene St. Pantaleonsbruderschaft in Kleinbasel; außerdem begegnen wir solchen Fraternitäten in der Gefolgschaft des Predigerklosters. Ihre starke Vermehrung geschah erst durch die kirchliche Regeneration des XV. Jahrhunderts.

Zum Wesen der Bruderschaft gehört, daß sie nur ausnahmsweise ihre eigene Kapelle oder Kirche, ihren eigenen, von ihr selbst aufgestellten oder dotierten Priester hat. Für Messe Gottesdienst Segnungen usw. gehen die Bruderschaften bei der Kirche zu Gaste: bei St. Martin die Schuhmacherknechte und die Küferknechte; bei St. Theodor die Kleinbasler Rebleute; bei St. Peter die Bäckergesellen; bei St. Andreas die Krämer; bei St. Leonhard die Schlossergesellen und die St. Jacobsbruderschaft, und zu St. Oswald die Gerber; bei den Augustinern die Lukasbruderschaft der Maler-, Glaser­ und Goldschmiedmeister und die Schneidergesellen; bei Predigern die Schuhmacher; beim Klingental die Müllergesellen; beim Münster endlich die meisten Bruderschaften: die Steinmetzen, die Hufschmiede, die Messerschmiede, die Weber, die Weinleute, die Schildknechte, die Baubruderschaft.

Auch die in diesen Kirchen den Bruderschaften zugewiesenen Altäre gehören ihnen nicht. Nur die Kerze vor dem Altar ist Stiftung und Sache [787] der Bruderschaft, ist das helle Zentrum alles bruderschaftlichen Lebens. Auf Kosten des Verbandes wird sie bestritten; sie brennt an den Sonntagen und einzelnen Festtagen zum Gottesdienste der Bruderschaft.

Bei derselben Kirche hat die Bruderschaft ihre Grabstätte, die gleich der Kerze ihr Eigentum ist; sie kann das Grab umgittern schmücken überdachen; der Stein trägt ihr Wappen oder Zeichen. Stirbt ein Bruder und hat er seine „Leichnamsruhe“ in diesem Grabe der Bruderschaft erwählt, so wird er dort bestattet, und jeder Bruder ist seiner Bahre zu folgen verpflichtet, „weil solche Bestattung die letzte Ehre und der Seele Heil berührend ist“. Der Sarg ist überdeckt mit dem goldnen Tuche der Bruderschaft und umglänzt von ihren brennenden Kerzen; am Bruderschaftsaltare wird für den Verstorbenen die Seelenmesse gefeiert; ebendort geschieht jährlich an bestimmten Tagen die Feier des Kollektivanniversars für alle Mitglieder.

Für die Leistungen der Kirche — Messe Predigt Totenofficium Jahrzeit usw. — hat die Bruderschaft ein gewisses Entgelt zu zahlen.


Zu Beginn des XIV. Jahrhunderts steht das Kirchenwesen in vollen und reichen Formen vor uns. Aber noch nicht ausgewachsen und als fertige Erscheinung. Diese Zustände, wie schon ihre bisherige Schilderung uns gelehrt hat, wandeln und entwickeln sich unaufhörlich.

Wir sehen sie jetzt sofort wieder durch heftige Bewegungen aller Art erschüttert, durch Kämpfe der Päpste, der Könige, der Bischöfe, durch Zwietracht des Klerus, durch Irrglauben und Widerstand.

Inmitten solcher Unruhe ist uns ein Erkennen religiösen Lebens, das ja an und für sich schon dem Fassen und Formulieren ausweicht, doppelt schwer gemacht.

Als sein häufigstes Dokument betreffen wir die Vergabungsurkunde. Gerade in diesen Jahrzehnten sind es mächtige Geschenke an die Kirche, die wir vor uns haben: Stiftungen von Kapellen, Stiftungen von reichen Pfründen, Gründungen ganzer Beginenkonvente. Mit den zahlreichen kleinen Opfern zusammen zeigt sich eine Fülle devoter Leistung.

Wir müssen freilich bei jeder dieser Gaben fragen: ist sie das Handeln eines Menschen, der in lebendiger Überzeugung den Lehren der Kirche folgt und dient? oder das Werk matten Gewohnheitschristentums? Nur Erfüllung dessen, was üblich schicklich und standesgemäß ist? Wirkt eine gesteigerte religiöse Empfänglichkeit, eine tiefe Erregung, die sich selbst und [788] ihrem Gotte nicht genug tun kann? oder nur ein praktisches Empfinden für Nöte und Bedürfnisse der Kirche?

Dieselben Fragen erheben sich, wie hier vor den Vergabungen, so vor andern Erscheinungen und Äußerungen jenes Kirchenlebens. Wie wenig persönliches Offenbaren begegnet uns, wie sehr überall nur das konventionell und rechtlich Formulierte oder das teilnahmlos Erzählte.

Einzelnes ergreift doch unmittelbar. So, wenn 1312 die Eheleute Raimund und Gisela sich alles ihres irdischen Glückes und Gutes entäußern: der Mann wird Minorit, er will sich und das Seine Gott weihen, nackt und von allen weltlichen Sorgen befreit Christo folgen; auch die Frau wird in ein Kloster treten; sollte sie weltlich bleiben, so fällt das ganze Vermögen an die Minoriten.

Auch im Übrigen sind uns hie und da Einblicke in einzelne persönliche Zustände gewährt. Als Nonne des Steinenklosters stirbt 1313 Ita von Rheinfelden, deren Heiligkeit, durch ein reines und frommes Leben bewährt, nach ihrem Tod in den herrlichsten Wundern glänzt. Unter den Baslern, die sich 1349 den Bußprozessionen der Geißler anschließen, ist auch Hug Fröwler genannt Rüde. Wenn der Ritter Rudolf Vitztum und der alte Henman von Erenfels ihren Erben unerfüllte Gelübde von Wallfahrten (nach Aachen Einsiedeln St. Beat) und versäumte Fasttage zur Vollziehung hinterlassen, so sind dies wenigstens Hinweise auf Formen und Mittel einer auch in hohen Gesellschaftskreisen üblichen Askese.

Mit einer speziell minoritischen Färbung von Devotion handeln die zum Rosen, die von Ramstein, die von St. Amarin; sie Alle stehen in engen Beziehungen zu den Barfüßern, den Klarissen, den Tertiariern. Ähnlich ist das Verhältnis der Marschalk zum Prediger- und zum Steinenkloster. Die Beziehungen Hüglins von Schönegg zum Leonhardskloster beruhen vielleicht auf seiner Verwandtschaft mit dem Propste Peter Fröwler. Während die Bärenfels durch den fast völligen Mangel einer Berührung mit kirchlichen Institutionen einen auffallend nüchternen oder profanen Eindruck machen, sind andere Familien durch entschiedenes Hinneigen nach dieser Seite ausgezeichnet, namentlich in der Form gleichzeitiger Einklosterung mehrerer Angehöriger; so die Emmerach im Klingental, bei den Johannitern und zu St. Blasien; so die Hertenberg 1363 bei den Predigern, im Klingental und zu Sitzenkirch; so Johann Püliant von Eptingen, der 1382 fünf Töchter im Klingental und eine Tochter in Olsberg hat. Auch die Berner zeigen eine bestimmte kirchliche Art: Niklaus stiftet Pfründen und Jahrzeiten; dazu kommt seine berühmte Spende, aus der jährlich dem jeweilen ärmsten Schüler am Dom, zu St. Peter [789] und zu St. Leonhard, den ärmsten Beginen in den Samnungen am Rindermarkt und zum schwarzen Bären, dem ärmsten Konvers im Bruderhause zu Kreuz je ein Stück Grautuch für einen Rock gegeben werden soll; sein Sohn mehrt später diese Stiftung. Zu dem Allem gehört wie natürlich, daß sein Bruder Münsterkaplan und sein Sohn Pfleger zu St. Martin ist, daß seine Tochter und seine Enkelin Nonnen zu St. Klara sind, daß er 1349 ein Judenkind aus der Vernichtung der Gemeinde rettet, taufen läßt und gleichfalls zur Nonne macht.

Von diesen wenigen Äußerungen, deren jede in ihrer Beweiskraft angezweifelt werden kann, führt uns die Gunst der Überlieferung vor ein einzelnes und reiches Bild religiösen Lebens: in den Kreis der Gottesfreunde.


Der Kampf Ludwigs mit der Kurie ist schon geschildert worden; als wichtiges Ereignis in seinem Verlaufe kann das Gesetz vom 6. August 1338 gelten, wodurch der Kaiser Exkommunikation und Interdikt nicht mehr zu beachten und den Gottesdienst wieder aufzunehmen befahl. Es bewirkte, daß vielerorts in Deutschland der Klerus, der sich nicht fügte, aus den Städten getrieben wurde. So auch der Straßburger Dominikanerkonvent. Dessen Lektor Johannes Tauler war, wie es scheint zusammen mit den Schülern des Provinzialstudiums, schon vorher entwichen und hatte sich nach dem ihm bekannten Basel begeben. Etwas später, im Januar 1339, traf auch Taulers Freund, der Weltpriester Heinrich von Nördlingen, hier ein, den gleichfalls der kaiserliche Erlaß aus der Heimat weggetrieben hatte. Durch das Zusammentreffen dieser beiden Männer wurde Basel für ein Jahrzehnt zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft von Freunden der Mystik.

Die eigentümliche Stellung der Stadt in den damaligen Kämpfen ist zu bezeichnen versucht worden. Das Interdikt bestand hier seit Beginn der 1330er Jahre, mit Unterbrechungen, die dem Wechsel der die Stadt leitenden Parteien entsprachen. Auch im Jahre 1338 war die Stadt interdiziert, doch fand das Gesetz Ludwigs keine Ausführung. Der Rat hatte schon bisher die papsttreuen Geistlichen gegen Gewalttätigkeiten geschützt; dem entsprach, daß er auch in der andern Richtung keine Schroffheit duldete; er ließ beide Teile sich ungehindert benehmen.

Wie es Taulern erging, wissen wir nicht. Heinrich von Nördlingen fand zunächst kein „Wesen nach seinem Willen“. Dann aber öffneten sich ihm die Türen. Er erhielt, wohl durch Beschluß des Rates, Wohnung im städtischen Spital und die Erlaubnis, in der Spitalkirche zu predigen. Rasch sammelten sich hier Viele unter seiner Kanzel: „das beste Volk, das in [790] Basel ist, von armen Gotteskindern und von reichen, von Männern und von Frauen, von Pfaffen Mönchen Brüdern Bürgern Chorherren, edeln und gemeinen Leuten. Sie kommen schon vor der Frühmesse und sichern sich Plätze mit großen Begierden“. Auch ihm zu beichten drängten sie sich heran. Den Deutschherren las er täglich Messe und hatte bei ihnen seinen Tisch. Ehrbare Frauen kauften ihm ein neues Chorröcklein, die besten Kürschner brachten ihm als Geschenk eine Chorhaube. Pfarreien Kapellen Pfründen Klosterplätze wurden ihm angeboten.

Wir haben bei dieser Tätigkeit und ihrem Erfolge nicht an die Stellung Heinrichs im kirchenpolitischen Kampfe zu denken. Er hielt zum Papste, der das Interdikt verhängt hatte; auch dem altstädtischen, das Interdikt sonst beobachtenden Klerus war das Predigen in gewissen Grenzen gestattet. Als dann 1345 Papst Clemens das Interdikt aufhob und damit das Spenden der Sakramente möglich wurde, wuchs die Arbeit Heinrichs so sehr, daß er beinahe versucht war, dieser päpstlichen Verfügung zu zürnen. Sein Erfolg war ohne Zweifel durch sein persönliches Wesen bewirkt.

„Aber man muß Neid und Haß leiden“, klagte Heinrich; um seiner Beliebtheit willen hatte er „viel giftiger Stöße“ von der Geistlichkeit zu erdulden. Auch blieb es nicht bei den Predigten in der kleinen Spitalkirche, sondern schon bald war Heinrich im Dienst „eines ganzen Kapitels und der besten Pfarre die zu Basel ist“. Er bekam eine Kaplaneipfründe zu St. Peter und damit auch dort Gelegenheit zu Predigt und Seelsorge.

Heinrich von Rheinfelden, ebenfalls Kaplan zu St. Peter, war sein Vertrauter. Neben diesem zeigen sich im Kreise der um Heinrich gescharten Gottesfreunde die Frau von Falkenstein im Klingental, Margaretha zum goldenen Ring, der Ritter von Pfaffenheim, der Ritter von Landsberg und seine „gotterleuchtete“ Gemahlin, „die große und getreue Freundin“ Anna und Andere, dazu die Besucher aus der Heimat: Heinrichs Mutter, die Frickin usw.

Diese Personen werden uns bekannt durch die Briefe, die Heinrich der von ihm schwärmerisch verehrten Nonne Margaretha Ebner in Medingen schrieb; es sind knappe persönliche Erwähnungen, flüchtige Schilderungen von Momenten; aber dies Wenige erhält Wert durch den alles Vergängliche überflutenden, einheitlichen Geist dieser unvergleichlichen Briefe, die für uns weniger Zeugnisse des einzelnen Heinrich sind, als einer Gemeinschaft des innern Lebens von Vielen.

Wie gerne würden wir ähnliche Nachrichten von dem bis 1346 in Basel weilenden Tauler und seinem Kreise vernehmen!

[791] Neben der einem großen Teile der Stadt dienenden Pfarrtätigkeit Heinrichs, zu der auch seine offizielle Entsendung nach Bamberg zum Abholen der Reliquien Heinrichs und Kunigundens gerechnet werden mag, geht das stille Wirken in der Gemeinschaft einher. Beinahe nur von dieser Wirksamkeit vernehmen wir; in ihr leben die Gestalten Heinrichs und der Seinen noch heute, als die Gottesfreunde, die das Irdische und seine Begierden lassend Gott nahe kommen und sich ihm geben, in seinen Frieden sich verbergen, seine süße Gnade empfinden wollen.

Die kenntlichste Figur unter den Baslern dieser „heiligen ehrbaren geistlichen Gesellschaft“ ist Margaretha zum goldenen Ring. Tochter einer reichen, an der Spiegelgasse angesessenen Kaufmannsfamilie, erhebt sie sich über die in diesen Kreisen geübte Devotion hinweg zu einem innerlich lebendigen Christentum. Sie ist Heinrichs von Nördlingen „liebes Kind in Gott“; „unsre Gred“ nennt er sie. Auch nach Heinrichs Fortgang von Basel (1347/9) dauern die Beziehungen der Gottesfreundin Margaretha zu St. Peter weiter, indem der Chorherr Heinrich von Rumersheim ihr Beichtvater wird; nach ihrem Tode schickt er als ihr Vermächtnis den Einsiedler Waldschwestern zwei deutsche Handschriften mystischen Inhaltes aus ihrem Besitze. Noch 1381 lebt sie als deo devota und ist beteiligt an den großen Stiftungen ihres Neffen des Predigermönchs Johann zum goldenen Ring für dieses Kloster, für Beginen- und Begardenhäuser.

Ein Leben also ganz im Flusse dominikanisch-gottesfreundlicher Beziehungen, wie auch Tauler Dominikaner war, wie die Dominikanerinnenkonvente Unterlinden und Medingen mit der Gesellschaft Heinrichs von Nördlingen sich berührten, Adelhausen und Töß ihr nahe kamen.

Im Gegensatze hiezu fehlen sichtbare Beziehungen des Barfüßerklosters samt seiner Umgebung von Samnungen und Tertiarierhäusern zu diesen Gottesfreunden. Aber unzweifelhaft lebte auch in seinem Bereiche manches Verwandte; die Berührungen Heinrichs mit der Königin Agnes führten ihn vielleicht doch in die franziskanische Welt hinein, und als fast ein halbes Jahrhundert später die Sprache dieser alten Mystik noch einmal in Basel erklang, war es ein Barfüßer, der sie redete: Otto von Passau. 1362 Lesemeister, 1363 Kustos, 1385 Konventual zu Basel, zeigt er sich uns auch als Beichtvater des Hüglin von Schönegg, als Organisator des Klosters Königsfelden. Sein Werk „die vierundzwanzig Alten oder der goldene Thron“, eine große Sittenlehre in biblischen patristischen und andern Sentenzen, widmete er den Gottesfreunden.


Mächtig fesselt uns das Bild dieser ganz in Gott ruhenden Menschen mitten in den Nöten und Anfechtungen der Welt.

[792] Von allen Seiten stürmen in diesen gewaltigen Jahrzehnten die Ereignisse heran. Es sind furchtbare Heimsuchungen durch Hungersnot Pest und Krieg. Das Erdbeben von 1356 bringt dem größten Teile der Stadt Vernichtung. Andre Plagen und Schrecken folgen, bis zu den Katastrophen von Sempach 1386 und Nikopolis 1396, die auch im Kirchlichen ihre Spuren hinterlassen.

Die Judenverfolgungen, die Geißlerfahrten, die Häresieen zeigen daneben das Verzweifeln und Irregehen Vieler; die zu Spendung von Trost und Heil berufene Kirche selbst ist in ihrem Wesen erschüttert, ihr Begriff Vielen fraglich geworden.

Innere Streitigkeiten aller Art zerwühlen sie: der Hader der Orden, die Usurpation pfarrlicher Tätigkeit durch die Mendikanten, das gehässige Zanken von Kirche zu Kloster und von Gemeinde zu Gemeinde um Begräbnis und Begräbnisgelder. Dem Papstschisma von 1328 antworten in Basel die zwiespältigen Bischofswahlen 1309 und 1325, die zwiespältigen Propstwahlen zu St. Leonhard 1371 und im Domstift. Erstaunt und beunruhigt sieht der Laie, wie bei den Bischofswahlen, im Ungeldstreit 1317, in den Kämpfen des Kaisers mit dem Papste Einer wider den Andern innerhalb der Kirche aufsteht.


Vor diesem Hintergrunde zeigt sich uns die Kirche Basels in einigen schärfer beleuchteten Einzelbildern.

Ganz und gar unmönchisch ist draußen zu St. Alban die mächtige Figur des Priors Johann, der nicht nur Rechte und Güter des eigenen Hauses wahrt, sondern vor Allem als bischöflicher Generalvikar 1330 ff. seine Herrscherkraft zeigt.

Anders geartet erweist sich die, nur durch vereinzelte Beziehungen zum Kreise der Gottesfreunde gestörte Behaglichkeit und Fülle des Lebens zu St. Peter. Neben einigen Edeln — Stretlingen Münch Vitztum — nehmen hier die Achtburger dieses Stadtteils die Kanonikate in Anspruch: die Meier von Laufen, die Meier zum Schlüssel, die Münzmeister, die Botscho, die zum Rosen u. A. Welcher Art diese Leute waren und welche Formen auch des äußern Geschäftes sie dem Stifte beizubringen verstanden, zeigen z. B. die zahlreichen Rechnungsbücher oder die prachtvollen Reihen der Prälatensiegel. Als Typus mag Johann Sinz gelten, der von 1342 bis 1362 die Kustorei inne hat; die Titel seiner großen persönlichen Vermögensverwaltung liegen im Stiftsarchiv; auch ist er Vater von vier Töchtern und versorgt [793] sie alle im Kloster Blotzheim. Hierin seinem Kollegen dem Chorherrn Baldemar von Kappeln ähnlich, der eine gleich große Familie hinterläßt. Fünfzig Jahre später ist die Stimmung eine merklich andre. Das Stiftsvermögen hat abgenommen, hauptsächlich wegen der durch das Erdbeben nötig gewordenen Bauten, und daneben ist das Kapitel gequält durch den Dompropst Konrad Münch, der eine Jurisdiktion über das Stift behauptet und die Herren mit Visitationen und Strafen heimsucht. Auch die Kapläne geben zu tun. Immer mehr vertreten auch sie, die früher von draußen hereingekommen waren, die guten Familien der Petersgemeinde; sie sind herangewachsen und haben Ansprüche, sie klagen und schelten, bis endlich die Chorherren Hilfe bei der reichen und freigebigen Adelheid Biderman finden. Diese spendet eine Summe, die ihnen ermöglicht, das ganze Gebührenwesen neu zu ordnen und die Altaristen zufrieden zu stellen.

Sodann die reich dokumentierten Zustände des Domkapitels. Dessen Mitglieder zeigen zunächst noch völlig die Lebensformen alten Stils: als Vertreter der Ministerialität die mächtigen Münch und Schaler, ein Kämmerer, ein Marschalk usw.; die Freien von Bechburg und von Ramstein; die Grafen von Tierstein, von Straßberg; der in Stiftungen großartige Konrad von Gösgen; der bis ans Ende seines langen Lebens nie befriedigte Lütold von Röteln, der als der Letzte seines Geschlechtes noch einmal allen Stolz sammelt, zahlreiche Pfründen an sich reißt, wiederholt die Basler Bischofwürde zu erlangen strebt. Bei Menschen dieser Art sind wir nicht erstaunt, von unaufhörlichem Streit zu vernehmen. Zunächst in Geschäften der innern Administration. Wichtiger sind die Parteiungen, die zur Zeit Clemens V. und Johannes XXII. auch diesen kleinen Kreis erschüttern. Die Gegensätze von päpstlichem und eigenem Wahlrecht, von Wälsch und Deutsch, von Bischof und Kapitel treffen heftig aufeinander. Immer ist eine Gruppe eingeborner Domherren da, die gegen all das Fremde und die Eingriffe sich erheben. Diese stolzen Herren sehen wir auch die nichtadligen Inhaber der vier Priesterpfründen niederdrücken. Wie zum Hohn auf den Papst, der als Auszeichnung des Kapitels neben den mächtigen und edeln die gelehrten Mitglieder gepriesen, entziehen die Junker diesen durch Weihe und Bildung ihnen überlegenen Kollegen das Stimmrecht im Kapitel, und Bischof Hartung gibt sich dazu her, solche Gewalttat gutzuheißen. Nur konsequent ist dann 1337 das Schließen des Kapitels für Basler Bürger.

Wie die Wahl Johann Senns zum Bischof diese wilde Zeit geendet, so rief sein Hingang 1365 neuen Wirren. Aber Farbe und Wesen sind jetzt anders. Die alten Geschlechter sind kaum mehr vertreten. Nur die [794] unverwüstlichen Schaler und Münch behaupten noch ihre Kraft, während als Neue neben ihnen Kiburg Waldner Masmünster Ratsamhausen Hohenstein usw. sitzen. Aber Alte und Neue verbindet das gleiche starke Gefühl von Berechtigtsein und Können. Sie erweisen es in dem sofort 1366 losbrechenden Streite des Bischofs Johann von Vienne mit dem Rate der Stadt. Dann reißt eine mörderische Epidemie mit dem Tode von sieben Kanonikern, darunter dem alten Dompropst Thüring von Ramstein, eine weite Lücke, und es kommt zum Kampf um die Propstei. Dem von Papst Urban providierten Johann von Vienne, einem Nepoten des Bischofs, tritt der Domherr Heinrich von Hohenstein entgegen, zur gleichen Zeit auch Domherr zu Bamberg und Propst von St. Thomas in Straßburg, ein Gewaltmensch, der sich nicht scheut, im Sommer 1367 auf einer Leiter ins Dompropsteigebäude einzusteigen, alle Türen zu erbrechen und die Vorräte sich anzueignen. Er meint damit den Besitz der Dignität erlangt zu haben; daß sie aber tatsächlich ein Jahrzehnt lang ohne Inhaber bleibt und dann aufs Neue wiederholt um sie gestritten wird, zeigt, wie zerrüttet Alles war. Denn vom Zwiste Hohensteins mit dem Neffen des Bischofs geweckt beginnt nun auch der beinahe nie mehr ruhende Streit des Kapitels mit dem Bischof, der zuletzt seine Zusammenfassung findet in einer ausführlichen Klageschrift der Domherren. Hart und ohne Ehrerbietung halten sie hier ihrem Fürsten die Mißachtung der Kapitelsrechte, die Verschleuderung des hochstiftischen Gutes, sowie seine ganze schlechte Wirtschaft vor.

Aber diese Vorfälle sind nicht das Einzige. Hinter ihrer Unruhe steht das Bild eines Domkapitels, das in seinem Machtbewußtsein, in der Lebenslust und glänzenden Weltlichkeit edelgeborner Herren seine eigene Welt hat. Durch Alles hindurch geht die Stimmung der Standesgenossen; Chor und Kapitelsaal sind oft von der Ritterstube zur Mücke nicht sehr verschieden. Nur konsequent ist es, daß auch Glieder dieses Kreises dem Herzog von Österreich in den Krieg folgen und bei Sempach sterben. Ganz weltlicher Art, durch Interessen der Familien und Sippen geschaffen, sind auch die Gruppierungen innerhalb des Kapitels.

Vor Allen die Münch tun sich hervor; sie haben zu Zeiten mehrere der Prälaturen zugleich in Händen; es ist die blühendste Zeit der Familie, und deutlich offenbaren z. B. die Nachlaßinventare Konrads und seines Bruders Johann, die Beide jahrelang Führer des Domkapitels sind und von denen Konrad Bischof von Basel, der gierige Pfründenkumulator Johann Bischof von Lausanne wird, den Glanz des in diesen Häusern geführten Lebens. Ihr Gegenstück ist Werner Schaler der Erzpriester, bei [795] dessen heftiger, in unaufhörlichem Kampf und Krieg umgetriebener Art man vergeblich nach dem Chordienste sucht.

Neben diesen Edeln tritt unter den bürgerlichen Mitgliedern des Kapitels der kräftige Rudolf Fröwler hervor. Kein alter Basler, aber gerade deswegen unabhängiger und auf sich selbst angewiesen. Nach seinen Bologneser Studentenjahren 1324—1332 finden wir ihn als Chorherrn des Thomasstifts in Straßburg. Gleichzeitig ist er Chorherr von Lautenbach, aber auch Domherr in Basel, und nach der Mitte des Jahrhunderts wird er hier spürbar, seit 1361 als Domkustos, zuletzt in großen, über den Oberrhein hinausgreifenden Beziehungen als Zehntenkollektor und Gesandter der römischen Kurie tätig. Persönlicher wird er uns durch sein Verhalten im Streite Bischof Johanns mit dem Rate 1366; selbst bürgerlich, ist er doch einer der Intransigenten im Domkapitel. Bei der bösen Fastnacht 1376 macht er wieder von sich reden; er scheint an den Umtrieben beteiligt zu sein, die zum Krawalle führen, und auch über ihn ergeht daher die Strafe des dem Herzog von Österreich unterworfenen Rates. Am 9. August 1376, da Fröwler nach vollbrachtem Hochamt die Altarstufen herabstieg, ließ ihn der Rat festnehmen; vorsorglich sind die Portale des Münsters geschlossen, die Seile der Sturmglocken hinaufgezogen worden. Fröwler wird auf ewig aus der Stadt verbannt. Aber er kann nicht wagen, offen fortzugehen, da rings auf den Straßen seine österreichischen Feinde auf ihn lauern; durch ein Latrinenloch in der Stadtmauer hinausgelassen flieht der alte Mann mühsam abwegs durch Wälder und Berge. Sein Ziel ist Rom. Dort begegnen wir ihm im Jahre 1378; er sucht den Papst Urban, dessen Partei er festgehalten, gegen Basel in Bewegung zu bringen. Kurz darauf, am 28. Juli 1380, stirbt er.

Nirgends ist etwas Großes. Die Domherren vor fünfzig Jahren hatten in Stiftungen und Bauten vielfach ein hochgemutes Wesen gezeigt. Jetzt sind Leistungen dieser Art gar nicht mehr denkbar. Dagegen herrscht seit der Sedisvakanz von 1365 eine allgemeine Niedrigkeit der Gesinnung, die dann bei den simonistischen Abmachungen über die Wahl Humberts sich völlig schamlos offenbart.


Das Dasein der Pfarreien ist in dieser Zeit bestimmt durch ihre Inkorporationsangelegenheiten, durch das Wesen der Vikare und Altaristen, durch die Notwendigkeit einer Verteidigung des Pfarreirechtes nach allen Seiten. Wie dabei Pfründen und Personale wachsen, die Kirchen zu enge werden, die Gemeinden und einzelne Gemeindegenossen sich rühren, sind [796] Erscheinungen des Lebens und der Kraft. Aber zu Grunde liegt vielfach ein Versäumen von Pflichten, ein Ungenügen in der Versehung des Pfarramtes.

Auch die Klöster stehen äußerlich in Flor, stolz auf die Größe, zum Teil auf die soziale Höhe ihrer Konvente. Die meisten sind betätigt an dem mächtigen Kampf um die Gemeindepflege. Er ist für sie eine Erweiterung ihres Lebens, aber auch Erregung und Gefahr; die Arbeit der Brüder im Dienste der Weltkirche bringt ihnen selbst die Verweltlichung.


In den Bereich dieser Kirche greift nun die sich mächtig regende weltliche Gewalt. Wir erinnern an die Unterwerfung des Klerus unter das Stadtfriedensrecht, an den Kampf um die Gerichtsbarkeit, an die Erwerbung von Jurisdiktionen des Bischofs und des Klosters St. Alban durch die Stadt. Auch in Auferlegung bürgerlicher Lasten strebt der Rat nach Erweiterung seiner stadtherrlichen Macht, so sehr, daß ein Mainzer Chronist 1383 von einer eigentlichen Verfolgung der Kirche in Basel durch die städtischen Behörden redet; die Geistlichen seien dort noch mehr geplagt als die Juden. Vom Eingreifen des Rates in die Reform der Klöster und das Beginenwesen wird noch zu reden sein; hier erwähnen wir, daß seit den 1380er Jahren auch Basel sich zu einer gesetzlichen Regelung des Vergabungswesens erhebt.

Was solchermaßen hier geschieht, ist Teil und Werk eines allgemeinen Vorganges, und die Entwickelung politischen Sinnes ist Eins mit geistigem Reifen und Mündigwerden überhaupt. Jedenfalls glauben wir zu erkennen, daß das Erstarken der demokratischen Kraft den Einzelnen nicht nur politisch hebt; es geht zusammen mit der Gestaltung seines innern Verhältnisses zur Kirche.

Hieher gehört, daß seit der Mitte des XIV. Jahrhunderts die Vergabungen an die Kirche, namentlich die Pfründenstiftungen, seltener werden. Auch diese spätere Zeit kennt natürlich noch die Liberalität und Opferzuversicht, und gerade ihr gehören die großen Leistungen von zwei oft genannten Wohltäterinnen der Basler Kirche: der Stifterin von St. Andreas Mechtild von Sarburg und der als Wiederherstellerin des Petersstifts gepriesenen Adelheid Biderman. Aber von diesen wenigen Einzelheiten abgesehen zeigt sich uns die Abnahme der Donationen in beinahe statistischer Bestimmtheit. Weder politische Bedrängnis noch wirtschaftliche Not sind ihre Ursache. Aber es wirkte die Amortisationsgesetzgebung des Rates, und im Allgemeinen wurde, dem Geiste dieser Gesetzgebung gemäß, der [797] Kirche damit zu verstehen gegeben, daß ihr Zustand und ihre Leistungen nicht mehr befriedigten, daß die Meinung Vieler eine andre geworden sei.

Daß im Ganzen die Stadt kirchlich gesinnt war, konnte dem Heinrich von Nördlingen sogut glaubhaft sein wie hundert Jahre später dem Enea Silvio, und auch die Kirche wagte einer solchen Gesinnung gegenüber noch immer Vieles: die Ausnützung ihrer Gnadengewalt als einer Geldquelle und die ebenso unwürdige Verquickung von Gewissens- und Heilsfragen mit politischen Interessen. Freilich blieb ihr der Rat die Antwort nicht schuldig: durch Maßregelung einzelner Kleriker oder Wegweisung ganzer Konvente oder höhnisch dadurch, daß er jene Versagung geistlicher Speise durch die Sperrung von Mühlen und Backöfen erwiderte.

Wichtiger ist die innere Wirkung dieser Vorgänge. Welchen Halt gab noch eine solche Kirche, und welche Wertung ihres Wesens mußte sich ergeben! Sie stritt und mochte siegen; aber sie trieb darüber Viele in Verzweiflung und Unglauben, oder sie ermutigte Manchen, sein ewiges Heil auch fernerhin zu suchen, aber in eigenwilliger Frömmigkeit außerhalb der Kirche.

Bei solchen außerkirchlich Frommen haben wir sogut an vereinzelte Existenzen wie an Gemeinschaften zu denken und finden sie im Umkreise des uns urkundlich nahe gebrachten Lebens am ehesten unter den mannigfaltigen Erscheinungen der Welt der Gottesfreunde, der Schwestern und Brüder, der Beginen und Begarden, der willig Armen, vielleicht auch Jener, die aus Basel den Johannes Ruysbroek zu besuchen gingen.

Für die Kirche freilich mochte jedes religiöse Bestreben, das sich von der kirchlichen Leitung frei machte, als Ketzerei gelten; es konnte auf diesem Wege, sich selbst überlassen, auch wirklich zum Irrglauben werden.

Im Gedanken hieran verstehen wir die auffallende Häufigkeit der Erwähnung von Häresieen seitens der Kirche. Auch einzelne Äußerungen sind bemerkenswert. So die Reden des Begarden Rumer vom lautern armen Leben, von der Herrschaft des heiligen Geistes über die Menschen; oder die „ungewöhnlichen“ Worte, welche die Schwester Grede Gisenmannin 1390 dem Prediger zu Augustinern öffentlich ins Gesicht warf und um deren willen sie aus der Stadt gewiesen wurde. Schon zu Beginn des XIV. Jahrhunderts hatte die Kirche hier die Beginen und Begarden als Ketzer betrachtet und war mit den schärfsten Mitteln gegen sie aufgetreten. Hundert Jahre später nahm die Kirche den Kampf nochmals auf und führte ihn jetzt durch bis zur Vernichtung der Beginen. Zwischen beiden Stürmen lag, wie wir sahen, eine Zeit starken Gedeihens des Beginenwesens in Basel. [798] Aber es ist unmöglich zu sagen, inwieweit die Vorwürfe der Kirche, die nach 1400 durch Mulberg und Andere laut wurden, die Masse dieser verschiedenen Existenzen trafen und inwieweit wir während dieser Periode mit einem ausgedehnteren häretischen Treiben in Basel zu rechnen haben.

Daß Bekenner von Irrlehren hier lebten, wird nicht zu bestreiten sein. Aber ihr Wesen und ihre Tätigkeit bleiben uns verborgen. Eine einzige Gestalt aus diesem Kreise wird erkennbar vor uns hingestellt: der große und weitberühmte Ketzer Niklaus von Basel, ein Begarde. Er gehörte zur Sekte vom freien Geiste; um des mächtigen Einflusses willen, den seine Persönlichkeit ausübte, hat er als ein Hauptvertreter dieser pantheistischen Bewegung zu gelten, nach deren Lehre der Vollkommene auch die sündliche Handlung ohne Sünde vollbrachte und die Person und das Werk Christi, die Kirche und die Sakramente keine Bedeutung mehr hatten. Daß er aus Basel stammte oder zuerst hier auftrat, dann auswärts, meist im Rheingebiet unterhalb Basels, lebte und lehrte, zeigt sein Name und erzählt Nider. Zwischen 1393 und 1397 starb er zu Wien für seine Überzeugung auf dem Scheiterhaufen.


In die Zustände starker Zersetzung kirchlichen Lebens traf nun noch die Katastrophe des großen Schisma.

Diese Spaltung war vorhanden, seitdem der am 8. April 1378 in Rom rechtmäßig gewählte Urban VI. am 20. September 1378 durch die Wahl einiger Kardinäle einen Gegenpapst erhalten hatte, der sich Clemens VII. nannte.

Den furchtbaren Zustand der Kirche, der diesem Ereignisse folgte, vermögen wir uns nicht vorzustellen. Ihre Rechtsordnung war aufs tiefste erschüttert, ihre Autorität allen Fragen und Zweifeln ausgeliefert, das Gewissen jedes Gläubigen bedrückt und geängstigt. Und ohne Weiteres wurde dieses Schisma auch zum Gegenstande weltlicher Politik. Die kirchliche Trennung verband sich mit nationalen Gegensätzen.

Das Abendland war in zwei Lager geteilt; der größte Teil Deutschlands, aber auch England Polen, der Norden, die Mehrzahl der italiänischen Staaten anerkannten Papst Urban, während vor Allen Frankreich und Spanien zu dem in Avignon residierenden Clemens hielten.

In Basel erklärte sich Bischof Johann sofort für Clemens; und diese Obedienz galt auch seinem Nachfolger Imer. Bis im Frühjahr 1383, im Zusammenhange mit politischen Bewegungen, Bischof Imer samt der Mehrheit [799] des Domkapitels zu Urban überging und die Stadt diese Schwenkung mitmachte. Von da an blieben Hochstift und Stadt der römischen Obedienz zugetan. Hinsichtlich des städtischen Klerus aber gilt Folgendes:

Die Augustiner scheinen durch alle Wechsel der Zeiten hindurch, bis zum Ende des Schisma, an Avignon festgehalten zu haben, hiezu wohl bestimmt durch die Haltung Johanns von Hiltalingen, der einst ihrem Konvent angehört hatte und jetzt als General des Ordens, dann als Bischof von Lombès einer der Hauptkämpfer für den Clementismus war.

Dagegen finden wir die Barfüßer auf der Seite Urbans.

Ebenso die Herren von St. Leonhard.

Zu St. Alban kreuzte sich die Wirkung des Schisma mit sonstigen Parteiungen und Rücksichten. Der seit 1375 das Kloster leitende Prior Hugo de Palacio trat auf Seite des Avignonesers und erhielt demzufolge 1381 und 1382 vom Legaten Wilhelm, als dieser sich in Freiburg aufhielt, eine stattliche Reihe von Indulgenzen und Privilegien. Aber der Parteiwechsel des Hochstifts 1383 riß auch dies Kloster mit sich. Anhänger Urbans im Konvente verbanden sich mit dem in Basel anwesenden Nuntius des Urban, Kardinal Pileus, und vertrieben den Hugo; an seiner Statt wurde der bisherige Kustos Stephan Tegenlin Prior. Diesen entband im November 1387 der urbanistische Legat Philipp ausdrücklich von aller Verpflichtung gegenüber dem zu Clemens haltenden Abte von Cluny. Sieben Jahre später aber, im April 1394, wurde dieser Stephan durch Cluny des Priorates entkleidet, ohne Erwähnung des schismatischen Gegensatzes, aber weil er Eindringling aus einem andern Orden sei und als schlechter Haushalter das Basler Kloster, einst ein nobile membrum des cluniacensischen Körpers, ruiniert habe. Das Kloster selbst blieb nach wie vor urbanistisch; Stephans Nachfolger wurde Rudolf von Brünikofen.

Voll Bewegung und Kampf waren diese Jahre auch für das Predigerkloster. Anfangs stand es zum clementistischen Bekenntnis; aber vor 1386 gelang es den Urbanisten im Konvent, die gesamte Gegenpartei aus dem Kloster zu werfen, darunter den Provinzial Peter von Laufen. Auch König Wenzel half dabei, indem er dem Basler Rate befahl, die aus dem Kloster Getriebenen zu verbannen. Sie fanden Aufnahme im Freiburger Konvent, während die Urbanisten zu Basel mit skandalösen Gewalttaten, wie Erbrechung und Ausplünderung der Zelle des Provinzials, ihren Sieg bekräftigten.

Auch das Peterskapitel war, wenigstens in der spätern Zeit, urbanistisch. Unter Verdrängung des Peter von Tasfenn, der Ehrenkaplan des Papstes [800] Clemens war und seit 1369 die Thesaurarie inne hatte, nahm der Urbanist Konrad von Munderkingen 1380 diese Dignität in Besitz.

Vergegenwärtigen wir uns rings um diese einzelnen geschlossenen Kampfplätze her die allgemeine Lage der Stadt und den Zustand des Volkes, das sich in den höchsten Dingen seines Lebens um alle Zuversicht gebracht sah. Denn mit den Parteiergreifungen, den Obedienzerklärungen, den Datierungen der Urkunden nach den Jahren des einen oder des andern Papstes war es nicht getan. Das Große war die quälende Unruhe dieser langen Jahre. Das Schisma zernichtete den Begriff des einen und geheiligten Papsttums; keiner der Päpste, die nun in Mehrheit entstanden, besaß eine vollkommen zwingende und ausschließliche Macht.

Das Schisma schuf Parteien, ohne damit immer das handeln der einzelnen Kirchenbehörde und des einzelnen Klerikers zu bestimmen; der Streit um die Quarten z. B., ebenso der Beginensturm, zeigen kirchliche Interessen, um welche die Scharen in ganz anderer Gruppierung kämpfen als in der durch das Schisma gegebenen.

Aber in andern und in den meisten Fällen war das Schisma die entscheidende Kraft. Bei der Gefangensetzung des großen Urbanisten Johann Malkaw 1390 durch Bischof Imer mochten allerhand Rücksichten mitwirken, auch der Wunsch, diesen unbequemen Strafprediger und Reformer stille zu machen; tätig war doch vor Allem der leidenschaftliche Parteihaß der clementistischen Augustiner. So bestimmt wir an das Vorhandensein zahlreicher Neutraler glauben dürfen, die als „einfältige Leute“ die ganze Streitfrage dieses Schisma den Kanonisten und Diplomaten überließen oder aber durch Indifferenz dem schweren Gewissenskonflikt aus dem Wege zu gehen suchten, der Hader aller Christenheit trat doch immer schreckhaft und gewaltig hervor. Namentlich in der Agitation der Legaten, die für den römischen Papst hier selbst, für den avignonesischen vom nahen Freiburg aus Laien und Geistliche Basels mit ihrem Belohnen und Strafen, ihrem Nehmen und Geben bearbeiteten. Auch das gerade in diesen Jahren aufs rücksichtsloseste betriebene Ablaßgeschäft sorgte für Verwirrung. Und selbstverständlich war die ganze Zwietracht begleitet von unausgesetztem Interdizieren. Jedes der beiden Kirchenhäupter brauchte diese Waffe gegen die Anhänger des Gegners, und wie sich hiebei die Zustände z. B. innerhalb von Konventen gestalteten, die geteilter Obedienz waren, ist gar nicht auszudenken. Wenn es auch im Ganzen der Stadt zur Ausführung eines solchen Interdiktes nicht kam, so mußte dessen Vorhandensein allein schon Manchem zu denken geben; der Zweifel ließ ihn nicht ruhen: ist mein Papst in Wahrheit der Nachfolger [801] Petri, der Stellvertreter Christi? auf welcher Seite ist das Heil? auf welcher die Verdammnis?


Aber mitten in dieser Zerrüttung erhob sich der ächte Geist der Kirche aufs neue.

Eine Besserung der Welt, des Reiches, der Kirche war seit langem von Vielen erhofft. Auch hatte es nie an Momenten tiefer Erregung gefehlt, und in mächtigen Gestalten war der Wille zu einer Reform der Christenheit, zu einer sittlichen Reinigung und zur Befreiung der Kirche von der Welt laut geworden. Jetzt sehen wir die Kirche, von der allgemeinen Entwickelung des Lebens ergriffen und angetrieben, sich selbst zur Ausführung solcher Besserungsarbeit sammeln.

Vor Allem mußte das Schisma beseitigt werden. In welcher Weise dies geschah, ist schon erzählt worden. Der durch die Pisaner Kardinäle als ein Bote für den Frieden und die Einheit der Kirche nach Deutschland gesandte Kardinal Landulf von Bari fand im Dezember 1408 glänzende Aufnahme in Basel und gewann hier beinah Alle für die Einigung; ein Jahr später, am 26. Dezember 1409, erhielt der am 26. Juni 1409 vom Konzil in Pisa an Stelle der Päpste Gregor und Benedikt erhobene neue Papst Alexander V. die feierlich erklärte Obedienz des Basler Klerus. Der Rat folgte dem Beschlusse; Basel bewahrte diese Haltung, als Alexander am 3. Mai 1410 gestorben war, auch gegenüber seinem Nachfolger Johann XXIII.

Die Bemühungen um Regeneration, mit der wir es nun zu tun haben, füllte ein Jahrhundert mit wiederholten, immer neu andrängenden Impulsen. Im Leben unsrer Basler Kirche ist der ganze gewaltige Vorgang deutlich zu erkennen.

Es handelte sich dabei um Reformen, die nicht die Lehre und nicht die Machtstellung der Kirche trafen. Hierin den weitergehenden Reformprogrammen und Forderungen nicht folgend galten sie nur dem Wandelbaren, der im Einzelnen sich zeigenden Gesinnung und Aufführung.

Was dabei zunächst in Betracht kam, ergibt sich zum Teil aus den Verboten der Basler Synodalstatuten von 1400 und 1434. Neben den Vorschriften, die sich wider Unordnung beim Verwalten der Sakramente, Anmaßung von Pfarreirechten und Jurisdiktionen, Veräußerung des Kirchengutes, Konföderation niederer Kleriker wider die Obern u. dgl. m. richten, enthalten diese Statuten Sätze und Bedrohungen, die vor Allem dahin zielen, den Kleriker sich besinnen zu lassen auf die Würde und die Pflichten [802] seines Standes und die stolze Unterscheidung vom Laienvolke. Er soll die Tracht des Geistlichen nicht ablegen oder verhüllen; er soll allezeit Tonsur und Rasur haben, um sich stets ausweisen und seine Privilegien geltend machen zu können. Aber weltliche Eitelkeiten werden auch um ihrer selbst willen an Geistlichen nicht geduldet: die bunte Farbe von Kleidern und Schuhen, das feine Linnenhemd, die silbernen Verzierungen der Gürtel, das lange gekräuselte Haar, die Waffen usw. An üblere Gewohnheiten der Kleriker erinnern die Verbote des Wirtshausbesuches, des Würfelspieles, des Tanzes, des Betriebes unschicklicher Geschäfte. Den Laien, die bei einem notorisch im Konkubinat lebenden Priester die Messe hören, wird Exkommunikation angedroht. Wie sehr es sich bei geschlechtlichen Verfehlungen des Klerus um einen verbreiteten Zustand handelte, verraten zahlreiche Zeugnisse, von den anstandslos geschehenden Nennungen der Pfaffenkinder an bis zur Erwähnung einzelner besonders anstößiger Exzesse. Derselbe Hans Oflater, Chorherr und dann Prior zu St. Leonhard, den Henman von Erenfels einen Mörder schilt, liegt bei der Frau des Goltze, wird hier von diesem gefunden und „durch den Kopf“ geschlagen; des Peter Herz Weib, die der Dompropst verlassen hat, weil er einer Andern hold geworden, beschuldigt aus Rache eine ganze Reihe von Ehefrauen, daß sie mit Pfaffen zu tun hätten; Konrad Segwar und andre junge Herren steigen Nachts ins Klingental zu den Nonnen u. dgl. m.

Aller Unwille und alles Verlangen nach Besserung fand sich dann zusammengefaßt in den Predigten des Johannes Mulberg, die gewaltiger als Statuten und Strafsentenzen die Übel der Zeit züchtigten. Unter dem größten Zudrange des Volkes griff Mulberg in seinen Kanzelreden die allgemeinen Unsitten an, den Ehebruch, die Gotteslästerung, die Üppigkeit, die Spielsucht, und namentlich die Verwilderung von Klerikern, ihren Wucher, ihre Hurerei usw. In stürmischer Beredsamkeit forderte er eine Reformation; wie jene erregte, auf Alles horchende Zeit voll von Ahnungen und Verheißungen war, so entrollte auch er prophetisch das Bild einer den schwersten Nöten und Kämpfen sich entringenden schönen Zukunft.

Mitten in den allgemeinen Bewegungen wirtschaftlicher und politischer Art begann auch diese kirchliche Regeneration mit heftigen Erschütterungen.


Auf merkwürdige Weise wurde sie zunächst eingeleitet durch die Gründung der Karthause; den Versuchen der Besserung alter Institute gegenüber leistete sie, indem sie eine völlig neue Gemeinschaft schuf, an dieser den praktischen Nachweis der Schönheit und auch der Möglichkeit reinen Mönchtums.

[803] Eine Klostergründung in so später Zeit war freilich eine schwere Sache. Das neue Geschöpf konnte inmitten des städtischen Kirchenwesens, das wie ein festgefügter Organismus ohne Lücken und Leeren dastand, zunächst nur als Störung empfunden werden. Vielleicht deswegen kam das Kloster ins Nachbarbistum, nach Kleinbasel, und außerdem wirkte wohl die Absicht mit, der erst vor Kurzem gewonnenen Stadt etwas Großes zu gewähren; der Konflikt mit den bestehenden Pfarreirechten freilich war auch dort zu erledigen. Der Rat als solcher scheint keine wesentlichen Bedenken gegen die Gründung gehabt zu haben; wie diese dann zu Stande kam, waltete in ihr spürbar dasselbe Machtgefühl, das diese Periode der städtischen Geschichte überhaupt belebt. Dabei mag beachtet werden, daß die Stiftung Absichten des Markgrafen Rudolf zu nichte machte, dem Basel damals auch auf politischem Gebiete zuvorkam; möglicherweise war auch Katharina von Burgund mit Rat und Antrieb beteiligt.

Jedenfalls ist bedeutsam für die Zeit und ihre Liefern Bedürfnisse, daß gerade diese schwerste ernsteste Form des Mönchtums gewählt wurde. Wie man wohl nur von solcher höchsten Strenge noch ein Heil erwartete und der Gedanke daran gleichsam in der Luft lag, zeigen die in einer Basler Beginensamnung getanen Äußerungen, zeigen die Absichten des Markgrafen, zeigt endlich Burchard zum Haupt, der ein angenehmes Leben in Basel dahintenlassend in die Straßburger Karthause ging, aber auch seiner alten Heimat das Entstehen eines solchen Klosters weissagte.

Prächtig tritt nun die Gestalt des Jacob Zibol hervor. Auf einer Gesandtschaftsreise hatte er in Nürnberg die dortige Karthause kennen gelernt, und die Eindrücke, die er dort empfangen, brachten ihn zum Entschluß, auch in Basel ein solches Kloster entstehen zu lassen. Er kaufte vom Rate den Bischofshof in Kleinbasel und übergab ihn dem Karthäuserorden für eine Niederlassung; in weitern Gaben sorgte er für die Ausstattung dieses neuen Ordenshauses mit Geld und Gut. Das Jahr dieser Stiftung, 1401, wurde so zum Höhepunkte seines Lebens. Er stand unter den Reichsten, er hatte die Macht im Rate. Eine Ambition, die so wirksam sonst bei keinem Basler dieser Zeit uns begegnet, trieb ihn; es war die Gesinnung, die fünfzig Jahre früher der Erbauer der Florentiner Karthause ausgesprochen hatte: „was mir Gott sonst gegeben, geht auf Nachkommen über und ich weiß nicht an wen; nur dies Kloster mit seinem Schmucke gehört mir auf alle Zeiten und wird meinen Namen in der Heimat grünen und dauern machen“.

Wir haben die große Leistung eines Einzelnen vor uns. Für Basel aber war diese Klostergründung ein Ereignis, das weit über das Kirchliche [804] hinaus seine Bedeutung hatte. Auch tritt uns der Geist, der über den Anfangszeiten des Klosters waltete, aus seinen nahen Beziehungen zu Dietrich von Nieheim entgegen. Im Bereiche der Kirche war seine Auszeichnung, daß Vielen, die den Glauben an Kloster und Ordenswesen eingebüßt hatten, hier das Bild einer von allem Gewohnten sich unterscheidenden Gemeinschaft geboten wurde. Die Karthause war das Kloster Basels, das nie einer Reform bedurfte. Die innere Kraft, ja Notwendigkeit dieser Neugründung erwahrte sich allen Anfechtungen gegenüber und hielt auch Stand, als Zibol politisch unterging. Zuerst seine Überwältigung im Stadtregiment durch Peter zum Angen 1403, dann 1409 sein Sturz wegen der Rheinfelder Sache blieben ohne Nachteil für die Karthause.


Das Jahrzehnt, das über die Anfänge der Karthause hinging, war daneben erfüllt vom Beginensturm.

Jene Gründung brachte der Basler Kirche ein neues Organ voll Kraft und Reinheit; dieser Sturm beseitigte ein alt und faul gewordenes. Die Gründung vollzog sich fast geräuschlos im Innern der Kirche; der Beginenkampf wurde zur öffentlichen städtischen Angelegenheit.

Als Streiter zeigen sich uns auf der einen Seite Bischof Humbert, die Plebane der Pfarreien und die Dominikaner, auf der andern die Beginen und Begarden und deren Schutzherren die Barfüßer. Auch der Rat der Stadt nahm Teil. Aber so wenig der Kampf des beginnenden XIV. Jahrhunderts, den der jetzige aufnahm, ein nur lokales Ereignis gewesen war, so wenig dieser. Allenthalben im Reiche erhob man sich während dieser Jahrzehnte gegen die Beginen und Ihresgleichen.

Jene frühern Bewegungen hatten die streitige Sache nicht erledigt. Begarden und Beginen waren geblieben, in allerhand Formen weiterwuchernd. Jetzt schritt die Kirche im Reformgeist ein.

Sie sah vor sich eine Masse solcher Leute: gegen dreißig gefüllter Häuser oder Samnungen und zahlreiche Einzellebende. Die Meisten hießen Tertiarier des hl. Franziskus und wurden als solche beschützt und vertreten durch die Barfüßer; Andere trugen den Namen von Beginen und Begarden. Von Tertiariern des hl. Dominikus war nicht mehr die Rede. Und im Allgemeinen handelte es sich weit überwiegend um Weiber.

Wenn auch anerkannt wurde, daß es unzweifelhaft orthodoxe Begarden und Beginen gebe, galten die diesen Namen Führenden doch summarisch als Ketzer. Man warf ihnen vor, daß sie die kirchlichen Gebote verachteten, daß sie als Laien sich gegenseitig die Beichte ihrer Sünden [805] abnahmen, daß die Vorsteher dem Einzelnen Geißelung Fasten Gebet usw. als Buße auferlegten. Auch darin erkannte man eine Verfehlung, daß sie obwohl stark und gesund vom Bettel lebten oder sich am Tische frommer Leute sowie aus Jahrzeitstiftungen ernähren ließen, daß sie in diesem Leben „williger Armut“ eine Nachfolge Christi erkannten und sich selbst für die Vollkommenen hielten.

Den Tertiariern, die sich als solche geltend machten, sich auf Privilegien beriefen und von den Barfüßern sekundiert wurden, warf man entgegen, daß ihr Tertiariertum nur eine Maske sei und ein Name, ihr wahres Wesen aber, wie es sich in Tracht Lebensformen und Ritus ausspreche, beginisch.

Und wollte man das Tertiariertum auch anerkennen, so galt auch bei ihm die Verwerflichkeit des Lebens vom Almosen; den Behauptungen der Barfüßer gegenüber, daß um Christi willen betteln und vom Erbettelten leben ein Ding christlicher Vollkommenheit sei, wurde erwidert, daß die Kirche solchen Bettel einzig den vier Orden der Mendikanten gestatte, die Tertiarier aber nicht Ordensleute sondern arbeitsfähige Laien seien.

Unter diesen Parolen wurde der Kampf begonnen und geführt. Es waren Überzeugungen und Lehrsätze, die als solche auf Seite der Angreifer wohl nur für Johann Mulberg Alles bedeuteten. Dieser Mulberg, einst ein armer Kleinbasler Schuhflicker, der erst als Mann in die Abcschule ging, dann aber rasch vorwärts kam, Gelehrsamkeit erwarb, Dominikanermönch und beliebter Prediger wurde, steht auch in diesem Streit als ein gewaltiger ernster Mensch vor uns, der nicht seiner Persönlichkeit und ihrer Geltung lebte, sondern sie völlig der ihm heiligen Sache dahin gab. Das war die Kirche und ihre Reform. Schon in den Konventen zu Colmar Würzburg und Nürnberg hatte Mulberg dafür gewirkt; jetzt focht er dafür in seiner Heimat, und daß dieser Prediger mit der unvergleichlichen Macht des Wortes, dieser Mann ohne Furcht und Schonung nicht ein fremder internationaler Mendikant war, sondern ein Basler Stadtkind, gab seiner Tätigkeit ein Leben eigener Art.

Neben ihm wirkte hauptsächlich Humbert von Neuenburg in der Pflicht des Bischofs und mit der Macht des Ordinarius gegen Auflehnung Unordnung und Ketzerei. Nur daß ihn noch Andres zum Kampfe trieb, als eine feste, sich ganz genügende Überzeugung: der Einfluß des Domschulmeisters Johann Pastoris, der seinerseits durchaus von Mulberg sich bestimmen ließ; vielleicht auch eine persönliche Neigung zum Clementismus den urbanistischen Barfüßern gegenüber; vielleicht sogar die Aversion des [806] vornehmen Herrn, dem es in dieser ganzen Beginenwelt zu sehr nach kleinen Leuten roch.

Außerdem standen auf der Seite Mulbergs der ganze Predigerkonvent und in bedeutsamer Weise die Plebane der Großbasler Pfarrkirchen.

Angegriffen waren die Begarden Beginen Tertiarier, mit ihnen die Barfüßer. Diesen gab Mulberg die härtesten Worte; die Beobachtung der von der Kirche verfluchten Riten der Beginen und der Glaube an diese Irrlehren wurde auch ihnen zur Last gelegt. Man beschuldigte sie, einfältige Seelen zu verführen. Sie sollten verkündet haben, daß Keiner, der zur dritten Regel gehöre, verdammt werden könne; ein Tertiarier, der sterbe, werde am nächsten Franziskustag in den Himmel fahren.

In den Angriffen auf die Barfüßer traf Mulberg mit andern Tendenzen seiner Allierten zusammen, nämlich mit der Antipathie der Dominikaner und dem Hasse des Weltklerus. Wir sehen den Streit um die Pfarreirechte auch in diese Beginensache hineinspielen. Als die Tertiarierin Agnes von Witliken, die in der Samnung des alten Spitals saß, ihrem Gemeindepfarrer zu gehorchen und ihn als den obersten Richter ihrer Seele zu ehren erklärte, wurde sie von der Regelmeisterin und vom Barfüßerlektor aufs härteste angefahren: „dieser Pfarrer ist dein Teufel; man sollte dich verbrennen darum, daß du ihm untertan sein willst; Gott allein ist Richter deiner Seele“. Szenen solcher Art bezeugen eine allgemeine Auffassung. In denselben Jahren, die den Beginensturm losbrechen sahen, hatte auch der Kampf um die Begräbnisquart sich aufs heftigste erneuert; und während die Prediger sich dabei rasch zu Vergleichen bereit fanden, machten die Barfüßer steife Nacken und ließen es zum Prozeß kommen. Sicherlich war es Manchen, die im Kampfe neben Mulberg standen, weniger um die Beginen zu tun als um die für sie eintretenden Mönche. Daß man diesen vorwarf, sie hätten Dem und Jenem wider seines Pfarrers Willen, heimlich, ohne Glocke und Licht, unfeierlich im Kuttenärmel die Eucharistie und das heilige Öl gebracht, war nur ein einzelner Vorwurf aus einem umfassenden Übelwollen. Jetzt war der Anlaß da, um den mit so großem wohldiszipliniertem Anhang arbeitenden Konvent zu treffen. Schon die Anfänge dieses Kampfes aber brachten soviel Leidenschaft und Gewalttat, daß kein Zurückweichen, kein Verständigen mehr möglich war.

Im Jahre 1400 begann der Streit und wurde, nach den ersten Äußerungen der Beginenfeinde, zur öffentlichen Angelegenheit durch die um Allerheiligen stattfindende Disputation, in welcher der Barfüßerlektor Buchsman das „liebevolle Umfangen der Bettelarmut als einen Stand evangelischer [807] Würdigkeit“ verfocht. Es war ein Streit, der zunächst als Hausstreit der Basler Kirche behandelt wurde, und den wir im Jahre 1405 auf der Höhe sehen. Er wurde zu einer ernsthafteren Sache, seit immer mehr von der Ketzerei dieser Beginen verlautete und in den Verhören der Inquisition, die deswegen eingerichtet wurde, auch die Gestalt des großen Häretikers Nicolaus von Basel wieder aufstieg; sein Schüler Jacob hatte im Fröwlerschen Hause und mit Beginen verkehrt. So kam es im Herbste 1405 zum Entscheide durch Humbert. In harter und herrischer Weise Alle miteinander treffend und um keine Distinktionen von Beginen und Tertianern, Orthodoxen und Ketzern sich kümmernd, belegte der Bischof sämtliche Begarden und Beginen in Basel mit dem Banne. Die sich nicht fügten, die Tracht nicht ablegten, die Lebensweise nicht änderten, die Irrlehren nicht widerriefen, übergab er dem Rate zur Bestrafung.

Diese bestand darin, daß der Rat sie Alle aus der Stadt wies und ihr Vermögen konfiszierte.

Auch die Barfüßer als ihre Begünstiger wurden vom Bischof gebannt, ihre Kirche unter das Interdikt getan.

Humbert konnte sich bei diesem Vorgehen auf ein Gutachten der Heidelberger Universität berufen. Aber wem außer ihm und seiner Partei war ein solches Gutachten Autorität? Während die vertriebenen Beginen hart vor der Stadtgrenze, im Gebiete des ihnen gewogenen Markgrafen, sich aufhielten, auf bessere Tage und die Rückkehr nach Basel wartend, zogen ihre Beschützer, die Barfüßer, die Sache nach Rom vor die Kurie.

Es ward ein Prozeß, wie diese Prozesse alle waren. Doch zeigen einige aus seiner Aktenmenge uns erhaltene Stücke eigentümliches Leben: die Abrede des Predigerkonvents mit seinen Konsorten über die Bestreitung der Kosten; die leidenschaftlichen Schriften und Gegenschriften der Parteien; die Briefe Mulbergs, die er, zur Förderung der Sache am päpstlichen Hofe weilend, an seine Freunde nach Basel schrieb.

Deutlich steht das wechselvolle Treiben vor uns, das während dieses Prozesses, jahrelang, in Basel selbst herrscht. Mulberg hat seine Vertreter auf allen Kanzeln und treibt sie aus der Ferne zum Kampf; „ich zürne euch, daß ihr nicht gen Himmel schreiet; hebt eure Kopfe hoch! Fürchtet die Mücken nicht, die euch umschwirren“. Wenn einzelne der verbannten Beginen sich hereinschleichen, ja wenn sie gestorben hier zum Grabe gebracht werden, entsteht die größte Erregung. Der Markgraf rührt sich zu ihren Gunsten. Der städtische Rat, in sich selbst parteit, faßt Beschlüsse bald in diesem bald in jenem Sinne. Die Interdikte kommen und gehen. Das Volk, durch [808] Predigten Botschaften Gerüchte beständig aufgepeitscht, dann immer wieder aufs neue aus seinen Kirchen ausgesperrt, kommt nicht zur Besinnung.

Bis endlich im Jahre 1409 der päpstliche Spruch erfolgte. Er gab den Barfüßern Recht und kassierte die Zensuren des Bischofs. Alle Pfarrer hatten einen Widerruf Humberts zu verkündigen. Barfüßer und Beginen erhielten Entschädigung.

Und dennoch war der Streit damit nicht zu Ende.

Was bei solchen Konflikten Person und Tod des Papstes bedeutete, hatte Basel vor Kurzem beim Streit um den „letzten Abschied“ erfahren und erfuhr es jetzt wieder. Am 3. Mai 1410 starb Alexander, und mit ihm ging auch der Triumph der Basler Barfüßer rasch dahin. Der Sturz der ihnen gewogenen Erenfels und Rotberg im Rate und die Wahl eines Ammeisters; das Bekanntwerden geheimer Abreden der Barfüßer mit Österreich; zuletzt der Skandal, daß eine Frau, die ihrem Ehemanne vor Wochen abhanden gekommen war, bei den Barfüßern ertappt wurde, — dies Alles zusammen ließ die Feinde der Beginen und der Barfüßer triumphieren; den letzten noch nötigen Stoß gab Pastoris am Lichtmeßtage 1411 mit einer donnernden Strafpredigt über das vom Feind in den Weizen gesäete Unkraut, das man ausreiße und verbrenne.

Rasch und gewaltsam wurde nun exequiert und über alle päpstlichen Sentenzen, über den Einspruch der Barfüßer, über die Privilegien der Tertiarier hinweg der gesamte Basler Beginenstaat vernichtet. Die Barfüßer wagten keinen Prozeß mehr. Was an Beginen noch vorhanden war, mußte die Stadt verlassen. Bischof und Rat kamen überein, diesem Gesinde keinen Raum mehr zu geben.

An die Vernichtung schloß sich die Liquidation des Nachlasses. Die schon 1405 konfiszierten sechzehn Beginenhäuser waren 1409 durch den Rat dem Spital übergeben worden. Jetzt 1411 standen noch zehn zur Verfügung. Der Bischof zog diese an sich und verkaufte sofort ihrer viere, darunter an die Schmiedenzunft das Haus der großen Samnung. Aber hiegegen erhoben sich nun die Barfüßer. Im Januar 1412 kam es zu einem Vergleiche zwischen ihnen und dem Bischof, wonach diese zehn Häuser, auch die schon verkauften, dem Kloster überlassen werden mußten. Nur der Verkauf der großen Samnung an die Schmiede wurde anerkannt und ein andres der Häuser, St. Ulrich, den Münsterkaplänen zugesprochen. Im Übrigen wurden diese Regelhäuser Eigentum der Barfüßer, die in der Tat als die berufenen Erben der Beginen erschienen und schon deren Hausrat, auch 1409 aus den früher geschlossenen Häusern, erhalten hatten.

[809] Was den ganzen Vorgang kennzeichnet und ihm auch über die eine Tatsache der Beginenaufhebung hinaus Wert gibt, ist die Massenhaftigkeit der Bewegung, ist die anhaltende Erregung der gesamten Stadt, ist das Mithandeln des Rates. Dem unerbittlichen Vorwärtsdrängen der nur für Ehre und Reinheit der Kirche eifernden Männer gesellt sich allerdings die Gier nach herrenlos werdendem Gut und die Freude an der Demütigung einer vielvermögenden Klostergemeinschaft. Aber nicht dies ist das Entscheidende, sondern der Wille, einem veralteten Wesen ein Ende zu machen und eine Form zu zerbrechen, die vielen Mißbrauch zu schirmen geeignet war. Mit seinem Auf und Nieder, seiner Wucht und Leidenschaft steht das Ereignis als große Inauguration der Regenerationsperiode vor uns.

Während um die Beute gehandelt wurde, ließ sich auch Mulberg wieder vernehmen. Nur daß er jetzt nicht mehr gegen den kleinen Kreis arbeitsscheuer oder ketzerischer Beginen stritt, sondern gegen Alles, was Pflichtvergessenheit und Laster des Klerus überhaupt war.

Aber damit verdarb er sich nun seine Stellung. Daß man ihm vorwarf, dem Gegenpapst Gregor XII. anzuhangen, war wohl nur Vorwand. Der Rat selbst äußerte sich, Mulberg werde von Vielen gehaßt und verklagt, weil er das Unrecht strafe. Jedenfalls war er Manchem ein unbequemer Zanker, mochte auch tatsächlich in seinem Eifer etwa zu weit gehen. So kam es, daß ihm die Kanzel verboten, er selbst ins Exil getrieben wurde.

Wie er nun, eh er die Heimat verließ, vor der verschlossenen Türe des Münsters zum Gebete niederkniete, wie dann die Türe sich wunderbar von selbst auftat und ihm Eintritt ins Heiligtum gab, wird uns als eine Nachtszene voll düstrer Herrlichkeit geschildert.

Vielleicht war es auch ein Ruhebedürfnis Vieler nach den jahrelangen heftigen Kämpfen, das ihn fortgehen hieß. Aber mit ihm wurde doch nicht die Reform preisgegeben.


Wir sehen vielmehr den neuen Geist die kirchlichen Zustände weiterhin erregen.

Auch beim Domstift. Das Statut von 1401 wider das beim Domkapitel eingerissene dissolute Wesen und den Verfall des Gottesdienstes, mit strengen Vorschriften über die Anwesenheit bei der Meßfeier usw., zeigt das Bestreben, aus dem Glanz und Taumel eines zur Gewohnheit gewordenen Lebens das Dauernde zu retten und das Kapitel seines Berufes würdiger zu machen. Es geschah dies unter dem Antrieb einer allgemein wirkenden Kraft; als ihre Träger dürfen wir uns im Kreise dieser Domherren namentlich [810] den Konrad Elye, den Johann Wiler, später den Georg von Andlau, vielleicht auch den Propst Peter Liebinger denken.

Kräftigere Strömungen begegnen uns beim Petersstift. Die Krisis, von der schon die Rede war, hat auch diese wohlgemuten Herren zur Besinnung gebracht; auch daß um diese Zeit neue Geschlechter in die Chorstühle rücken, ist von Bedeutung. Wiederum spüren wir dabei die wälsche Influenz. Erhard von Burius, Werner von Maigeray, Richard von Lyla, Hugo von Corgemont, Johann Ner waren Stiftsherren aus dem Westen; neue Menschen, die neue Kräfte brachten. Unter dem geschäftskundigen Propst Burius kam es 1412 zu einem Statut, das durch starke Erhöhung der Eintrittsgebühr für Besserung der Finanzen, durch Vorschriften über das erforderliche Alter, die Amtspflichten und die Tracht der Stiftsherren für Würde und Frieden zu sorgen suchte. Dieser Propst, durch einen Fall so schwer verletzt, daß er in seinen letzten Jahren an Krücken gehen mußte, schied 1427 unter großen Vergabungen für eine Orgel, für Erweiterung des Kirchhofes u. a. m. Sein Nachfolger Rudolf von Terwil, dessen Gesinnung uns durch seinen Eifer für die junge Karthause bezeugt wird, hatte um so mehr Anlaß, diese Bausachen zu fördern, als das Stift sich für das Konzil ein gutes Ansehen geben mochte. Daher die Legate des Chorherrn Heinrich von Rumersheim für Anfertigung eines mächtigen Altarbildes und für Vollendung des Turmes; daher das Statut von 1430, das auch für die Kapläne ein Karenzjahr einführte, den dabei verfügbar werdenden Betrag aber nicht einer Totenpfründe des Vorgängers zuwendete, sondern der Baukasse mit der Bestimmung für den Turmbau zuwies.


Ohne Zweifel bedeuteten diese Maßnahmen der beiden Stiftskollegien eine Besserung. Aber sie galten nur dem Äußern, dem Betrieb und den Finanzen. Was im Innern schlecht war, konnte auch unter diesen neuen Regeln bestehen.

Andre Art und Kraft zeigt die daneben hergehende Klosterreform. Wir haben nicht zu glauben, daß die Verderbnis von Ordnung und Zucht im Kloster stärker war als beim Laienklerus. Den Nachrichten von unsittlichem Treiben bei Mönchen und Nonnen, vom Einsteigen junger Herren ins Klingental, vom Kauf von Abtreibungsmitteln in den Apotheken durch Klosterleute begegnen ähnliche Meldungen aus dem weltlichen Bereiche der Kirche. Aber indem das Mönchtum Vielen als das eigentliche christliche Leben galt, hatte die Klosterreform mit ihrem Streben nach stärkerer Ablösung dieser mönchischen Vollkommenheit vom Leben in der Welt ihre [811] hohe Bedeutung. Auch bewirkte die eigenartige Stellung namentlich des Weiberklosters in Stadt und Gesellschaft, daß sein Verfall und dann seine Wiederherstellung von allgemeinem Interesse war.

Die Klosterreform erstrebte Einführung der Observanz, Rückkehr zum Zustande der ersten, von Ernst und Liebe erfüllten Zeiten mit strenger Klausur, Vermögenslosigkeit des Einzelnen usw. Das beste Mittel, das ihr hiefür zu Gebote stand, war ein Wechsel des Personals.

Die Akten dieser Reformation geben zahlreiche Aufschlüsse. Aber wie Manches dabei ist nur Formel. Und wie rasch zerging vielfach die Begeisterung, mit der die Arbeit unternommen worden war; wie leicht wurde ihre Reinheit getrübt durch Äußerlichkeiten, durch Ehrgeiz und durch Lust am Organisieren als solchem.

An der Spitze der Basler Klosterreform steht der Predigerorden, dessen Beschluß von 1388, die vollständige und genaueste Beobachtung der ursprünglichen Ordensregel in den Klöstern wieder einzuführen, das ganze Unternehmen begründete. Ausgangspunkte dieser Reform in der Ordensprovinz Teutonia wurden die beiden Klöster Colmar und Schönensteinbach (bei Mülhausen): jenes 1389 reformiert, dieses 1397 an Stelle einer alten, den Augustiner Chorherren unterstellt gewesenen, aber verkommenen Stiftung im Sinne der Reform neu begründet. Von Colmar aus ging die Reform in die Brüderkonvente, von Schönensteinbach aus in die Schwesternklöster.

Auch Basel wurde schon frühe durch den Geist dieser Reform berührt, indem einige der für das neue Schönensteinbachkloster bestimmten Schwestern sich 1397 mehrere Wochen lang im Klingental aufhielten. Aber zur Einführung der Reformen selbst, zunächst im Steinenkloster, kam es erst später. Dann war es jedoch nicht mehr nur die Leistung des Ordens allein, sondern auf mächtige Weise sehen wir diesen Vorgang, der das kleine Frauenkloster in der Basler Vorstadt der Observanz wiedergeben sollte, in einen allgemeineren Zusammenhang gerückt. Kardinal Branda, der vom Papste nach Deutschland gesandt war, „um alle Klöster, wo er es nötig finden werde, zu schließen und zu reformieren“, gebot dem Provinzial auch die Reform des Steinenklosters zu Basel.

Wir wissen nicht, woher dem Legaten die Kenntnisse kamen, die den Befehl veranlaßten. Vielleicht vom Rate der Stadt. Aber unzweifelhaft gewann diese Klosterreform dadurch erhöhte Bedeutung.

Der Provinzial Giselbert von Utrecht dachte die Reform von sich aus und mit den vorhandenen Schwestern selbst ins Werk setzen zu können. Sein Beauftragter war der Superior des Steinenklosters, der namentlich [812] als Volksprediger bekannte Bruder Peter von Gengenbach; noch die späte Klostertradition wußte zu erzählen, daß Alles zur Einführung der Observanz nötige Äußerliche durch Bruder Peter ausgeführt worden sei.

Aber die Hauptsachen fehlten: die reine Gesinnung des Reformators selbst und die Beugung der Nonnen unter die alte, nun wieder neu geltende Regel. Bruder Peter mußte wegen anstößigen Betragens entfernt werden, und auch der Austritt mehrerer Schwestern im Laufe weniger Monate läßt uns die Kämpfe ahnen, die geführt wurden.

Eine Reform war nur möglich durch das Eintreten neuer Schwestern, zuverlässiger Bekennerinnen der Observanz, in das Basler Kloster. Der Orden bestimmte, daß sie aus dem Konvent Unterlinden in Colmar genommen werden sollten.

Am 6. November 1423 trafen diese Frauen im Steinenkloster ein, in der bei diesen Kolonisationen üblichen Zahl von dreizehn, unter ihnen die gottselige Margaretha von Kenzingen. Von den alten Steinenklosterschwestern blieben nur neun im Hause, darunter die Priorin Katharina von Zässingen, und unterzogen sich der Observanz.

Dieser ganze Verlauf zeigt uns in deutlicher Weise, was Klosterreform war. Ihr Äußerliches, vor Allem „der bu der observanz“, — das Erhöhen der ringsum stehenden Mauern, das Schließen oder Vergittern von Fenstern, das Versichern der Schlösser an Tor Redfenster Beichtfenster usw., die Entfernung der Mühle und des ganzen mit ihr zusammenhängenden Verkehrs aus dem Klosterhof — war schon durch Peter von Gengenbach, vor dem Eintritt der Unterlindnerinnen, besorgt worden. Aber was darüber hinaus wirkliche Reform bedeutete, die Versetzung des Klosters in den „seligen Stand“, „die Reformierung zur heiligen Geistlichkeit“, war neue Strenge und Zucht, neue Gesinnung. Ein Urteil über deren Vorhandensein ist uns freilich so wenig gestattet wie über die Zustände des Klosters vor der Reform. Daß diese der Verbesserung bedurften, ist dem Verhalten der kirchlichen Obern zu entnehmen. Überdies beachten wir das Handeln des städtischen Rates. Er erscheint nicht nur als mitwirkend. Sondern er hat den Provinzial zur Reform gedrängt. Er selbst sagt von sich, daß er diese Reform angefangen habe. Er bestellt eine Kommission, um dem Orden bei dem Geschäfte zu helfen. Er bedroht Verletzungen der neu gefestigten Klausur mit Strafe. Zur Aussteuerung des reformierten Hauses erläßt er das Mühleungeld für ein Jahr und schenkt eine große Geldsumme für Erwerbung des Kirchensatzes zu Frick; die Rückgabe dieses Geldes solle geschehen, wenn die Observanz im Kloster abgehe, „do uns got vor behüt“. [813] Noch viele Jahrzehnte später erinnerten die Frauen den Rat an diese Tätigkeit seiner Vorfahren für das Kloster und verlangten, daß er auch ihnen solche „Liebe Begierde und Andacht“ erzeige.

Im Zwange der Observanz steht nun das Steinenkloster in der Tat wie erfrischt da. Zahlreiche Eintritte und Jahrzeitstiftungen zeigen, welches Vertrauen es neu gewonnen bat. Seine soziale Hebung ist nicht zu verkennen. Mit der Abschaffung persönlichen Eigentums der Frauen wird jetzt Ernst gemacht. Auch ökonomisch bedeutete die Reform eine Erneuung. Noch 1401 hatte das Steinenkloster arm geheißen; jetzt bessern sich seine Verhältnisse, nicht zum Wenigsten unter der Wirkung einer frischen Gewissenhaftigkeit, der auch äußere Dinge nicht zu gering sind. Manches mochte jetzt geleistet und bestimmt sein durch eine geläuterte Gesinnung, ein gesteigertes geistiges Interesse, und diese Kräfte finden wir lebendig in manchen Einzelheiten des spätern Lebens, in Briefen der Frauen, in ihrer Bibliothek, am stärksten in der Kolonisation andrer Konvente: vom Steinenkloster aus wurden 1429 Himmelskron bei Worms, 1431 St. Nicolaus in undis in Straßburg, 1439 die Insel in Bern, 1465 St. Agnes in Freiburg i. B. reformiert.


An dieses Werk schloß sich rasch die Reformierung des Basler Männerklosters.

Das Bild dieses großen Konventes steht lebendig vor uns. Schon die Gewalttaten der urbanistisch gesinnten Brüder gegen den Provinzial und Andere zeigten, welche Manieren hier zu Hause waren. Dann kam die Überwindung der Barfüßer im Beginenkampfe; aber in der Siegesfreude des Klosters ist von der Art Mulbergs wenig zu merken. Wir hören mehr von der Sorge um Rechte und Privilegien und namentlich viel von unbekümmertem läßlichem Leben, von gutem Essen, guten Betten u. dgl.; bis in die Ordenschronik drang der Ruf, wie die Basler Brüder dem Fleische den Willen täten.

Auch hier griff der städtische Rat ein. Unmittelbar zum General des Predigerordens, dem feurigen Reformer Bartholomäus Texerii, ging er und bat ihn, das Basler Kloster zur heiligen Observanz zu bringen.

Aber wenn schon an den Steinen Widerstand gewesen, wie viel mehr bei diesen derberen Mönchen. Sie erhoben sich zur heftigsten Opposition und, um sofort Herren im Hause zu bleiben, trieben sie die wenigen Brüder, die einer Reform zuneigten, hinaus. Noch deutlicher als bei den Frauen sehen wir hier, wie stark auch ein Kloster dem öffentlichen Leben der Stadt [814] angehören konnte, wie wenig zumal ein Konvent von Mendikanten ein ausgeschiedenes und abgeschlossenes Stück Welt war. Nahe und Ferne, Vornehme und Gemeine mischten sich in diesen Zwist, rieten und hetzten; der Ordensstreit wurde zur Stadtangelegenheit, zu Anlaß von Parteiung und Gewalttat. „Der Zank war so groß, daß über diese Reformation allein ein Buch hätte geschrieben werden können.“ Sogar zu den Waffen griff man, und der Ordensgeneral mußte den Versuch persönlicher Intervention aufgeben, mußte vor seinen Mönchen und ihren Parteigängern fliehen. Nur von außen her, von Bern, von Nürnberg, oder wo er sich aufhielt, konnte er eingreifen. Er exkommunizierte die Widerstehenden. Er brachte zuletzt die Sache vor Papst Martin, und dieser tat nun das Mögliche, zog die großen Nachbarn des Konvents, die Bischöfe von Basel Konstanz Straßburg und den Markgrafen von Röteln, in sein Interesse, rief auch den weltlichen Arm des Rates zu Hilfe und verlangte von diesem, daß er die Rebellen greife und einkerkere.

Nicht nur mit den Gegnern der Reform hatte der General zu kämpfen; auch um des lieben Friedens willen war Manchem sein Vorgehen unwillkommen. Aber er kapitulierte nicht. „Ich will den Konvent haben oder darum sterben.“ Und in diesem festen Willen, den der noch stärkere Glaube an die Güte seiner Sache trug, erlangte er zuletzt doch noch den Sieg. Die Gegner wichen. Ergreifend war die Szene, da einige ihrer Hauptführer sich reuig dem General zu Füßen warfen und um Absolution flehten.

So gelang endlich die Einführung der Reform, auch hier natürlich mit Hilfe zuverlässiger Observanten eines andern Klosters. Sie kamen am 30. April 1429 aus dem Konvente Nürnberg; an ihrer Spitze trat Johannes Nider in das Basler Haus und wurde hier Prior. Seiner Persönlichkeit vor Allem ist von nun an das Gedeihen des Klosters zuzuschreiben.


Aber was am meisten fesselt, ist doch das Handeln des Rates, sein anscheinend spontanes Verlangen nach kirchlicher Reform. Nicht nur die Polizei städtischen Regiments und der Sinn für Ordnung und öffentliche Zucht führten ihn dazu. Allgemeine Stimmungen trieben. Die Obrigkeit vertrat die gegen eine nachlässige Kirche, gegen gierige und würdelose Pfaffen erbitterten Laien. Es waren aber auch die ersten Jahre Fleckensteins und seiner energischen Tätigkeit für Erneuerung kirchlicher Macht und Herrschaft, mit der aufs beste zusammengehen konnte, was als Arbeit auch für innere Sanierung erschien. Es war überdies das Jahrzehnt der Husitenkriege und der über das ganze Reich gehenden Maßregeln für Unterdrückung der Ketzerei.

[815] Was damals in Basel von Obrigkeits wegen gegen die Husiten geschah, wissen wir; es genügt hier daran zu erinnern.

Im Schrecken vor der in Böhmen losbrechenden Bewegung kam es auch in Basel zu allerhand Beschlüssen und Taten. Namentlich zu der großen eidlichen Verpflichtung der gesamten Einwohnerschaft, am Christenglauben festzuhalten und aller Ketzerei zu widerstehen, im Besondern auch jeden hier weilenden Irrgläubigen dem Rate zu denunzieren. Es war dies ein Gelöbnis, das dem in andern Städten geleisteten gleich war, hier in Basel aber seine sehr bestimmte Bedeutung hatte.

Es lebten hier tatsächlich Häretiker verschiedener Art und wohl nicht in kleiner Zahl. Der Vorwurf, den Papst Eugen der Stadt Basel machte, daß so viele Ketzer in ihr wohnten, hatte offenbar seinen guten Grund. Von all den Lehren Gemeinschaften und Konventikeln der erst kurz vergangenen Zeit war jedenfalls viel Unaustilgbares und Verborgenes hier geblieben; der Beginensturm hatte mit den Formen nicht auch Geist und Gesinnung vernichten können. Und so würdigen wir im Gedanken an allgemeine Zustände, an die Verbreitung des Waldensertums und einer ketzerischen Mystik in Oberdeutschland Elsaß usw. auch das vereinzelt, in nur zufälliger Überlieferung uns bekannt werdende Dasein dieses oder jenes Häretikers in Basel. Schon im Frühjahr 1400 sitzt hier Berthold, Sohn weiland Werners des Gastwirts zum Hirzen in Straßburg, der Ketzerei beklagt in Haft; der Struß in Basel gehört zur Sekte der waldensischen Winkeler; die 1430 in Freiburg i./U. wegen Häresie inquirierte Antonia Perrotet sagt dabei über ihren Verkehr mit einer Schwester in Basel aus. Namentlich aber betreffen wir hier zu Beginn der 1420er Jahre den Johann Drändorf und zehn Jahre später den Friedrich Reiser, Beide als Wanderprediger, Beide die Propaganda treibend, die sie auf den Scheiterhaufen bringen sollte. Es sind waldensische und wiclifitisch-taboritische Gedanken, die Drändorf auch hier unter die Leute bringt: die Verwerfung von Ablaß Messe Zeremonien usw., Verwerfung des päpstlichen Primats, Bekenntnis der utraquistischen Kommunionslehre; er sucht Kleriker, die nach der Regel Christi leben; er tadelt die Leute um ihre Leistung des Ketzereides. Reiser sodann, der waldensische Apostel, läßt sich hier von einem der zum Konzil deputierten husitischen Bischöfe zum Bischof weihen; unter seinem Einflusse entschließen sich die Waldenser in Basel dazu, die Husiten als Brüder anzuerkennen.

All das sind nur knappe Erwähnungen, nicht zu vergleichen mit den großen Aktensammlungen der Ketzerprozesse von Straßburg Freiburg Berlin [816] Stettin usw. Aber trotz solcher Dürftigkeit sind diese paar Gestalten von Basler Häretikern nicht ohne Leben. Mitten in den mannigfaltigen Ahnungen und Bestrebungen jener Zeit suchen sie, dem lauten Eifer der offiziellen Kirchenreformer gegenüber, eine tiefere Ruhe und Heiligung und hoffen sie zu finden ohne Papst, ohne Priester, ohne Mönche und Theologen.

Auch der städtische Rat verlangt nach dem Heile. Aber er kann dabei der Kirche nicht entraten. Eine Reform erscheine ihm als notwendig, sagt er, weil es in der heiligen Christenheit übel stehe mit dem Glauben und mit viel andern Sachen; der ewige allmächtige Gott müsse um Hilfe angerufen werden, und solch Flehen geschehe durch ehrbare geistliche Leute besser und wirksamer als durch andre sündige Menschen.


Diese Worte weisen auf den weiten Hintergrund, den solche lokale Regenerationsarbeit hatte, auf eine allgemeine Bemühung der Kirche um Reform ihrer Sitten und ihrer Verwaltung. Das Bedürfnis hatte schon Generationen mit Unruhe erfüllt; in den furchtbaren Erlebnissen des Schisma war es allgemeiner und stärker geworden.

Was nunmehr den ungeheuren Inhalt dieser Jahrzehnte ausmachte, war das Zusammentreffen der Reformideen mit der konziliaren Bewegung. Dem Konzil wurde gerufen, damit es die Einheit der zerrissenen Kirche wiederherstelle vermöge der Autorität, die einer allgemeinen Kirchenversammlung zukomme. In der dann tatsächlich wieder geeinten Kirche aber trat das Konzil keineswegs wieder zurück, meldete sich vielmehr nur um so stärker mit seinem Anspruche, gegenüber dem päpstlichen Primat Repräsentant der Gesamtkirche und Inhaber der obersten Kirchengewalt zu sein. Es bezeichnete dabei als seine Aufgabe eine Generalreform des Kirchenkörpers an Haupt und Gliedern. Dem entgegen stand das alte einzige und heilige Papsttum, das sich aus seinen Ruinen erhoben hatte und zum Kampfe mit allen Konzilsgedanken entschlossen war. Es erklärte auch seinerseits, sich der kirchlichen Reform annehmen zu wollen.

Solchergestalt beherrschten die beiden großen Probleme Konzil und Reform die Zeit. Dem Konzil gaben die Versammlungen zu Pisa 1409, zu Konstanz 1414—1418, zu Siena 1424, zu Basel 1431—1448 Gelegenheit, sich und seine Kraft zu produzieren.

Von der faktischen Ausübung einer zentralen Kirchengewalt durch das Basler Konzil und seinen Papst ist hier nicht zu reden. Auch nicht von der Liberalität, mit der diese Mächte den Kirchen Basels Privilegien und Indulgenzen spendeten, Konservatoren gaben, Stiftungen machten usw.

[817] Als wichtiger erscheint uns die nie nachlassende, oft mit der stärksten Kraft wirkende Anregung der Konzilsdebatten und -Beschlüsse sowie der Äußerungen einzelner Konzilspersonen.

Die Basler Kirche wußte, daß sie vom Bischof an bis hinab zum kleinsten Kleriker, vor einem einzigartigen und riesenhaften Sachverständigenkollegium zur Schau stand. Die Beflissenheit, mit der sie daher sich schon zeitig hiefür zurechtmachte und rüstete, gleich der Stadt, gibt den dem Konzil vorangehenden Jahren eine eigentümliche Aufregung.

Im Äußern trat hinzu der große Impuls des Stadtbrandes von 1417, und so sehen wir allenthalben die Arbeiten an Kirchgebäuden im Gange. Während St. Ulrich neu aufgerichtet, St. Alban wiederhergestellt wurde, erhielt der Georgsturm des Münsters seinen Ausbau, wurde die uralte, an Mauern und Dachungen zerrüttete Kleinbasler Kirche durch einen Neubau ersetzt, wurden der Peterskirche und dem Chor zu Predigern Türme gegeben.

Dies die äußere Zubereitung. Zu ihr trat das Prüfen seiner selbst, die Korrektur von Wandel und Gewohnheit. Von ihr ist schon bei St. Peter, bei den Predigern usw. die Rede gewesen; in umfassender Weise geschah sie dadurch, daß der Bischof seine ganze Verwaltung revidierte und dem Bistum auf einer Synodalversammlung neue Gesetze gab.

Während des Konzils selbst kam dann die stete Beaufsichtigung, die unaufhörliche Vergleichung von beiden Seiten her, das Kritisieren, das Bewundern, das Beneiden und Nachahmen.

Es konnte sich dabei so gut um Nichtigkeiten handeln wie um die ernstesten Fragen.

Daß sich beispielsweise die Basler Geistlichkeit während der Konzilsjahre auffallend häufig mit ihrer Tracht beschäftigte, weist wenigstens auf einen Teil Dessen hin, was sich ihr an diesen Kollegen aus aller Welt vor Augen stellte. So erließ das Domkapitel 1438 ein Statut über die Kleidung seiner Mitglieder, mit sorgfältiger Angabe der den Prälaten, den Domherren, den verschiedenen Klassen der Kapläne zukommenden Auszeichnungen durch Pelz Borten usw. Drei Jahre darauf wurde dem Petersstift eine Verschönerung der Tracht des Propstes gestattet, und die Damen im Klingental ließen sich das Tragen von Handschuhen im Winter bewilligen. Aber auch der Klerus der Martinskirche und der Leutpriester zu St. Theodor wollten mit Verbesserung ihres Habits nicht zurückbleiben. Ebenso 1440 die Chorherren zu St. Leonhard; sie erhielten die Erlaubnis, Pelzmützen [818] und außer den weißen Kutten auch farbige Gewänder zu tragen; als sie aber 1447 eine noch reichere Tracht anlegen wollten, mit seidenen Gürteln und langen von den Kappen herniederhängenden Schweifen, erhoben die Herren des Doms und St. Peters Einsprache.

Bei diesem Allem handelte es sich nicht allein um Gelüste der Eitelkeit, sondern durchaus um bestimmte Rang- und Etikettenfragen; die Urkunden behandeln sie mit dem entsprechenden Ernste; auch das Konzil hatte gelegentlich einen Entscheid zu geben.

Aber es kümmerte sich noch um Anderes. Laut genug hatte es Reformabsichten proklamiert, und zu deren Ausführung bot ihm die Konzilsstadt alle Gelegenheit. Kaum in Basel angelangt nahm Kardinal Cesarini den städtischen Klerus unter Visitation; er versprach dabei, nicht wie ein Richter, sondern wie ein Vater zu handeln. Die Weltgeistlichen wurden dem Bischof von Coutance und dem Pariser Offizial, die Klöster drei Religiosen zur Prüfung übergeben; diese erstatteten dann Bericht, worauf Cesarini die schuldig Befundenen vor sich lud und ermahnte. Im Sommer 1434 ist neuerdings von solchen Reformen die Rede, namentlich beim Domkapitel; der Domherr Diebold, der eine Nonne geschändet hatte, wurde abgesetzt. 1437 ward geklagt, daß viele Stiftsherren sich nicht scheuten, Turnieren und Tänzen beizuwohnen; über den Verkehr mit den Weiberklöstern erließ Cesarini Vorschriften, die dann der Rat publizierte; auch versuchte der Kardinal eine Reformation des Leonhardsstiftes durchzusetzen.


Von dauernder Bedeutung dagegen war die auf Betreiben des Konzils geschehende Reformation zu Barfüßern.

Allgemeine, die Kirche seit Langem beschäftigende Diskussionen wurden hier wieder aufgenommen und im Geiste strenger Grundsätzlichkeit entschieden. Es handelte sich dabei um das in der franziskanischen Ordensregel enthaltene Gebot vollkommener Armut, auf dessen strikte Beobachtung die Partei der Observanten im Orden drang. Schon das Konstanzer Konzil hatte sich für diese ausgesprochen; in ihrem Sinne waren der Konvent Heidelberg, 1426, der Konvent Rufach 1435 reformiert worden. Am 23. Dezember 1439 beschloß das Basler Konzil die Visitation und Reform sämtlicher Klöster der oberdeutschen Minoritenprovinz. Damit war auch der Basler Konvent getroffen.

Vom Zustande dieses Klosters wissen wir nichts Bestimmtes. Erhebliche Mängel werden nicht erwähnt außer dem, was den Basler Barfüßern im Verlaufe des Beginensturmes vorgeworfen worden war. Nicht gegen [819] ein frevles Verachten von Zucht und Ordnung richtete sich jetzt die Reformabsicht; aber gegen ein zur Gewohnheit gewordenes lässiges Übersehen von alten Grundsätzen. In dieses Sichgehenlassen gedachte nun die Observanz eine Aufrüttelung zu bringen; die dabei vor Allem geforderte Hingabe jedes Besitzes, die expropriatio, war nur eine einzelne Äußerung des strengeren Geistes, der wieder walten sollte.

Aber wie vor zehn Jahren bei den Predigern, so stieß auch diese Reform, mit deren Durchführung der begeisterte Kämpfer der Observanz Nicolaus Caroli betraut war, auf Widerstand. Von Rebellion Gewalttat u. dgl. vernehmen wir allerdings nichts; aber auch dieser Konvent war in zwei Lager geteilt, und erst die Wahl des Leonhard Meyer zum Guardian scheint der Reform zum Siege geholfen zu haben. Zu Ende des Jahres 1440 geschahen die entscheidenden Schritte. Die am heftigsten widerstrebenden Brüder wurden aus dem Hause gewiesen und durch auswärtige Observanten ersetzt. Das Konzil, vor dessen Schranken die durch Hemmerlin so lebendig geschilderte Szene der Scheidung des Konventes sich vollzog, nahm sich der Einrichtung des neu bestellten Konventes sorgsam an und ließ seine Deputationen arbeiten. Auch der städtische Rat hielt sich nicht zurück; wiederholt traten bei diesen Verhandlungen seine Boten vor das Konzil, und schließlich übernahm er, auch vom Provinzial darum gebeten, bis auf Weiteres die den Mönchen unter der Herrschaft der Observanz ja nicht mehr mögliche Verwaltung des Klostervermögens.

Bei alledem scheint die Reformation doch nicht völlig durchgeführt worden zu sein. Noch immer gab es Hemmungen, und damit die Observanz zu ausschließlicher Geltung kommen konnte, bedurfte es einer nochmaligen Sezession altgesinnter Brüder. Solche geschah im Jahre 1443. Hiemit endlich war der Konvent gesäubert, die eigentliche Arbeit getan. Was dann am 20. November 1447 nachfolgte, war die formelle Entäußerung des Klosters von allen Gütern und insofern allerdings die Vollendung der Reformation; das Kloster übergab sein, bis 1440 durch den Rat verwaltetes Vermögen seinem Nachbar, dem Spital, unter Wahrung aller Rechte von Donatoren Fundatoren u. dgl.

Im gleichen Jahre handelte es sich auch um Einführung der Observanz in dem den Barfüßern verschwisterten Kloster Gnadental zu Basel; am 3. Mai 1447 übertrug das Konzil diese Reform dem schon erwähnten Nicolaus Caroli. Aber die Ausführung unterblieb; wir wissen nicht, weshalb. Erst im Jahre 1451, und nun durch das Papsttum, wurde Gnadental den Observanten zugewiesen.

[820] Die Bemühungen des Konzils um Barfüßer und Klarissen gehörten einer Zeit an, da es mit seinem Glücke eigentlich schon zu Ende war.

Es ist ein ergreifendes Schauspiel, wie in den Schicksalsjahren 1438 und 1439 Papstbeseitigung und Papstwahl, die Großtaten des Konzils, mit furchtbaren Heimsuchungen durch Krieg Hungersnot und Pest zusammenfielen. Die höchsten Erwartungen wurden dabei an diese Epoche geknüpft. Eine neue glorreiche Zeit sah der Dichter auch für Basel kommen, diese Stadt, die jetzt an Stelle Roms das Haupt des Erdkreises werde.

Eine neue Zeit kam, aber völlig anders, als sie geweissagt wurde.

Während das Konzil um sein Leben rang, trieben die Schrecken dieser Jahre alle Welt zur Devotion. Nicht nur Pilgerfahrten und gewaltige, die ganze Stadt zu einer einzigen hilfeflehenden Büßerschar vereinigende Prozessionen waren Wirkungen dieser Seelenangst. Die Mildtätigkeit, die Bereitschaft zu frommen Stiftungen erhob sich aufs neue. Mächtige Donationen, wie diejenigen der Witwe Varnower und Henman Offenburgs an St. Peter, der Witwe Götz an das Spital und die Elendenherberge, des Junkers Friedrich Rot an die Augustiner, der Herzogin Isabella an die Karthaus usw. bezeugten neben der Stiftung des Salve Regina in der St. Andreaskapelle, neben der Stiftung der Sebastianspfründe zu Augustinern durch den Rat, neben den Stiftungen des Konrad zum Haupt für die Kranken im Spital und die Elenden u. dgl. m. die allgemeine tiefe Erschütterung. Große Kaufherren drängten sich in die Seelzunft zum Schlüssel, um ihrer kirchlichen Gnaden teilhaft zu werden. Auch die Pfarreireform zu St. Peter 1439 gewinnt Leben im Gedanken an diese Pestzeit, in deren Not und Arbeit der bisher mit der Seelsorge Betraute versagt hatte.

Aber die Leiden nahmen noch kein Ende. Im Jahrzehnt des entsetzlichen Krieges, der rings um Basel alles Land verheerte, sah sich auch hier die Kirche der desolatio, der Verwüstung und Not preisgegeben. Was z. B. ein Frauenkloster erleben konnte, zeigen uns die Schönensteinbacherinnen, die vor den Armagnaken nach Ensisheim, dann über den Rhein nach Neuenburg, zuletzt nach Basel fliehen mußten, an allen diesen Orten ein bedrängtes, ganz provisorisches Klosterleben führend und erst nach Jahren wieder heimkehrend. In ähnlicher Sorge und Unruhe lebten die meisten Landklöster diese wilden Jahre hindurch. Sie und mit ihnen die städtischen Stifter und Klöster litten aber auch finanziell unter der Verwüstung der Güter, unter der Bedrückung und Vertreibung der Zinsleute. Weil alle Welt darniederlag, blieben auch die gewohnten Gaben aus, kamen keine Novizen. So drohend war das allmähliche Aussterben einzelner Konvente, [821] daß der Predigerorden die Werbung neuer Brüder gebot. Das Stift St. Imer war schon 1443 in höchster Bedrängnis, das einst so mächtige Lützel schwer verschuldet. Die Basler Karthause, der vor allen andern städtischen Gotteshäusern die Gunst der Konzilsherren gegolten hatte, spürte nach dem Auseinandergehen der Versammlung sofort, daß diese Hilfen ausblieben. Und wie tief lag St. Leonhard darnieder; in seiner stolzen Klosterburg, die hoch und prächtig über die Stadt hin herrschte, lebten außer dem Propst Leonhard Grieb nur noch zwei Chorherren; auch für diese Wenigen war der Unterhalt kaum zu beschaffen, sodaß zuletzt Grieb, der die Propstei hatte aufgeben müssen und wieder Chorherr geworden war, die Kutte hinwarf und Weltgeistlicher wurde. Auch das Domkapitel klagte, daß der Krieg seine Einkünfte vernichtet habe, daß die devocio des Volkes dahin sei und keine Geschenke mehr eingehen.

Aber dieser Mangel traf nicht nur die Notwendigkeiten von Nahrung und Kleidung. Weil das Geld ausblieb für die Gebühren und weil des Personals für die Leistungen immer weniger wurde, kam die Einschränkung des Kultus, die Vernachlässigung der kirchlichen Besorgungen und Pflichten. Unter dem Zwange der allverbreiteten Not und Roheit zerfiel auch die Zucht in den Chören und hinter den Klostermauern.

Um das Konzil selbst aber ward es immer stiller. Das Leben zog sich sichtbar von ihm zurück und mit dem Leben die Teilnahme, die Hilfe, die Kraft. Das Konzil ward entbehrlich. Noch in der besten möglichen Form geschah seine Wegweisung aus Basel; dann folgte die Obedienzerklärung der Stadt an Rom und die feierliche Annahme dieser Unterwerfung durch den großen Papst Nikolaus V.


Von jetzt an sehen wir nur noch die eine römische Kirche am Werke. Auch am Werk ihrer Regeneration; dieses erscheint in seiner Bedeutung noch gehoben durch das, was die Not der letzten Zeit gebracht hat.

Die Konzilien haben versagt, und der Kurialismus kann siegreich darauf hinweisen, daß die Wahrheit doch und ausschließlich in Rom zu finden sei. Ein Strom von Kraft und Unternehmungslust geht durch die ganze Institution; es ist dieser neue Wille, der von nun an, zusammen mit den vom Volke selbst ausgehenden Wünschen und Anregungen, alles Kirchliche erfüllt und ihm, wenn auch die Absicht ohne Erfüllung bleibt, die dieser Zeit eigene Bewegung gibt.

Freilich fällt es oft schwer, an die innere Wahrheit des ganzen Vorganges zu glauben. Allzu gewaltig machen sich die sittliche Verderbtheit und [822] der maßlos gesteigerte Macht- und Geschäftssinn der kirchlichen Zentralleitung sowie die diesem Beispiel entsprechenden, durch die ganze Kirche hin wiederholten Zustände geltend.

Aber gerade die weite Spanne der kirchlichen Welt und die Menge ihrer Organe, dazu die Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit des menschlichen Wesens, endlich die Nötigung zwischen Institution und Person scheiden zu können, helfen zu einem Verstehen.

Unverkennbar leidet die Kirche an schweren Mängeln. In ihren guten Momenten und in ihren tüchtigen Vertretern verurteilt sie sich selbst; zum Verlangen eigener Besserung gehört ohne Weiteres der Wunsch, wieder allgemein ernst genommen zu werden, ihre Aufgabe gegenüber der Welt wieder kräftiger zu erfüllen.

Wir sehen, daß ihr dabei ein aus neuen innern Regungen und aus der Not der Zeit kommendes religiöses Bedürfnis Einzelner und ein gesteigertes Bewußtsein der Gemeinden begegnen, ohne daß wir sondern dürfen, inwieweit die offizielle Tätigkeit Ergebnis einer solchen allgemeinen Entwickelung ist oder selbst erst den Anstoß zu dieser gibt. Wir haben an mächtige Wechselwirkungen zu glauben, und jedenfalls wirken im Gesamten der kirchlichen Regenerationsunternehmung die verschiedenartigsten Tendenzen: neben dem stolzen Kurialismus waltet die Absicht, die Kirche wieder zu ihrem reinen ursprünglichen Dasein zurückzuführen; das Protestieren und Kämpfenmüssen wider die Ambitionen weltlicher Gewalt bringt der Kirche die in solchem Leiden liegende Kräftigung und Erziehung; angesichts des neuen Geistes und des Wunsches Vieler, nicht durch die Vermittelung einer offiziellen Heilanstalt, sondern frei zur Seligkeit zu gelangen, will die Kirche ihre Einrichtungen und Mittel und ihre Herrschaft über die Seelen besser als bisher zur Geltung bringen.

Bei einer solchen Verschiedenheit der Kräfte und der Ziele dürfen wir uns nicht darüber wundern, daß die ganze mit so mächtigem Impetus unternommene Regenerationsunternehmung schließlich zu so Wenigem führte. Aber die wahre Ursache dieses Mißlingens lag tiefer: der Kirche fehlte die Lauterkeit des Willens, die Energie, die Einheitlichkeit der Anschauung; für die Regeneration regte sich, sobald es auf Ausführen und Ernstmachen ankam, nur ein vereinzeltes, oft ganz persönlich bedingtes Handeln. Die äußern Schwierigkeiten waren jedenfalls zahlreich und groß; schädlicher aber war der innere Zwiespalt zwischen dem Prinzip der Kirche und ihrem tatsächlichen Verhalten.

Eine Häufung von Konflikten ergab sich, denen gegenüber die Kirche sich mit ihren zu Beginn erklärten Regenerationsabsichten nicht zu behaupten [823] vermochte. Indem sie in der Durchführung dieser Absichten erlahmte und den Dingen ihren Lauf ließ, erfüllte sich ihr Verhängnis.

Einstweilen aber feiert Rom Triumphe im Jubeljahr 1450. Dann beginnt es durch Entsendung des Nicolaus von Cusa die Reformarbeit in Deutschland.

In Basel wird die Periode in bedeutsamer Weise, wie durch einen letzten dringlichen Mahnruf, durch eine schwere Epidemie eingeleitet; und persönlich lebendig ist diese Wende zweier Zeiten dargestellt im Hinscheiden des Bischofs Friedrich, der nie eine Messe zelebriert hat, und seine Ersetzung durch den frommen Arnold von Rotberg.

Sodann aber empfangen uns an dieser Schwelle die prächtige Restauration des Innern der St. Martinskirche und die ihrem Klerus gegebenen Statuten 1451. Beides sind Zeugnisse des Verlangens, Ordnung zu schaffen und erhöhten Bedürfnissen gerecht zu werden.

Die Statuten mit ihren Bestimmungen über die Feier der täglichen Pfarrmesse, der Frühmesse und der Messen an Feiertagen, über die Prozessionen, das Betragen im Chor usw. zeigen wohl mehr was geschehen soll, als was geschehen wird. Bei ihrem Erlasse klagt der Kirchherr, daß unter den Geistlichen zu St. Martin die Liebe kalt und die Andacht lau geworden seien. Aber wie wenig geändert erscheint Alles in der folgenden Zeit. Die Streitigkeiten sind unaufhörlich. Meist ist es ein Zanken um die Besoldung, um die Anteile an Opfern und Geschenken. Dann ein sich Auflehnen der Kapläne wider die Aufsicht und Disziplinargewalt des Leutpriesters. Ob dieser dabei im Recht ist, wird nicht klar. Ein so energischer Pleban, wie Anton Zanker 1513, herrscht, ohne daß der eigentliche Kirchherr zu Worte kommt. Seine Kapläne verschreien ihn als Tyrannen; am meisten verdrießt sie, daß er sie auch draußen vor allem Volk wie Schüler behandelt, ja mit Du anredet, „was Alles der kirchlichen Würde und Ehre zuwider ist.“

Aber sorgen diese Leute selbst für Würde und Ehre? Die Kapläne Johann Stützenberg 1471, Peter Scholer 1475 und 1477, Marcus 1484, Lienhard Eckart 1487, Wilhelm Wißnagel 1503 werden wegen Hurerei und Konkubinates gebüßt; das Gleiche widerfährt den Pfarrern Stürmlin 1456 und Zanker 1504.

So der persönliche Wandel und so die Konflikte der Einzelnen. Aber gegen Außen präsentiert sich das Ganze so ansehnlich als möglich. Der gemeinsame Chordienst des Leutpriesters und der Kapläne; ihre gemeinsame [824] Beratung von Angelegenheiten der Kirche im „Kapitel“; die Ordnung der Finanzen; seit den 1430er Jahren ihr Recht, die Chorherrentracht zu tragen: Alles gibt der Martinskirche der spätern Zeit beinahe den Charakter einer Stiftskirche.


Um die Mitte des Jahrhunderts stand das Petersstift unter der Führung eines nicht gewöhnlichen Mannes, des Jurassiers Johann Ner. Seit 1418 finden wir ihn zu St. Peter als Chorherrn, zehn Jahre später auch als Propst von St. Imer; zur gleichen Zeit besaß er noch eine Reihe anderer Pfründen: zu St. Ursitz, zu Münster im Granfeld, am Basler Münster, in Pieterlen. Er war Sohn des Abtes Heinrich von Bellelay, der außer ihm noch einen Chorherrn von St. Amarin als Sproß anerkannte. Gegen diesen Makel mochte dem Johann Ner formell die päpstliche Dispens helfen; die stärkere Hilfe trug er in sich selbst: eine vom Vater ererbte Kraftnatur. Mit Übernahme des Dekanats zu St. Peter 1432 an Stelle des wohl gezwungen weichenden Peters zum Luft bahnte er sich den Weg und gelangte 1439 als Propst an die Spitze. Sogleich tat er das Wichtigste: er beseitigte die lästigen Rechte des Dompropsts an der Kustodie. Die Gefälle dieser Dignität gewann er für die Stiftskasse und gab den Seelsorgefunktionen eine neue Ordnung. Wie er in St. Imer getan, so erneuerte er jetzt bei St. Peter das Nekrolog. Unter seiner Herrschaft begann überhaupt die Regeneration des Stifts. Daß er von Papst Felix einen Ablaß zu Gunsten des Kirchenbaus erwarb und selbst zwei Sakristeien baute sowie einen reichen Behang von Heidnischwerkteppichen stiftete, mit dem der ganze Chor ringsum bekleidet werden sollte, zeigt seine Sorge auch für das Äußere. Aus zahlreichen Urkunden tritt uns seine Tätigkeit entgegen. Als Magister und doctor decretorum leitete er die lange Gelehrtenreihe des Stifts ein; als Offizial des bischöflichen Gerichts, als päpstlicher Richter und Exekutor auch außerhalb St. Peters unaufhörlich beschäftigt wurde er zu einer der kirchlichen Standespersonen und Autoritäten der Stadt, die zu Allem ihr Wort geben mußten. Dabei natürlich diese vielen Gelegenheiten dazu benützend, sich ein Vermögen zu sammeln. Jenen Bau der beiden Sakristeien bestritt er aus der eigenen Tasche, und als er 1462 starb, hinterließ er seinem Sohne dem Studenten Peter Hans Ner, in dem diese Klerikerfamilie uns ihre dritte Generation vorführt, außer beträchtlichen Geld- und Naturalgefällen einen schönen Garten neben dem Petersplatz sowie das Schloßgut Hiltalingen mit Weihern Baumgarten Matten Äckern und Waldungen. Zu St. Peter aber blieb sein Andenken auch äußerlich gefestigt durch sein in Erz gegossenes [825] Standbild über dem Grabe, um das jährlich an seinem Anniversartage die vier von ihm gestifteten ehernen Leuchter flammten.

Die letzte Periode der alten Stiftsgeschichte ist zunächst dadurch charakterisiert, daß das Kapitel seine Reorganisation fortsetzt. In zahlreichen Statuten bemüht es sich, Grundsätze stiftischen Lebens, die vergessen worden waren oder zu leicht genommen wurden, frisch zu formulieren. So 1487: um Sitz und Stimme im Kapitel zu erhalten, muß ein Chorherr zum mindesten Subdiakon sein. Im gleichen Jahre wird, wohl kaum ohne Seitenblicke auf die unregelmäßige Abkunft der Pröpste Ner und Wilhelmi, die Forderung ehelicher Geburt für Chorherren erneuert; es werden auch die Vorschriften über die Eintrittsgebühr und das Karenzjahr bestätigt. 1466 wird für Zuweisung der Chorherrenhäuser das Optionsverfahren eingeführt, 1488 in einer großen Urkunde die Summe der Rechte und Ordnungen zusammengefaßt. Die Aufhebung der Kustorei 1494 gehört gleichfalls zu diesen Reorganisationen, sowie die Schaffung des Amtes spezieller Archivverwalter 1487. Auch die Kapläne erhalten eine neue Reglementierung in der Ordnung von 1462 und in Verträgen von 1490 und 1509, die namentlich der Verteilung von Casualien und Zinsen gelten.

In die Reihe dieser neuen Schöpfung gehört nun auch die 1467 gegründete Fraternität der Chorherren und Kapläne. Gleich allen Bruderschaften war sie eine Anstalt zur Versicherung geistlicher Vorteile für den Todesfall. Das gestorbene Mitglied erhielt von den Überlebenden Grabgeleite und Totenmesse, die Begehung des siebenten und des dreißigsten Tages und die Jahrzeitfeier; überdies hatte es Teil an der jährlichen zum Seelenheil aller toten Brüder stattfindenden Gesamtmemorie. Auch Laien hatten Zutritt, und die Leistungen, mit denen sie die devocio der Kleriker unterstützten, bestanden in Gebeten und Opfern. Im Übrigen waren Bruderschaft und Stiftsklerus eins. Wer Chorherr oder Kaplan zu St. Peter war, wurde dadurch ohne Weiteres auch Mitglied der Bruderschaft. Hierin liegt die Erklärung ihres Entstehens gerade in diesem Momente. Sie erwuchs aus denselben Gedanken, die zu Reorganisationen des Stifts führten; sie sollte das ursprüngliche Wesen einer Gebets- und Gottesdienstgemeinschaft wieder aufleben lassen.

Einheit war durch ökonomische Interessen und persönliche Verhältnisse aller Art verdorben. Auch die, in ihrer Art hochwichtige und den alten Formen eine Fülle von Leben zuführende Einordnung des Stifts in die Universität war den ursprünglichen Tendenzen zuwider; sie bestimmte die Auswahl der Kanoniker nach Bedürfnissen, die außerhalb des Stifts lagen.

[826] Es fällt auch auf, wie der Bestand der Stiftsgesellschaft sich ändert. Das Kapitel wird immer plebejischer, sodaß z. B. 1475 der Propst von St. Peter den Domherren nicht vornehm genug ist, um ihnen die Absolution des Papstes zu vermitteln. Es wird auch in starkem Maße unbaslerisch. Päpstliche Provisionen und erste Bitten des Königs, der Königin oder des Bischofs von Basel, aber auch normale Ernennungen bringen zuweilen völlig unbekannte Figuren herein. Diesem fremden Wesen gegenüber vertritt die Kaplanenschaft vielfach die angesessenen Familien der Parochie.

Die Verschiedenheit des Bestandes, neben der Ungleichheit in Rechten und Leistungen, war natürlich von Einfluß auf das Verhalten der beiden Gruppen zu einander. In der Enge der Stiftswelt, wo diese sich so ungleichen Menschen zusammengedrängt und durch feste Formen heiliger Begehungen an einander gebunden ihre Tage verbringen, haben wir ein sonderbares Treiben vor uns; was uns daraus entgegentönt, ist fast nur Streit und Mißstimmung. Daher die Ordnungen und Verträge, die dies Leben erträglich machen sollen. Daher aber auch die Vorwürfe der Chorherren, daß sie durch die Kapläne beleidigt und bei den Laien verlästert würden. Daher gelegentlich auch ein Einschreiten des Kapitels gegen Kapläne, wie 1499 gegen Heinrich Rink, der den Gehorsam verweigerte, 1510 gegen den alten (canus griseus et decrepitus) Bernhard Stieff, der die Kanoniker im Chor nach der Complet laut beschimpfte. Namentlich das Drauslaufen und Wegbleiben dieser für den Gottesdienst doch unentbehrlichen Leute gab wiederholt zu reden, führte zu Zitationen vor Kapitelssitzung u. dgl. m.

Und doch nahmen es die Chorherren mit ihrer eigenen Residenzpflicht sehr wenig ernst. Sogar im Zusammenhänge der neuen Reformversuche. Verwunderlich klingt, was dabei ausgesprochen wird: nach altem Herkommen des Stifts haben die Kanoniker das Recht, während eines halben Jahres abwesend zu sein und in dieser Zeit zwar nicht die Präsenzgelder, aber das Corpus ihrer Pfründen weiter zu beziehen. Außerdem aber können sie noch sechs Wochen Ferien machen für Reisen Badekur oder andere Geschäfte ohne Verkürzung ihres Anteils an den täglichen Distributionen; 1480 werden diese sechs Wochen Ferien sogar auf zehn vermehrt.

So fühlen sich die Stiftsherren vor allem als Pfründeninhaber und treiben nur nebenbei noch Chorgeschäfte. Der angesehene Johann Helmich hält sich wiederholt in Köln auf, wo er zu Aposteln Dekan ist; Augustin Lutenwang sitzt auf seiner Pfarrei in Kaufbeuren und bezieht die Gefälle des Basler Kanonikats usw. usw. Auffallend ist namentlich das Benehmen [827] der Pröpste. Nach der entschlossenen konzentrierten Art des Johann Ner ist jetzt um dieses Amt ein merkwürdig zerfahrenes und gleichgiltiges Wesen. Bernhard Schuffut ist Familiar des Papstes Innocenz und durch diesen mit der Pfründe zu St. Peter providiert, wird später Dekan zu Mainz, scheint aber während seiner ganzen Basler Propsteizeit, 1488—1496, nie hier residiert zu haben. Ähnlicher Art, fremd und teilnahmlos, sind seine Nachfolger Eustachius Funk von Memmingen 1496—1500, der Mainzer Steinmetzensohn Philipp Kamberger 1500, Heinrich Freiherr von Sax 1501—1505.

Vom Leben dieser Stiftsgesellschaft vernehmen wir Mancherlei: einerseits unwillige Äußerungen Bischof Johanns über die Vernachlässigung des Gottesdienstes, über schlechtes Betragen im Chor, luxuriöses Auftreten usw.; andrerseits die vielen Buchungen im Strafregister des bischöflichen Fiskals. Kaum ein Jahr ist zu finden, in dem nicht ein Chorherr oder Kaplan von St. Peter wegen Konkubinats gebüßt wird. 1449 hat der Propst Ner für sämtliche Konkubinarier des Stifts in Bausch und Bogen vierzig Gulden zu erlegen, und 1503 kommt im Hause des Chorherrn Rüsch die Ehefrau des Ulrich Billung zum Vorschein, die dort lange versteckt gewesen ist; der Chorherr muß Buße zahlen, das Weib wird aus der Stadt gewiesen. Einzelne Kapläne wie Erhard Stützenberg, Stephan Olpe, Jacob Waltenheim, Mathis Burger sind unverbesserliche, immer wieder rückfällige Sünder und zahlen Buße nach Buße.

Das sorglose, nicht immer nur grob genießende Leben dieser Stiftsherren überliefert sich uns auch in den Nachlaßverzeichnissen, wo in den ausgestorbenen Stuben neben Silbergeschirren und bunten Teppichen selten das Kartenspiel fehlt, aber zuweilen auch ansehnliche Bücherreihen sich finden und, als Zeugnisse schöner Einsamkeitsstimmungen oder guter Geselligkeit, Lauten Pfeifen und andre Musikinstrumente. Die Tätigkeit von Stiftsherren an der Universität wurde schon erwähnt; aber auch an die Stiftung der Wandmalereien in der Treßkammer mag erinnert werden und an die Ausrechnung der Sonnenuhr für die Kirchenwand durch den Stiftssänger und Bauherrn Diebold Oeglin.


Auf Burg überrascht die Ruhe im Dasein des Kapitels. Es sind nicht mehr die Kämpfe, die Alles bestimmenden Leidenschaften im Vordergrunde; nach einem halben Jahrhundert noch weiß ein Kaplan die mira humilitas der Domherren dieser schönen Zeit Arnolds von Rotberg zu rühmen.

[828] Das Kapitel bemüht sich in zahlreichen Statuten, in strenger Disziplin, in der Forderung höherer Weihen um eine Erneuerung von Gottesdienst und Verfassung. Den übeln Wirkungen des Provisionenwesens wird begegnet durch Vorschriften über Wartertum Ahnenprobe Karenzjahr Residenz. Auch die prinzipielle Ordnung des Adelsrequisites gehört hierher. Ebenso die Schaffung der Prädikatur. Das aggressive Verhalten gegenüber der Stadt, das sich während dieser Jahre in den Beschlüssen über die Testamente der Priester und über das Zunftrecht der Kapläne sowie in der Verfechtung geistlicher Gerichtsbarkeit zeigt, erwächst gleichfalls aus der allgemeinen neuen Belebung, dem kräftigeren Selbstbewußtsein der Kirche.

Auch die erneute schroffe Ausschließung der Basler gibt diesen letzten Zeiten des Domkapitels einen bestimmten Charakter. Es ist noch immer ein Element im Stadtganzen, mit dem gerechnet werden muß. Das erste Gotteshaus und die mächtigste geistliche Korporation. Nicht die Reste der alten Kathedralwürde und -wirksamkeit kommen in Betracht, sondern die politische Bedeutung des Kapitels, seine ökonomische Kraft, seine gefreite Stellung im Stadtrecht. Namentlich aber seine ständische Funktion. Während der angestammte Adel zum Teil dem Rathause fremd geworden ist, stellt hier oben beim Münster dies privilegierte stolze Kollegium eine offizielle Adelsrepräsentanz anderer Art dar. Es hat aber keinerlei Interessen für das Gemeinwesen und braucht keine Rücksichten zu üben; es hat sein Standesgefühl und gestaltet seine Verfassung wie ein Klub von Stadtfeinden. Von den alten oberrheinischen Familien finden wir in diesem Kreise nur die zu Rhein Rotberg Eptingen Andlau Reich, neben ihnen in großer Mehrzahl aber Träger neuer Namen: Regisheim Türkheim Halwil Bodman Reinach Lichtenfels Pfau von Rieppur Staufenberg usw., 1494 drei Utenheim.

Die Witze des Kanzlers Heidelbeck über den hafersammelnden und geschäftemachenden Domscholaster Heinrich von Andlau und die bissigen Glossen Knebels über die vollkommene Einfältigkeit dieses selben Andlau, über den geizigen Jacob Pfau, über die ungebildeten und faden Regisheim und Halwil gehen auf adlige Mitglieder des Kapitels. Neben ihnen machen sich die wenigen Bürgerlichen mit Vorteil bemerkbar. Sie sind die hauptsächlich Tüchtigen und Arbeitenden. Peter zum Luft und sein Neffe Arnold, Georg Bernolt, Bernhard Oeglin erweisen sich in Offizialat Generalvikariat Domherrei und Dignität, Oeglin überdies im Dekanat von St. Peter als vortreffliche Juristen und Administratoren; den Hieronymus von Weiblingen preist noch Wimpfeling als Rechtsgelehrten; Wilhelm Textoris ist ein berühmter Theologe. Und doch würde eine durchgehende Geringschätzung der [829] adligen Kapitularen unrichtig sein. Auch in ihrer Reihe waren Männer, die man Zierden des Kapitels nennen durfte. An Gelehrsamkeit den Bernolt usw. vergleichbar, offenbarten sie vielleicht noch eine feinere harmonischere Persönlichkeit. Wir denken an den Freund der Humanisten Hartman von Eptingen; an Christoph von Utenheim; an Arnold von Rotberg, dem Brant den Äsop widmete; an den würdevollen Georg von Andlau, 1425 Schulherr, 1426 Dekan, dann über dreißig Jahre lang Dompropst, dann erster Rektor der Universität, den die Grabschrift darum pries, mit dem uralten Adel seines Hauses den Glanz der Kamönen verbunden zu haben.

Vor Allen aber haftet unser Auge auf der ungewöhnlich kräftigen Figur des Hans Werner von Flachsland. Aus der übrigen domherrlichen Gesellschaft hebt ihn das Weitumfassende seiner Absichten und Beziehungen. Dabei erscheint er wie gefesselt an die Person des Papstes Pius II. Vielleicht wirkten Reminiszenzen aus der Konzilszeit, in der Beide, der Domherr Flachsland und der Scriptor Enea Silvio, jung gewesen waren und sich kennen gelernt hatten. Als Enea Kardinal geworden, fand sich Flachsland bei ihm in Rom ein; er erhielt den Basler Domdekanat und zugleich eine Fülle anderer Pfründen. Nicht nur die üblichen Kanonikate und Kirchherreien der Nachbarschaft — er hatte die Pfarreien Muttenz und Wegenstetten und Benefizien an den Stiftern Säckingen Zofingen Konstanz Straßburg —, sondern Prälaturen in Worms Mainz Erfurt Würzburg. Dazu erlangte er am päpstlichen Hofe selbst die Ämter eines geheimen Kämmerers sowie eines Sekretärs der Pönitentiarie. Daß er in solchem Maße Pfründen häufte, ist nicht nur Zeugnis schwer zu sättigender Gier. Ohne das Geschick, jede Lage und jede Person zu nützen, würde Flachsland nicht so weit gekommen sein, und jedenfalls besaß er eine nicht alltägliche Unterhändler- und Agentengewandtheit; im großen Mainzer Bistumsstreit bewährte der „Dechant von Basel“ diese wiederholt als Gesandter des Papstes und des Erzbischofs Adolf. Aus allen diesen Verhältnissen mochte Flachsland in die Zustände Basels, wo er seit 1466 die Dompropstei innehatte, einen Stolz mitbringen, dessen verletzende Härte Knebel auf seine Weise würdigt. Aber auch das ist zu sagen, daß ohne Flachsland Papst Pius sich vielleicht nicht so entschieden der Konzilsstadt angenommen hätte. Jener darf als Hauptförderer der Basler Universitätsgründung gelten, und diese eine Leistung wiegt tausendfach allen Streit auf, den er mit dem Rate geführt.

Den Herren gegenüber heben sich aus der Menge der Domkapläne einige kenntlichere Physiognomieen. So die Chronisten Appenwiler Gerung Knebel. Weiterhin die charakteristische Figur des Hieronymus Brilinger; [830] Sohn eines Hofgerichtsprokurators, Bruder einer Nonne und zweier Kleriker, wird er selbst erst Provisor der Münsterschule, dann Domkaplan, lebt und stirbt in diesem Bereich auf Burg; seine Chronik, sein Diplomatar, sein Zeremoniale zeigen ihn in einem ganz bestimmten Kreise von Gedanken und Sachen. Berühmte Domkapläne voll Geist und Gelehrsamkeit sind Peter von Andlau und Johann Bergman, von denen schon geredet worden ist. Andre zeichnen sich durch ihre Gesinnung aus, so als Donatoren von unermüdlicher Devotion Leonhard Troubach, Johann David, Johann Herborn, oder in etwas früherer Zeit Konrad von Saugern, Kaplan des Paulusaltars, dem die Liebe Aller und der Preis eines untadeligen Lebens, einer unvergleichlichen Frömmigkeit gehörte. Der Geläutertste mochte zuletzt der Jubelkaplan sein, der fünfzig Jahre Priestertum hinter sich hatte; als solche Jubilare feierte das Domstift 1511 den im weißen Haar prangenden Magister Peter Brun, 1518 den Johannes Gutjahr.


Konzentrierter als diese Erscheinungen eines oft nach allen Seiten hinausgreifenden Lebens zeigen die Klosterreformationen die der Zeit eigene Anschauung und Kraft. Im Bereiche des abgeschlossensten Teiles des Kirchenganzen dringen sie auf das alte asketische Ideal; sie gelten der Verwaltung, aber mehr noch der Gesinnung und Lebensweise.

Der Niedergang St. Leonhards wurde schon erwähnt. Dem neugewählten Bischof Arnold erschien als eine seiner ersten Pflichten, diesem dem Hochstift besonders nahe stehenden Kloster Hilfe zu bringen, und schon er dachte hiebei an die Mitwirkung der Windesheimer Kongregation. Er bat sie, das Kloster anzusehen; ihre Vertreter kamen, prüften Alles und kehrten wieder an den Niederrhein zurück, ohne auf Arnolds Antrag einzugehen. Da wendete sich dieser an den Papst und erhielt von ihm am 24. Oktober 1452 den Befehl, einzuschreiten und vor Allem einen andern Propst zu setzen.

Arnold tat dies. Klostervorsteher wurde Stefan Häfeli (de Vasis), der jedoch nur die Finanzen zu ordnen versuchte und alles Andre liegen ließ. Aber erstaunlich ist, welche Dinge sich die Chorherren vom Bischof mußten sagen lassen: ihr Haus ist wie im Weltlichen so im Geistlichen zerrüttet; die strenge Observanz in ganzem Umfange bei ihm einzuführen, daran ist nicht zu denken; nur Weniges kann gefordert werden: vor Allem die Haltung der drei Hauptgebote Gehorsam Armut und Keuschheit; die Klausur ist zu beobachten, keinem Weib Eintritt zu gewähren; die Chorherren sollen nicht Waffen und nicht kostbare Kleider tragen, ihre Haare [831] scheren, keine Musikinstrumente haben, in den Zellen keinen Lärm machen; in den Chor sollen sie eintreten ohne Gepolter und Schreien, während des Gottesdienstes ruhig in ihren Stühlen bleiben, sich des Schwatzens Witzemachens und Spielens enthalten.

Dies war Klosterleben zu St. Leonhard, eine desolacio irreparabilis. Aber Arnold richtete nichts aus.

Erst dem energischen Vennigen gelang es, „das verlorne Schaf in die Hürden zurückzubringen.“ Er griff zu, säuberte das Kloster von allen Insassen und übergab es am 14. Dezember 1462 dem Generalkapitel der Windesheimer Kongregation, die sich nun zur Übernahme entschlossen hatte.

St. Leonhard kam damit unter die Herrschaft derjenigen Reform, die vom Kloster Windesheim bei Utrecht aus den Orden der Augustinerchorherren weithin ergriff. Die Eigentümlichkeit Windesheims war, daß es eine klösterliche Gestaltung des bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben geltenden Wesens bot. Zu der stillen Frömmigkeit, dem gemeinsamen Fleiße, der besonnenen Askese der Fraterherren traten hier die Ordensgelübde und eine bindende Regel. Auch diese Reform bewegte sich ganz in den Formen und Lehren der Kirche; sie brachte Ernst und demütigen Gehorsam, strenges Einhalten des Armutsgebotes, doch ohne Bettel, eine Beschäftigung der Mönche namentlich mit Abschreiben der heiligen Schrift und der Kirchenväter.

Im Juni 1464 nahm Windesheim von dem Basler Hause Besitz. Aber ausdrücklich wurde dabei seitens des Bischofs bedungen, daß die Übergabe an die Kongregation nur gelte quoad observanciam; das Verhältnis des Klosters zum Bistum und die Jurisdiktion des Bischofs sollte dadurch nicht beeinträchtigt werden. Auch hinsichtlich gewisser Einzelheiten wurden der nun beginnenden strengen Disziplin gegenüber Vorbehalte gemacht: die Frauen aus der Gemeinde sollen auch künftig am Allerseelentag und an den Jahrzeittagen die Gräber im Kreuzgange besuchen dürfen; Leichenbegängnisse und Hochzeiten sollen fortan bei einem der Altäre außerhalb des Chores gefeiert werden; Orgel und Glocken sollen der Kirchgemeinde wegen in Gebrauch bleiben.

Das geläuterte Leben, das unter der Herrschaft der devocio moderna nun in St. Leonhard waltete, aus den Akten nachzuweisen, geht nicht an. Die Wirkungen der Reform ergeben sich auch hier aus einem Stillewerden; wir hören keine Klagen mehr. Aber auch sonst läßt sich das Kloster in dieser spätern Zeit kaum mehr vernehmen. „Ernst ob dem altor, zucht in dem kor, das ist unser labor“ schrieben jetzt die Mönche über ihre Chorstühle.

[832] Ein positives Zeugnis der Besserung ist, daß 1473 zwei der Leonhardsherren zur Reformation des Stiftes Interlaken berufen wurden. Damals suchte der vom Kaiser mit einer ersten Bitte nach St. Leonhard gewiesene Schaffhauser Plato Spieß vergeblich hier anzukommen; er war Augustinerchorherr, aber nicht von der Observanz, und verlangte eine gesonderte Pfründe, während man zu St. Leonhard von solchen nichts mehr wußte, sondern Alles „in einer gemeind“ hatte.

Zu erwähnen ist auch, wie der Bischof sich bemühte, das Stift im Gange seiner jedenfalls schwierigen Rehabilitation zu unterstützen: 1469 durch Verlegung der oft mit dem Feste von Mariä Heimsuchung kollidierenden Kirchweih; 1470 durch Erteilung von Ablaß, wobei er sich aber nicht an alle Gläubigen, sondern in einer Weise, die das stille und ernstfreundliche Wesen dieser Gemeinschaft anmutig erkennen läßt, an die Brüder des Hauses selbst wendete.

Ohne Zweifel war mit den Windesheimer Herren ein neuer Geist zu St. Leonhard eingezogen. Wir denken dabei an denjenigen Geist klösterlichen Lebens und Frommseins, der uns noch heute durch Thomas a Kempis in einziger Weise nahe gebracht wird. Und weil mit dieser Reformation nicht nur ein neues, sondern ein fremdartiges Element in die kirchlichen Verhältnisse Basels eingeführt wurde, macht sie den Eindruck einer viel stärkeren und tiefergehenden Maßregel als die Reformation irgend eines andern Klosters.

Aber es kam bei ihr auch nichts Anderes in Frage als die Hauptsache und Niemand handelte mit außer den wirklich Beteiligten. Auch deswegen stand sie so weit ab von dem für Reform anderer Klöster, zunächst der Frauenklöster, Geschehenden.


Schon als es sich um das Steinenkloster handelte, wurde Manches laut, das nur zu bezwingen war durch die in gleicher Absicht fest verbundene Kraft kirchlicher und städtischer Obrigkeit. Vom Gnadental wissen wir, daß der Reformauftrag des Konzils vier Jahre lang auf dem Papiere blieb und die schließliche Ausführung 1451 durch die Kurie geschah; auch diese Zögerung war nur aus starken Widerständen zu erklären.

Nun aber die beiden mächtigen Klöster Kleinbasels, St. Klara und Klingental! Deutlich sehen wir hier allerhand Kreise, namentlich des oberrheinischen Adels, sich um die Klöster interessieren. Sie sind mit dem unobservantischen Leben durchaus einverstanden; eine Änderung des gewohnten Zustandes, ein Ernstmachen mit Klausur Kontinenz Gehorsam usw. würde [833] ihnen so wenig gefallen wie ihren hinter diesen Mauern eingeschlossenen Schwestern und Freundinnen. Solchen Gönnern der Frauen gegenüber regen sich allerdings die strenger Gesinnten und erheben sich die Eiferer für Kraft und Ehre der Kirche, die Vertreter der Ordensinteressen, die städtischen Behörden. Es ist ein Streit um Observanz oder Laxheit, der jahrzehntelang das Kloster erschüttert; er greift auf alle möglichen Instanzen über und mengt sich in rein weltliche Kämpfe. Aber die Entschlossenheit zum Besserwerden fehlt, die Reformkraft der Kirche versagt der Opposition gegenüber, und das Ende ist ein Beharren des alten ungeregelten Wesens.

In lebendiger Weise stellt sich uns dies Alles bei St. Klara dar. Das erste Wort sprach hier Papst Nicolaus; vielleicht auf Grund von Mitteilungen oder Klagen der Basler, die 1452 zur Kaiserkrönung nach Rom gekommen waren, gab er am 1. April d. J. den Bischöfen von Konstanz und Basel den Auftrag, in dem verwahrlosten Kloster Ordnung zu schaffen. Aber schon im folgenden Jahre widerrief er dies, wohl irgend einer Einwirkung aus dem Lager der Gegner nachgebend, und kassierte Alles, was Bischof Arnold inzwischen für die Reform getan hatte.

Doch blieb es hiebei nicht. Die Zustände des Klosters waren derart, daß sie gewissenhaften Leuten, die sie aus der Nähe sahen, keine Ruhe ließen. Daher neuerdings der Papst, diesmal Pius II., mit St. Klara zu tun bekam. Ebenso der Konstanzer und der Basler Bischof u. A. m. Laut wurde geklagt, daß die Klarissen ihre Klosterzucht völlig gelockert hätten, ohne Scham sich den Augen der Männer zeigten, unziemlichen Verkehr trieben. Auch der Rat beschäftigte sich damit. Daneben verraten uns die wiederholten Austritte einzelner Klosterfrauen die Kämpfe, die den Konvent zerrütteten. Und trotz Allem kam es wieder nicht zur Reform. Nur außerordentlich starke, uns verborgene Hilfen konnten die Gegner der Observanz zu solchem Triumphe bringen.

Vierzig Jahre später werden wir neuerdings in die Zustände von St. Klara hineingeführt. Diesmal zeigen sich die Insassen deutlich in ihrer Entzweiung. Auf der einen Seite stehen die Priorin Magdalena Sürlin und der Konvent, auf der andern die Äbtisse und der Schaffner Martin Leopart. Dem Letztern wird schlechte Verwaltung vorgeworfen; er selbst nehme zu, indes das Kloster immer tiefer in Schulden versinke; mit der Äbtisse treibe er „Mißhandel und unordentliches Wesen“. So unerträglich sind die Zustände, daß der Rat eingreift. Im Herbste 1503 fordert er den Barfüßerprovinzial Konrad Bondorf auf, zur Sache zu sehen und das Kloster zu reformieren. Bondorf kommt nach Basel und setzt die Äbtisse [834] ab, trotz der Verwendung des Herzogs Ulrich von Württemberg; der Rat seinerseits nimmt dem Leopart die Schaffnei, unter Erklärung, daß er sich damit nicht in die innern Angelegenheiten des Klosters einmischen wolle, aber in seiner Eigenschaft als Hüter des Friedens handle. Im Jahre 1504 wollen Bondorf und der Rat zur Reform des Konventes schreiten und gewinnen sechs Klarissen aus dem Bickenkloster Villingen dazu, die Observanz nach Basel zu bringen. Aber nun erhebt sich lauter Protest. Priorin und Konvent wollen sich die Observanz gefallen lassen, aber man solle dafür Schwestern aus Schaffhausen rufen; gegen die aus Villingen und aus andern Klöstern des Auslandes sperren sie sich mit Entschiedenheit. Auch Solothurn und Zürich werden aufmerksam; sie schreiben dem Rate, dem Bischof, dem Provinzial und protestieren in offizieller Weise dagegen, daß man dies Basler und Schweizer Kloster mit fremden Frauen beladen wolle. Ganz unverhüllt tritt der nationale Gegensatz zu Tage, die Universalität der Kirche hat keine Wirkung. Mit groben Scheltworten stellen zwei Solothurner den Helfer des Provinzials im Schaffneihause bei St. Klara zur Rede und drohen, dem Provinzial „die Platte zu spalten“. Wir kennen das Ende des Unternehmens nicht; die Einführung der Villinger Schwestern scheint unterblieben zu sein.


Nun aber die umständlich und lebendig bezeugte Klingentaler Reformsache. Sie zeigt eine solche Unternehmung in vollem Umfang und mit allen denkbaren Zutaten.

Wir sahen die Klingentalerinnen schon in den 1420er Jahren, bei Anlaß der Reform des Predigerklosters, mit Heftigkeit der Observanz widerstehen, und diese Gesinnung änderte sich seitdem nicht. Die üblichen Klagen wurden laut: die Nonnen hielten keine Disziplin, brachen die Klausur, zeigten sich ohne alle Scheu draußen, taten was ihnen gefiel, bis zu Liederlichkeit und Unzucht. Ihre Auffassung von Askese zeigte sich z. B. auch darin, daß sie, weil sie „meist von adeliger Herkunft und zarter Konstitution waren“, die Horen sitzend zu singen begehrten. Schon Nicolaus V. hatte einschreiten wollen; Pius ordnete sodann im Oktober 1459, von Mantua aus, eine Untersuchung an. Ebenso im Mai 1461. Kurz darauf hieß es, daß eine Klingentalerin dem Propst Ner zu St. Peter ein Kind geboren habe. Pius befahl, das verdorbene Kloster zu reformieren, und auch der Rat wurde aufmerksam. Schon das Weinausgeben in diesem Klosterhof mißfiel ihm. Aber auch über den Verfall der Zucht unterhandelte er mit dem Bischof von Konstanz, dem das Kloster seit 1431 unterstand, und verlangte strengere [835] Klausur. Der Bischof befahl solche, zog dann aber auf Bitte der Frauen den Befehl wieder zurück.

Es war klar, daß diese bischöfliche Aufsicht in keiner Weise genügte. Hier mußte eine Änderung geschehen. Nicht nur die Prediger, die auf ihr altes Recht über Klingental innerlich nie verzichtet hatten, sondern auch Andere, wie z. B. die Andlauer Äbtisse Susanna von Eptingen, waren an der Kurie tätig, und im August 1477 kamen sie zum Ziele. Papst Sirius entzog dem Konstanzer Bischof die Aufsicht und gab dem Predigerorden wieder seine frühere Befugnis, zugleich mit dem Auftrage, die Reformation auszuführen. Er sprach die Erwartung aus, daß der Rat die Prediger unterstützen werde.

Im Januar 1480 endlich kam es zu Taten. Der Predigerprovinzial Jacob von Stubach und Deputierte des Rates begaben sich ins Klingental und verkündeten dort den Beschluß der Reformation. Sie waren natürlich auf Widerstand gefaßt und erwarteten nicht, daß die Frauen die Observanz annehmen würden. In der Tat verweigerten diese jeden Gehorsam und erklärten, sich von der konstanzischen Obedienz nicht verdrängen zu lassen. Sie behagte ihnen durchaus, der Bischof war ja stets fern, und als unleidlich erschien ihnen die Wiederkehr von Aufsicht und Strafgewalt der nahen Klosterbrüder, der sie sich vor fünfzig Jahren hatten entziehen können. Ihr Haß gegen diese Mönche, der später in den leidenschaftlichen Klageschriften der Frauen laut wird mit den Anschuldigungen der Habsucht, der unkeuschen Begierde, der Verlogenheit, loderte schon jetzt auf, als die Gegner mit Übermacht vor ihnen standen. Lärm und wüste Schmähungen waren ihre Antwort auf die päpstliche Bulle, die ihnen vorgelesen wurde; sie brauchten Prügel und Schwerter, bis auch die Stadtknechte derb zugriffen und auf Verlangen des Provinzials die rebellierenden Damen in die Zellen sperrten, Schlüssel und Konventsiegel ihnen abnahmen. Ohne Zögern, am 13. Januar schon, geschah die Einführung der neuen Schwestern, die aus dem Kloster Engelpforte in Gebweiler gekommen waren und die Observanz brachten. In der üblichen heiligen Dreizehnzahl zogen sie feierlich ein und nahmen Besitz vom Kloster; am 28. Januar kam ein Vergleich mit den alten Schwestern zu Stande. Gegen das Versprechen, keine Ansprüche mehr zu machen und keinen Streit zu erregen, erhielten diese ihr Eingebrachtes und Erspartes und verließen, siebenunddreißig an der Zahl, das Kloster.

Diese Einführung der Observanz im Klingental unter heftigstem Streite und mit Anwendung körperlicher Gewalt hatte damals ihre Parallelen bei [836] andern Nonnenklöstern: Söflingen unweit Ulm, St. Walburg in Eichstätt, dem braunschweigischen Wennigsen usw.

Aber Stubach fand, daß er noch nie solche Mühsal erlebt habe, wie bei dieser Reformation. Zur gleichen Zeit arbeitete er auch für die Observanz in Adelhausen und einigen andern Klöstern. Unermüdlich, voll Eifers, durch keinen Widerstand zu beugen, war er durch diese Klingentaler Sache fast ganz in Anspruch genommen und blieb Monate lang in Basel, seine Provinzialgeschäfte versäumend. Wenige Jahre erst waren dahin, seit der Dominikaner Johannes Meyer sein Buch von der Reformation geschrieben, das große Werk seines begeisterten Lebens zusammenfassend dargestellt hatte; die Inbrunst und freudige Überzeugung, die aus dieser Erzählung leuchtet, lebt in dem Klingentaler Vorgang. Aber auch der Widerstand der „höllischen Kräfte“, von dem Meyer gelegentlich redet, fehlte hier nicht.

Die ausgetretenen Klingentaler Schwestern hielten sich in der Nachbarschaft auf, in Wehr Sitzenkirch Mülhausen u. s. f. Nicht klösterlich; sie zogen hin und her, „waren sehr verwegen und versprachen wunder“. Sie nannten sich arme betrübte ausgetriebene Frauen; aber als wären sie noch immer die rechtmäßigen Inhaberinnen des Klosters, erhoben sie dessen Gefälle, kassierten sie dessen Schulden ein, ließen sie sich von dessen Konservator, dem Propst Wilhelm von St. Peter, beschirmen und vertreten. Die zahlreichen Beziehungen, die sie in den Vorlanden und der Eidgenossenschaft hatten, und ihre lauten heftigen Klagen bewirkten, daß sich von allen Seiten Groß und Klein in die Sache mischte.

Ein Helfer nach dem andern stand für die widerspenstigen Nonnen auf. Allen voran Herzog Sigmund von Österreich, der eine Kastvogtei über Klingental geltend machte; dann Albrecht von Klingenberg „der Nonnen Tröster“, Graf Ulrich von Montfort, Heinrich von Rümlang usw. Von der andern Seite ließ sich der Kaiser selbst vernehmen, ebenso der Markgraf von Hochberg sowie Wilhelm von Rappoltstein. Die Beteiligung Burchard Störs zog auch die Berner in die Sache, und bald waren sämtliche Eidgenossen mit in Anspruch genommen. Beziehungen und Streitigkeiten der heterogensten Art wirkten auf die doch ganz interne Kloster- und Stadtsache, und so wundern wir uns nicht, daß auch in diesem Falle der Handel völlig entartete, daß er auslief in die endlose Verdrießlichkeit und Gefahr einer ordinären Landfehde, wobei Bauern baslerischer Pfanddörfer heimgesucht, reisende Basler überfallen wurden u. dgl. m. Mit den erbärmlichsten Motiven machte sich natürlich auch Graf Oswald von Tierstein heran und trug seinen Baslerhaß in diesen Konflikt.

[837] Zu beachten ist überdies, wie innerhalb der einen und Alle umfassenden Kirche jede persönliche Leidenschaft, jeder Amts- und Standesstolz sich hiebei geltend machte. Es war nicht Meinungsverschiedenheit Debatte und Prozeß, sondern Krieg zwischen Fremden, voll Hasses, begleitet von Schmähungen, mit Verletzung leiblicher und geistiger Güter. Aber wenn die Nonnen sich gegen Papst und Provinzial erhoben und den Predigern die ärgsten Übeltaten Schuld gaben, wenn sie ihr altes Kloster selbst schädigten, wenn der Konstanzer Bischof mit seinen Interdikten dreinfuhr, der St. Peterspropst als Konservator gegen die Prediger sich erhob u. s. f. — zuletzt fand doch all dieser Hader seinen eigentlichen Kampfplatz in Rom und dort auch sein Ende, seinen Entscheid und seinen Frieden.

Freilich kam im Verlaufe des so gearteten Streites die Reformangelegenheit selbst in Vergeß, und an ihre Stelle trat die reine Macht- oder Zugehörigkeitsfrage, die Kontroverse über Kompetenzen. Die Streitsache verlor ihren ursprünglichen Charakter und damit für den Rat ihren Wert und ihren Reiz. Nun verstehen wir, daß dieser Rat schon bald kein rechtes Interesse an dem ganzen Geschehen mehr zu bezeigen vermochte. Er hatte sich um eine Reform seines städtischen Klosters bemüht; was nun im Predigerorden, am österreichischen Hofe, auf den Burgen Tierstein und Hohentwiel, bei der eidgenössischen Tagsatzung und an der Kurie wegen dieses Klingentals noch getan und gestritten wurde, lag ihm abseits; höchstens daß allgemeine politische Erwägungen oder gleichzeitig ihn beschäftigende Angelegenheiten wie das Konzilsunternehmen des Andreas von Granea ihn veranlaßten, gelegentlich auch zu diesem Klosterzank noch Stellung zu nehmen.

Zwei volle Jahre dauerte der Streit. Sein Ende war, daß Alles, womit er begonnen hatte, wieder aufgehoben wurde. Am 11. März 1482 erging ein Spruch, der den ausgetretenen Frauen Recht gab und ihre Rückkehr ins Kloster verfügte; am 4. Mai erteilte sogar der Papst diesem Entscheid seine Zustimmung, „um weitere Streitigkeiten und Ärgernisse zu verhindern“. Triumphierend zogen die alten Frauen am 20. Oktober 1482, einem Sonntag, wieder in ihr Haus ein, und unter Gewalttätigkeiten, die bis zur Entweihung des Chores gegangen sein sollen, wurden die Observanzschwestern hinausgeworfen.

Nun war das Wandern an diesen. Aber von Übergriff und Streit hören wir bei ihnen nichts. Als Verbannte, als Pilgerinnen, Mangel leidend verließen sie den Oberrhein und fanden kümmerlich Obdach im Tertiarierhause zu Renting bei Saarburg. Hilfsbegehren, die sie selbst und ihre Freunde, u. A. der Straßburger Peter Schott, an den Papst und an [838] den König von Frankreich richteten, blieben erfolglos. 1485 gab ihnen Christoph von Utenheim Unterkunft in dem ihm gehörenden Klostergebäude Obersteigen bei Zabern; 1507 wurden sie nach Gnadental im Konstanzer Bistum versetzt.

Während diese Vertriebenen umherirren, sehen wir im Klingental die Heimgekehrten sich wieder einrichten.

Zunächst unter den Bestimmungen über Zugehörigkeit, die am 30. Juni 1482 Papst Sixtus, am 9. März 1483 dessen Kommissäre aufstellten. Danach wurde Klingental, das bisher nur allgemein als der Augustinerregel unterworfen gegolten hatte, in genauerer Bezeichnung dem Orden der regulierten Augustinerchorherren zugeteilt. In Verbindung hiemit stand, daß die Frauen der Aufsicht und Leitung der Prediger enthoben und dafür unmittelbar unter den Papst gestellt wurden, der ihnen in der Person des Propstes von Feldbach einen Superintendenten oder Vikar gab. Auch ermächtigte er sie, ihre Beichtväter aus Benediktiner- oder Cluniacensermönchen zu wählen; doch wurden statt solcher dann Augustiner gebraucht.

Sorgsam und wortreich gaben die päpstlichen Kommissäre dem Kloster auch eine Ordnung. Sie entsprach dem, daß das Haus nun Chorfrauen von der Observanz enthielt. Aber in manchen ihrer Äußerungen lesen wir auch einen Hinweis auf das bisherige Klingentaler Leben. Die drei Gelübde werden mit Ernst neu verkündet, Klausur und Dormenterdisziplin geregelt; während der Fastnacht und andrer Freudenzeiten sollen die Frauen im Kloster bleiben und unter sich eine fröhliche Unterhaltung in Züchten haben; Messe und Stundengebet sind anständig zu begehen und kein störender Gesang, auch kein Lärm von Vögeln Hunden usw. im Chore zu dulden; auch haben die Chorfrauen beim Gottesdienst ein schwarzes Tuch nach Art weltlicher Kanonissen zu tragen; die Vorsteherin heißt nicht mehr Priorin, sondern Äbtisse.

Dergestalt, in der Art eines Klosters, nicht eines Kanonissenstiftes, aber mit mäßiger Strenge, wurde die Reformation geordnet. „Die Nonnen zogen die Predigerkutten aus und legten Augustinische an“, sagt Anshelm; und fährt fort, „daß sie dergestalt von der Prediger Reform entlediget unter geistlichem Namen und Kleid, aber in weltlichem Herzen nach Lust, nämlich von den Mönchen frei und ungenötigt blieben“.

Zu beachten ist die Unbefangenheit dieser Damen allen Vorschriften und dem ganzen Kongreß hoher und höchster Autoritäten gegenüber. Aus sich selbst, dann auch aus leisem und lautem Zuspruch ihrer Freunde nahmen sie die Kraft, mit der sie ihre Verhältnisse ganz nach eigenem Behagen einzurichten verstanden.

[839] Vorerst damit, daß sie nach dem Tode des Feldbacher Propstes Peter von Kettenheim seinen Nachfolger in der Propstei als päpstlichen Vikar Klingentals rekusierten und den Bischof Otto von Konstanz an diese Stelle beriefen. Papst Innocenz ließ diese Mißachtung eines Befehls seines Vorgängers „um des lieben Friedens willen“ hingehen; der Konstanzer Bischof aber, der auf diesem Wege wieder in frühere Rechte einzurücken glaubte, gab zum Danke den Schwestern die Vollmacht, ihre Beichtväter künftig frei aus Welt- oder Ordensgeistlichen zu wählen.

Was weiter hinzukam, war das Begehren nach einer Milderung der Statuten von 1483, und auch hierin willfahrte Innocenz den Frauen; seine Kommissäre erteilten den Frauen am 6. November 1492 eine neue Ordnung.

Alles Folgende ist natürliche Konsequenz. Wie der Bischof von Konstanz 1503 wider den anstößigen Wandel der Frauen einschreiten will, berufen sie sich auf Freiheit und Exemtion und führen Beschwerde über ihn bei Papst Julius. Aber dieser selbst hat zu klagen: im Klingental herrscht ein dissolutes Leben, lasterhaftes Volk geht dort ein und aus, einige der Nonnen haben Kinder geboren. Er will, daß dem Verderben der Seelen gewehrt, der öffentliche Skandal beseitigt werde, und gibt dem Bischof von Basel den Befehl, Visitation im Klingental zu halten und das Kloster an Haupt und Gliedern zu reformieren; der Rat der Stadt soll ihm dabei behilflich sein.

Aber die Frauen entgehen auch dieser Gefahr. Sie erklären das Breve des Papstes als ein von ihren Feinden trügerisch erschlichenes und appellieren an einen besser informierten Julius. Wiederum geht der Reformversuch unter in einem Streit um Formen Rechte und Obedienzen. Im Innern des Klosters spielen sich unterdessen die ärgerlichsten Händel ab; die Frauen werden exkommuniziert, dann absolviert; und nun kommt auch Kaiser Maximilian zum Wort. Er nennt sich obersten und einzigen Vogt des Klingentals, und die Frauen rufen ihn an als ihren Schirmherrn. Zuletzt bewilligt Papst Julius den Nonnen als Vertreter des ihnen unausstehlichen Konstanzer Bischofs einen Vikar aus dem Augustinerorden.

Auf diesen Mönch läuft also, nach so mächtigen Aufregungen und so heftigen Kämpfen, Alles hinaus. Er ist das Letzte, was die Kirche diesen Klingentalerinnen gegenüber noch behauptet.

Von Observanz, von Reform ist keine Rede. Die Frauen gehen Nachts aus dem Kloster und „wefern“ auf den Gassen hin und her. Wie der Rat deswegen die Oberinnen zur Rede stellt, wollen diese von nichts wissen. [840] Sie willigen darein, daß die Stadtknechte solche Nachtschwärmerinnen festnehmen und ihnen zur Bestrafung übergeben; doch wird die Freiheit, bei Tag auszugehen sowie ins Bad oder zu Freunden zu reisen, ausdrücklich vorbehalten. Im Kloster selbst aber wohnt 1509 der Augustiner Johann Wecker von Basel; er besitzt dort eine Kaplanei und ist, wie es scheint, auch der vom Papste konzedierte Vikar des Konstanzer Bischofs. Er lebt dergestalt, daß er „sich, seinem Konvent und allen Menschen Schande Laster und Ärgernis zufügt“. Und wie steht es mit der Armut? Allen Satzungen, auch den neuesten Reformstatuten zum Trotze hat, wie wir schon früher bemerkten, die einzelne Klosterfrau ihr Vermögen und verfügt darüber.


Das bei diesen Klingentaler Reformkämpfen beteiligte Predigerkloster stand seit 1429 im Lager der Observanz. Stark durch die Kraft einer ununterbrochenen Reihe tüchtiger Männer, die von Nider und dem „seligen“ Paul von Frankenstein an das Leben des Hauses begleiteten. Im Jahre nach Frankensteins Tod, 1442, trat Johannes Meyer in den Konvent. Seine zahlreichen Schriften sind Beiträge zur Geschichte der Ordensreform und der Mystik. Aber in ihnen lebt auch heute noch und ergreift uns das Wesen dieses Mannes, der seine von Haus aus schwache Person zu einer Macht zu erheben verstand durch die begeisterte Hingabe des ganzen Willens und aller Liebe an die eine Aufgabe der Reform. Wenn auch bei dieser nie ruhenden Tätigkeit das Individuelle zeitweise unterzugehen schien in der Gewalt des großen reichbewegten Lebens, so gewann es aus diesem wieder selbst Bedeutung und Wirkung. Dieser Eindruck kehrt bei andern Brüdern des Konventes wieder, vor Allen bei den Gelehrten Rieher Nolt Maner. Ferner bei Johann von Mainz, dem Verfasser des Buches vom andächtigen Leben im reformierten Kloster. Auch an Felix Fabri ist zu erinnern; nach 1450 trat er in den Konvent Basel und kam 1477 als Lektor nach Ulm, von wo aus er seine Reisen machte. Der berühmteste Basler Dominikaner dieser Zeit aber war Jacob Sprenger, der Inquisitor, Mitverfasser des Hexenhammers und Stifter der Rosenkranzbruderschaft.

All dies Streben und Arbeiten finden wir in einem Kloster, das zur observantischen Lebensart und Zucht offiziell entschlossen war. Zahlreiche Konvente wurden damals durch Brüder dieses Basler Hauses reformiert: 1461 Gebweiler und Landshut, 1464 Köln, 1465 Ulm und drei Frauenkonvente in Freiburg, 1466 Weißenburg, 1474 Frankfurt, 1478 fünf Frauenklöster im Lande Württemberg. Neben Johannes Meyer war dabei namentlich tätig der Basler Heinrich Schretz. Deutlich sehen wir, wie das einst [841] durch Konrad von Preußen begonnene, durch Nider geförderte Werk der Ordensreform jetzt, bei seiner höchsten Entwickelung, mit dem ganzen Reichtum örtlicher und persönlicher Beziehungen, sein Zentrum im Basler Konvente fand. Dieser erlebte nach dem längst vergangenen Glanze seiner ersten Zeiten nun eine zweite Blüte. Er war zahlreich; daß er so viele jugendliche Brüder umschloß, gab die schönsten Hoffnungen. Mit reichen Erweisungen wurde das Kloster vom Orden bedacht, 1473 durch Berufung des Generalkapitels nach Basel geehrt.

Und doch, so schön sich dies Alles zusammenfügt, haben wir nicht das volle Gefühl des Lebens. Die Überlieferung ist hiefür zu einseitig. Nur vereinzelt und im Einzelnen klein zeigen sich uns inmitten jener Gesamterscheinung einige anschaulichere Bilder. So das Dasein des Stefan Irmi von Basel, ein normales Mönchsdasein, ganz und gar gerichtet auf die engen monotonen Verrichtungen des Standes; die Klausur, die auch geistig wirkt, auch den innern Menschen einmauert, läßt Irmi auf seinen weiten Reisen nichts sehen und erleben, was außerhalb des Ordens liegt; die Stationen dieser Reisen sind nicht Städte, sondern Konvente. Demgegenüber zeigt uns Ulrich Teillinger ein ganz anderes Mönchsbild. Er war aus Thann gebürtig, fand im Basler Konvent Aufnahme, ging als Diakon nach Rom und wurde von dort durch einen andern Dominikaner mit nach Ungarn genommen. Als Priester kam er nach Basel zurück, wurde von hier nach Graz, 1486 nach Villach geschickt. Da aber wirft er den „heiligen“ Habit von sich und führt wild und frech ein Brigantenleben, bis er 1490 in Brixen festgenommen und gefesselt nach Basel gebracht wird. Aber er weiß sich zu rehabilitieren; 1492 finden wir ihn im Konvente zu Marburg, dessen Prior ihm ein Zeugnis guter Sitten ausstellt und ihn mit solcher Empfehlung nach Italien reisen läßt.


Auch das andre große Mendikantenhaus Basels, das Kloster der Barfüßer, konnte sich in einem durch die Observanz gebesserten Zustande zeigen.

Allerdings bestanden Gegensätze zwischen den beiden Häusern. Sie waren Rivalen und zeigten dies aller Welt. Aber das Gefühl des Gemeinsamen, das diese Mendikanten allen andern Orden voranstellte, bricht doch zuweilen durch: z. B. in der Erklärung der Basler Barfüßer, daß nur fremde Gewalten sie daran gehindert hätten, den Predigern im Klingentalkampfe beizustehen; oder in jener grandiosen Arenga der sixtinischen Bulle vom 26. Juli 1479, in der die beiden Orden verglichen sind mit zwei Seraphimen, [842] mit zwei Tuben des Gerichtes, mit zwei Strömen die aus dem Paradiese himmlischer Wonnen sich über das Erdreich ergießen.

Neben der Basler Predigerwelt erscheint das Leben der Barfüßer als unscheinbar und fast lautlos. Doch wird auch dies stille Kloster uns durch einige seiner Vorsteher vernehmlich. Es sind zum Teil Männer, die Bedeutendes für den Orden vollbringen. Johann von Lindenfels, Nicolaus Caroli, Johann von Lahr, Bartholomäus Wyer waren solche Basler Guardiane; als Gelehrte und Prediger taten sich hervor Franz Wiler und Johann Meder. Auf diesen Männern ruhte die Kraft des Hauses und sein Ansehen. 1471 erhielt der Konvent ein theologisches Studium; der General selbst nannte ihn den wichtigsten der Provinz, und als Einer, der Barfüßer werden wollte, den Niklaus von Flüe um Angabe des besten Klosters bat, nannte ihm dieser dasjenige zu Basel.

Den notwendigen Schatten in dieses Bild bringt auch hier ein einzelner Vorfall. Drei Brüder des Konvents — Herr Henman Wagner, Herr Heinrich der Schwarz, und der Kannengießer — die nach Solothurn versetzt worden sind, fangen dort bei Aufführung eines Fastnachtspiels Händel an; sie brauchen lästerliche Worte und tragen Messer unter ihren Kutten, sodaß der Solothurner Rat sie nach Basel heim weist und den Kustos bittet, ihm andere, ehrbare und friedfertige Herren zu schicken.

Als Seitenstück hiezu mag in dem sonst gar keine Erwähnung findenden Augustinerkloster die nächtliche Szene von 1489 beachtet werden, da der Prior Ludwig, wie er zum Mettensingen aufsteht, drei seiner Mönche in der Konventstube beim Kartenspiel findet.


Endlich die letzte der Klosterreformationen, zu St. Alban.

Nach den Störungen und Verlusten, die dieses Haus im XIV. Jahrhundert hatte durchmachen müssen, schien mit den Prioraten Rudolfs von Brünikofen (1396—1405) und Ulrichs von Bisel (1407—1430) eine bessere Zeit zu kommen. Den Ulrich finden wir unter den Visitatoren, die 1417 vom Generalkapitel mit Einführung der Reform in den deutschen Klöstern betraut wurden, und in Basel selbst fand der Orden nur gute geordnete Zustände. Aber alles weitere Gedeihen wurde unmöglich gemacht durch das Unglück des Brandes vom 5. Juli 1417, bei dem die Klostergebäude, das Dach des Chores und der Kirchturm vernichtet und fast die ganze Parochie in Asche gelegt wurde. Im notdürftig hergestellten Chore, von Ruinen umgeben, hielten die Abgesandten Clunys Kapitel mit den Mönchen und berieten, wie dem Kloster zu helfen sei. Aber die Katastrophe war zu [843] furchtbar gewesen, und das Kloster schien sich nie mehr erholen zu können. Wohl sehen wir den Prior Ulrich und dann auch Peter Löwlin (1438 bis 1459) sich kräftig gegen den Verfall stemmen; die Kriege der 1440er Jahre brachten neue Last und neuen Schaden, wogegen auch die Inkorporation der Kirche Hauingen 1452 wenig half.

Von da an ist die Geschichte des Klosters erfüllt durch unaufhörliche Bemühungen um seine Existenz. Von der einen Seite kommen die Reformwünsche des Bischofs, des Rates und der Gemeinde; auf der andern ist völliges Unvermögen. Cluny selbst ist lange Zeit merkwürdig passiv. Und mitten in diesen Konflikten steht das Kloster ohne eigene Lebenskraft. Jetzt rächt sich, daß es immer abseits geblieben ist, als ein der Stadt fast fremdes Haus, zu Zeiten verwälscht, angewiesen auf die kleinen Leute seiner Nachbarschaft und der Vorstadt, ohne die Sympathie großer reicher langdauernder Geschlechter.

Unter dem Prior Johann Brant (1459—1468) sind Not und Unordnung auf der Höhe. Das Kloster verarmt zusehends, seine Güter und Rechte sind von Gläubigern arrestiert, es selbst um dieser Schulden willen interdiziert und seine Insassen gebannt, sodaß die Gemeinde ohne Gottesdienst und ohne Seelsorge dahinleben muß. Herrschafts- und Verwaltungsrechte in der Stadt gehen verloren. Der Konvent ist aufgelöst. Die Mönche, „hirtenlose Schafe“, laufen davon und suchen andere Hürden. Wiederholt schreibt der Rat dem Abt zu Cluny; als endlich im Spätherbste 1468 Brant stirbt, verlangt der Rat nachdrücklich, daß Cluny zur Sache sehe und einen brauchbaren Regenten schicke. Aber es kommt zu nichts Bleibendem, sondern unaufhörlich zu Provisorien und Zwischenzuständen, zu einer seltsamen Folge von Vorstehern, die als Administratoren Pröpste Statthalter Verweser usw. das Kloster leiten: 1468, 1469 Guido Amebligneti; 1469 der Riggisberger Propst Amadeus Mistral de Corsiandro; 1470 Lienhart Ofenhüsli; 1472, 1473 Petrus de Prato; 1473—1475 Peter von Kettenheim; 1475 Johann Orioli, Kanoniker von Lyon sowie des französischen Königs Rat und Requetenmeister. Von tüchtiger Art ist Kettenheim, mehr noch seit 1476 der Prior Johann Blattner. Diesem gelingt eine Sanierung der Klosterfinanzen. Die zahlreichen, jetzt entstehenden Vidimus der alten Privilegien, die Zinskäufe und Fröhnungen, die Verträge mit den Leutpriestern zu Jettingen und Lörrach, die Inkorporation Biesheims, die Anlegung eines Zinsbuches und eines prächtigen großen Urbars sind Zeugnisse solcher Tätigkeit; auch den Lehen erteilt Blattner eine neue Ordnung. Daß er gelegentlich mit dem Rat über einzelne Rechte zu streiten hat, ist begreiflich; beim [844] Bischoffischen Handel hilft er den Verschwörern aus der Stadt und hat auf seiner Seite den Erzherzog Sigmund, der gleichzeitig mit den bei Klingental erhobenen Prätensionen nun auch hier eine Kastvogtei behauptet.

Aber von Interesse ist zu sehen, wie diesen Bemühungen für Wiederherstellung des Haushaltes zögernd auch die Reform des innern Lebens sich anschließt. Wiederum ist es der Rat, der hiefür eintritt, der 1491 an Cluny das Verlangen richtet, in St. Alban für bessern Gehorsam der Mönche, für ordentlichen Gottesdienst, für „ein gottesfürchtiges seliges reguliertes Wesen“ zu sorgen. Der Prior Blattner selbst bereitet ihm freilich Schwierigkeiten damit, daß er seine Qualität als Basler Stadtkind geltend macht und sich vor keinem als Visitator und Reformer herkommenden wälschen Herrn beugen will.

Endlich nach vielem Streit und Ungemach kommt eine Lösung zu Stande: Blattner übernimmt die Propstei Biesheim und Cluny gibt im November 1494 die Administration von St. Alban dem Basler Domkustos Christoph von Utenheim.

Unter dem Regimente dieses Mannes kommt in St. Alban ein neuer und aufrichtiger Wille zur Geltung, wird mit der Observanz wirklich Ernst gemacht. Wir sehen, wie jetzt Klausur gilt und daher ein vom Volke vielverehrtes Gnadenbild aus dem Chor auf einen Altar in der Kirche verbracht, wie ebenso die Indulgenz der innerhalb des Klosters gelegenen Marienkapelle, weil diese für das Volk nicht mehr zugänglich ist, auf einen Altar in der Kirche verlegt wird. Observantische Mönche waren zuerst aus St. Morand nach St. Alban gekommen; später berief Christoph solche aus der Abtei Schussenried. Nun konnte 1495 das ganze Verhältnis des Klosters zur Stadt geregelt werden, ebenso sein Schuldenwesen, ebenso 1503 sein Pfarrzwangstreit mit dem Domstift. Die Verhältnisse waren konsolidiert.

Aber wie dauerhaft? Aufs deutlichste zeigte sich, daß gerade in Verhältnissen solcher Art die persönliche Einwirkung eines einzigen befähigten und aufrichtigen Mannes Alles bedeuten konnte.

Die Erhebung Christophs von Utenheim zum Bischof entzieht ihn der Administration von St. Alban, und mit den Klosterherren alten Schlages, die ihm folgen — 1502 Johannes Durandi, 1503 Philipertus Mineri, 1505 Johannes de Visulio, 1512 und 1513 Petrus de Rosaria (Rosseriis) —, kommen auch wieder die alten Mängel und Wirrungen. Prior Peter versteht kein Deutsch, monatelang liegen seine französischen Gäste im Kloster und zehren das Gut auf. Die Mönche rufen den Rat zu Hilfe, auch deswegen, weil der Prior eine große dem Kloster gehörende Geldsumme nebst [845] vielen silbernen Schalen und Löffeln an sich genommen habe. Seinerseits sucht der Prior einen Halt an Solothurn. Cluny, dem die Mönche und dann der Rat diese Zustände melden, regt sich lange nicht. Wie endlich seine Gesandten unterwegs sind, will der Rat sie nicht herein lassen, weil sie Angehörige seines Feindes des Königs Franz seien. Ratsdeputierte suchen einen Vergleich zwischen den Parteien zu Stande zu bringen und legen den streitigen Schatz bis auf Weiteres im Fronaltar unter Siegel.


Neben all diesem Verfall und Unfug, der mühevollen Reformarbeit, dem stumpfen oder leidenschaftlichen Widerstande gegen die Observanz erhebt sich das lichte ruhige Bild der Karthause. Dieses Kloster stand da, wie kein andres der Stadt. Was seinen Vorzug hauptsächlich begründete, war seine Jugend, die begeisterte Kraft und erste Liebe, die sein ganzes Wesen merkwürdig bewegte und hob, im Vergleich mit den übrigen Basler Klöstern, die alle alt und zum Teil abgelebte und überreif gewordene Institute waren. Auch bedurfte die Karthause nie einer Reform. Sie besaß die Kraft, mitten im städtischen, von allen Bewegungen der neuen Zeit erfüllten Leben das alte anachoretische Mönchtum festzuhalten.

Aber auch hierüber hinaus gebührt der Niederlassung im Margarethental ein eigener Ruhm. Durch ihre Geschichte geht von Anbeginn ein großer Zug. Wir finden in ihren Zellen eine Reihe der edelsten Persönlichkeiten. Die vertrauten Beziehungen zu Prälaten des Konzils, dann das entschiedene Hinneigen zu den wissenschaftlichen Kreisen der Stadt, die Berührungen mit dem Humanismus, die Freundschaft mit den großen Buchdruckern und Verlegern heben sie über das Niveau des sonstigen Ordensklerus hoch empor.

Dem entspricht, daß die einzigartigen Schilderungen dieses Karthäuserlebens, die wir in den Chroniken der Mönche besitzen, uns einen seltenen Reichtum individuellen Lebens aus nächster Nähe erkennen lassen. Was für prächtige Priorengestalten treten uns entgegen: der Utrechter Albrecht Bur (1432—1439), ganz Leben und Tätigkeit für das Kloster; unter ihm hatte dieses seine großen glänzenden Jahre der Bauten, der Zellengründungen, des Erwerbs zahlreicher Bücher, der Gunst der Fürsten und Konzilsherren. Heinrich Arnolds sodann (1449—1480), der erste Prior der aus dem Konvente selbst hervorging. Vordem ein in allen Geschäften erprobter Praktiker, nun aber völlig abgeklärt, all sein Anliegen auf Gott werfend; eine freundliche Gestalt; Friede und Ruhe die Hauptmerkmale seines Regimentes. Er war beinahe so alt wie die Karthause selbst und hatte noch den großen Johann Gerson von Angesicht gesehen. Ein Verehrer der Maria, [846] der ihre Feste mit besondern Veranstaltungen auszustatten liebte. Das Kloster verließ er so selten, daß seine Gestalt in den Straßen wie eine Wundererscheinung betrachtet wurde. Um so bewegter und kräftiger stellt sich sein Nachfolger Jacob Lauber (1480—1500) dar, der Regenerator des Klosters, der bei seinem Amtsantritt Scheunen Fässer und Kasse leer fand, aber bald Gedeihen in die Geschäfte brachte. Bei allem Arbeiten, auch beim Bauen, beim Pflegen und Ordnen der Klosterbibliothek ein nicht zu ermüdender Mann, der so streng gegen Andre war, wie er sich selbst nicht sparte. Dabei ein Eiferer für Form und Schönheit des Kultus. Für sein Ansehen im Orden spricht, daß ihn 1485 der Prior der Großen Karthause mit der Visitation der Niederlassungen in Ungarn Mähren Österreich betraute. Aber als Haupttugend beinah erschien seinem Biographen die Klugheit, mit der er zwischen all den Zelebritäten, die damals in den Zellen zu Basel nebeneinander saßen, Ordnung Ruhe und Frieden aufrecht zu erhalten verstand.

Ohne Zweifel war das Geltenwollen, der Gelehrtenruhm und Gelehrtenneid, mit dem Lauber zu schaffen hatte, ein dem Geiste der Karthause fremdes Wesen. Aber wir sehen auch sonst allerhand Kontraste voll Leben. Wie in andern Karthausen, so schloß sich auch hier um die demütige und innige Devotion der Mönche ein weiter Bau von zum Teil strahlender Schönheit des Schmuckes. Es war dasselbe Herantreten von Kunst und Macht aller Welt zu dieser tiefen Stille, das auch in der täglichen Fürbitte für die Benefaktoren des Klosters die größten Namen ertönen ließ.

Namentlich aber brachte Hieronymus Zscheckabürlin ein neues Element in diese Karthäuserwelt. Während Heynlin, der im gleichen Jahre wie er hier die Zelle aufsuchte, sich zum gänzlichen Auslöschen der eignen, einst so sichtbar und wirksam gewesenen Person verstand, kam in Zscheckabürlin ein nicht umzubringender eigenwilliger Mensch herein. Von Anbeginn umgab ihn ein Schimmer des Besondern. Oft schon hatte ja der Eintritt ins Kloster ein heiteres Weltleben geendet, ohne deswegen als Wunder bestaunt zu werden. Jetzt geschah dies, da der stadtbekannte glänzende junge Herr Karthäuser wurde, der seinen Eintritt am 21. Mai 1487 allerdings zu einem öffentlichen Schauspiel zu machen verstand. Auch nachdem die Klosterpforte sich hinter ihm geschlossen, wurden ihm allerhand Vergünstigungen zu Teil; er stieg im Konvente rasch empor, und deutlich sehen wir, wie namentlich seit Übernahme des Priorats, 1501, das ihm angeborne Herrenmäßige und Wählerische manchen schlichten Klosterbruder den Kopf schütteln ließ. Seine Freude an Prunk und seine Baulust gaben [847] zu denken; ebenso seine Gastlichkeit, bei der nicht immer nur die Ernstesten geladen waren; mehr noch, daß er sich daran gewöhnte, den Konvent zu übergehen und auch wichtige Entscheide selbständig zu treffen, oder daß er die Besuche in den Zellen unterließ, weil ihm der üble Geruch des einen oder andern Bruders zuwider war. Aber wenn ihm die erwünschte Güte fehlte, so besaß er dafür Kraft und eine unverlierbare Feinheit des Wesens. So wurde sein Regiment zu einer Zeit des Gedeihens, in der die stolze, einst die Anfänge der Karthause begleitende Prophezeiung erfüllt zu sein schien. Wenigstens in allem Äußern; das Geistliche schien einigen Gewissenhaften zu kurz zu kommen.


In dieser Zeit zeigen sich nun da und dort auch wieder die Beginen; trotz Anathema und Verbannung sind sie in Basel vorhanden.

Wir vernehmen fast nur von Einzelnen. Sie wohnen hier, sie warten Kranken ab, sie besorgen um Lohn das Beten und Klagen an der Bahre. Heynlin aber schilt sie darum, daß sie gerne wissen möchten, wie das Himmelreich inwendig eingerichtet sei, aber hineinzukommen sich keine Mühe geben. Von einer Organisation, von Samnungen der frühern Art verlautet nichts mehr; nur darauf ist hinzuweisen, daß die Bewohnerinnen der nahen Landklöster und Klausen (Schauenburg Engental Rothaus) zuweilen Beginen heißen. Aber der Anschluß an die Mendikanten zeigt sich auch jetzt noch. Sogar von eigentlichen Tertiariern ist wieder die Rede; auf Verlangen der Barfüßer schreiten die Päpste Pius II. u. ff. dagegen ein, daß die alten beginenfeindlichen Gesetze auf diese Basler Tertiarier angewendet werden.


Rings um die Klöster wogt der freie allgegenwärtige Weltklerus. Auch er sündigt durch viele Laster, durch Leichtsinn und Nachlässigkeit. Was vor fünfzig Jahren Mulberg an ihm auszusetzen hatte, wird in der Hauptsache auch jetzt noch getadelt.

Der Zustand dieses Klerus, seine Disziplin und seine Sittlichkeit sind zu jeder Zeit von hoher Bedeutung. Denn der Weltgeistliche vertritt die Kirche durch alle Schichten hindurch und an jedem Orte; was er leistet, ist ihr Werk; was er sündigt, steht als Schmach der Kirche weit mehr vor Aller Augen als die gleiche Verfehlung des Mönchs oder der Nonne.

Es handelt sich dabei um arge Dinge; um Pflichtversäumnis Ungehorsam Ausgelassenheit, unwürdiges Benehmen in Spiel Streit Völlerei, um Gier, um Unzucht und Ehebruch. Das Vorhandensein solchen Wesens im Klerus ist die Voraussetzung der Regenerationsmühen. Es ruft den [848] bischöflichen Erlassen, den Statuten, den Predigten, den Reformtraktaten; aber auch der Satyre, den Lästerreden, dem weitverbreiteten Unwillen.

Was wir vom Domstift und vom Petersstift und aus den Pfarrkirchen über das Treiben der Kleriker vernommen haben, ist deutlich. Aber wünschen wir hierüber hinaus Genaueres zu erfahren, so lassen uns jene Äußerungen der Rundschreiben Traktate usw. im Stiche. Sie nennen nichts Einzelnes; aber sie sind auch nicht brauchbar für ein Gesamturteil. Unzweifelhaft ruhen sie auf Tatsachen, seien es Gepflogenheiten oder einzelne Vorkommnisse; auch mögen ihre allgemeinen Deklamationen für Hunderte von Fällen zutreffen. Ein Gesamtbild aber, dem gegenüber keine Einzelheiten mehr in Betracht kommen würden, vermitteln sie nicht. Der Gesetzgeber nennt auch das nur Mögliche, nicht allein das tatsächlich Geschehende; der Strafprediger, der Tagesschriftsteller, der Poet sehen nur und greifen nur auf, was ihrem Zwecke dient, und behandeln es diesem gemäß; die Chroniken reden nicht vom Normalen, sondern vom Auffallenden Anstößigen.

Eine vorhandene Stimmung, eine Absicht, eine Anschauung können diese Äußerungen uns nahe bringen; weiter reicht ihre Zeugniskraft nicht.

Wir haben uns daher nach reineren Quellen umzusehen, und in der Tat steht uns, namentlich zu den Klagen über die sexuelle Verwilderung des Basler Klerus, ein dokumentarisches Material bester Art zur Verfügung. Es sind dies die Rechnungen des bischöflichen Fiskalats über die Bußen, die auf dem Disziplinarwege Klerikern auferlegt worden sind. Diese Rechnungen, für den Zeitraum von 1429 bis 1520 fast lückenlos erhalten, betreffen hauptsächlich den Klerus der Landkirchen in der weiten Diözese, vom städtischen Klerus fast nur die Geistlichen zu St. Peter und zu St. Martin, indem der übrige Klerus, weil exemt (Klöster) oder dem Domdekan unterstehend (Domklerus) oder der konstanzischen Behörde unterstehend (Kleinbasler Klerus) außer Betracht fällt. Bei Erwähnung jener beiden Kirchen haben wir Vieles aus den Bußenrechnungen schon mitgeteilt. Wir vergleichen die Zahl der Bußfälligen mit der Größe des ganzen Klerikerbestandes jeder Kirche; aber wir denken auch an die Möglichkeit, daß nicht alle Fälle gebüßt wurden. In solcher Weise dürfen wir vom Zustande der beiden Kirchen auf den Zustand der übrigen Pfaffheit in der Stadt schließen; es ergibt sich dabei, daß allerdings ein Teil des Klerus das Zölibatsgebot aufs gewissenloseste und schamloseste übertrat, daß aber von einer allgemeinen Sittenlosigkeit dieses Klerus keine Rede sein kann; er hielt sich unverkennbar besser als der Klerus der Landkirchen. Jeder einzelne Fall war natürlich schon zu viel; aber wenn auch die Verfehlung des [849] einzelnen Priesters nach der Lehre der Kirche die übernatürliche Gewalt nicht verminderte, die ihm als Vermittler der göttlichen Wahrheit und Gnade zukam, so schändete doch eine jede Vergehung, ob sie beim Klostervolk oder beim Weltklerus vorkam, den ganzen Stand und konnte ohne Weiteres zu einer Beurteilung dieses Standes im Allgemeinen verleiten. Aber wir ziehen auch die sittliche Haltung der ganzen Zeit in Betracht, und vollends ist auf das widerliche, geradezu frivol laxe Verhalten der Kirche selbst hinzuweisen, die gegen den priesterlichen Konkubinarier nicht anders einzuschreiten wußte, als dadurch, daß sie eine Geldbuße von ihm erhob, die wie eine Konzessionsgebühr aussah, ja daß sie sogar den Betrag dieser Buße gelegentlich mit ihm verabredete.

Freilich, wie die Klagen über allgemeine Verderbnis zuweilen ganz formelhaft klingen, so geschieht dies auch bei gegenteiligen Äußerungen. In jeder Richtung also sehen wir uns bei der Zufälligkeit und oft starken Einseitigkeit der Überlieferung zu behutsamem Urteilen genötigt.

Um so entschiedener wenden wir uns einigen wenigen Gestalten zu, die sich aus der oft trüben Masse herausheben.

Zunächst sind dies billigermaßen die Bischöfe. In der Absicht, den Zugang zum geistlichen Stande zu erschweren, formulieren sie dementsprechend die Requisite von Alter Sitten Bildung Vermögen. Bischof Caspar gibt hiefür genaue Vorschriften, und sein Nachfolger Christoph wiederholt diese durch sein Rundschreiben vom 11. September 1503. Ihn quält, daß einst das Blut der seiner Leitung Anvertrauten von ihm werde gefordert werden, und mit allen Mitteln sucht er Unwürdigen den Weg zum Altare zu sperren; Gott sei willkommener, wenige fromme Priester zu haben als zahlreiche, die in Sünden leben. Was er hier kurz empfiehlt, findet dann eine reiche Ausgestaltung durch die Statuten vom Oktober 1503, in denen Christoph mit einer auch uns noch ergreifenden Fülle der Liebe und des Ernstes ein auserwähltes Priestertum für seine Kirche zu schaffen sucht.

Von gelehrten Klerikern sodann, Zierden ihres Standes in dieser Periode, ist wiederholt die Rede gewesen.

Auch beachten wir einige Donatoren. So die eifrigen Münsterkapläne Johann Herborn und Peter Brun, die eine besonders feierliche Begehung gewisser Feste stiften. Ein andrer Domkaplan, Johann David, wirkt nach allen Seiten hin mit überraschend reichen Mitteln. Die Karthäuser verehren ihn als den Haupthelfer beim Bau des Hauses für Laienbrüder und Gäste 1495, die Gnadentalerinnen als ihren „getreuen Vater“; zu St. Leonhard sichert er sein Andenken durch große Schenkungen 1490 und 1491. [850] Auch was er im Domstifte leistet — Vergabungen, Ausstattung des Altars der Marienbruderschaft, Anfertigung des Fabrikbuches — zeigt ihn ganz im Bereiche dieses seines eigensten Wesens, völlig auf eine Richtung gesammelt.

Weiterhin sodann die kraftvollen Erscheinungen Andlau Philippi Heynlin Surgant; sie bilden in ihrer Gesamtheit die glänzendste Repräsentanz des geistlichen Standes. Was am Klerus edel und gut ist, erhebt in ihnen seine Stimme.

Peter von Andlau, der uns bekannte Münsterkaplan, Propst zu Lautenbach und Professor des Rechts, schreibt in den 1470er Jahren den Traktat vom kanonischen Leben der Weltgeistlichen, eine ernste Schrift des Vorwurfs und der Ermahnung.

Bewegter, fast leidenschaftlich klingt der Ton aus dem Reformatorium des Freiburgers Jacob Philippi. Als Pleban zu St. Martin 1470 f., dann 1491 f. am Münster hat dieser den Basler Klerus aus der Nähe kennen gelernt und hält ihm nun seine Fehler vor: den Hochmut, die Fleischessünden, die Ausgelassenheiten. Die Kirche steht vor dem Ruin; sie könnte gedeihen, wenn der Priester seine Würde bewahrte. Eindringlich mahnt Philippi zur Buße und preist als bestes Mittel wider alle Übel das gemeinsame Leben der Kleriker, nach dem Muster der Brüder des gemeinsamen Lebens. In dem fein ausgeführten Bilde, das den Traktat schließt, schildert Philippi das Leben im Fraterhause. Sein Bruder Ludwig ist Rektor eines solchen Hauses in Zwolle; er selbst hat diesem sein Vermögen vermacht.

Noch stärker als diese Beiden geben sich Heynlin und Surgant den großen kirchlichen Aufgaben hin.


Die Wirkung einer wesentlich korrigierenden und verbietenden Tätigkeit wird allerdings nicht sehr hoch anzuschlagen sein. Um so eindrücklicher ist Alles, was als positive Leistung und Schöpfung neben jene tritt. In ihm zeigt sich uns wenigstens eine Frucht der Reformbewegung.

Nachdem die Kirchenbehörden allzulange den Dingen den Lauf gelassen, kommen sie zur Besinnung und wollen Ordnung schaffen. Es ist die Zeit, in der die Kirche den Kampf mit der Stadt um die alten Rechte wieder aufnimmt und der Bischof auch gegenüber Dekanen und Pfarrern wieder strenger seine Autorität wahrt.

Allenthalben in der Kirche werden Güter und Rechte neu aufgezeichnet, die Archive geordnet, in Stiftern und Klöstern die Bibliotheken systematisch gestaltet.

[851] Statuten werden erlassen oder frisch formuliert, eine Kirchenbuchführung wird begonnen. Es ist ein Durchmustern und Bereinigen aller Ordnung und Administration sowie der kirchlichen Zugehörigkeit, daher auch Bekehrung und Taufe von Juden jetzt häufiger geschehen, die Ketzerpolizei eine neue Organisation erhält, die Termingrenzen der Dominikaner revidiert werden.

Auch bedient sich die Kirche sofort der neuen Kunst des Buchdruckes für ihre Bedürfnisse. Jetzt kann der Bischof den Pfarrern seine Erlasse über Münsterbau und Ablaß gedruckt zustellen; er kann Agenden Breviere Gradualien usw. im Drucke verbreiten. Indem aber die Kirche nicht nur für administrative Erlasse, für Zitationen Interdiktsverkündigungen u. dgl., sondern auch für liturgische Zwecke sich der neuen Möglichkeit der Vervielfältigung und Publikation bedient, kommt sie zur Revision dieses liturgischen Materials und weiterhin zur Aufstellung einheitlicher Formen für die ganze Diözese. Erst die gedruckte Agende bringt an Stelle bisher möglicher lokaler Bräuche und Vorbehalte die völlige Gleichheit des Kultus. Die Verwendung des Druckes an Stelle der Schrift gibt der kirchlichen Äußerung überhaupt einen neuen Charakter. Durch den Gedanken dieser an keine Grenzen gebundenen Vervielfältigung wird sie leichter geschmeidiger. Zu jeder Predigtsammlung, jedem Andachtsbuch, jeder Bibelausgabe tritt nun, da sie aus den Pressen Richels Keßlers Amerbachs usw. hervorgehen, die Vorstellung der unzähligen Menge von Lesern und Hörern, die gleichzeitig diese Bücher erhalten und unter ihre Wirkung kommen.

Bemerkenswert ist nun auch, daß diese Zeit eine neue Beredsamkeit, einen neuen Stil in die kirchlichen Urkunden bringt. Namentlich in den Arengen von Briefen über Meßstiftungen Vergabungen usw. zeigen die Variationen der traditionellen Formel, wie der Gegenstand von allen Seiten her neu gewendet und betrachtet wird; die Empfindung ist breit und reich ausgesprochen; die Sätze wachsen und sind auch gehaltvoller an Gedanken.


Vor Allem vollzieht sich jetzt der Kultus nicht nur mit erhöhter Pracht, sondern überhaupt in einer Weise, die dem Bedürfnisse starker und Viele umfassender Erregungen gemäß ist.

Kultusgebäuden und Geräten wird eine, über alle bisherige Beschäftigung mit diesen Dingen weit hinausgehende Pflege zu Teil. Sie ist getragen durch das unruhige, schwer gestillte, zugleich hochbefähigte Wesen der Zeit.

Die Restauration der St. Martinskirche 1451 leitet auf würdige Weise die Periode ein, und von da an ist kein Ruhen und kein Genügen mehr. [852] Nur Burgunderkrieg und Schwabenkrieg scheinen Pausen zu geben. Sonst bringt jeder Moment seinen Anspruch und seine Schöpfung; das während dieses halben Jahrhunderts ununterbrochen und zum Teil mit den reichsten Kräften und Mitteln Geleistete steht als ein unvergleichbares Ganzes vor uns. Aus der hier unmöglich darstellbaren Fülle dieses Lebens tritt Einzelnes bedeutsam hervor: vor Allem das tatsächliche Bedürfnis und der jetzt mächtig gestiegene Maßstab seiner Befriedigung. Mehr als je scheinen zu gelten der Glanz und Zauber kirchlichen Wesens. Lebendig zeigt sich der Wetteifer der verschiedenen Körperschaften: Karthause und Klingental führen gleichzeitig 1500 f. große Erweiterungsbauten aus; dem grandiosen Altarwerke der Prediger 1503—1505 antworten die Frauen an den Steinen mit einem ähnlichen 1514—1518; wie bei den Augustinern 1512, so 1516 zu St. Peter wird am Lettner die Passionsgeschichte in sechzehn Bildern gemalt. Zu dem Allem kann treten die persönliche Neigung eines einzelnen Klostervorstehers, am deutlichsten für uns erkennbar in der Tätigkeit des Karthäuserpriors Hieronymus Zscheckabürlin. Hintergrund und Voraussetzung des Ganzen aber ist das der Zeit eigene technische und künstlerische Vermögen.

Auf diese Weise entstehen Bilder von merkwürdigem Reize: Klingental mit den verborgenen Schätzen seiner Gemälde im Nonnenkirchhof; die subtile Sinnlichkeit in den reichgeschmückten Räumen der Karthause, dieses Ortes der Entsagung und der tiefen Kontemplation. Fast weltlich schön und freudevoll ist dem gegenüber das in wenige Jahrzehnte zusammengedrängte Werk der Ausschmückung zu St. Peter; Prunklust Freigebigkeit Kunst konzentrieren sich hier in einer Leistung, die Alles umfaßt: Gestühle Altäre Kapelle Lettner Orgel und Taufstein, Sonnenuhren an den Sakristeien, Wandgemälde in der Treßkammer, eine große strahlende Garderobe mit Prunkstücken aus der Burgunderbeute und kostbaren Gaben der Geschlechter Offenburg von Laufen von Brunn usw. Anderer Art zeigt sich das Bauunternehmen zu St. Leonhard 1489 f., wo das Bedürfnis eines größern Predigtraumes zum Neubau drängt; es ist von geschichtlicher Bedeutung, daß, nachdem das erste kirchliche Gebäude der ganzen uns beschäftigenden Periode ein Mönchschor, zu Barfüßern, gewesen, nun ihr letztes eine Laienkirche ist und daß dieses Verlangen durch einen Bau erfüllt wird, den eine neue Art von Raumgefühl schafft. Am Münster endlich wird 1488 der Kreuzgang vollendet und der Weiterbau des Martinsturmes unternommen, 1500 dieser Turm zu Ende gebracht. Damit ist das große Werk des Basler Münsterbaues geschlossen, das vor Jahrhunderten begonnen und das Werden Basels [853] begleitet hat, das ein Zentrum technischer und künstlerischer Leistung, ein Unternehmen von viel höherer als lokaler Bedeutung, ein Lebensinteresse für den ganzen Oberrhein gewesen ist.

Der unübersehbare Reichtum an Gerät, dessen sich in diesen Räumen der Kultus bedient, ist beinah nur in Inventaren festgehalten. Aber auch diese monotonen Verzeichnisse haben ihren Glanz; sie geben die Vorstellung eines Wünschens, das unersättlich, und eines Könnens, das allmächtig ist.

Derselbe Geist, dem all dies Äußere nicht zu weit und nicht zu schön sein kann, formt demgemäß auch das darin waltende Leben.

Daher jetzt allenthalben die Vorschriften über würdiges Benehmen im Chor. 1477 erhält das Münster eine Ordnung, welche die gewaltige Masse seiner gottesdienstlichen Verrichtungen regelt und zugleich noch vermehrt. Heynlin verfaßt seine Schrift über die Zelebration der Messe; Traktate Laubers und Surgants bekunden in gleicher Weise den neuerwachten Ernst in der Auffassung des Altardienstes, in der Verwaltung der Eucharistie; eine ebenfalls zu jener Zeit in Basel verfaßte und veröffentlichte deutsche Vorbereitung zum Empfange des Altarsakramentes „athmet den Geist der reinsten und edelsten Mystik.“

Während der Kultus, geistvoll und künstlerisch gestaltet, in den Statuten Bischof Christophs nur der Hauptsache nach dargelegt ist, schildert ihn 1517 der Domkaplan Brilinger eingehend in dem Werke, das er dem weitberühmten Zeremonienschatze der Basler Kathedrale widmet. Mit Stolz und Andacht breitet er hier in letzter Stunde, ehe die alte Zeit zu Ende geht, den ganzen Reichtum dieser Formenwelt aus.

Einer ihrer glänzendsten Teile sind die Prozessionen; diese Art gottesdienstlicher Feier wird jetzt mit Beflissenheit gepflegt. Einzelne Stiftungen und Ordnungen gelten ihr speziell; erstaunlich viel wird in diesen Jahren prozessioniert, zum Teil auf Grund sorgfältiger Abreden des Domkapitels mit dem Rate, wobei Volk und Klerus in Gruppen eingeteilt und sodann diese Züge gleichzeitig und sich kreuzend durch die Stadt und ihre Umgebung geführt werden. Einsprachen von Männern wie Heynlin gegen die leere Äußerlichkeit solchen Pompes bleiben ohne Wirkung.

Auch Alles, was Kirchenmusik heißt, erfährt jetzt eine Steigerung. Durch Abfassung und Veröffentlichung von Chorwerken, durch Pflege des Gesanges, Verbesserung der Organistenstellen, durch den Bau neuer, jedenfalls größerer und klangvollerer Orgeln. Orgelspieler und Singmeister Basels bewähren auch im Auslande den Ruhm ihrer Heimat: Caspar Reuter in Bern, Hans von Basel der Figurist in Konstanz, und Andere.

[854] Tiefer greift die Sorge der Kirche für Pfarramt und Predigt. Sie führt zu den allgemeinen Vorschriften über Requisite Pflichten Amtsführung des Kuratklerus; im Einzelnen wirksam zeigt sie sich bei den Reorganisationen der Pfarreien zu St. Peter 1441 und zu St. Leonhard 1479. Dort zu St. Peter werden nach Beseitigung der alten hinderlichen Rechte von Dompropst und Kustos zwei Ämter für die Gemeindeseelsorge fundiert: dasjenige des Leutpriesters und dasjenige des Glöckners; Jenem liegt die Predigt, Diesem die tägliche Pfarrmesse, Beiden die Spendung der Sakramente ob. Zu St. Leonhard ist Regelung des Pfarrdienstes eine der Hauptabsichten bei der Reform 1462; aber was die Windesheimer vorausgesagt, tritt in der Tat ein, daß Observanz und Pfarrgeschäfte sich nicht vertragen. Zunächst hilft man sich mit Bestellung eines Leutpriesters durch den Konvent, wobei nur verlangt wird, daß Keiner an die Stelle komme, der nicht oberdeutsch könne. Eine fundierte Pfarrei ist nicht geschaffen. Hiezu kommt es 1479, da jene Anordnung sich nicht bewährt hat und die Gemeinde Klagen erhebt. Die Pfarrei erhält nun ihre eigene Organisation und Ausstattung; der Leutpriester und seine beiden Helfer, durch den Bischof ernannt, wohnen außerhalb des Klosters und haben da die Messen zu lesen, die Gemeinde zu besorgen, an den gewöhnlichen Tagen Gottes Wort zu verkünden. Auch die St. Martinsstatuten von 1451 haben das Ziel einer Sorge für das Pfarramt. Das Stärkste aber ist die Neuschaffung der Leutpriesterei am Münster 1471. Schon die frühere Zeit hat Münsterplebane gekannt, der Münstergemeinde entsprechend, die auf Kosten der regulären St. Albanparochie entstanden ist. Jetzt wird das Amt neu geordnet und durch Zuweisung einer Kaplaneipfründe einträglicher gemacht. Denn „es dient zum Heile, die Seelsorge tüchtigen Dienern anzuvertrauen und für die kirchlichen Sakramente löbliche Haushalter zu wählen, weil nach den kanonischen Satzungen die Leitung der Seelen die Kunst aller Künste ist.“ Leutpriester ist jetzt, die bisherigen einfachen Kapläne weit überragend, ein Mann von Ansehen und Gelehrsamkeit; er hat das aus Stadt und Diözese die Mutterkirche besuchende Volk mit Beichthören, Auferlegung der Bußen, Erteilung der Absolution, Spendung der Sakramente zu bedienen. So ist das Amt kein Plebanat gewöhnlicher Art und diese Münstergemeinde eine ideal gedachte; über alle Pfarreien zu Stadt und Land hinweg bildet sie eine mächtige, freilich mehr innerlich geschlossene als äußerlich organisierte Einheit.

Mit dem Pfarramte hebt sich nun auch die Predikatur.

Sorge für diese ist damals eine allgemeine Erscheinung. Man will vorkommender Vernachlässigung der Predigtpflicht abhelfen, namentlich aber [855] durch Schaffung eines starken Vorbildes und Musters die Plebane zur Besserung des Wesens ihrer Predigt nötigen und erziehen. Daher an vielen Orten die Schaffung eigener Predigtämter neben den Leutpriestereien, und überdies unter Benutzung des Buchdrucks die Verbreitung zahlreicher homiletischer Sammlungen und Hilfswerke.

In Basel scheint das äußere Bedürfnis von Predigtämtern nicht stark zu sein. Wenn auch der Wert der einzelnen Predigt im Durchschnitte wahrscheinlich gering ist, sorgen doch Pfarrgeistlichkeit und Ordensleute für häufiges Predigen, und so erklärt sich, daß die Stadt trotz ihrer Größe zunächst mit einem einzigen Predigtamte auskommen kann. Aber weil dieses an der höchsten Stelle und im Zentrum der Kirche entsteht, erhält das ganze Predigtwesen von ihm sofort einen starken Impuls.

Durch Bischof Arnold wird diese Münsterpredikatur geschaffen, in Ausführung des Konzilsbeschlusses von 1438, der jeder Domkirche die Pflicht auferlegt hat, für die Bildung des Diözesanklerus und Unterweisung des Volkes einen Prediger anzustellen. Die nächste freiwerdende Domherrnpfründe wird für einen solchen Prediger bestimmt, auch eine Kaplaneipfründe zu besserer Dotierung des Amtes herangezogen; im März 1456 gibt Papst Kalixt diesen Anordnungen seinen Konsens. Bischof und Domkapitel suchen nun auf den deutschen Universitäten nach einem geeigneten Manne; aber noch im August 1457 ist keiner gefunden. Endlich wird der Straßburger Münsterpfarrer Kreuzer für die Stelle gewonnen; am Heinrichstage 1459 hält er seine erste Predigt in der Kathedrale von Basel.

Wir haben es mit keinem Pfarramt, keinem Seelsorgeamt zu tun, sondern mit einer Predikatur. Der Domprediger soll dem Volke das Wort Gottes verkündigen, nicht selten, sondern häufig, am Sonntag Montag Mittwoch Freitag jeder Woche, in der Advents- und Fastenzeit aber täglich. Außerdem soll er wenigstens ein- oder zweimal im Jahre dem Klerus einen lateinischen Sermon halten und daneben von Zeit zu Zeit für die Priester theologische Vorlesungen und Disputationen veranstalten. Er ist also nicht nur Volksprediger, sondern auch Lehrer des Klerus. Er heißt concionator ac preceptor. Diesen Forderungen entspricht die Ausstattung des Amtes mit einer eigenen Bibliothek und seine Besetzung mit wissenschaftlich hochgebildeten Männern. Das Amt ist geschaffen „zur Ausbreitung des rechten Glaubens, zum Seelenheile der Gläubigen, zur Mehrung des Gottesdienstes im Münster“. Aber nicht nur im Blick auf Gemeinde oder Bereich des Münsters. Das Amt hat mehr als nur städtische Bedeutung; zu Grunde liegt ihm, wie dem Plebanat, die umfassende Vorstellung eines Wirkens auf [856] die ganze Diözese. Ja über diese hinaus, sodaß schon 1465 der Konstanzer Bischof allen Gläubigen seines Bistums, nicht nur den Kleinbaslern, die der Predigt im Münster zu Basel beiwohnen, Ablaß verheißt.

Deutlich aber ist die in Basel selbst von dieser Dompredikatur ausgehende Anregung. Das Stipendium der Lostorfin 1467 gibt dem Domprediger einen Helfer; 1507 schafft sich auch das Petersstift eine eigene Predikatur neben Pleban und Glöckner; und im gleichen Jahre stiftet der Kleinbasler Schultheiß Holzach in der St. Niklauskapelle eine Predikatur wenigstens für die Adventszeit.

Als einen Kämpfer schildert Heynlin den Prediger. Er streitet mit dem Bösen um die Seelen der ihm Anvertrauten; er soll die Wahrheit lehren und zu guten Werken bewegen; er mahnt und straft und warnt vor dem nahen Tage des Gerichtes. Mehr als alles Andere, sagt Surgant, trägt die Predigt zur Bekehrung des Menschen bei; sie vornehmlich bewirkt, daß der Sünder sich zur Buße wendet. Die lauten Klagen auf allen Kanzeln über Ehebruch und Unzucht z. B. sind es, die den Rat zu seinen Maßregeln nötigen. Aber auch hinab zu gewöhnlichen Dingen steigen zuweilen die Prediger, zur Tagespolitik, zu Stadtangelegenheiten, zum Streite der Mendikanten und des Weltklerus; die Verdächtigungen der Amtsführung des Spitalmeisters Langental werden bis auf die Kanzeln zu Barfüßern und im Münster geschleppt und hier vor allem Volke durchgehandelt u. dgl. Die ordentliche Predigt ist deutsch; auch das Gebet des Herrn, den englischen Gruß, das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote hat der Prediger deutsch zu sprechen; des Lateins soll er sich nur bedienen, wenn er den Klerus rügt.

Während zwischenhinein etwa ein fremder gewaltiger Redner sich aufregend vernehmen läßt — wie im Juni 1465 jener berühmte Doktor aller Fakultäten aus Neapel, des gleichen nicht in mundo ist —, geht von all den Kanzeln der Kirchen und Klöster Sonntag um Sonntag und in Festzeiten täglich eine Wirkung aus.

Wesen und Wert dieser Wirkung ruht aber auf der persönlichen Gewalt des Predigers, und wir sehen uns nach den Männern um, die damals hier nebeneinander in solcher Weise tätig waren.

Auf den gefeierten Minoriten Johann Gritsch, der nicht mehr persönlich aber durch seine jetzt viel gedruckten Fastenpredigten wirkt, folgen zwei Brüder desselben Konventes: Johann Meder und Franz Wiler; Dieser als egregius predicator gepriesen, Jener berühmt durch die in Dialogform durchgeführten Fastenpredigten über den verlornen Sohn, die er 1494 hier hält und im folgenden Jahre durch den Druck veröffentlicht. Bei den Dominikanern [857] ist Konrad Schlatter zu nennen. Der als Leutpriester zu St. Alban genannte Macarius Leopardi kommt im Jahre 1500 als Domprediger nach Konstanz. Zu St. Leonhard predigt 1475—1478 der große Heynlin, später der Prior Johann zer Leyen.

Eindrücklich ist die Gestalt des ersten Münsterpredikanten Johann Kreuzer. Wir finden ihn zuerst in Straßburg als Pfarrer beim Münster; im Ketzerprozesse des Friedrich Reiser ist er einer der Richter. Als heftiger Verfechter der Rechte des Weltklerus gegen die Mendikanten kommt er um sein Amt in Straßburg; er wendet sich nach Basel und erhält hier 1459 die Dompredikatur. Aber er bleibt nur wenige Jahre. Der alte Gegner der Bettelmönche wird 1466 selbst Dominikaner und tritt ins Kloster zu Gebweiler; eifrig arbeitet er nun an der Ordensreform, und immer wieder gibt uns der Chronist der Brüder zu verstehen, wie stolz sie sind, diesen reichen und gelehrten Herrn gewonnen zu haben. Sein Nachfolger im Basler Predigeramte ist der feurige Wilhelm Textoris, vorher Chorherr zu St. Peter, daneben Lehrer an der theologischen Fakultät. Aber nicht nur er zeigt die geistige Höhe von Pfarr- und Predigtamt des Münsters; neben ihm wird die Leutpriesterei durch den großen Johann Geiler 1476 versehen, dem in dieser Stelle der Professor Michael Wildeck folgt, dann der als Verfasser eines wichtigen Reformtraktats uns schon bekannte Jacob Philippi, endlich 1499 und 1500 Jacob Götz, der später Pfarrer in Straßburg wird. In der Münsterpredikatur selbst aber begegnet uns Johann Heynlin. Er vikariert schon vom März 1477 bis zum März 1478 für den abwesenden Textoris und ist dann vom November 1484 bis zum August 1487 selbst Predikant; die 1486 errichtete Münsterkanzel steht noch heute als Denkmal des Mannes und seiner weithin berühmten Predigt. Diese Predigt, schulgerecht aufgebaut, ist doch voll persönlichen starken Gefühles, lebendig bewegt, anschaulich, ihre Gesinnung aber der tiefste Ernst. „Die Welt ist wüste, wüste“ ruft Heynlin. „Wehe dir Basel, wehe Euch Baslern, wenn ihr nicht Buße tut!“

Eigenartig hebt sich über diese ganze Schar die Gestalt des Kleinbasler Pfarrers Ulrich Surgant. Sein Frommsein und seine Gelehrsamkeit, sein Organisationstalent, seine hohe Auffassung vom Berufe des Pfarrers und Predigers, alle Kraft und Glut dieser vielseitigen Natur finden sich zusammengefaßt in seiner dreißigjährigen (1472—1503) Wirksamkeit eines großen Gemeindeführers. Wenige sind uns so dargestellt wie er. Das Meiste über ihn vernehmen wir von ihm selbst, aus seinen Werken. Als solche sind das Jahrzeitbuch von St. Theodor, namentlich aber das manuale [858] curatorum — ein Lehrbuch der Homiletik mit wertvoller Darstellung der pfarrlichen Amtsverrichtungen — und das für Studium und Studentenleben guten Rat gebende regimen studiosorum Dokumente seines Wesens. Überall tritt die Überzeugung von Wert und Herrlichkeit des Predigtamtes und ein außerordentlich starkes Gefühl für alle Kultusdinge zu Tage, dazu ein auffallender Ordnungssinn und Geschäftsverstand. Dieser führt Surgant zur Anlegung nicht nur des liber conclusionum der Universität, sondern auch eines Taufbuches seiner Gemeinde. Sein Verhältnis zu dieser Gemeinde ist das Entscheidende, nichts sprechender als ihr Zustand in den Jahrzehnten von Surgants Regiment. Sein Wille scheint Alles zu lenken, auf seine Anregung Alles zurückzugehen in einem Gemeindeleben, das, seiner Sondergewohnheiten und Sonderrechte bewußt, im richtigen Moment unter die Macht eines Mannes wie Surgant gerät und nun von ihm zu einer eigenartig starken Ausbildung des Devotionellen erzogen wird. Das Verhalten der Kleinbasler im Reformationskampf ist hiedurch vorausbestimmt.


Aber die Kirche verfügt noch über andre Mittel und Kräfte.

Vor Allem erweitert sie, „unter weltkluger Leute Anordnung und leichtgläubiger Blinder Annehmen“, das Gebiet der Andacht unaufhörlich durch Hinzufügung neuer Heiliger, deren Jeder seine eigene Art von Verehrung, seinen eigenen Beruf, seinen eigenen Kreis von Anhängern hat. Der Bestand des Basler Kalenders an Festen wächst vor unsern Augen; wie das Jenseits immer bewegter und an Gestalten reicher wird, ist ein Gegenstück zum Prunke und zur zunehmenden Versinnlichung des zeitlichen Kirchenlebens.

Kulte bisher wenig beachteter Heiliger wie des Rochus, des Sebastian, des Apollinaris, des Yvo, des Nährvaters Joseph, der Großmutter Anna, treten jetzt in den Vordergrund und werden geübt mit einer Hingebung, als handelte es sich um neugewonnene, bisher verschlossen gewesene Glückseligkeiten. Neben allgemein wirkende Heilige treten persönliche Nothelfer, treten Hauspatrone einzelner Stifter oder Klöster, ja des Bistums.

Klingental, der Jungfrau Maria geweiht, hat außerdem seinen speziellen Kult der Euphrosyne. Die Karthaus ist in der Ehre der heiligen Margaretha „intituliert“ und begeht ihr Fest mit hohem Glanze; aber neben diese Hausheilige tritt mit seinen Ansprüchen der große Ordensstifter Bruno; Bilder voll seliger Anmut erzählen an der Kreuzgangwand seine Geschichte. Richard und Hugo von St. Victor und Bischof Yvo von Chartres sind die im reformierten Leonhardskloster gefeierten Heiligen.

[859] Von allgemeiner Bedeutung ist das Erstarken der Devotion zu St. Heinrich. Es ist nicht der Kult eines Wunderheiligen, sondern eine menschliche persönliche Beziehung, die dankbare Huldigung an den Wohltäter von Kirche und Stadt. Aber erst jetzt, ein volles Jahrhundert nach der Promulgierung dieses Kultus in Basel, zeigte sich ein lebendigeres Erfassen. Es beginnt mit Bischof Friedrich und findet Ausdruck in einem Glasgemälde des Münsters und im Siegel des Dompropsts. Dann rasch wächst die Verehrung und zeigt sich allenthalben: in Altarpatrozinien Gemälden Statuen Inschriften Datierungen Zinsterminen; auch die Stadt nimmt hieran Teil. Sie wählt den Heinrichstag für die Beschwörung des Bundes 1501, sie schmückt das neue Rathaus mit dem Bilde des Kaisers und stiftet bei Beendigung des Baues die festliche Heinrichsmahlzeit.

Neben Kaiser Heinrich tritt jetzt auch der alte Basler Pantalus mehr hervor und macht seine Ansprüche auf Verehrung geltend.

Und als merkwürdige Einzelheit zeigt sich uns endlich die Andacht zu Ludwig Aleman, der vor wenigen Jahrzehnten erst als Kardinal von Arles und Führer des Konzils in Basel gelebt hat. Sofort nach seinem Tode, 16. September 1450, ist er wundertätig und wird vom Volke seiner Diözese Arles als Heiliger verehrt. Der Basler Karthäuser weiß schon früh davon zu berichten, und eine besondere Verehrung umgibt diesen Heiligen in der Familie Kilchman; an ihrem Kirchenstuhle zu St. Theodor hat sie sein Bildnis und im Familienschatze sind zwei Silberschalen, die der „lieb heilig sant Ludwig“ einst der Großmutter selig ins Kindbett geschenkt hat; nach ihm genannt ist der fromme Ludwig Kilchman.

Hoch über diesen großen und kleinen, alten und neuen Heiligen lebt in lichten Glorien die Madonna. Ihr Kultus wächst jetzt in erstaunlicher Weise und folgt dem Bedürfnisse durch fortschreitende Zerlegung seiner großen feierlichen Einheit in Einzelfeste. 1441 wird das Fest der Heimsuchung proklamiert, 1466 dasjenige der Darstellung; der Karthäuserprior Arnolds wirkt begeistert für das Fest der sieben Schmerzen; die Dominikaner haben ihre Rosenkranzandacht; daneben geht in ungeminderter Macht der Streit um die erbsündefreie Empfängnis einher, der die Konzilien beschäftigt, die großen Orden und die frommen Literaten entzweit. Wie aber dem feierlich geordneten Ave Maria-Läuten, das 1393 durch den Administrator Friedrich eingeführt worden ist, seit 1439 das in allen Kirchen und zum Teil mit maßloser Häufung gestiftete Salve Regina-Singen folgt, so schwillt der ganze Mariendienst überströmend an. Er ist das Echo des eigenen Lobgesangs U. L. F. In Bildern aller Art, in Legenden und Dichtungen, [860] ja in schwärmerischen Urkundenarengen führt er die Empfindung von scheuer Andacht weiter zu traulicher Verehrung einer Mutter, ja bis zu sinnlich menschlicher Lyrik und Leidenschaft.

Die Devotion heftet sich nun auch bedeutungsvoll an bestimmte Zeiten. Wie man an jedem Sonntag der Auferstehung Christi gedenkt, so an jedem Freitag seines Todes. Zur Heiligung dieses Tages durch Fasten, durch Vermeidung von Rats- und Gerichtssitzungen usw. tritt die besondere Weihe des alle Gläubigen zum Gebet auffordernden Mittagsgeläutes. Dem Ritus andrer Diözesen entsprechend scheint dieser Brauch in Basel schon zu Beginn des XV. Jahrhunderts eingeführt worden zu sein; aber da er jetzt, in den großen Erlassen Bischof Caspars von 1482, 1485, 1491 anbefohlen wird, erscheint er wie etwas Neugefundenes, und Stiftungen Einzelner sorgen nun noch für seine besondere Pflege und Mehrung.


Die Andacht erhält auch neue, an sich selbst schon verdienstliche Formen.

Vorweg zu erinnern ist hiebei an das, einst bei den Geißlern üblich gewesene „Kreuzweis Beten“. Es ist das Gebet mit ausgespannten Armen, in Nachahmung des gekreuzigten Christus; Denjenigen, die in solcher Weise während der Messe ihre Gebete verrichten, wird hier 1502 durch den Legaten Raimund Peraudi und durch Tristan von Salazar Ablaß verheißen.

Wichtiger ist die Form der Bruderschaft. Nichts Neues freilich. Es sind Organisationen und Ziele, die auch der frühern Zeit schon vertraut gewesen. Was den Unterschied begründet, ist auch auf diesem Gebiete das Gehäufte und Überschwängliche. Alles bewegt sich jetzt in gesteigerter Lebendigkeit. Das Christenvolk scheint neu inne zu werden, wie viel Vorteile Gnaden und Herrlichkeiten sich in dieser Form darbieten; die Kirche ihrerseits, in den Bruderschaften ein geeignetes Werkzeug zur Leitung und Beherrschung von Massen erkennend, animiert mit allen Mitteln; sie leiht dem bruderschaftlichen Wesen Glanz und eigentümliche Attraktionen, namentlich durch Ablässe sowie durch Aufnahme der Mitglieder in die Gemeinschaft aller guten Werke eines Klosters oder Stifts. Dem entspricht, daß jetzt auch innerhalb ihrer selbst die Verbrüderungen und Teilhaberschaften der Orden Klöster usw. sich häufen.

Das mächtigste Leben strömt in diese Genossenschaften aus der Verehrung einzelner Heiliger. „Jede Rotte oder Gesellschaft, ein jedes Handwerk, eine jede Begangenschaft Hantierung und Übung hat einen neuen oder erneuten heiligen Patron“, sagt Anshelm. Wie das engverbundene und verpflichtete Gefolge eines hohen Herrn erscheint die Bruderschaft. Mit [861] dem Heranwachsen neuer Kulte entstehen auch neue Verbände, die zahlreichen alten in den Schatten stellend durch ein unverbrauchtes Interesse, durch eine frisch erregte und zu Allem bereite Devotion. Marienbruderschaften bestehen seit Langem beim Münster, bei den Barfüßern usw.; aber im Mittelpunkt eines spezifisch marianisch gerichteten Kreises und als kondensierteste Form des Mariendienstes entsteht jetzt 1475 oder 1476 beim Predigerkloster die Rosenkranzbruderschaft. Basel erhält jetzt auch, gleich andern Städten, seine Sebastiansbruderschaft. Die Kulte der Heiligen Anna und Rochus sprechen sich sofort in der Gründung von Bruderschaften aus.

Im Jahre 1480 erhält beim Leonhardsstift die Elendenbruderschaft in der Ehre des hl. Jacobus eine neue Organisation. Was sie leistet, ist das Übliche in der gegenseitigen Fürsorge der Brüder bei Leibesnot, für Begräbnis und Seelenheil; aber hier ist diese Fürsorge um so wichtiger, da sie den Fremden und Heimatlosen zu Teil wird, insoweit sie der Bruderschaft angehören. Das sind „die Brüder am Graben, die Brüder auf dem Berg“ d. h. die Bewohner des Kohlenbergs, die fahrenden Leute, von denen schon die Rede gewesen. Neben ihnen gehören zum Verband auch Andre: Geistliche und Weltliche, Edle und Unedle, Reiche und Arme; das sind die „Brüder der Stadt Basel“. Als die Angesessenen, die Berechtigten und Gesicherten, oft die Begüterten sorgen sie in dieser Form für die „Elenden“. Beide Gruppen zusammen aber bilden die Bruderschaft; jährlich am St. Jacobstage, dem Tage der Kohlenbergkilbe, hat diese ihre durch ein Kammerrecht geordnete Versammlung; sie besitzt Haus und Stube auf dem Kohlenberg.

Vor dem Beispiele der Neugründungen suchen sich auch andre bejahrte Bruderschaften wieder zu verjüngen. Es kommt 1437 zur Erneuerung der Lucasbruderschaft, 1489 zur neuen „Fundation“ der Wolfgangbruderschaft, 1492 zu einer neuen Ordnung der Schildknechte, 1497 zur Reformation der Steinmetzenbruderschaft. Hieher gehört auch der von den Basler Hufschmieden mit dem Domkapitel 1488 geschlossene Vertrag, wonach die Opfer, die von den Fuhrleuten für Hilfe bei Krankheiten der Pferde und andern schweren Nöten und von den Hufschmieden beim ersten Beschlag von Pferden bisher an die St. Eligiuskirche „im Westerrich“ geschickt worden, von nun an dem Altar dieses Heiligen im Münster zufallen sollen.


Auf einen Altar, einen Kultus konzentriert sich das Leben der Bruderschaft. In ähnlicher Weise wirkt die Kraft eines ausschließlich geltenden Zieles bei Allem, was Wallfahrt heißt. Die Frömmigkeit zeigt sich hier [862] zuweilen über alles Konventionelle hinweg als leidenschaftliche Hingebung, als Erfüllung einer enthusiastisch oder verzweifelt übernommenen Pflicht. Am äußerlich grandiosesten jedenfalls in jenen sowohl kirchlich wie städtisch organisierten Massenwallfahrten, die in Zeiten allgemeiner Not stattfinden. Das sind die großen Züge der Basler in den Pestjahren 1439 nach Totmoos und nach Einsiedeln, 1463 nach Schöntal.

Im Leben des Einzelnen kann jedoch einer offiziellen Veranstaltung gegenüber diejenige Wallfahrt mehr bedeuten, die er aus eigenem Entschluß und um seiner selbst willen ausführt. Gerne würden wir Äußerungen solcher Wallfahrer über ihre Reisestimmung vernehmen. Aber die Schilderungen der Jerusalempilger Rot 1440 und 1453 und Eptingen 1460 lassen nichts erkennen, und die Druckergesellen Frobens, die 1517 von einer Wallfahrt nach San Jago reden, sind sichtlich mehr durch den Übermut getrieben als durch Devotion. Die Fahrt nach Jerusalem erscheint überhaupt selten nur als fromme Leistung, dagegen meist als Fahrt nach der Ritterschaft; sie ist ein standesgemäßes Unternehmen vornehmer Herren. Neben den Rot und Eptingen machen daher Heinrich von Ramstein 1429, Bernhard von Rotberg 1433, Henman Offenburg 1437, Hans Münch von Landskron 1454 diese Reise, andern Geistes jedenfalls der Münsterprediger Wilhelm Textoris 1476. Eine Sache für sich sodann ist das Pilgern aller Welt nach Rom. Den reinen Eindruck wirklicher Pilgerfahrt in die Ferne macht nur die Reise zum „wahren Sankt Jacob“, nach San Jago di Compostela, auf der wir z. B. 1466/67 die Köche des Bischofs Johann, 1499 den Hans Kilchman, 1509 den Silvester Bruckschlegel, 1510 den Hans Lux Iselin mit seinem Schwager Balthasar Hiltprand, 1516 den Mathis Münch von Münchenstein betreffen.

Das Charakteristische der Wallfahrt ist oft, daß sie unternommen wird, um ein in schwerer Stunde getanes Gelübde zu lösen. Was für ein Schicksal, welche Verzweiflung und welche Art von Glauben erzählt uns nicht die Geschichte des Jacob Heid, Sohnes des Basler Armbrusters: weil er sich mit einer Adligen vermählt hat, wird er fünfzehn Jahre lang zu Landeck im Breisgau im Kerker gehalten; da liegend, den einen Fuß in Eisen geschlossen, gelobt er Wallfahrten nach Einsiedeln, zu St. Beat, zum heiligen Sakrament bei Willisau, nach San Jago, zu den heiligen Drei Königen in Köln, nach Aachen, zum heiligen Blut in Seeland, zum fernen St. Jost, „damit die erwürdige Mutter Gottes samt andern lieben Heiligen ihn aus dem harten Gefängnis befreie“; jetzt 1490 ist er durch göttliche Gnade frei geworden und tritt alle diese Reisen an. Bußübung und Sühne [863] endlich ist die Wallfahrt des Niklaus von Eger, der in Basel Folterknecht gewesen ist, sich bekehrt hat und 1447 nach San Jago pilgert.

Aber erst was zu diesen Fahrten nach entlegenen Gnadenörtern hinzutritt, ist das eigentliche Wallfahrtswesen. Im Einzelnen kaum bezeugt, aber als Ganzes ein Hauptstück der Volksfrömmigkeit. Kein korrekt andächtiges Leben ist zu denken, zu dessen normalen und häufigen Leistungen nicht die Wallfahrt gehört. Nicht um jene fernen Orte handelt es sich meist, sondern um nahe. Vom Veitstanz Befallene suchen Heilung bei St. Valentin in Rufach, vom „bösen Geist Besessene“ bei St. Anstett; der augenkranke Heynlin hofft bei St. Ottilien zu genesen; und neben diesen Orten eines mit Heilkraft begabten Heiligen gelten die zahlreicheren Stätten der segensvollen und berühmten Andacht. Statt des einsamen Pilgers sehen wir den Wallfahrerzug und Schwarm, der sich zum Heiligtum, zum Gnadenbilde, zum Platze des geschehenen Wunders drängt. Jedes Mirakel ruft sogleich dem Strome der andächtig Neugierigen, und die Kirche selbst schreitet zuweilen dagegen ein, daß ihr Volk diesen Dingen bis in die Berge und Wälder nachläuft. Dies ganze, beinah alltägliche Wallfahrtstreiben entbehrt jedenfalls der jenen Pilgerreisen eigenen Größe der Sehnsucht und des Wagemutes. Was in ihm lebt, kann neben der glühendsten Andacht und der gehorsamsten Kirchlichkeit auch die unruhige Sucht nach dem Aufregenden, die Mode, die ganz äußerliche Freude am Leben auf der Wallfahrtstraße sein. St. Chrischona, die Himmelspforte, Eichsel MariazurEich bei Blotzheim St. Beatus St. Apollinaris Mariastein sind Orte, nach denen die Basler wallfahren, und gerade Mariastein, das erst in dieser Zeit von sich reden macht, ist ein Zeugnis dafür, wie die Kirche mit Geschick stets neue Einrichtungen zu inszenieren versteht und wie auch im Bestande der Gnadenorte frische Wirkungen an Stelle alter und abgebrauchter treten können. Andre Wallfahrtsziele sind Meltingen Säckingen Wittersdorf Thann, seit 1491 die heilige Eiche bei Drei Ähren. Nach dem ehrwürdigen Einsiedeln wird namentlich zum Feste der Engelweihe, alle sieben Jahre, gepilgert; hier läßt ein dankbarer Pilger aus Basel, der Tuchmann Heinrich von Schlierbach, bei der Wiederherstellung der 1465 ausgebrannten Gnadenkapelle das Chörlein oberhalb des Altars auf seine Kosten wölben und malen.

Verschieden von diesem Allem, ohne örtlichen Charakter, das Werk einer plötzlichen allgemeinen Ekstase, ist die große Kinderwallfahrt nach dem St. Michaelsberge in der Normandie. Im Dezember 1457 zieht ein Schwarm dieser Wallfahrer auch durch Basel; den von hier sich anschließenden Kindern gibt der Rat acht Aufseher und Hüter mit.

[864] Eine Anschauung, der in solcher Weise das Heilige und Ewige „an die Scholle gebunden“ erscheint, vermag überhaupt Körperliches und Seelisches merkwürdig zu mengen; es ist dieselbe Andacht, die an der Vorstellung von der Zartheit des Leichnams Christi, der Rosenfarbe seines Blutes sich erquickt. Ihr ganz unmittelbar dient die Kirche mit dem jetzt frisch belebten Reliquienwesen.

Vor Allem dadurch, daß solcher Besitz ihr selbst aufs neue zu einer Sache des Stolzes und des Wetteifers wird. St. Leonhard veranstaltet jährlich eine Ausstellung seines Reliquienreichtums und läßt 1504 deren Besuch durch Ablaß fördern. Auch bemüht sich die Kirche um neue Fassungen der Heiligtümer; daher Hans Bär dem Domkapitel kostbare Venediger Gläser für Monstranzen bringt, eine der Mägde der Sophie von Rotberg die Reliquienschreine der Karthause herrichtet, die Klingentaler Nonne Barbara Tagspergin 1520 ihre Silbergeschirre zur Einfassung von St. Euphrosynen Haupt bestimmt. Kostbare Behälter erhalten zu St. Theodor der Armknochen des Kirchenpatrons 1472, im Münster der Fuß eines unschuldigen Kindleins.

Wichtiger ist, wie diese Schätze an Heiltum jetzt gemehrt werden. Nicht auf die Weise des Berner Bäli. Sondern in der Form Rechtens, mit den besten Ausweisschriften, kommen Reliquien von allen Seiten nach Basel, ins Predigerkloster 1459 und 1464, in die Karthaus 1504, namentlich aber in die Zentralkirchen der beiden Städte. Zu St. Theodor ist auch hiebei Surgant der Tätige; 1474 erwirbt er Theodorsreliquien aus Bischofszell, 1491 bringt er Knochen der zehntausend Märtyrer aus dem römischen Campagnakloster Trefontane. Heiltum derselben Märtyrerschar schickt Papst Pius 1460 dem Münster; 1489 und 1494 erhält das Domkapitel Reliquien aus Sitten. Über das Interesse der einzelnen Kirche hinaus reicht die offizielle Reliquiendevotion. Schon um die Ottersburger Reliquien 1425 (je ein Haupt des hl. Claudius und eines der dreihundert Mauren) hatte sich der Rat beworben „zu Heil und Segen der ganzen Stadt Basel“; jetzt, da die Burgunderbeute geteilt wird, verlangt Basel auch von dem Heiltum, das ihm ein größerer Kriegsgewinn sein würde als Gold und Edelstein. So wird auch der berühmte Reliquienerwerb von 1474 zu einem Ereignis für die ganze Stadt. Im April d. J., gerade da die Kräfte sich zum Kampfe wider Herzog Karl sammeln, kommen in Solothurn vierunddreißig Gerippe zu Tage, die sofort als heilige Reste der thebäischen Märtyrer erklärt und zu St. Ursus beigesetzt werden; in schöner Weise erhebt sich Solothurn zu dem Entschlusse, dem oft angefeindeten Basel jetzt, in der [865] Stunde höchster Gefahr, einen Teil dieses kostbaren Fundes zu überlassen; am 2. Juni 1474 trifft der Transport hier ein und wird von der ganzen Einwohnerschaft empfangen.

Unverkennbar spricht bei vielen Reliquienunternehmungen dieser Zeit die antiquarische Liebhaberei mit. Solothurn grüßt in den Gebeinen der tapfern Thebäer seine Stadtheroen; die Sarkophage der Heiligen Germanus und Ursicinus, die 1477 und 1505 geöffnet werden, umschließen die Begründer des Glaubens in diesen Landen. Zu Szenen solcher Bedeutung kommt es in Basel selbst nicht. Dafür erlebt die Stadt auf ihrem heiligen Berge die Elevation der Gebeine von St. Chrischona. Schon Sebastian Brant feiert 1458 in prächtigem Hymnus die wundertätige Jungfrau; ihr Heiligtum auf der einsamen Höhe ist das Ziel der Wallfahrt vieler Pilger, die dort Hilfe suchen gegen ihre Leiden (Zahnweh Lähmungen usw.). Jetzt 1504 bringt Kardinal Peraudi die feierliche Bekräftigung dieses Kultus; am 17. Juni öffnet er, von einem großen Geleit umgeben und vor einer ungeheuren Volksmenge, den Sarg und erhöht die Gebeine der Heiligen in einem Schrein zur allgemeinen Verehrung. Das bei den Knochen liegende Haarnetz der Chrischona, ein Gewebe aus Seide und Goldfäden mit Perlen Juwelen und geschnittenen Steinen, wird durch Peraudi vom Berge weggenommen und unten in Basel dem Kloster Gnadental übergeben, wo es sofort an einer seit Langem gelähmten Nonne seine Heilkraft erweist.


Alle diese Gesinnung und Sehnsucht zusammenfassend und für ihre eigenen Zwecke, für ihre Macht und ihre Finanzen ausbeutend, ist die Kirche jetzt freigebiger als je mit Ablässen; zugleich erweitert sie das Ablaßsystem selbst durch neue Möglichkeiten und Formen der Indulgenz, in einer Weise, daß nur von Entartung des ursprünglichen Wesens der Straferleichterung gesprochen werden kann.

Im Raum weniger Jahrzehnte drängt sich nun auch für die Kirchen Basels und für die ihnen Untergebenen eine Fülle von Gnaden. Nur Vereinzeltes kann daraus genannt werden.

Vor Allem die große, auch auf ausdrückliches Verlangen des Rates geschehene Erweisung Pius II. an das Domstift: vollkommener Ablaß für Alle, die das Münster am Feste der Geburt Mariä und während der folgenden vierzehn Tage andächtig besuchen und an den Münsterbau Beiträge leisten. Der Papst erteilt diese Indulgenz im April 1460 und erneuert sie 1463, wieder auf drei Jahre. Vom eingehenden Geld ist der apostolischen Kammer ein Drittel für den Türkenkrieg abzutreten, und je ein Drittel [866] fallen an den Bischof und die Münsterfabrik. Dies die Bestimmungen; aber wie lebensvoll ihre Ausführung ist, wie von allen Seiten das Volk zum Ablaßtische sich drängt, wie diese „Fahrt der römischen Gnade“ mit ihrer plötzlichen Anhäufung von Fremden zu einer Angelegenheit der ganzen Stadt wird, zeigen deutlich die Ordonnanzen des Rates über Torhut Wachtdienst Löschdienst Straßenpolizei Einquartierung Geldwechselkurs. Was von dem Allem geblieben, ist die aus Indulgenzgeld angefertigte große Scheibenmonstranz des Basler Domschatzes mit dem Bilde des Pius.

Sodann ergreift die große allgemeine Aufregung des Jahres 1500, das vom unwürdigsten aller Päpste verkündigte Jubiläum und dessen Ablaß, auch Basel. Dieser Ablaß ist Denen verheißen, die nach Rom wallfahren, dort beichten und die sieben Basiliken besuchen; jetzt wird solche Gnade den Gläubigen in ihre Heimat gebracht. Der Ablaß kann auch in Basel gewonnen werden; das Steinenkloster erhält die „gnod und stacion der sieben houptkirchen Roms“, ebenso das Barfüßerkloster, ebenso das Predigerkloster. Auch für St. Theodor verlangt der Rat indulgentias stationum urbis Romæ. Überall in den Kirchen entfaltet sich dasselbe Bild: um die sieben geschmückten Altäre, deren jeder den Namen einer der römischen Kirchen trägt, um die Beichtstühle und um den Tisch mit der Kasse, wo der Papst „das Himmelreich verkauft“, drängt sich der ganze Oberrhein; es ist ein Marktgewühl trotz der Weihe des Kirchenraumes, trotz der Predigt und dem vom Lettner niedertönenden Gesänge. Befriedigt notiert der devote Kilchman in seinem Geschäftsbuche, daß 1510 zu St. Leonhard, 1510, 1513, 1514 zu St. Theodor „römische Gnade“ gewesen sei.


Was die Kirche dergestalt auf allen Gebieten ihres Lebens und Herrschens zu tun strebt, ist auf eindrückliche Weise in Bischof Caspar konzentriert. Dieser Fürst gibt damit seinem Bilde, das wir aus der politischen Geschichte kennen, neue Züge, ja eine gewisse Höhe. Er ist einer der Führer zur Devotion, rasch und heftig auch in diesen Dingen. Im selben Jahre 1488, da er für seine Geistlichen die prachtvolle Agende, ein Graduale und ein Brevier drucken läßt, verkündet er durch Urkunden vom 19. und 20. Mai Indulgenzen zu Gunsten des Münsterbaus und faßt dann diese in einem großen Erlaß vom 30. Mai nochmals zusammen, zugleich mit einer weitausgreifenden Ordnung für die Gabensammlung, das ganze Ablaßwesen der Münsterfabrik, die Baubruderschaft usw. Es ist die dokumentarische Verherrlichung der Münsterandacht, der höchsten und feierlichsten des ganzen Bistums, und einzelne Bestimmungen daraus, teilweise zur Verkündung an [867] die Gemeinden bestimmt, stellt Caspar seinem Diözesanklerus in gedruckter Ausfertigung zu. Rings um diese große umfassende Produktion des einen Jahres 1488 gruppiert sich eine temperamentvolle Legislative in den prächtigen Manifesten Caspars von 1482, 1485, 1490, 1491; sie geben Vorschriften über die Freitagmittagsandacht; den Gesang des Salve Regina; die Feier des Trinitatissonntags, des Fronleichnams, der visitatio und der conceptio Marie; die Verschiebung der Matutinenfeier an Mittwoch Donnerstag und Freitag der Karwoche von der Mitternacht auf die Abendstunde.


Dieser Regsamkeit der Kirche antwortet die Betätigung des Volkes, die aber zu beurteilen schwer fällt. Wir haben eine massenhaft sich äußernde Kirchlichkeit vor uns, ohne doch in dieser Menge eine starke einheitliche Macht sehen zu dürfen. Vielmehr umschließt sie die größte Mannigfaltigkeit von Verhältnissen des Einzelnen zur Kirche, wobei alle Abstufungen denkbar sind von der absoluten Herrschaft der Tradition über Glaube und Zweifel bis zu demjenigen Zustande, da sich vor der Autorität der Kirche „selbst starke innere Kritik und Beargwöhnung mit tatsächlicher Benützung des Instituts vertragen".

Als Zeichen von Religiosität darf die außerordentlich große Zahl der Andachts- und Gebetbücher gelten, die hier im Drucke verbreitet werden. Sie lassen ein Bedürfnis und die wirkliche Gewöhnung Vieler erkennen, und in der Tat bezeugt Surgant ausdrücklich, daß die Evangelien in deutscher Übersetzung von den Bürgern fleißig gelesen werden. Wir haben hiebei speziell an die Plenarien zu denken, welche die Evangelien und Episteln samt den Meßformularien auf alle Sonn- und Festtage enthielten; unter den zahlreichen Editionen dieser Bücher ausgezeichnet, sowohl durch typographische Schönheit als namentlich durch reiche Erweiterung des Inhaltes, waren die seit 1514 in Basel erscheinenden.

Aus der Ruhe solcher Lesestunden führt aber die Devotion unaufhörlich und unerbittlich hinaus in das mitteilsamere Leben der Bruderschaft, unter die Kanzeln, auf die Wallfahrt, vor die Reliquienschreine und den Tisch des Ablaßhändlers. Wie jenes Leben überhaupt, so ist die Volksfrömmigkeit jeder Erregung zugänglich und voll flimmernder Bewegung. Das Unruhige, stets eine neue Bekräftigung suchende Heilsverlangen führt bis zum Wunderbedürfnis und bis zur wirklichen Fähigkeit, auch das Übersinnliche zu schauen und das Unfaßbare zu erleben. Die meisten Wallfahrten gründen sich auf geschehene Mirakel. In der St. Albankirche steht [868] ein wunderkräftiges Bild der Madonna, das vom Volke viel besucht wird, und am Tage der Geburt Mariä 1465 zeigen sich in der Gerbergasse göttliche Gestalten vom Himmel herniedersteigend. Auch ein Heynlin zweifelt nicht an dem sichtbaren Mitleben der Himmlischen, besonders bei Begräbnissen kann man ihre Stimmen in vielstimmigem Chore hören, ihren Lichtglanz und ihren süßen Geruch wahrnehmen.

Den in solcher Weise disponierten Menschen bietet sich der mächtige Reichtum kirchlich-sakramentalen Lebens, der Kultus und die mannigfaltigste Gnadenmöglichkeit dar. Alle Formen dieses Wesens ist die Kirche auszugestalten bemüht; auch durch Mittel, die Sinne und Phantasie überwältigen, will sie die Gläubigen gewinnen, ihre Herrschaft über die Seelen befestigen.

Im Einzelnen mag dabei das asketische Ideal früherer Zeiten immer noch, da und dort, Geltung haben. Im Allgemeinen aber ist seine Reinheit getrübt und seine Kraft gebrochen, und wir nehmen deutlich wahr, wie die Hochschätzung der Askese jetzt zurücktritt vor der Bedeutung des Kultus.

Schon das eine Faktum ist bezeichnend, daß jetzt die „Butterbriefe“ Übung werden, jene zahlreichen Privilegien, mit denen die Kirche den Gläubigen die Möglichkeit gibt, sich durch eine Zahlung den Fettgenuß in der Fastenzeit zu erkaufen.

Namentlich aber werden wir aufmerksam auf die Stellung, die das Schenken und Stiften jetzt im Wesen der Devotion einnimmt.

Opferfreudigkeit und das sichere Vertrauen auf die Kraft guter Werke beherrschen das Verhältnis zur Kirche nicht mehr wie früher. Seit der Mitte des XIV. Jahrhunderts beginnt die Abnahme der frommen Vergabungen. Wie die Petersherren 1430 über das Erschöpftsein der Caritas klagten, so das Domkapitel 1453, und auch Bischof Caspar redet davon, wie erkaltet die Liebe der Gläubigen sei. In der Tat sehen wir jetzt nichts mehr von der imponierenden Masse und Regelmäßigkeit jener alten Donationen; der große durchschnittliche Zustand fehlt, und statt seiner haben wir nur noch einzelne Leistungen vor uns, die aber in ihrer Art ausgezeichnet sind durch eine individuelle ungewöhnliche Art der Devotion und in ihrer äußern Bezeugung zuweilen durch eine ergreifende Sprache der Leidenschaft und Inbrunst.

In der Reihe dieser neuen Donatoren steht zuvorderst Sophie von Rotberg. Durch den Tod Burchard Zibols verwitwet, noch jung, von strahlender Schönheit und reich, schließt sie gleichwohl keine zweite Ehe, geht aber auch nicht ins Kloster. In völlig freier, vornehmer Weise gibt diese denkwürdige Frau, Tochter des Bürgermeisters Hans Ludman und Schwester [869] des Bischofs Arnold von Rotberg, ihr Leben den guten Werken. Überall stoßen wir auf Erwähnungen ihrer Freigebigkeit. Zu Predigern stiftet sie die Jahrzeit und ein ewiges Licht; sie spendet an die Elendenherberge, an den Münsterbau und an den Bau des Klingentalklosters; sie macht Vergabungen nach Unterlinden und Schönensteinbach; bei den Geräten der Elisabethenkapelle steht eine Monstranz mit den Wappenschilden Rotberg und Zibol. Namentlich aber in der Fürsorge für die Karthause tritt sie das Erbe Zibols in großartigem Sinne an; so reich gibt sie, daß sie den Ehrentitel einer Gründerin des Klosters erhält. Dann aber, vielleicht durch den Tod ihres einzigen Kindes Ursula 1442 in die Stille getrieben, wendet sie alle Kraft und Güte dem Steinenkloster zu und nimmt hier Wohnung. Die Bücher und Urkunden des Klosters bezeugen nicht nur die ganz ungewöhnlich große Munifizenz; ansprechender noch ist die persönliche Teilnahme, das treubesorgte Verbundensein. „Unsere liebe getrüwe muter“, nennen sie die dankbaren Nonnen; bei ihnen stirbt sie nach langem Kranksein 1478.

Wohltäterin großen Stils ist auch die Margaretha Brand-Lostorf, mit Vergabungen an St. Andreas und die Karthaus und mit der Stiftung eines Stipendiums für einen Theologiestudenten.

Als Erbauer von Kapellen melden sich Mathis Eberler, der 1487 die Marienkapelle zu St. Peter stiftet, und Hieronymus Bär, der 1516 den Neubau von St. Elisabeth bestreitet; als großer, nach vielen Seiten mildtätiger Testator Jacob Waltenheim.

Wie überall bei den spätern Devotionszuständen ist auch hier die Sippe Kilchman zu nennen. Von der Vergabung Ludwigs 1484 an St. Theodor mit ihren fast seltsamen Einzelheiten und ausgeklügelten Zeremonien bis zu dem Testament, mit dem der Letzte des Geschlechtes 1521 eine Elendenherberge stiftet, sehen wir eine ununterbrochene Leistung von Donatoren, die neben dem Großartigen auch das Feine und das Kleine schätzen und sich gern in eigenen Spezialitäten ergehen.

Bei den Vergabungen des Morand von Brunn denken wir zunächst weniger an die um den ewigen Lohn sich mühende Werkheiligkeit, als an junkerliche Prunksucht sowie an ein Wohlwollen, das den Beschenkten Freude bereiten will. Dies gilt namentlich von den Gaben Morands an die Karthause, die alle Skalen durchlaufen von der großen Summe zum Bau bis zu den Nachthauben der Mönche und vom Glasgemälde bis zur Spende an die Armen. Persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen wirken hier überall mit, während bei den gleichzeitigen Erweisungen an St. Peter [870] das Devotionelle stärker zu Tage tritt. Die gewaltige Stiftung von 1500, die hier den schon mit Salvegesang belegten hundertsechsundsechzig Tagen noch hundertneunundneunzig hinzufügt und so diese Feier zu einer alltäglichen durchs ganze Jahr macht, und dann die letztwillige Verfügung von 1502 (Seelamt mit sechzig zelebrierenden Priestern, Schmuck der Bahre mit Goldtuch, Geläute von allen Türmen der Stadt usw.) zeigen, welche Veranstaltungen voll Glanz und Klang jetzt zu Stande kommen können. Der gutmütige, etwas stumpf blickende Mann, wie das Porträt ihn uns zeigt, glaubt sein Bestes zu tun; er stellt Alles, auch den äußersten Festpomp, unter den schwärmerisch erflehten Segen der Himmelskönigin und läßt sein Geld samt seiner Frömmigkeit vor der ganzen Stadt paradieren. Nach ihm erhebt sich die Witwe nochmals zu einer großen Leistung, diesmal im Domstift, 1514, mit Bau und Dotierung eines Prachtaltars im Kreuzgang und zugleich mit der schön motivierten Stiftung eines theologischen Stipendiums: „da in dieser Zeit der Pilgerschaft nichts nützer und nötiger ist als die zu der Seelen Heil dienende Lehre, die doch durch nichts besser beschehen mag als durch die heilige Schrift und Die, so sich darin zu lehren geübt haben, und zum höchsten da, wo die löblichen hohen Schulen sind.“

Außer diesen großen Gaben verdienen einige kleinere unsre Aufmerksamkeit, weil auch sie Eigenart und persönliche Liebhaberei zeigen. So etwa die Stiftungen der Kaufleute Krebs und Wiß. Oder die der spätern Zeit eigenen Frühmeßstiftungen, die den Arbeitern ermöglichen sollen, ihr Tagwerk mit Gottesdienst zu beginnen. Eine fürsorgende Gesinnung für Viele zeigt sich auch in den Feiern, die jetzt wiederholt gestiftet werden: zu Trost und Hilf aller Seelen im Fegefeuer, für die vergessenen Elenden die sonst keinen Gedächtnistag und keine Jahrzeit haben, für die allenthalben im Frieden ruhenden Gläubigen.


Neben dem verminderten und zugleich etwas preziös gewordenen privaten Stiftungswesen dauern die ruhigen alten Bezeugungen offizieller Devotion fort: die Ratsandachten zu Weihnacht und am Karfreitag, das Aufstellen von Kruzifixen vor den Toren, die Veranstaltung von Bittgängen. Auch an die Stiftung der Sebastianskaplanei zu Augustinern 1439, an die Einführung des Kreuzweisbetens, an die Verwendung für die Theodulsreliquien 1489 u. dgl. m. erinnern wir. In der Gnadenkapelle zu Einsiedeln hat Basel seine Standeskerze, und 1466 wird im Rate davon geredet, „uf ein sundern tag unsere liebe frow ze eren.“

[871] In bemerkenswerter Weise regt sich nun aber über dies Traditionelle der amtlichen Devotion hinaus eine mit Bestimmtheit formulierte neue Gesinnung. Zum ersten Male zu Ende der 1450er Jahre bekennt sich der Rat in offizieller Weise zur Ansicht, daß „einer jeden Stadt Regiment zunächst dazu gestiftet sei, Gottes Ehre zu äufnen und zu fundieren und allem Unrecht und besonders grober Sünde und Missetat nach Ordnung der heiligen Christenheit zu wehren.“ Diese Anschauung führt jetzt den Rat zu einer eingreifenden Tätigkeit für Besserung der Sitten und Bekämpfung aller Laster. Die Behörde, die sich bis dahin nur um die Wahrung des Stadtfriedens zu kümmern hatte, erhält ein neues Gebiet ihrer Berechtigung, aber auch ihrer Fürsorge. Ihre Befehle und Strafandrohungen wenden sich fortan auch wider die Gotteslästerung, die Schändung der Feiertage, den Ehebruch, das Spiel, die Üppigkeiten aller Art.

Aber wie der Rat nunmehr auf dem bisher der Kirche anheimgegebenen Gebiete der Sittenpolizei eigene Interessen zu haben erkennt und diese geltend macht, so verfährt er in gleicher Weise auch auf andern Gebieten.

Wir erinnern uns an das über Wohltätigkeit Spenden Herbergen usw. Vernommene; die weltliche Macht tritt jetzt auch diesen Gegenständen näher und gibt ihnen, die als Werke der Caritas entstanden sind, den überwiegenden Charakter von Instituten städtischer Wohlfahrtspolizei.

Noch einschneidender in kirchliches Recht und Leben ist weiterhin, was als Amortisationsgesetzgebung des Rates zu Stande kommt. Diese will der Kirche, die ihre Erwerbsfreiheit und Erwerbsfähigkeit mit allen Mitteln, auch solchen höchster Art, zu fördern im Stande ist und zur gleichen Zeit ihr Gut als unveräußerlich erklärt, den Vermögenserwerb erschweren. Sie will verhindern, daß große Werte dem allgemeinen Umsatz verloren gehen und „der Griff der toten Hand den freien Güterverkehr unterbindet.“

Wichtige und umfassende Komplexe von Recht Macht und Tätigkeit sehen wir auf diesen Wegen aus dem Bereiche der Kirche in denjenigen der weltlichen Gewalt übergehen. Als Stücke des öffentlichen Regimentes werden sie in einem andern Zusammenhange näher zu betrachten sein.

Mit religiöser Gesinnung, mit dem Verhältnisse des Einzelnen oder der Gesellschaft zur Kirche, mit dem Wesen und Werden der kirchlichen Institutionen selbst hat freilich dies Ablösen oder Wegdrängen bisheriger Befugnisse nichts zu tun. Es ist ein Vorgang, dessen Bedeutung wir nur verstehen in Gedanken an allgemeine Entwickelungen.

Achten wir auf diese, so sehen wir zunächst eine lediglich kühle und sachliche Anwendung derjenigen Kraft am Werke, die vom staatlichen Leben [872] kommt. Die weltliche Macht, die souverän und stark geworden, greift ohne Weiteres in einer vom Begriff ihrer Souveränität nicht mehr zu trennenden Funktion auch auf bisherige Herrschaftsgebiete der Kirche.

Was hinzutritt und sich an dieser Umwälzung beteiligt, ist ein durch geistige und nationale Anschauungen bestimmter, dem Gebaren der Kirche widerstrebender Wille. Neben Staatsgedanken und Staatsinteressen regt sich der Stolz der vom Kosmopolitismus der römischen Kirche immer bemühter sich sondernden Nationalität, erhebt sich eine freiere Betrachtung zeitlicher und ewiger Dinge, meldet sich nun auch die Opposition des durch Steuer- und Gebührenforderungen, durch Kurtisanen, durch Begünstigung der Mendikanten usw. geplagten und gereizten Klerus.

All dies zusammen führt den „unsterblichen Kampf“ weltlicher und kirchlicher Macht auf seine Höhe. Im großen Schisma tief verwundet, durch die Konzilien in der Existenz bedroht, hat Rom nicht allein wiederholt sich der Hilfe des weltlichen Armes bei Klosterreformationen u. a. bedient, sondern namentlich, um das Basler Konzil zu sprengen, Zugeständnisse gemacht, die große Territorien und deren Kirchen von der römischen Zentralgewalt emanzipieren. Aber dann beginnt der Kampf aufs Neue. Einer weitverbreiteten Auflehnung wider das Imperium der Kirche tritt diese selbst jetzt entgegen. Wie verjüngt und vom Geiste mächtiger Regenerationsabsichten erfüllt, sucht sie in ihrem Absolutismus Dasjenige wieder zu gewinnen, was ihr durch jene Kompromisse und Konzessionen verloren gegangen ist.

In diesem weithin und mächtig bewegten Komplexe steht auch das Leben Basels. Es ist dieselbe Welt und dieselbe Stimmung.

Jene Streitigkeiten über Forum Steuerpflicht Immunität usw. offenbaren den die weltliche Gewalt gleich einer hohen und ewigen Notwendigkeit vorwärtstreibenden Willen, Herr zu sein über Jeden in der Stadtmauer, kein Privileg hier zu dulden und keine Exemtion. Auch in einzelnen Parochieen lebt eine merkwürdige Selbständigkeit der kleinen Laiengemeinden gegenüber der großen Kirche; ja im Streit um die Begräbnisgelder wird zuletzt diese Angelegenheit zu einer Sache ausschließlich der Gemeinden und ihrer Pfarreien unter völliger Ausschaltung der Mendikanten. Die Pflegereien des Rates, seine fast gewaltsame Tätigkeit im Beginensturm und bei den Reformationen der Klöster, seine Amortisationsgesetzgebung, sein Verbot der Einklosterung Unmündiger 1489 zeigen ihn dazu entschlossen, allen Glatzen zum Trotz Rechte und Pflichten des Stadtherrn zu üben. Im Herbste 1458 bemüht er sich, um den Baslern die umständliche und teure Appellation [873] von Urteilen des Offizials nach Besançon oder Rom zu ersparen, um Schaffung einer Instanz in Basel und nimmt dafür bezeichnenderweise die pax Constancie des Barbarossa d. h. die im Frieden Kaiser Friedrichs mit dem Lombardenbunde 1183 gemachte Ordnung der Appellationen als Muster. Er schützt seine Einwohnerschaft, ihr Vermögen, ihre Familie vor kirchlicher Übermacht; er will aber auch diese Kirche schützen, soweit sie Basler Kirche ist, und für Zucht in ihrem Auftreten, für Ordnung und Sicherheit ihres Haushaltes sorgen; er nennt sich, sogar dem hohen Domstift gegenüber, ihren Schutzherrn, ihren Kastvogt. An Stelle der Koordination der beiden Gewalten soll die Einordnung des kirchlichen Lebens in das staatliche treten.

Gewaltig aber wächst die Bedeutung dieses Handelns dadurch, daß es nur Teil einer allgemeinen Bewegung ist, daß derselbe Rat, der zu Hause Herr sein will, zur gleichen Zeit durch seine Gesandten auf den Reichstagen mitarbeitet und die deutsche Nation mitvertritt bei den gravamina wider Rom. Gegen die Übergriffe päpstlicher Jurisdiktion, gegen das ganze System der Pfründenvergebung, gegen die Besteuerung durch die römischen Behörden richteten sich diese Beschwerden; ihr tiefstes Leben aber und ihre Leidenschaft erhielten sie durch den nationalen Haß wider die unredlichen habsüchtigen und Deutschland verachtenden Wälschen.

Wie nun umgeben von solchen Bewegungen der Klerus in Basel selbst sich benimmt, ist ein fesselndes Schauspiel. Als städtischer Klerus hat er unverkennbar ein Sonderwesen. Lebendig, reich an Wechsel spricht sich sein Verhältnis zu Rat und Einwohnerschaft bei den Konflikten aus, welche die Stadt mit Bischof oder römischer Kurie zu bestehen hat, zumal in den Zeiten von Interdikt. Wiederholt sehen wir den Klerus (mit Ausnahme der Barfüßer und der diesen zugeteilten Klarissen) zum Rate halten, seinen Appellationen sich anschließen, das von Rom befohlene Interdikt nicht beobachten. Er tut dies wohl zum Teil aus braver städtischer Gesinnung, daneben gewiß auch aus Freude des Opponierens wider die kirchlichen Obern, überdies aber unter dem Druck einer öffentlichen Meinung und im Gedanken an den Träger dieser Meinung, nämlich die Volksmenge, die communitas aliqualiter grossa et tamen proba, vor deren Ungeberdigkeit und Grobheit der Rat selbst gelegentlich warnen muß.

Bisweilen ist bei solchen Verhandlungen geradezu von einer unio des Klerus mit der Stadt die Rede, wobei wir aber nicht an einen formulierten Verband oder Bund zu denken haben. Diese unio ist das Umschlossensein von derselben Mauer, das munizipale Gefühl, das Aufeinanderangewiesensein [874] keineswegs nur in leiblichen Dingen, das Nebeneinanderleben und -arbeiten für denselben Zweck: das Wohl des Gemeinwesens.

Dem entspricht auch das schonende Verhalten des Rates in Steuer-, Zins-, Amortisationsfragen usw.; der Klerus ist ihm der Klerus seiner Stadt; er hat einen solchen ihm zur Seite stehenden, bei Gelegenheit auch den kirchlichen Gehorsam weigernden Klerus nötig. Daher in diesen Jahrzehnten der Sorge und des Kampfes öfters im Rate gefragt wird, wessen man sich zur Priesterschaft versehen könne. Einen Klerus nach seinem Wohlgefallen findet der Rat z. B. im Juli 1462, da er von dem Befehle des Papstes, in der Mainzer Bistumsfehde dem Adolf von Nassau beizustehen, die Appellation erklärt und die gesamte städtische Geistlichkeit (mit Ausnahme der Barfüßer) sich auf seine Seite stellt.

Dabei sieht und hört dieser Basler Klerus natürlich Alles, was in der weiten Kirche geschieht und was seine Genossen draußen im Reiche tun. Nicht nur im Rathause wird von diesen Dingen geredet, sondern auch in den Pfarrhäusern, den Kapitelsälen, den Stuben der Kapläne. Daher die Äußerungen Knebels über den unersättlichen Pfründenjäger Georg Hesler, über die maßlosen römischen Reservationen, über den Bund der deutschen Bischöfe und Prälaten zur Abwehr solcher Willkür. Aber auch den Bischof sehen wir seine Rechte wahren und selbständig vorgehen gegenüber der römischen Verwaltungspraxis, und wie freimütig beurteilt selbst der kleine Domkaplan Blauenstein die Päpste seiner Zeit.

Es sind Gesinnungen, die schon frühe, schon im XIII. und XIV. Jahrhundert, die Basler Geistlichkeit zur Opposition wider päpstliche Steuerforderungen gebracht haben. Gleichen Geistes sehen wir sie jetzt an den Verhandlungen des deutschen Klerus teilnehmen, der sich 1487 gegen den von Papst Innocenz geforderten Kreuzzugszehnten erhebt und auf einem Provinzialkonzil zu Mainz diese Opposition formuliert. Zur selben Zeit, da auch die Reichsstände, unter ihnen die Stadt Basel, am Nürnberger Tag Aufhebung dieses Zehnten begehren. Mit dem Rate verhandeln zu Hause auch Domkapitel und Peterskapitel wegen dieser Sache; sie verlangen seine Hilfe.

Der zu Mainz versammelte Klerus schließt seine Beschwerde mit der Erklärung, daß er, wenn Papst Innocenz auf seinem Willen beharre, an einen besser informierten Papst oder an ein künftiges Konzil appellieren werde.


Die in solcher Weise den oft zitierten und stets gewaltigen Schatten des Konzils heraufbeschworen, konnten daran denken, daß wenige Jahre [875] vorher die Konzilsidee beinahe Wirklichkeit erlangt hatte und zwar in demselben Basel, wo der Hall der letzten Reden und Tritte des großen Parlamentes noch kaum erstorben war.

Die Erinnerung an dieses Basler Konzil und die Annahme, daß es sich lediglich um ein Fortsetzen seiner Arbeit handle, wirkte wie eine Suggestion. Aber auch abgesehen von diesen Reminiszenzen waren es die Eigenart und die unvergleichliche Lage der Stadt, die auch jetzt wieder die Konzilsmöglichkeit nur an diesem einen Orte finden ließ. Und wie waren dessen Wert und Ruhm noch gewachsen durch die seitdem eröffnete Universität!

Als Verkündiger des neuen Basler Konzils trat der Slawe Andreas Zamometiç auf, Titularerzbischof von Granea unweit Saloniki, in den Akten der Zeit Erzbischof von Krain, Crainensis, geheißen. Daneben nannte er sich Kardinal von San Sisto, sowie Fürsten des Reiches und kaiserlichen Rat und Gesandten.

Im Glanze dieser Würden erschien er hier, geheimnisvoll und plötzlich, auf seinen Lippen das Allen willkommene Zauberwort Konzil. Er proklamierte dies Konzil am 25. März 1482 an der feierlichsten Stätte Basels, im Chore des Münsters, nach vollbrachtem Hochamt. In Gegenwart zahlreichen Volkes, aber noch ohne Wissen des Rates. Dieser erhielt erst folgenden Tags durch Andreas offizielle Mitteilung von dem Vorhaben.

Der Konzilsverkündiger würde zu allen Zeiten eine mit Arbeit und Sorge schwer belastete Stadtbehörde vorgefunden haben; jetzt traf er in eine der schlimmsten Krisen. Die Händel mit Eptingen und Tierstein, die Münchensteiner Gefahr, die Aufregungen des Klingentaler Reformationsgeschäftes hielten den Rat in Atem. Trotz den durch Alles hindurchgehenden innern Unruhen der Republik, den unaufhörlichen Erschütterungen des Ratsbestandes, den wirtschaftlichen und politischen Parteiungen mußte der gewaltige Kampf mit Bischof Caspar um die Herrschaft ausgefochten werden, und einer Katastrophe gleich brach gerade in diesen Wochen die Kunde vom Bischoffischen Komplott über die Herren des Regimentes herein. Bei solchen Zuständen ist begreiflich, daß zunächst von Seiten des Rates nichts Bestimmtes in der Sache des Andreas geschah. Vielleicht nahm er, durch so manchen im Laufe der Jahre an seine Türe klopfenden Abenteurer mißtrauisch gemacht, zunächst diesen Fremden nicht sehr ernst, der so unvermittelt den riskierten Plan eines Konzils brachte und mit bösen Reden über Papst und Kurie wohl schon jetzt nicht zurückhielt. Der Rat ließ ihn einstweilen gewähren, zog aber Erkundigungen ein und korrespondierte namentlich mit Bern, wohin sich Andreas in diesen Tagen ebenfalls begeben [876] hatte. Bern gab gute Auskunft, und da der Rat auch Einblick in die Empfehlungsschreiben von Fürsten und Städten erhielt, die Andreas in Händen hatte, so erteilte er diesem am 1. Mai Sicherheit und Geleite. Es war eine Unterstützung, die dem fast allgemeinen Willen der Einwohnerschaft und einem Beschlusse des Großen Rates entsprach. Volk und Behörden dachten natürlich an das bonum utile, an den Nutzen, den ein Konzil der Stadt bringen konnte; daneben aber bezeugte der Rat auch, wohl aufrichtigen Sinnes, daß er mit Förderung der Konzilssache sowohl dem Besten der Kirche und der Christenheit zu dienen glaube, als der Ehre und dem Wohle gemeiner deutscher Nation.

Die Konzilssache war in der Tat kein Traktandum nur der Basler Behörde, sondern eine große Angelegenheit der Kirche und der Welt. Was für Mächte standen hinter Andreas und welchen Aufträgen diente er? Welche Pläne Wünsche und Hoffnungen stärkte oder weckte er? Wir erfahren es nicht. Aber was uns deutlich und mit aller Kraft entgegentritt, ist das gewaltig lebendige Interesse zahlloser Zuschauer, ist die Erregung und Leidenschaft der zunächst Beteiligten und Betroffenen. Vor Allen Roms, das den Zamometiç von seinen Gesandtschaften her zur Genüge kannte und jetzt zornig bereuen mochte, ihn vor einem Jahre mit unzeitiger Milde aus dem Kerker der Engelsburg entlassen zu haben. Gerade im Frühjahr 1482 war die politische Lage des Papsttums äußerst bedrängt, und bei der großen Gefahr, die das Zustandekommen eines Konzils schuf, mußte Sixtus trachten, diesen Gegner so rasch als möglich unschädlich zu machen.

Am 27. April befahl er dem Bischof und Domkapitel von Basel die Verhaftung des Andreas und trug zugleich dem Rate auf, Jenen hiebei Hilfe zu leisten; am 7. Juni stand der Gesandte des Papstes vor den Ratsherren und verlangte die Auslieferung; der Rat wies ihn mit seinem Begehren ab unter Berufung auf das von ihm dem Andreas gegebene Schirmversprechen.

Und nun drängte sich in wenigen heißen Sommermonaten Alles zusammen: Unterhandlungen des Andreas nach allen Seiten hin; die Veröffentlichung seiner Konzilsproklamation, seiner Thesen zur Begründung des Konzils, seiner Einladung zu dessen Besuch; die förmliche Zitation des Sixtus nach Basel vor „das hier versammelte und durch Andreas präsidierte Konzil“; dann aber auch Schreiben des Kaisers und des Papstes, Hin- und Herreisen der Diplomaten u. dgl. m. Daß die größten Dinge auf dem Spiele standen, die mannigfaltigsten Interessen kirchlichen Rechtes, politischer Macht und persönlicher Leidenschaften sich trafen und mengten, die beiden [877] Hauptgegner einander in der erregtesten Hast suchten, gibt der Erscheinung dieses kurzen aber heftigen Kampfes ihre unvergleichliche Wirkung. Jetzt sehen wir den heiligen Vater die wahren und wirksamen Nuntiaturen bestellen, nachdem die Basler jenen ersten Boten Hugo von Landenberg unverrichteter Dinge und nicht ohne Spott hatten abziehen lassen. Und während diese Bevollmächtigten — die Kluniazenserprioren Peter von Kettenheim und Anton de la Roche, die Minoriten Antonius Gratiadei und Emerich von Kemel, der Bischof Angelus von Sessa — Einer nach dem Andern die Reise antraten und unterwegs waren, ließ zu Basel Andreas seine tönenden Manifeste in die Welt ausgehen. Schriftstücke von unerhörter Schonungslosigkeit und Schärfe der Rede. Was er da vorbrachte über den Verfall der Kirche und das Konzil als das einzige Heilmittel, mochte noch hingehen; dann aber wendet er sich voll Zornes an den heiligen Vater selbst. Nicht wider den Papst streitet Andreas, sondern gegen den zeitigen, ganz unwürdigen Inhaber dieses heiligen Amtes; nicht wider Sixtus IV., sondern gegen den Menschen Franz von Savona, diesen Sohn des Teufels, diesen Feind aller Gerechtigkeit, der zu seiner Würde nur durch Simonie gelangt ist, der mit Pfründen Wucher treibt, seine Nepoten bereichert, die Laster begünstigt, die Ablaßgelder verschwendet usw.

Es waren Beleidigungen eines Mannes, der solcher Aufreizung wahrlich nicht mehr bedurfte, sondern schon vorher seine Meinung über Andreas deutlich genug gesagt und namentlich auch seine Maßregeln getroffen hatte. Für Papst Sixtus war dieser Erzbischof von Granea nichts Anderes mehr als ein Ketzer Fälscher und Gotteslästerer, ein vom Leibe der Kirche getrenntes, unnützes und faules Glied, seiner Würden entsetzt und zu Strafe verurteilt. Schon im Mai hatte er dem Barfüßer Emerich von Kemel befohlen, sich um Festnahme des Andreas zu bemühen; dieser sollte in irgend einen Klosterkerker geworfen werden und nur Wasser und Brot, jeden Tag in kleineren Portionen, erhalten, bis er sein Verbrechen gebüßt habe.

Aber noch war Andreas frei, und das Verlangen des Papstes ging immerfort darauf, diesen Apostaten und Lästerer in seine Gewalt zu bekommen. Hiefür warb er unaufhörlich Häscher, gab er Aufträge an Burchard Stör, die Berner, den Erzherzog Sigmund usw.; hiefür sandte er die Nuntien an den Kaiserhof, vor Allem aber ins Basler Rathaus. Und als nun hier der Rat allen Drohungen und Mahnungen zum Trotz die Herausgabe verweigerte, folgten die Schläge, die nicht mehr den Andreas, sondern Basel trafen.

[878] Denn wir sehen mit Verwunderung, wie schon jetzt im Herbst 1482 vom Konzil selbst kaum mehr die Rede und die Hauptgefahr für Rom vorüber war.

Wenn der so feierlich geschehenen Ankündigung auch eine tatsächliche Ausführung folgen sollte, so mußten noch andere Stimmen laut werden, als die des Zamometiç, und ganz anders geartete Mächte und Kräfte sich zur Sache bekennen. Aber Solches geschah nicht. Konzilslust mochte allenthalben zur Genüge vorhanden sein; aber Derjenige, der jetzt sich des Unternehmens angenommen, war seiner in keiner Weise gewachsen noch würdig. Gleich den Bernern, die sich schon beizeiten von Andreas zurückgezogen, handelten Andre, auch Solche, die ihm etwa einmal mehr oder minder behutsam zugestimmt oder sein Projekt als ihnen förderlich begrüßt hatten. Frankreich blieb ganz untätig, desgleichen Neapel; Lorenzo Medici und der Mailänder Herzog begnügten sich damit, in den Personen des Baccio Ugolini und des Gian Pietro Pietrasanta Agenten und Beobachter in Basel zu unterhalten. Die allerbitterste und verhängnisvollste Enttäuschung aber erlebte Andreas an Kaiser Friedrich, der freilich schon zu Beginn der Sache sich möglichst reserviert und unbestimmt geäußert hatte, jetzt aber im Oktober den inzwischen unrettbar kompromittierten Andreas völlig hinwegstieß, ja der Fälschung und Majestätsbeleidigung bezichtigte. Das einzige Gute war noch der Befehl an Basel, ohne kaiserliche Verfügung nichts in der Sache zu tun.

Seit jenem Auftreten im Münsterchor war nur ein halbes Jahr verflossen und schon jetzt gab es keine bestimmten Aussichten mehr für Andreas. Dazu empfand er rein menschlich die trostlose Verlassenheit eines Fremdlings.

Wie ringsum in Kirche und Fürstentümern sich Niemand für ihn regte, so auch in Basel selbst, wo er ohne Freunde war und den obrigkeitlichen Schutz wie ein Almosen empfing. Er lebte in einer Einsamkeit, die ihm selbst oft bange machen und ihn dann zu den wildesten Ausbrüchen und Schmähungen treiben mochte. In all seinen Invektiven Proklamationen Manifesten lebt und atmet vor Allem der Haß, die Rachsucht eines schwergekränkten Ehrgeizigen, die privata indignatio, die seine Gegner sofort als seine Schwäche erkannten; auch sein Abscheu vor römischen Zuständen, sein Verlangen nach einer gebesserten Kirche schien mehr den Personen zu gelten als der Sache. Wenn wir vollends den Gedanken nicht los werden können, daß er vielfach die klägliche Rolle eines Werkzeuges Anderer gespielt habe, so schwindet jede tiefere Teilnahme für den unglücklichen [879] Mann. Um so näher geht uns die Not, mit der sich Basel um seinetwillen belud.

Die Stadt, die den Herzog Karl besiegt, den Adel gedemütigt, den Bischof um Macht und Herrschaft gebracht hatte, kämpfte jetzt mit der römischen Kurie und unterlag. Nirgends sonst in ihren Akten werden alle Gebarungen und Möglichkeiten der kurialen Diplomatie so sichtbar wie hier. Eine Flut von Bullen und Breven ergoß sich, als gäbe es für den Vatikan außer diesem Basler Geschäft keine andere Sorge; und dessen Bedeutung zeigt sich auch in der Entsendung zahlreicher Vertreter und Agenten. Wie diese Männer ausgewählt wurden, wie ihre Instruktionen lauteten, wie sie zur Deckung ihrer Auslagen mit einträglichen Vollmachten für Ablaßverkündung Notarkreierung Dispenserteilung usw. versehen wurden, wie der Eine vom Andern isoliert wurde bis zum geheimen gegenseitigen Überwachungs­ und Desavouierungsauftrag, offenbarte sich eine Kunst der Geschäftsführung, die derjenigen Basels von vornherein überlegen war. Im Einzelnen zeigt uns der Verkehr manches Lebendige: der Basler Rat charakterisiert in ganz offizieller Weise den Peter von Kettenheim als einen ehrgeizigen verlogenen unverschämten Menschen; den Bischof Angelus von Sessa als einen bösartigen Starrkopf, der den Geschäften des Papstes mehr schadet als nützt, die Ratsglieder beleidigt usw. Wenn sich die Nuntien in solcher Weise benahmen, so mochte der Rat ihnen etwa mit derselben Derbheit entgegentreten, mit der er den ersten Gesandten, den Hugo von Landenberg, einen Stallknecht genannt hatte. Aber nichts Kleines war es für die Basler, vom heiligen Vater selbst die Vorwürfe vernehmen zu müssen, daß ihr Benehmen ein freches sei, daß sie in die Tiefen der Sünden versunken seien, ohne Furcht Gottes und eines verhärteten Herzens wie dasjenige Pharaos war. Daß der Rat Gutachten seiner Universität einholt und daß sich sämtliche Parteien nun für ihre Erlasse der modernen Reproduktionskunst bedienen, zeigt, wie die Zeit gewachsen ist und neue Formen darbietet. Alles wird in die Presse gegeben: Bullen Zitationen Appellationen Manifeste usw. In Basel und ringsum in den Landen tragen alle Kirchtüren diese Blätter; wo die Nuntien ihre Interdiktsbefehle u. dgl. anhefteten, läßt sofort der Rat seine Appellation daneben nageln. Fesselnd aber ist auch jetzt die Weite der Beziehungen, das Zusammentreffen der Kräfte aller Welt und ihrer Kabinette an diesem einen Orte Basel, beinahe wie zur Zeit des Konzils. Daher auch jetzt wieder, angesichts dieser allgemeinen Spannung und Erregung, die Sorge um die Sicherheit der Stadt, das Geschlossenhalten von Toren, die Verstärkung der Wachen.

[880] In Drang und Mühsal sehen wir den Rat den Kampf führen. Nicht um das Konzil. Es handelt sich um die Beschirmung eines Verfolgten und um Wahrung des Asylrechtes der Stadt. Dieselben Männer, denen wir die Bemeisterung all der schweren Aufgaben dieser Zeit verdanken — Heinrich Zeigler, Lienhard Grieb, Hans Irmi, Anton von Laufen usw. — sind auch jetzt die Tätigen, in Basel, in Rom, in der kaiserlichen Hofburg, in Innsbruck, bei der Niedern Vereinigung, bei den Eidgenossen usw.; sie leiten das Geschäft durch alle Nöte lokaler Widerstände und Parteiungen und durch die Gefahren der von allen Seiten her damit verbundenen europäischen Politik. Zuletzt ist es doch das Verhältnis der Stadt zum Reiche und ihr Streit mit dem Bischof, der dem Handeln auch in dieser Konzilssache die Richtung gibt. Immerfort beruft sich der Rat den päpstlichen Befehlen gegenüber darauf, daß er zunächst dem Kaiser untertan sei und nach dessen Weisungen verfahre. „Wenn ich dem Papste den Krainer ausliefere, so ziehe ich mir den Kaiser auf den Hals, was unleidlich wäre“, sagt er sich. Wie er auch hiebei soweit als möglich nur Zug um Zug tut und seinen Gehorsam nach dem Maße mißt, mit dem ihm eine Reichsforderung erlassen oder Hilfe gegen Caspar geleistet wird, ist seine Sache.

Zuletzt freilich sieht der Rat ein, daß er Interessen zu retten hat, die wichtiger sind als das dem fremden Unruhmacher gegebene Wort; er erkennt, mit dieser Geleitszusage einen Fehler begangen zu haben; er versteift sich nicht auf Konsequenz, sondern quittiert die gemachte schlimme Erfahrung mit dem Beschlusse vom 11. August 1483, hinfort Niemandem mehr Geleit „für den Papst noch für den römischen Kaiser“ zu geben.

In berechneter Steigerung setzte die Kurie ihre Kampfmittel in Gebrauch. Zu Beginn Septembers 1482 verfügte Kettenheim das Interdikt über die widerspänstige Stadt, dann kam der öffentliche Anschlag dieses Interdiktmandats in Basel, dann Verkündigung und Anschlag auch in der Nachbarschaft. Nach Kettenheim griff Bischof Angelus ein; er zitierte die Basler vor seine Schranken nach Rheinfelden, und am 21. November erklärte er ihre Exkommunikation, die Konfiskation ihres Besitzes, die Vernichtung ihrer Rechte und Privilegien.

Der Rat antwortete auf jede dieser Verfügungen mit einer Appellation an den Papst, mit der stets wiederholten Erklärung, daß Basel die besten Gesinnungen gegen den päpstlichen Stuhl hege, nicht ungehorsam und nicht rebellisch sei und durch die auf kein päpstliches Mandat sich stützenden Drohungen und Zensuren des Kettenheim usw. unbillig belästigt werde.

[881] Aber es war noch nicht genug. Am 14. Dezember 1482 erließ Papst Sixtus selbst eine Kreuzzugsbulle wider Basel. Den Kaiser, die Fürsten, die Eidgenossen, die Städte, die Condottieren und Banden fordert Sixtus insgesamt auf, gegen die Basler die Waffen zu ergreifen; er gibt ihnen deren Land zur Beute und verheißt ihnen dafür denselben vollkommenen Ablaß, der den wider die Türken Ziehenden zugesagt ist.

Diese Bulle, wohl das Stärkste, was im Laufe der Jahrhunderte von Rom gegen unsere Stadt verfügt worden, wurde aber zunächst noch zurückbehalten. Gerade in diesen Dezemberwochen kam es gleichzeitig in Rom und Basel zu entscheidenden Verhandlungen.

Stärker als die offiziellen Befehle wirkten auf die Haltung des Basler Rates jedenfalls einzelne persönliche Beeinflussungen, Zusprüche etwa von der Art derjenigen des Chieregati an Propst Keppenbach, sowie bestimmte Weisungen des Kaisers. Diesem so gut wie dem Rate mußte daran liegen, den Andreas besser zu sichern und zugleich stumm zu machen. Er erhielt daher Hausarrest in seiner Wohnung zum König an der Greifengasse und konnte sich auf eigentliche Inhaftierung gefaßt machen.

Wie bewegt aber die diplomatische Szene in Rom war, verraten uns die Akten. Papst Sixtus, dem der eine, der klerikale Gesandte Basels ein Nachgeben des Rates in Aussicht stellte, gab hierauf den Baslern sofort gute Worte und verhieß ihnen alle die Gnaden und Freiheiten, die sie begehrten; auch unterließ er kaum, ihrem Gesandten die vorläufig noch unausgefertigt in der Kanzlei liegende Kreuzzugsbulle zu zeigen. In denselben Tagen aber gab er insgeheim seinem Angelus de Sessa die schärfsten Befehle zur Mißhandlung der Basler im Falle nochmaliger Renitenz und bot zu seiner Hilfe zahlreiche Prälaten und Laien auf.

Noch ehe Kunde von diesen Vorgängen nach Basel gelangen konnte, war hier etwas Wichtiges geschehen, nämlich Andreas durch den Rat in Haft gesetzt worden. Auf Befehl des Kaisers und unter Umständen und Formalitäten, die Jedermann deutlich zeigten, welch ungewöhnliche Bedeutung dem Ereignisse zukam. Eigenartig war, wie Gratiadei, der als päpstlicher Nuntius nach Wien gesandt worden, nun von dort als kaiserlicher Orator nach Basel kam und die Befehle Friedrichs verkündigte, im Verlaufe des Aktes aber doch wieder als Barfüßermönch und als Vertreter des Papstes auftrat. In zwei höchst feierlichen, von den Gesandten aller Beteiligten und den Notabilitäten der Stadt und ihrer Umlande besuchten Ratsversammlungen vollzog sich das erbarmungswürdige Gericht, wobei Gratiadei das große Wort führte, Andreas sich nur dürftig verteidigte, der [882] Basler Rat aber dem Willen des Kaisers gehorchen und den Andreas in engen Gewahrsam setzen zu wollen sich erbot, wogegen er von allen geistlichen Zensuren los und ledig sein wolle. Am Abend des 20. Dezember 1482 wurde Andreas durch die Stadtknechte auf den Spalenschwibogen geführt und da in Fesseln gelegt.

Er hatte die Rolle des Konzilshelden schon früher ausgespielt. Jetzt bei seiner Einkerkerung ging es im Grunde nicht um sein Schicksal, sondern um die Interessen des Kaisers und der Stadt Basel. Aber Andreas verlor doch sein Letztes, die Freiheit, und die wohl noch immer gehegte Hoffnung auf Beistand von irgend einer Seite her. Jedenfalls gab es nun Stunden, da die Finsternisse der Verzweiflung den stolzen leidenschaftlichen Prälaten umgaben; er bekannte sich schuldig, er zeigte Reue, und auf sein wiederholtes Begehren ließen sich endlich ein paar Zeugen herbei, unter ihnen der päpstliche Gesandte Anton de la Roche, um ihn anzuhören. Am 2. Januar 1483, im Spalenturm, bekannte er vor Diesen, aus Rachsucht ein Konzil angeregt und den Papst schändlich und lügnerisch geschmäht zu haben; er revozierte und annullierte Alles, pries den Sixtus als frommen heiligen und hochgelehrten Greis und Pontifex und bat ihn um Barmherzigkeit. Wiederholt beteuerte er, daß ihn sein Gewissen zu solchem Bekenntnis dränge, nicht die Hoffnung frei zu werden. Aber es gab gleichwohl Leute, die an der Aufrichtigkeit dieser Reue zweifelten und in ihr nur ein Mittel des Andreas sahen, um aus dem Turm zu kommen. Der Rat wenigstens verfügte sofort nachher die strengere Verwahrung und Bewachung des Gefangenen, was um so gerechtfertigter war, da auch von außen her sich mächtige Hände verlangend nach Andreas ausstreckten.

Während Papst Sixtus seinen Sieg über diese Basler Schismagefahr durch Botticelli in einem mächtigen Fresko der vatikanischen Palastkapelle verherrlichen ließ, führte sein Nuntius den Kampf wider Basel weiter; Rom war durch die Inhaftierung des Andreas nicht befriedigt und verlangte die Auslieferung. Zwar erklärte der Rat auch jetzt wieder seine Appellation. Aber derselbe Papst, an den er appellierte, hatte ja am 14. Dezember die Kreuzzugsbulle erlassen und am 20. Dezember, am gleichen Tage, da Andreas zu Basel in den Kerker gelegt worden war, jene Befehle zur Mißhandlung Basels gegeben, die jetzt so empfindlich zu wirken begannen. Mit Ausführung dieser Befehle, mit Handhabung des seit September bestehenden Interdikts, mit Verkündigung nun auch der Kreuzzugsbulle fuhr Bischof Sessa fort, Basel zu quälen, dem Kaiser und scheinbar auch dem Papste und dessen der Stadt günstig lautenden Zusicherungen zum Trotz. Er [883] wußte natürlich, daß sein Ziel, die Auslieferung des Andreas zu erzwingen, auch das Ziel des Sixtus war, und handelte danach über alle offiziellen Abmachungen seines Meisters hinweg.

In Basel selbst war eine Wirkung des Interdikts kaum bemerkbar. Nur die Barfüßer und die Klarissen fügten sich dem Gebote, während der übrige Klerus, der ja auch den Appellationen des Rates jeweilen adhärierte und gegen Mandate Bischof Caspars protestierte, das Interdikt nicht beobachtete, sondern nach wie vor seine Kirchen für Jedermann offen hielt, den Gottesdienst beging, die Seelsorge trieb usw.

Anders in der Umgebung Basels. Hier konnte jede nachbarliche Feindschaft bei diesem von der Kirche sanktionierten Zustand auf ihre Rechnung kommen. Schon Kettenheim hatte in diesen Gebieten gewirkt. Bischof Angelus hielt sich in Rheinfelden Rufach Straßburg usw. auf, und im Februar 1483 ging er nach Offenburg, um die dort zu Fastnachtfreuden versammelten Fürsten (Brandenburg Pfalz Baden Württemberg usw.) gegen Basel aufzuhetzen. Der Anschlag der Mandate und Bullen an die Kirchtüren und der Befehl an die Pfarrer zur Verkündigung sorgten für allgemeine Verbreitung des Glaubens, daß die Stadt Basel eine Feindin der heiligen Kirche, jeder Basler vogelfrei und jedes Basler Gut erlaubte Beute sei. So sehr der Rat im Innern seiner Stadt Herr sein mochte, hier draußen war er machtlos, und die Folgen dieser Verfehmung drangen natürlich auch über die Mauern herein. Weil kein Geleit mehr galt, waren Verkehr und Handel unmöglich gemacht; die Zufuhr der Viktualien war gesperrt. So groß wurde in diesem Jahre 1483 hier die Teuerung, daß kein Bruder dem andern nur einen Gulden leihen mochte, daß die Viernzel Spelt drei Pfund und darüber galt, daß viele Leute Hungers verdarben. Aber es gab noch andre Sorgen. Hans Bernhard von Eptingen, der am 6. Dezember 1484 hier starb, konnte des Interdikts wegen nicht im väterlichen Grabe bei den Barfüßern seine Ruhe finden; die Leiche mußte nach Pratteln hinaus getragen werden. Der Zustand war unleidlich. Ohne Rast ritten die Boten des Rates zu Kaiser und Papst. Jener erließ Verbot über Verbot in seine Lande, den römischen Mandaten zu gehorchen. Der Papst hinwieder, nur daran denkend, wie er den Andreas in seine Griffe bekommen könnte, wechselte zwischen Locken und Erschrecken, Schmeicheln und Bedrohen. Seine Absolution vom Bann und die diese begleitende reiche Gnadenerweisung (Bestätigung des Besitzes der bischöflichen Pfandschaften, Abschaffung des ultimum vale, Bestellung von Konservatoren, Gewährung eines Pfingstablasses für Spital und Elendenherberge), vom 7. Februar [884] 1483 datiert, wurden dem Rate natürlich kundgetan; die Ausfertigung sollte erst geschehen, wenn er sich fügte. Auch davon vernahmen wohl die Gesandten Basels in Rom, daß Sixtus am 17. März 1483 dem Angelus die Suspendierung der Kreuzzugsbulle befahl und am 3. Mai dem Bartholomäus von Piacenza bedingten Auftrag zur Absolution der Basler gab. Aber jene bösen Erlasse vom Dezember waren damit nicht beseitigt. Auch die Eidgenossen rief Sixtus auf und brachte sie dazu, daß sie ihm gleich gegen zwei Städte aufs mal zu Diensten waren, die beide damals der Kurie Mühe machten, gegen Basel und Venedig. Den Baslern war eine solche Genossenschaft in der Not tröstlich; sie unterließen es nicht, mit den gleich ihnen interdizierten Venetianern sich zu beraten und deren Gesandte bei sich zu empfangen. Sixtus aber gab dem Luzerner Propst Hans Brunnenstein und dem Zürcher Pleban Häring seine Aufträge; er befahl dem Markgrafen von Röteln, keine Lebensmittel aus seiner Herrschaft nach Basel gehen zu lassen; am 23. September 1483 erließ er eine scharfe Drohung an Basel: wenn es den Andreas nicht herausgebe, werde er die sofortige rücksichtslose Exequierung der Kreuzzugsbulle anordnen.

Mit diesem letzten Ruck endlich, der durch gleichzeitige Verheißung von allerhand Guttaten für den Fall des Gehorsams noch verstärkt wurde, schob der Papst das müde gequälte, fast zur Verzweiflung gebrachte Basel auf den Punkt, auf dem er es haben wollte. Der Rat gab den Andreas preis.

Was jetzt folgt, ist eigentlich nur noch ein Traktandum von Kaiser und Papst. Der Rat hat schwerlich nachgegeben, ohne daß der Kaiser darum wußte; nur ist dieser Wille des Kaisers noch nicht gegenüber Rom erklärt, und hiezu bedarf es der Unterhandlungen. Durch solche kommt zu Ende des Jahres 1483, während die Basler Gesandten Zeigler und Keppenbach noch immer in Rom weilen, die Einigung zu Stande: der Kaiser gibt seinen Willen zur Auslieferung des Andreas an den Papst; doch soll das Rechtsverfahren und die Bestrafung des Verbrechers nicht bei der Kurie, sondern in Basel selbst stattfinden.

Im Februar 1484 verständigt Sixtus den Rat von dieser Abrede und trägt ihm auf, Alles gut vorzubereiten; als Vertreter Roms sollen die Bischöfe Bartholomäus von Città die Castello und Caspar von Basel das Geschäft besorgen. Dann aber zieht sich die Sache merkwürdig lange hin. Vielleicht hat Sixtus nicht mehr dasselbe Interesse, seit er auf die Freude einer Exekution in Rom hat verzichten müssen; andre Sorgen sind wichtiger; auch sein Kranksein nennt er den Baslern als Grund der Verzögerung. Am [885] 12. August 1484 stirbt er, und seinem Nachfolger Innocenz VIII. fällt der Vollzug zu.

Von Bischof Bartholomäus ist dabei nicht mehr die Rede, und den Caspar hat der Basler Rat rekusiert, da er mit der Stadt in Zwietracht lebe; Innocenz denkt nun daran, den Kemel zu deputieren; aber auch von diesem will der Rat, übler Erfahrungen eingedenk, nichts wissen; dem von ihm gemachten Vorschlag entgegen, den Abt von Lützel oder sonst einen oberrheinischen Prälaten zum Exekutor zu ernennen, wählt Innocenz seinen Kammerherrn Benedict Mansella.

Und nun kann die Exekution geschehen. Doch nicht in der normalen Form, wonach Andreas kirchlich degradiert und kondemniert und sodann dem Rat als dem weltlichen Richter zur Urteilsvollziehung übergeben würde; da für diese Zeremonie sechs Bischöfe erforderlich sind, scheut Rom die Mühe und die Kosten; auch besorgt es eine unwillkommene Milde des Rates bei der Urteilsvollstreckung, „sodaß die folgende Irrung größer sein würde als die erste“. Man einigt sich vielmehr darauf, daß Andreas in denjenigen Kerker Basels gelegt werde, der den zur Hinrichtung und den zur lebenslänglichen Einsperrung Verdammten ausschließlich vorbehalten ist, in das schauerliche Eseltürmlein; hier soll er seine Tage beschließen und seine Sünden beweinen; kommt er lebend aus dieser Haft, so soll Basel dem päpstlichen Stuhle vierzigtausend Dukaten Buße zahlen und wieder in den Bann und die Zensuren wie heute fallen.

Aber während Mansella sich in Rom zur Abreise rüstete, vereitelte Derjenige selbst, dem alle diese Pläne galten, ihre Ausführung; am Morgen des 13. November 1484 wurde Andreas in seiner Zelle des Spalenturms erhängt gefunden. Höchst wahrscheinlich hatte er von dem, was ihm bevorstand, Kenntnis bekommen und ging nun der Schmach und einer vielleicht langen Kerkerqual aus dem Wege, „gleich Judas Ischarioth“. Dem Papste nahm er damit auch die Genugtuung, ihn zu strafen; aber natürlich konnte dieser den Baslern die versprochene Absolution jetzt nicht verweigern.

Mansella kam nach Basel und überzeugte sich zunächst vom Tode des Andreas, dessen Leiche man ihm aufgespart hatte. Dann am 22. Januar 1485 vollzog er feierlichst die Absolution der Stadt. Auch brachte er ihr jetzt endlich die seit dem September bereit liegenden Bullen des Innocenz, in denen die Sixtinischen Gnaden vom Februar 1483 enthalten waren.


Das Scheitern dieses Konzilsversuchs berührte aber die Idee selbst nicht. Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer solchen Kirchenversammlung bestanden [886] in der Anschauung Vieler ungeschmälert weiter, und namentlich war die Autorität des großen Konzils von Basel selbst keineswegs erschüttert. Es galt nach wie vor als Quell des Rechts und der Freiheit, zu dem man immer wieder kehrte. Wie Knebel sich in seinem Zorn über päpstliche Reservationen auf die Basler Dekrete berief, so machte der Rat 1488, da der bischöfliche Generalvikar wegen Tötung eines Kaplans das Interdikt über die Stadt verhängte, den Konzilsbeschluß von 1435 geltend, der solches Interdizieren verboten hatte. Bischof Caspars große Agende gibt sich ausdrücklich als Nachbildung der im Basler Konzil gebräuchlich gewesenen, und denkwürdig ist vollends die Publikation von Basler Konzilsdekreten 1499; der Editor dieser Sammlung, Sebastian Brant, widmet sie der Stadt selbst und feiert diese, die als Ort des Konzils wie der Universität alle andern Städte des Rheines an Ruhm übertreffe.


Weder der Kampf der weltlichen Gewalt mit der kirchlichen noch die bei Klerikern und Laien sich regende Unzufriedenheit haben, wie schon bemerkt wurde, an sich mit einem innern Verhältnis zur Kirche etwas zu tun. Was der Basler Rat 1482 dem Florentiner Ugolini sagt, daß man beim eifrigsten Verlangen nach Reform gleichwohl die besten Gesinnungen gegen den päpstlichen Stuhl hege, ist nicht nur offizielle Formel, sondern die Meinung Vieler. Die Geistlichen Andlau Heynlin Philippi streiten um so heftiger wider alle Schwächen der Disziplin und alle Laster ihrer Standesgenossen, je stärker ihre eigene Kirchlichkeit ist. Ähnlicher Art sind viele Laien, die Recht und Verfassung der Kirche ohne Weiteres anerkennen und jeden Eingriff in sie ablehnen, aber gleichwohl ihre Schäden sehen und tadeln: die Nichtsnutzigkeit von Klerikern, die Verschleuderung von Kirchengeldern, den Ablaßmißbrauch, den Unfug des Pfründenhandels usw. Sebastian Brant sitzt mitten im Pfaffenviertel und zieht los gegen Kurialen Mönche und in Sünden lebende Priester; er publiziert die Schriften Felix Hemmerlins mit ihren wilden Anklagen gegen Rom, so wie er die Basler Konzilsdekrete publiziert; aber am Dogma hält er unerschütterlich fest, und mit Heftigkeit wendet er sich wider den die Person des heiligen Vaters angreifenden Zamometiç.

Angesichts dieses Verhaltens bedeutender Männer wird uns aufs Neue bewußt, wie schwere Forderungen Rom, eine ungeheure Verantwortung auf sich ladend, an Gewissen und Denkvermögen stellte.

Aber diese Forderungen wurden in der Tat vielfach als unerfüllbar empfunden. Wir sehen Zweifel Verneinung Widerspruch sich erheben. Von [887] Häresieen zu Basel ist auch jetzt wieder mehrfach die Rede; daß mannigfaltige eigene Auffassungen gegenüber der offiziellen und traditionellen Einheit, aber auch der Autorität gegenüber laut werden, gehört zum Wesen dieser Zeit.

Der freiere Geist, die humanistische Denkweise greifen stürmisch auch in das Kirchliche und Religiöse herüber. Es ist eine Bewegung, deren Macht wir zumal hier verstehen: in der Stadt des Witzes und der Kritik, in der Stadt des Buchdrucks und der Universität, in der Stadt der durch einen unvergleichlichen Verkehr geschulten Kenntnis aller Welt.