ADB:Reichardt, Johann Friedrich

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Artikel „Reichardt, Johann Friedrich“ von Hans Michael Schletterer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 629–648, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reichardt,_Johann_Friedrich&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 21:22 Uhr UTC)
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Band 27 (1888), S. 629–648 (Quelle).
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Reichardt: Johann Friedrich R., geboren am 25. November 1752 in Königsberg i. Pr., † am 27. Juni 1814 auf seinem Landsitze zu Giebichenstein bei Halle. – Das vielbewegte Leben dieses mit allen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit in mehr oder minder intimem Verkehr stehenden, vielgereisten und vielverleumdeten, über- und unterschätzten, von unserer Zeit in seinen Tonsätzen noch nicht ganz vergessenen Mannes, entrollt ein eben so interessantes, als lehrreiches Bild vor uns. Aus beschränkten Verhältnissen hervorgegangen, für eine andere Laufbahn bestimmt, aber von Jugend auf außerordentlich für Musik talentirt und bald auch in seinen musikalischen Leistungen hervorragend, gelang es seinem unternehmenden, rastlos strebenden, ehrgeizigen Charakter, die höchsten und einflußreichsten musikalischen Stellungen zu gewinnen und sich als Dirigent, Tonsetzer und Schriftsteller großes Ansehen und maßgebenden Einfluß zu verschaffen. Aber sein ungeduldiges, heftiges Wesen, das von Zudringlichkeit und Selbstüberschätzung nicht freizusprechen war, namentlich aber seine schnelle und rücksichtslose Zunge und seine schroffen, nie zurückgehaltenen Urtheile über Dinge und Vorkommnisse jeder Art erweckten ihm nach allen Richtungen bald erbitterte Gegner, brachten ihn zuletzt um seine Bedienstungen und drängten ihn vorzeitig aus einer Laufbahn, in der er noch bedeutendes und segensreiches hätte leisten können. Man mag R. noch so strenge beurtheilen, das muß man ihm zugestehen, daß er ein hochgebildeter, unterrichteter, das Beste wollender, vielfach bahnbrechender Musiker und ein Ehrenmann und Patriot im besten Wortsinne war. Daß ihm die Natur geniale Begabung versagt hatte und er sich uns [630] mehr als ein reflectirendes Talent darstellt, anlehnend, nachahmend, dabei jedoch stets bemüht, neue Pfade zu finden, das kann ihm nicht zum Vorwurfe gemacht werden. Die Zeitgenossen, welche aus nächster Nähe Genie und Talent nicht aus einander zu halten vermögen, waren von seinen Werken angezogen und begeistert und er fand sich in der gleichen Lage, wie weitaus die meisten unserer gegenwärtigen, ebenfalls vorwiegend grübelnden und reflectirenden, unablässig nach neuen Ausdrucksmitteln suchenden Componisten, die wol von der Gegenwart begriffen und auch gefeiert, von der Zukunft aber, wie zu befürchten steht, ebenfalls bald vergessen sein werden. Reichardt’s Vater, Joh. R. aus Oppenheim a. Rh., war in seinem zehnten Jahre mit dem Grafen Truchseß zu Waldburg nach Preußen gekommen und hatte sich durch sein hübsches Aeußere und lebhaft-lustiges Wesen bald zum Lieblinge von dessen Familie zu machen gewußt. Da er große Liebe zur Musik äußerte, erhielt er in Berlin von guten Lehrern Unterricht auf der Laute, Violine und Oboe, und brachte es bald auf all diesen Instrumenten zu bemerkenswerther Fertigkeit. Seine Begeisterung für diese Kunst trieb ihn an, mehrere Jahre das gräfliche Haus zu verlassen und als Lehrling bei dem auf dem Schloßthurme in Königsberg (in welcher Stadt der Graf nun seinen Wohnsitz genommen hatte) hausenden Stadtmusikus einzutreten. Zu seinem Gönner zurückgekehrt, wurde er dann Lautenlehrer der an einen Grafen Keyserlingk verheiratheten Tochter desselben und ehelichte zuletzt selbst das schöne und sittsame Kammermädchen dieser jungen Frau, Katharina Dorothea Elisabeth, Tochter des Hutmachers Hinze aus Heiligenbeil. Während der Vater, ein Mann von seltener körperlicher Kraft und Gewandtheit und überaus großer Lebhaftigkeit und Thätigkeit, ein sehr geschickter und talentvoller Musiker, aber auch leichtsinnig, heftig, genußsüchtig, brutal, sich von seiner unruhigen Natur zu manchen Schritten hinreißen ließ, die unentschuldbar, er besser unterlassen hätte und die seiner Frau großen Kummer verursachten, führte diese, eine stille, edle Dulderin, von ihrem Sohne angebetet, fromm, schlicht, sanft, von seltener Herzensreinheit, ein zurückgezogenes, arbeitsames Leben, oft unter Anstrengungen und Entbehrungen. Ihr, neben drei Töchtern, von denen die älteste, Maria, in der Folge den Bankdirector Leo, die jüngste, Sophie, den Kriegsrath Bock heirathete, einziger Sohn Fritz, ein schöner, munterer, hochbegabter Knabe, ward von allen, denen er sich nähern durfte, gern gesehen und das verzärtelte Schoßkind mancher hochstehenden Familie, namentlich auch der Keyserlingk’schen. An gute Gesellschaft von früh an gewöhnt und gewisse sich ihm bietende Bildungsmittel auch eifrigst benützend, sah sich der ehrgeizige, feurige Jüngling rasch gefördert und wie von selbst erwarb er sich schon früh die meisten der Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, jene glänzende und merkwürdige Laufbahn zu beschreiten, die ihm vom Schicksal vorgezeichnet war. Fritz R. war ein frühreifes, überraschend talentirtes Kind. Er hat eigentlich nie etwas gründlich gelernt, aber was er angriff, gelang ihm. Sein erster Violinlehrer war sein Vater, später der s. Z. angesehene Geiger Fr. A. Veichtner, ein Schüler Benda’s. Auf dem Clavier unterrichtete ihn der Domorganist C. G. Richter; ein gewisser Krüger unterwies ihn in den Anfangsgründen der musikalischen Theorie, für die er aber zunächst nur wenig Interesse bethätigte. Von einem kriegsgefangenen österreichischen Soldaten, der ein sehr guter Sänger war, erhielt er Gesangstunden. All dieser Unterricht war nur ein vorübergehender, doch hatte er den Vortheil, daß der Schüler nach verschiedenen Richtungen hin gefördert wurde, bald auf eigenen Füßen stehen lernte und sich frühzeitig ein, wenn auch nicht immer richtiges Urtheil gewann. Gelegenheit zu Beobachtungen bot sich ihm in Fülle und er wußte dieselbe stets klug zu benützen. Schlimmer als mit dem Musikunterrichte stand es mit seinem [631] Schulbesuche. Im Grunde wuchs R. ohne regelmäßige Schulbildung auf. Trotzdem ward der unreife, aber den musikfreundlichen Universitätsrector, Kriegsrath Lestocq, durch sein Spiel oftmals entzückende Knabe, zum Doctor ernannt und erlangte auch durch dessen Vermittelung, ohne die vorgeschriebenen Prüfungen gemacht zu haben, später die Berechtigung, die Königsberger Universität besuchen zu dürfen. Ganz seinen musikalischen Neigungen und Beschäftigungen hingegeben, dachte er aber nicht ans Studiren, und obwol er ein Jahr lang, 1769–70, bei Kant Philosophie hörte und ein anderes Jahr in Leipzig weiterstudirte, hat er beide Hochschulen, mit Kenntnissen sonderlich bereichert, gewiß nicht verlassen. Was ihn vorzugsweise bildete, war die Welt, das Leben, die Gesellschaft. R. hat schon im siebenten und achten Lebensjahre Aufsehen durch sein Geigenspiel erregt. Namentlich rühmte man in der Folge seinen großen, markigen Ton, seine überraschende Fertigkeit im doppelgriffigen Spiele und seine Stärke in der freien Phantasie; bald auch machte er sich durch seine Compositionen bekannt, die er mit großer Leichtigkeit zu Papier brachte. Es herrschte damals ein reges musikalisches Leben in Königsberg und die besten Familien der Stadt, in der die Tonkunst vielfach begeisterte Pflege fand, wetteiferten durch tüchtige Leistungen in regelmäßig stattfindenden Privatconcerten. Der Knabe ging täglich aus und ein beim alten Statthalter Keyserlingk, beim Obermarschall von der Gröben, beim Kanzler v. Korf, beim Hofrath Hoyer, beim Commercienrath Saturgus, beim Kaufmann Scherr u. a. Als Student trat er Kant, Hamann, Hippel, Kreuzfeld, Scheffner, also den Capacitäten des damaligen Königsberg näher. In dem Organisten Podbielsky und dem Sonderling du Grain besaß die Stadt beachtenswerthe Clavierspieler. Die Dichter J. M. Reinhold Lenz und Bock, der berühmte Berliner Arzt Marcus Herz, der nachmalige General v. Diericke u. a. waren seine Studiengenossen. Bald erweiterten auch kleinere und größere Reisen nach Mohrungen, nach Curland und Livland (Mitau und Riga), nach Danzig und Heilsberg seinen Gesichtskreis; allerdings reiften sie in ihm auch ein unruhiges, unzeitiges Selbstgefühl. Endlich unternahm er eine mehrjährige Reise nach Berlin, Leipzig, Dresden, Prag und zurück über Magdeburg, Braunschweig, Hannover, Hamburg, Stettin und Danzig. Es war das in der That in doppelter Hinsicht eine Kunstreise, denn der von allen Geldmitteln sehr oft vollständig entblößte junge Mann mußte vielfach allen Muth und Scharfsinn und alle Talente und Fertigkeiten aufbieten, um sich oben zu halten. Doch hatte diese für die damalige Zeit immerhin weit ausgedehnte Reise, auf der er sich als Geiger, Clavierspieler und Tonsetzer einen ehrenvollen Namen machte, für ihn den großen Vortheil, mit allen hervorragenden Zeitgenossen in vielfach freundschaftliche Verhältnisse zu treten. Dieses Reiseleben ging im J. 1773 zu Ende. R. nahm seine früheren Königsberger Beziehungen wieder auf. Der ihm stets wohlgeneigte Obermarschall von der Gröben suchte ihn insofern an die Vaterstadt zu fesseln, als er ihm das Secretariat in seinem Departement (er war Chef des Consistoriums) mit so vielen Vortheilen anbot, daß er sich gern zur Annahme entschloß und nun mehrere Jahre als extraordinärer Kammersecretär, aber immer noch mehr musicirend als auf dem Bureau arbeitend, in der Heimath verlebte. Im August 1775 befand sich R. auf einer Dienstreise in Litthauen auf dem königlichen Domänenamte Ragnit, als zufällig der geheime Finanzrath Tarrach aus Berlin dort durchpassirte. Während an dem Wagen die Pferde gewechselt wurden, erfuhr er von diesem, daß der alte Hofcomponist und zuletzt auch Operndirigent Agricola gestorben sei und der König einen andern Capellmeister suche. Diese Nachricht fiel zündend in Reichardt’s Seele, der schon gelegentlich seines Berliner Aufenthaltes eine große italienische Oper: „Le Feste galanti“ componirt hatte, und zwar ganz in der Weise Graun’s [632] und Hasse’s, der Lieblingscomponisten des Königs. Er reiste sofort nach Königsberg zurück, wandte sich zunächst an seinen Freund, den Kammermusikus Benda in Berlin, mit der Bitte, ihm nähere Mittheilung über die momentanen Verhältnisse zu machen und sandte, als dieselben günstig ausfielen, seine in drei ordinäre Pappbände gebundene Opernpartitur mit folgendem Briefe direct an den König nach Potsdam: „Sire, Eurer K. Majestät wage ich eine Oper zu überreichen, bei deren Bearbeitung mir Hasse und Gratin Muster gewesen. Ein hoher Kennerblick wird entscheiden, ob der Componist derselben es verdient, die ehrenvolle Stelle eines Graun’s zu bekleiden. In tiefster Ehrfurcht u. s. w. Königsberg, 25. Sept. 1775. J. F. R.“ Mit umgehender Post erhielt er darauf ein vom König unterzeichnetes Cabinetsschreiben: „Se. K. Majestät von Preußen. unser Allergnädigster Herr, wollen dem Musico Reichardt zu Königsberg in Preußen auf dessen eingesandte Oper hiermit zur vorläufigen Antwort nicht verhalten, daß Höchstdieselbe solche vorhero probiren lassen wollen, um zu beurtheilen, ob und in wie weit solche denen Arbeiten eines Graun’s und Hasse’s zur Seite gestellt zu werden verdiene. Potsdam, 20. Oct. 1775. Friedrich.“ – Nun erst unterrichtete R. seinen Vorgesetzten von dem von ihm gewagten Schritt. Dieser war dadurch allerdings hochüberrascht, nahm aber die Sache von der günstigsten Seite und lud ihn sogar ein, die Zeit, bis eine weitere Antwort erfolgen würde, auf einem seiner Güter zuzubringen. Obwol nun die Tage hier in abwechselnden Freuden und Genüssen der Jagd, Musik und Tafel sehr fröhlich vergingen, dehnten sie sich für den ungeduldig auf Nachrichten Harrenden doch endlos hin. Endlich traf ein Brief, datirt Potsdam, 4. December 1775, mit erwünschter Kunde ein, wie der frühere, von dem Musikdirector J. C. Jacobi geschrieben (der alte Benda war in dieser Zeit durch schweres Unwohlsein am Schreiben verhindert). Die Proben, die man dem Könige, der in den letzten Monaten eine sehr gefährliche Krankheit durchgemacht hatte, weshalb sich auch die Anstellung eines Capellmeisters verzögerte, aus der R.’schen Oper zu hören gegeben, hatten denselben befriedigt und R. wurde von ihm mit einem Gehalte von 1200 Thlrn. als königl. preuß. Capellmeister angestellt. Er traf am Weihnachtsabend in Berlin ein und wurde in der ersten Januarhälfte zum Könige zur Audienz befohlen, in der er einen günstigen Eindruck auf denselben zu machen schien. R. steht nun am Beginn der zweiten Periode seines vielbewegten Lebens. – Der alternde König hatte nicht mehr das musikalische Interesse früherer Jahre. Mit ihm waren Oper und Capelle gealtert, d. h. zurückgegangen. Bekanntlich nahm er in seinen musikalischen Anschauungen einen sehr einseitigen Standpunkt ein, wie denn auch seine eigenen Musikübungen und sein künstlerischer Umgang strenge nach einmal angenommenen Principien geregelt waren. Unbemerkt und geschickt wußte ihn sein Flötenlehrer J. J. Quantz (1697–1773) zu lenken, sein Urtheil zu bestimmen und auf einem gewissen Punkt festzuhalten. Wie er nur dessen Flötenconcerte und nur auf von ihm gefertigten Instrumenten blies, so wurden auf seinem Operntheater, mit ganz wenigen Ausnahmen, auch nur Werke von J. A. Hasse (1699–1783) und C. H. Graun (1701–1759), seinen beiden Lieblingscomponisten, aufgeführt. Unter der Leitung des minder berühmten, sehr viel Bier consumirenden seitherigen Hofcomponisten J. F. Agricola (1720–1774) vermochten sich die musikalischen Zustände der preußischen Residenz nicht zu heben und auch der sonst tüchtige, aber ebenso in beschränkten Vorurtheilen wie sein königl. Herr befangene C. F. Chr. Fasch (1736–1800), der noch bis zum Ende des Carnevals 1776 die Oper dirigirte, konnte hier bessere Resultate nicht erzielen. Man muß sich vergegenwärtigen, in welche schwierigen Verhältnisse der junge, begeisterte, vom redlichsten Willen und den besten Vorsätzen beseelte freisinnige, thatendurftige neue Capellmeister trat. [633] Das gesammte Material, das er vorfand, bestand, wenn auch darunter berühmte Namen waren, doch nur aus alten, bequemen Leuten, die gewohnt waren, in dem einmal betretenen Gleise unbeirrt fortzuwandeln und es schon als ungeheure Neuerung anstaunten, als er ihnen zumuthete, Crescendo und Decrescendo zu spielen. Der König sagte, als er es erstmalig hörte, zu R.: „Da hat er einen ganz curiosen Feuerlärm gemacht!“ Es ist leichter in ein Wespennest zu greifen, als reformirend eine solche Gesellschaft aus behaglicher Ruhe aufzustören. Wie mußte da der vom idealsten Streben erfüllte, selbstbewußte 24jährige Capellmeister in seinem Uebereifer allenthalben anstoßen. Allmählich trat allgemeine Verstimmung ein, infolge deren heftige Conflicte hervorgerufen wurden, die endlich dem Könige so lästig wurden, daß er einst unmuthig in die Worte ausbrach: „Ich dachte mir die Oper vom Halse zu schaffen, und habe nun das alte Elend und einen Narren mehr.“ Er mochte, was ihm bevorstand, wohl auch ahnen, als ihn der besonders in musikalischen Dingen gern belehrende und sein Licht leuchten lassende König in großer, viersitziger, mit sechs Pferden bespannter Kutsche nach der ersten Audienz nach Berlin zurückfahren ließ. Die erste ihm übertragene Arbeit war ein Prolog auf die Verlobungsfeier des Großfürsten Paul von Rußland (der nachmals, 24. März 1801, als Kaiser Paul I. ein so elendes Ende fand), mit der Prinzessin Sophie von Würtemberg, welche in Berlin mit höchster Pracht begangen wurde. Die Composition seines jungen Capellmeisters hatte Mühe, den König, der den Textentwurf in französischer Sprache (vom Hofpoeten, Abbate Landi, dann in italienische Verse umgedichtet) selbst verfaßt hatte, zu befriedigen. Höchst komisch ist es nun, zu sehen, wie R. unter den Augen Friedrich’s, der jede Note prüfte und geändert haben wollte, componiren mußte, und welche sonstige Schwierigkeiten noch zu überwinden waren, bevor das Werk zur Aufführung gelangen konnte. Für R. hatten diese Compositionslectionen übrigens den Vortheil, daß er die Erlaubniß erhielt, allen Kammerconcerten des Königs beizuwohnen, eine Vergünstigung, die er eifrigst benutzte. Die hervorragendsten Opernkräfte waren um diese Zeit der Castrat Concialini und Jungfer Gertrude Schmehling, beide vorzügliche Künstler, die für die Berliner Oper eine letzte Glanzzeit heraufbeschworen. Gertrude hatte sich, sehr entgegen dem königlichen Willen und vergebens von allen rechtlich Denkenden gewarnt, um diese Zeit mit einem ganz elenden und verworfenen Gesellen, dem Cellisten Mara verheirathet. Von diesem nichtsnutzigen Subjecte fortwährend aufgehetzt, lebte sie fortan in stetem Unfrieden mit allen Collegen und wagte es sogar, den bestimmt ausgesprochenen Befehlen und Wünschen des Königs zu trotzen. Im Juli 1776 kam der Großfürst Paul nach Berlin zu Besuch. Am 24. Juli sollte die Opera seria: „Angelica e Medoro“ von Graun; am 26. die Opera buffa: „la Ritorno di Londra“ gegeben werden, am 25. Redoute im Opernhause, am 30. großes Hofconcert sein. Auch jetzt hatte R. wieder für den ersten Festtag einen Prolog und die Aria di bravura „Nell, avor d’atra foresta“ in die Oper für die Mara neu zu componiren. Der bethörten Sängerin schien nun die Gelegenheit gekommen zu sein, sich für so manche vom Könige abschlägig beschiedene Gesuche zu rächen. Der große König sollte erkennen lernen, daß es leichter sei eine Schlacht zu gewinnen, als eine eigensinnige, widerspenstige Sängerin zur Raison zu bringen. Aber er war der Mann, der derartige Trotzköpfe zu zähmen wußte. Frau Mara erklärte, die Arie Reichardt’s nicht singen zu wollen. Da sie sich krank stellte, ließ sie Friedrich durch einen Dragonerrittmeister aus dem Bette holen und in einem von acht Reitern escortirten Wagen nach dem Concertsaale bringen. Sie mußte singen, und zuletzt bewog sie auch ihre weibliche und künstlerische Eitelkeit dazu, eine Glanzleistung zu geben. – Ein Trost mag es für den vielgeärgetten königl. Capellmeister gewesen sein, daß er in dieser Zeit (Spätherbst [634] 1776) in der Tochter des alten verehrten Concertmeisters Benda, Juliane, eine gar anmuthige und liebe, auch musikalisch ungewöhnlich talentirte Gattin fand, für die er schon von früheren Jahren her große Zuneigung fühlte. Leider hatte er bereits am 9. Mai 1783 ihren Verlust zu beklagen. – So ehrenvoll für ihn die Berufung auf einen so angesehenen Posten auch war, befriedigt konnte er sich durch seine Stellung nicht finden. Der nach Thaten und Ruhm dürstende junge Mann sah sich in Berlin nahezu auf den Sand gesetzt, denn in der Regel wurden nur im Carneval abwechselnd zwei Opern gegeben (es kamen auch Fälle vor, daß gar nicht gespielt wurde), und dazu wählte der König stets ältere Werke. R., der darauf brannte, den Auftrag zu einer Operncomposition zu erhalten, mußte sich damit begnügen, diese zeitgemäß aufzuflicken. So hatte er im nächsten Carneval, wo „Rodelinde“ von Graun und „Artemisia“ von Hasse gegeben wurden, die Partien der Rodelinde und der Artemisia (für die Mara) und des Nicander (Porporino) neu zu schreiben. Im folgenden Jahre gelang es der Mara endlich, ihre lange vorbereitete Flucht auszuführen. Damit verlor die königliche Oper ihren Hauptanziehungspunkt. Dem König schwand von jetzt ab alle Freude an seinem Theater; seit 1781 besuchte er das Opernhaus überhaupt nicht wieder; die Vorstellungen blieben so leer, daß man zuletzt ganze Compagnien Soldaten in dieselben commandiren mußte, die nun mit ihren Weibern das Parterre füllten, aber einen solch unerträglichen Tabak- und Zwiebelgeruch im ganzen Hause verbreiteten, daß der Aufenthalt darin nahezu unerträglich wurde. Nach dem Tode seiner Frau erbat R. Urlaub zu einer Reise nach Italien. Er traf auf dem Hinweg mit Goethe in Weimar und Klopstock und Lavater in Heidelberg zusammen, fand aber in dem Lande, wohin ihn seine Sehnsucht längst getrieben hatte, nur geringe musikalische Befriedigung. Leider ist ein von ihm 1787 angekündigtes dreibändiges Reisewerk ebensowenig erschienen, als früher seine „Vermischten Schriften“, ein großer Verlust für die zeitgenössische Litteratur- und Kunstgeschichte. Aus dem Rückweg hielt er sich einige Zeit in Wien auf, fand dort in der Gräfin Thun eine Gönnerin, wurde dem Kaiser Joseph und seinem Bruder, dem Erzherzog Maximilian vorgestellt und machte, für ihn die denkbar interessanteste Begegnung, auch die persönliche Bekanntschaft Gluck’s, der ihn sehr freundlich aufnahm. Die Kunstförderung seitens des Kaisers und des ganzen Hofes, sowie des sehr musikalischen Adels war übrigens, nur nach anderer Richtung, in Wien eine ebenso einseitige, als in Berlin. Es ist immer schlimm, wenn hohe Herren, denen es leicht möglich ist, ihren Anschauungen Geltung zu verschaffen, sich von intriganten Günstlingen leiten und in denselben bestärken lassen. Zu einem freien Blick und einer weiteren Ausschau gelangen sie überhaupt nie, da stets dafür gesorgt ist, daß ein undurchdringlicher Wall vorgefaßter Meinungen ihren Gesichtskreis beengt. Die Kunst im Allgemeinen hat daher durch sie auch nur selten wahrhafte Förderung gefunden; nur einzelne bevorzugte Günstlinge haben stets den ganzen Segen fürstlicher Antheilnahme, d. h. die reichen Spenden königlicher Huld, auf ihre Person zu concentriren gewußt. Etwas bald nach dem Tode seiner ersten Frau, schon am 14. December 1783, schloß R. einen neuen Ehebund mit der Wittwe des auch als Dichter bekannten Landschaftssyndicus P. W. Hensler in Stade, Johanna, einer Tochter des bekannten Predigers Alberti in Hamburg. Diese Stadt war seit lange schon der Lieblingsaufenthalt Reichardt’s, der dort namentlich mit dem angesehenen Sieveking’schen Hause intimen Verkehr unterhielt. Sofort nach der Hochzeit kehrte er nach Berlin zurück, wo während seiner Abwesenheit neue empfindliche Lücken im Opernpersonale entstanden waren. Porporino und die Primadonna Verona, geb. Koch, letztere erst 25 Jahre alt, waren gestorben. Der immer sparsamer werdende alte Fritz mußte sich endlich nothgedrungen zu [635] einem ihm sehr sauer ankommenden Opfer entschließen und so ward denn für den Carneval 1784 die berühmte Todi engagirt, gefiel aber gar nicht. Zudem hatte sich Conciliani eine Heiserkeit zugezogen, die es ihm fast unmöglich machte zu singen; der Tenorist Paolino starb. Diese Saison, da auch nur schwache Werke aufgeführt wurden, war eine der elendesten des Berliner Operntheaters. Lange hatte die Kritik über die obwaltenden Zustände zurückgehalten. Das Theater war frei, der König trug allein die Kosten desselben. Nun aber fing man an, die unzulänglichen Gesangskräfte und die immer armseliger werdende Ausstattung in den Tagesblättern zu tadeln. Das verdroß jedoch den König so, daß er jede öffentliche Theaterbesprechung in Berlin verbot. R., des Berliner Schlaraffenlebens und der völligen Unthätigkeit, zu der er sich dort verdammt sah, überdrüssig, erbat einen neuen Urlaub und reiste, von seiner Frau begleitet und angezogen von dem daselbst in Aussicht stehenden überaus großartigen Händelfeste, im Februar 1785 nach London ab, wo er mit großer Auszeichnung aufgenommen wurde und insbesondere seine „Passion“ und sein „65. Psalm“ sensationellen Erfolg hatten. Schon im April setzte er dann seine Reise nach Paris fort und fand auch hier, von Gluck angelegentlichst empfohlen, das freundlichste Entgegenkommen. Er hörte auf der Bühne der königl. Akademie Gluck’s „Armida“ und „Iphigenie in Aulis“ und außerdem mehrere Opern von Piccini, Sacchini und Salieri. Standen die Aufführungen der Académie royale de musique auch nicht mehr auf der Höhe wie vor 11 Jahren, da unter des Meisters Direction Iphigenie zum ersten Male in Paris gegeben wurde, waren die Sänger jener Zeit auch nicht mehr alle gegenwärtig und das Ballet in Degeneration begriffen, immerhin vermochte er, der noch nie eine Gluck’sche Oper gesehen, einen bedeutenden und nachhaltigen Eindruck zu erhalten, der für sein eigenes Schaffen fortan maßgebend blieb. R., dessen im Concert spirituel gehörte Werke Aufsehen erregten und großen Beifall fanden, war so glücklich, vom Director der Akademie den Auftrag zu erhalten, zwei Opern zu schreiben: „Panthée“ von Berguin und „Tamerlan“ von Morell de Mandenville. Er arbeitete rastlos, mußte aber, noch bevor er fertig geworden war, Paris, da sein Urlaub zu Ende ging, Mitte November verlassen, um in Berlin das alte italienische Opernflickwerk für den nächsten Carneval wieder zu besorgen. Dieser Umstand schlug sehr zu seinem Nachtheile aus. Bis er wieder zurückkehren konnte, hatte man ihn vergessen. Alle Hoffnungen, Ruhm und Lohn zu gewinnen, waren verscherzt. Kaum hatte das Jahr 1786 begonnen, als er vom Könige neuen Urlaub erbat, um seine bald darauf in Hamburg vollendeten Werke in Paris zur Aufführung zu bringen. R. verließ am letzten Carnevalstage, 24. Januar, Berlin, beendete im Februar die drei ersten Acte des „Tamerlan“ und reiste mit den letzten nassen Bogen des vierten Actes von Hamburg nach Paris ab, wo er am 23. März eintraf. Man hatte ihn aufs äußerste gedrängt, seine Ankunft zu beschleunigen und seine Arbeiten abzuschließen; nun da er endlich in Paris angekommen war, sah er sich in seinen Erwartungen schmerzlichst getäuscht und schmählich hingehalten. Noch hatten nicht einmal die Copisten ihre Arbeit begonnen, verschiedene Träger der Hauptpartien waren krank, andere Opern sollten zuerst gegeben werden. Obwol er es durchsetzte, daß „Tamerlan“, vor Kennern und zwar mit außerordentlichem Erfolge probirt, und auch „Panthée“ angenommen wurde, mußte er, mit halben Zusagen abgespeist, endlich ohne ein Resultat erreicht oder einen Contract erhalten zu haben, und um 4000 Liv., die man ihm schuldig blieb, geprellt, die Hauptstadt Frankreichs wieder verlassen. In Hamburg erhielt er die Nachricht von dem Ableben Friedrich’s d. Gr. (17. Aug. 1786). Dieses Ereigniß drängte alle andern Gedanken zurück. Er nahm Courierpferde, um Berlin möglichst schnell erreichen und dem neuen Könige seine Schuldigkeit [636] bezeigen zu können. Er wurde in Potsdam sehr gnädig aufgenommen und erhielt auf schmeichelthafteste Art von Friedrich Wilhelm II. Auftrag, zu dem großen Leichenbegängniß Friedrich’s II. eine von Lucchesini gedichtete lateinische Trauercantate zu schreiben. Dieser „Cantus lugubris“ binnen einer Woche rastloser Arbeit entstanden, und dann am 9. September von 100 Instrumentisten und 50 Sängern in der Potsdamer Schloßkirche aufgeführt, zählt zu den schönsten und besten Schöpfungen des Meisters. Seine Wirkung übertraf alle Erwartungen und machte tiefsten Eindruck. Der König beschenkte ihn dafür mit 100 Friedrichsd’or und bestätigte ihn in seiner Stellung. Die beiden Capellen, die frühere königliche und die seither kronprinzliche, wurden nun unter seiner Direction vereinigt. Er sah jetzt auch seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt, indem ihm Friedrich Wilhelm auftrug, für Berlin eine große Oper zu schreiben, aber nun verhinderten ihn die in Paris eingegangenen Verpflichtungen, sofort dem königl. Wunsche zu entsprechen. Er erbat sich aufs neue Urlaub und erhielt ihn, da wegen der Hoftrauer die nächsten Carnevalsfeierlichkeiten ausfielen, bis zum Februar 1787. Leider waren alle Bemühungen der späteren Jahre vergebens, den versäumten günstigen Moment zurückzuführen, und die s. Z. abgebrochenen Beziehungen wieder anzuknüpfen. Seine Hoffnungen scheiterten an der ihm übermächtig entgegentretenden Cabale seiner französischen Collegen und es gelang ihm nie, weder in Paris, noch in London, eine seiner Opern zur Aufführung zu bringen. Seine zahlreichen Gegner wußten diesen Umstand sehr zu seinem Schaden und großen Verdruß auszunutzen. Zu allem Unglücke war er auf seiner Reise schwer erkrankt, so daß er seinen Weg nicht fortsetzen und seine Ziele nicht weiter verfolgen konnte, zuletzt sogar um Urlaubsverlängerung einkommen mußte.

Der Tod Friedrich’s II. bildet in Reichardt’s Leben einen wichtigen Abschnitt. Das Glück, ihm bisher so treu, zeigte sich ihm nun mehr und mehr abhold. Momentan ging in Berlin ja alles noch vortrefflich, aber trotz erneuter Triumphe und königlicher Gnadenbezeugungen zog sich doch ein schweres Ungewitter über seinem Haupte zusammen und die Tage seiner dortigen Herrlichkeit waren gezählt. Ehe in Reichardt’s Biographie weiter vorgeschritten wird, erscheint es angezeigt, einer ganz neuen Thätigkeit des rastlos strebenden Mannes zu gedenken. Berlin besaß, ehe er dahin kam, wol einige Concertinstitute und angesehene Häuser, in denen eifrig musicirt wurde, aber fast nur auf dilettantische Mitwirkung hingewiesen, vermochten sich dieselben nicht zu Kunstinstituten zu entwickeln. Unvollkommenes aber konnte dem, von den höchsten Idealen erfüllten königl. Capellmeister nicht genügen. So gründete er denn 1783 ein Concert spirituel, das an jedem Dienstag in den sechs Fastenwochen stattfand und durch ausgezeichnete Leistungen bald großen Einfluß zu üben imstande war, und rasch zum Vereinigungspunkte aller Berliner Musikfreunde wurde. R. wußte die besten Kräfte der Oper und des königlichen und kronprinzlichen Orchesters zur Mitwirkung zu bestimmen und durch Wahl und Aufführung der zu Gehör gebrachten Musikstücke allgemeine Befriedigung hervorzurufen. Man moquirte sich zwar etwas darüber, daß er zu viele eigene Compositionen aufführen ließ, aber das war kein Grund, ferne zu bleiben. Um die Hörer zum Voraus mit Geist und Inhalt des Vorgeführten bekannt zu machen, fügte R. den Programmen historische und ästhetische Erklärungen hinzu, so rascheres Verständniß vermittelnd und die Erreichung seiner Absichten wesentlich erleichternd. Eine große Anzahl von Tonsetzern, die bisher den Berlinern nicht einmal dem Namen nach bekannt waren, namentlich die älteren Italiener, hörte man hier jetzt zum ersten Male. R., der ein eben so vorzüglicher Cellist, wie sein Vorgänger ein trefflicher Flötist war, und dem es sogar besonderes Vergnügen [637] gewährte, in den Theaterorchesterproben mitzuspielen, fand unter dem neuen, ihm sehr gewogenen Könige endlich die Beschäftigung, die er sich lange ersehnt hatte. Zur Feier der Thronbesteigunng hatte er ein doppelchöriges „Te Deum“ componirt, das aber erst später zur öffentlichen Aufführung gelangte. Der kunstsinnige Fürst Esterhazy erbat sich den „Cantus lugubris“ und dieses „Te Deum“, um beide Werke 1787 in Eisenstadt aufführen zu lassen und beschenkte darnach den Componisten mit einer mit des Fürsten Bildniß geschmückten goldenen Dose. Am 28. December 1787 wurde im deutschen Theater, das der König zum Nationaltheater mit einem Zuschuß von 6000 Thlrn. jährlich erhoben hatte, Shakespeare’s Trauerspiel „Macbeth“, von Bürger übersetzt, mit den „fürchterlich schönen“, von R. componirten Hexenscenen sehr beifällig aufgeführt. Die erste seiner in Berlin gegebenen großen Opern: „Andromeda“, 1788, brachte dem Meister eine Gehaltszulage von 800 Thlrn., und zudem erhielt er von der verwittweten Kurfürstin Marie Anna von Baiern, der er die noch in der königl. Bibliothek in München aufbewahrte Partitur überreichte, eine prächtige goldene Dose geschenkt. Nach dem Carneval erhielt er den Auftrag, eine Reise nach Italien zu machen, um für die Oper neue Kräfte zu gewinnen. Es ist nicht anzugeben, aus welchen Gründen diese Reise erst 1790 stattfand. Zu des Königs Geburtstag, 16. October 1788, wurde „Medea in Cholchide“ von Naumann, der zur Direction seines Werkes selbst nach Berlin gekommen war, aufgeführt. Vom König, der dessen weichliche Musik der ernsteren und auf das Große gerichteten Reichardt’schen Musik vorzog, sehr geschätzt, ward der Dresdner Capellmeister sofort aufgefordert, eine zweite Oper, „Protesilao“, für den Carneval 1789 zu schreiben. Da jedoch die ihm gestellte Frist zu kurz erschien, mußten er und R. losen, welcher von ihnen je einen Act des Dramas übernehmen sollte. Naumann entschloß sich nur sehr ungern zu diesem Vorschlag, zog aber zuletzt doch aus den Händen der Prinzessin Friederike das Loos, das ihm den zweiten Act bestimmte. Der Zufall hatte günstig entschieden. Der erste Act entsprach ganz dem Feuer und der großen Manier Reichardt’s, der zweite gab Naumann Gelegenheit, durch schmelzenden Gesang und Melodienreichthum zu gewinnen. Uebrigens schrieben beide Tonsetzer später die ihnen im ersten Moment entzogenen Acte. R., der sehr schnell arbeitete, ward auch mit dem zweiten bald fertig und schickte dessen Partitur an Naumann, noch bevor derselbe seinen Antheil vollendet hatte. Der von Naumann vollständig componirte „Protesilao“ wurde 1793 in Berlin aufgeführt. R., angespornt dadurch, daß der König andere Tonsetzer bevorzugte und nun in den Jahren vollster, künstlerischer Reife, setzte bei einem neuen, ihm gewordenen Auftrag alle Kraft ein, Hervorragendes zu leisten. Wiederum an Friedrich Wilhelm’s Geburtsstage, 16. October 1789, kam in prachtvoller Ausstattung (Decoration und Costüme sollen 15,000 Thlr. gekostet haben), sein „Brenno“, den er selbst als sein bestes Werk erklärte, der aber auch sehr gegentheilige Beurtheilung erfuhr, zur Aufführung. Nach mancher Richtung war dieselbe von Interesse. Die Ouverture, Reichardt’s gelungenster Orchestersatz, erhielt sich lange auf dem Concertrepertoire, die von concertirenden Instrumenten Cello (Duport), Fagott (Schwarz) und zwei Hörnern (Palsa und Türrschmidt) accompagnirte Arie der, von der Todi gesungenen Ostilia „Dei di Roma, ah porteggete“, erregte Bewunderung, ebenso entzückte ein Marsch dreier gleichzeitig auf der Bühne vorüberziehender Musikchöre. Das wichtigste aber war, daß R. zum ersten Mal jetzt einen Bassisten in das Ensemble der großen Oper einfügte, eine Sensation machende Neuerung. Er hatte für den berühmten Bassisten L. Fischer, mit seiner durch Kraft und Umfang phänomenalen Stimme, die Partie des Brennus geschrieben; mit seiner großen Arie: „Roma superba“, dem Lieblingsstücke der Berliner, wußte er die Hörer [638] stets zur Begeisterung zu entflammen. Bevor das Jahr sich zu Ende neigte, führte R., 20. December, gelegentlich des Dankgottesdienstes, der nach Genesung des Kronprinzen und des Prinzen Ludwig von längerer Krankheit stattfand, eine „Ode“ auf Klopstock’sche Worte und mm auch sein großes „Te Deum“, das der König, für den es s. Z. bestimmt war, jetzt zum ersten Male hörte, auf. Im Carneval 1790 wurde „Brenno“ sechs Mal wiederholt, nun mit Mad. Lebrun als Ostilia. Wir wissen nicht, ob R. nach seinem neuesten Werke durch eine besondere Auszeichnung geehrt wurde; so sehr es gefallen hatte, war es doch seinen Gegnern gelungen, die Anstellung eines zweiten Capellmeisters, F. Alessandri, eines ganz obscuren Rivalen, durchzusetzen, und zwar erhielt derselbe 3000 Thlr. Gehalt, während R. nur 2000 Thlr. erhielt. Der über diese Vorfälle tief verstimmte R. war froh, zu Ostern seine zweite italienische Reise antreten zu können, die ihn wiederum mit vielen musikalischen Berühmtheiten und hochgestellten Personen in persönlichen Verkehr brachte. Erst im Herbste traf er wieder in Berlin ein, leider ohne ein gewünschtes Resultat erreicht zu haben. Italien war arm an großen Gesangstalenten geworden und dort wenig mehr zu holen. Kaum angekommen, begann er seine Arbeit an der für den nächsten Carneval in Aussicht genommenen Oper: „Olimpiade“ von Metastasio. Das Werk wurde rechtzeitig vollendet, alle Vorbereitungen für die Inscenirung, für die bereits 40,000 Thlr. ausgeworfen waren, getroffen. als eine tödtliche Brustkrankheit, die ihm jede Thätigkeit unmöglich machte, den Componisten befiel. Er mußte nun seinem nur ganz Ungenügendes leistenden („La Compagnia d’opera à Nankin“, „Dario“, „Vasco da Gama“ werden als ganz elende Machwerke bezeichnet) Nebenbuhler das Terrain allein überlassen. Die Opernkräfte waren um diese Zeit so ungenügend geworden, daß R. eigentlich froh sein mußte, daß die Aufführung der „Olimpiade“ unmöglich geworden war. Er weigerte sich auch, für dies Personal eine neue Oper zu schreiben. Eben so erbärmlich wie die große Oper war auch die Opera buffa, die sich der König in Potsdam hielt. Im Herbst 1797 gab eine Doppelvermählung am Berliner Hofe zu großen Festlichkeiten Anlaß. Am 29. September 1791 ward Prinzessin Friederike dem Herzog Friedrich von York, am 1. October Prinzessin Wilhelmine dem Erbprinzen Friedrich von Oranien angetraut. Am 3. October kam endlich auch „Olimpiade“ mit großer Pracht und sehr glücklicher Wirkung, aber durchaus nicht zur Zufriedenheit des Componisten zur Aufführung. Wir haben wiederholt darauf hingedeutet, daß R. in Berlin nicht auf Rosen gebettet war. Der stolze, selbstbewußte Mann, der seine Zunge nicht, wie es einem Höfling ziemt, zu zügeln verstand, erweckte sich überall Gegner, die sich täglich mehrten, da der Unbesonnene fast immer von Berlin abwesend war und seinen Feinden also das Feld überließ. Seit die kronprinzliche Capelle mit der früheren königlichen vereint war, hatte sich ein unversöhnlicher Feind für ihn in dem Cellisten Duport, des Königs Liebling und Lehrer, gefunden, der zum Surintendant de la musique du roi ernannt, nun sich über R. gestellt wähnte. Die heftigsten Zerwürfnisse, wer nun die Oberhand behalten würde, waren die Folge davon. Ein königlicher Befehl mußte endlich diese Angelegenheit ordnen; aber die meisten Orchestermitglieder hielten es mit Duport und blieben, ebenso wie die italienischen Opernmitglieder, R. in fortwährender Opposition feindselig gesinnt. 1787 war in dem Signor Filistri de Caramondani ein neuer Hofpoet angestellt worden. Er war das gefügige Werkzeug der königlichen Maitresse, der Rietzin (Gräfin Lichtenau) und ein gefährlicher Intriguant; denn unter deren Schutz wußte er alle seine verderblichen Machinationen durchzusetzen. Mit R. bald verfeindet, gelang es ihm, Alessandri’s Engagement und nach dessen Entfernung, 1791, das V. Righini’s möglich zu machen. In letzterem war allerdings für R. kein zu verachtender Rivale gefunden. [639] Müde der Kämpfe, in die er sich unausgesetzt verwickelt sah, trug sich R. längst mit dem Plane, seine Berliner Stellung niederzulegen. Ein desfallsiges Gesuch schlug der König, der dem Verfolgten und Gehaßten allein freundlich gesinnt blieb, ab, aber er gewährte ihm mit Bewilligung des vollen Gehaltes einen dreijährigen Urlaub, den R. nun zu einem Erholungsaufenthalte in Giebichenstein und zu weiten Reisen nach London, Paris, Stockholm, Kopenhagen u. s. w. benutzte. Eine Oper: „Alboin“, deren Composition ihm vom Könige aufgetragen war, componirte er nicht, wie er denn, bis zum Tode desselben, 1797, nichts mehr für die italienische Oper schrieb. Die gewaltigen politischen Stürme, die infolge der französischen Revolution Europa erschütterten, wurden auch für Preußen verhängnißvoll. Der König und die königlichen Prinzen waren vom 10. Juli 1792 bis zum Spätherbst 1793 von Berlin abwesend, um an einem unrühmlichen Feldzug sich zu betheiligen. R. war nach Ablauf seines Urlaubs nach Berlin zurückgekehrt, täglich mehr erkennend, daß er seiner künstlerischen und politischen Gesinnung nach nicht an einen Hof paßte, der sich durch die schmählichste Günstlings- und Maitressenwirthschaft brandmarkte und an dem eine Adels- und Camarillaregierung die Zügel in den Händen hielt. Schon als er seine Stelle in Berlin antrat, hatte er sich einer Gesellschaft freisinniger Männer angeschlossen, welche den Vorgängen in Frankreich mit gespanntem Interesse folgten. War er in jüngeren Jahren den Franzosen auch abgeneigt, so schwand doch jede Sympathie für sie, als er ihre nähere Bekanntschaft gemacht und besonders nachdem er mit seinen Opern so traurige Erfahrungen in Paris erlebt hatte. Gegen den Usurpator Napoleon erfüllte ihn tiefer Haß. Also nicht für die Franzosen, wohl aber für die Revolutionsideen zeigte er sich stets begeistert. Es kam ihm nie in den Sinn, seine Sympathieen für die Fortschritte, welche die Staatsumwälzung jenseits des Rheins veranlaßte, zu verhüllen, und seine unklugen und freien Reden zu mäßigen. Die Erlebnisse der letzten Jahre hatten sein reizbares, aufbrausendes Wesen und seinen Unmuth nur gesteigert und dieser brach sich denn auch bei jedem Vorkommniß (oder wie er wähnte, bei jeder neuen Kränkung) ungestüm Bahn. Fortwährend von Mißgünstigen und Aufpassern, die jedes seiner Worte erlauerten, beobachtet, konnte es nicht ausbleiben, daß seine unvorsichtigen Aeußerungen wiederholt dem Könige hinterbracht wurden, dessen Unwille gegen seinen Capellmeister unablässig geschürt wurde. Man sagt, daß R. einst beim Kartenspiele sämmtlichen Königen die Köpfe mit der Bemerkung abgeschnitten habe: „So müsse man es allen Königen machen.“ Ein sehr gravirender Brief, der seinem königlichen Herrn in die Hände gespielt wurde, brach endlich das Eis. R. wurde 1794 ohne Pension entlassen.

So wenig anziehend R. in seiner Stellung und im öffentlichen Leben sich uns darstellt, so ganz anders tritt er uns in seinen häuslichen Verhältnissen entgegen, worüber vielfache Schilderungen vorliegen. Seine weiten Reisen brachten ihn mit Berühmtheiten aller Art in Berührung und gestatteten ihm, wie kaum einem zweiten seiner Zeitgenossen, sich Welt- und Menschenkenntniß in umfassendstem Grade anzueignen. Sein (eigenes) Haus in Berlin war der Sammelplatz aller bedeutenden Persönlichkeiten, der heimischen, wie fremden. Der Kreis edler Frauen, welche zumeist seine Familie bildeten (sie bestand aus 13 Personen), seine freimüthige Offenheit, herzliche Gastfreundschaft und aufopfernde Theilnahme für seine Freunde, insbesondere auch für junge, talentvolle, unterstützungsbedürftige Kunstgenossen (so L. E. Kunzen, F. L. Seidel u. a.), eine von allen, die in seine Nähe kamen, gerühmte Gefälligkeit und Zuvorkommenheit, machten es zu einem Orte, zu dem sich namentlich Fremde hingezogen fühlten. Wer seine Schwelle überschritt, fühlte sich heimisch im Umgange mit den vortrefflichen Menschen, die er da antraf. Musterhafte Ordnung herrschte hier und edle, schöne Einfalt in [640] Mahl und Genuß. Jeden Mittag wurden zwei Tafeln gedeckt, nie verging ein Tag, an dem nicht Gäste sich eingefunden hätten. Das Leben und der Fremdenbesuch in Giebichenstein gestalteten sich wirklich großartig. Dieser Landsitz mit seinen traulichen Ufern, hohen Felsen und alten Sagen war reizend und es zeugt von dem feinen Naturgeschmack Reichardt’s, sich diesen schönen Fleck Erde zum Wohn- und Ruhesitze ausgesucht zu haben. Die Saale drängt sich hier in kühner Biegung durch die schön geformten Porphyrfelsen, stürzt sich, bei dem ruhigen Fischerdorfe Cröllwitz und einer reich umpflanzten Papiermühle vorbei, brausend über das hohe Wehr und strömt dann durch fruchtbares Land, bis bei Lettin und Wettin wieder hohe Felsufer sich thürmen. Da erhebt sich das alte Schloß, in dem der vielbeklagte, geistvolle Prinz Louis Ferdinand seinen letzten, unglücklichen Sommer verlebt hat. Von der Gartenhöhe sah man den Petersberg mit seinen Ruinen im Hintergrunde, an hellen Tagen in weiter Ferne auch den Brocken. Auf einer Seite erhob sich ein alter Weinberg, auf der andern eine angenehme Holzung, rückwärts lag die Stadt Halle mit ihren Thürmen und dampfenden Salzkothen. Und darüber weg verlor sich der Blick tief nach Sachsen hinein, nach Merseburg, Lauchstädt und weiter; das Land war rings reich und wechselnd bebaut und von der schönen Pappelallee, die von Magdeburg gen Leipzig zog, durchschnitten. Der ansehnliche Garten, einfach angelegt, mit europäischen und amerikanischen Bäumen besetzt und in Park und Küchengarten getrennt, hegte Rebhühner und Hasen, die aber in vergnüglichem Dasein kein Schuß aufscheuchen durfte. Zahlreiche Nachtigallen belebten die Idylle. Des Hauses Töchter sangen alle, und R. hatte Kutscher und Bedienten aufs Waldhorn eingelernt. Wenn dann an schönen, lauen Sommerabenden die Stimmen der Schwestern, von Hörnern begleitet, die alten, trauten deutschen Lieder anstimmten, war der Eindruck hinreißend. Fürsten, Staatsmänner, Generale, Gelehrte, darunter vor allen Schleiermacher, Dichter, Schriftsteller, Künstler fanden sich da zusammen. Unter den ausgezeichneten Zeitgenossen fühlte sich R. zumeist zu Goethe hingezogen. Mit Vorliebe und Glück componirte er dessen Lieder und Singspiele und so sehr alle Tonsetzer Deutschlands von je bemüht waren, diese köstlichen Poesien durch Töne zu verklären, und so sehr sich auch die Kunstmittel im Laufe der Zeit erweiterten, im allgemeinen blieben seine Weisen unübertroffen an warmer Auffassung, tiefem Verständnisse, begeisterter Hingabe und Umfang und Mannigfaltigkeit des Dargestellten. Leider erfuhren auch die Beziehungen zu diesem von ihm so verehrten und geliebten Manne eine Störung (auch in Jena und Weimar wohnten erbitterte Gegner Reichardt’s, unter ihnen besonders Schiller, Knebel u. a.), doch stellte sich, nach Verfluß einiger Jahre, wenigstens ein leidliches Verhältniß zwischen beiden wieder her. R. zog sich nach seiner Entlassung mit seiner Familie zunächst in die Mühle des Dorfes Ottenhausen bei Altona zurück, bis er seit dem August 1795 vorzugsweise in Giebichenstein seinen Wohnsitz nahm. Es ist fast anzunehmen, daß der König, als er seinen Capellmeister verabschiedete, nur einem auf ihn geübten Druck nachgab. Im Herzen scheint er ihm immer wohlgesinnt geblieben zu sein, das beweist der Umstand, daß er den seiner Existenzmittel nun beraubten, 1796 mit der Stelle eines Salzinspectors in Schönebeck bei Halle begnadete. Nach dem Tode Friedrich Wilhelm’s II. begegnen wir R. wieder in Berlin, wo er sich durch Aufführung einiger bedeutender Werke neuen Ruhm und auch die Gunst Friedrich Wilhelm’s III. erwarb, der seine künstlerischen Bestrebungen wohl förderte, ihn zwar nicht mehr zu seinem Capellmeister machte, dafür ihn aber in seiner Stelle bestätigte, ja ihm noch 800 Thlr. Gehaltszulage bestimmte. Er führte nun 1798 seinen „Brennus“ mit deutschem Texte unter großem Beifalle wiederholt auf. Für den ersten im Druck erschienenen Act der Partitur, den er [641] der russischen Kaiserin überreichen ließ, schickte ihm diese einen kostbaren Brillantring. – Dann arrangirte er eine neue Gedächtnißfeier auf Friedrich d. Gr. und gab am Huldigungstage des jungen Königs im Nationaltheater seine jüngste Oper: „Die Geisterinsel“; in gleichem Hause auch bald darauf seinen „Tamerlan“, der Text von Schaum ins Deutsche übersetzt. Diesen Werken folgte im Carneval 1801 auf der Opernbühne noch „Rosmonde“, die ihm ein königliches Geschenk von 300 Thlrn. erbrachte. Im nächsten Jahre, nachdem er die Composition einer neuen Oper: „Das Zauberschloß“ vollendet, unternahm er (October 1802), immer noch in der Erwartung, seine Opern dort aufgeführt zu sehen, nun von seinem Schüler Seidel begleitet, eine vierte Reise nach Paris. Man empfing ihn zuvorkommender als früher, machte ihm die besten Hoffnungen, führte auch bei verschiedenen Veranlassungen Compositionen von ihm auf, er ward sogar dem ersten Consul vorgestellt, den Zweck seiner Reise aber erreichte er auch dies Mal nicht. Dafür ward ihm die Ehrung zu theil, in der nächsten Zeit zum auswärtigen Mitglied der IV. Classe des französischen Nationalinstituts und zum Mitglied der königl. Akademie der Musik in Stockholm ernannt zu werden. Im J. 1803 kehrte R. nach Giebichenstein zurück. Als die Franzosen in dem von Preußen so unglücklich geführten Kriege von 1806 nach der Schlacht von Jena bis Halle vordrangen (Napoleon rückte, nachdem vor den Thoren der Stadt noch ein Gefecht stattgefunden am 19. October dort ein; nächsten Tages wurde die Universität geschlossen), mußte R., der kurz vorher mit Schlabrendorf eine größtes Aufsehen machende politische Schrift: „Napoleon und das französische Volk unter seinem Consulat“ geschrieben und dadurch den Machthaber aufs höchste erzürnt hatte, mit seiner Familie, die er in Berlin zurückließ, flüchten, und wir treffen ihn als Protokollführer des Commandanten von Kalkreuth in Danzig, Königsberg und Memel. Nach dem Tilsiter Frieden (Juli 1807) fiel das linke Elbufer an das neu errichtete Königreich Westfalen. Ein Befehl König Jerome’s zwang alle abwesenden Personen der incorporirten Landestheile, bei Strafe des Vermögensverlustes zur Rückkehr. R., dessen Salinendirectorstelle während seiner Entfernung anderweitig besetzt worden war, der auch auf seine an den König von Preußen gerichtete Bitte um eine bescheidene Anstellung eine zwar gnädige, doch abschlägige Antwort erhalten und den seine Freunde vergebens zum Unterpräfecten in Halle vorgeschlagen hatten, wurde – er, der unversöhnliche Franzosenhasser, der auch jetzt aus seinen Gesinnungen kein Hehl machte – auf ausdrücklichen Befehl Napoleon’s, der ihn im Auge behalten wollte, nun in Cassel als Capellmeister angestellt. Hätte er die Stelle ausgeschlagen, wäre er unfehlbar in gefängliche Haft genommen worden. Er war also gezwungen, dorthin zu übersiedeln. Auch mochte ein Gehalt von 2500 Thlrn. in seiner gegenwärtigen Lage ein Beweggrund für ihn sein. Er fand hier gute Orchesterkräfte, aus den einst hessischen und braunschweigischen Capellen combinirt, und viele vorzügliche Künstler vor, eine französische, italienische und deutsche Oper und ein aus den schönsten und gefälligsten Tänzerinnen gebildetes Ballet unter Taglioni’s Leitung. Auch zahlreiche ausgezeichnete Musikkenner, denen die Tonwerke aller Nationen vertraut waren, hatten sich damals in der lustigen, im Sinnentaumel dahinlebenden Residenz des jungen Königs zusammengefunden. Der ernste, durch manche Schicksalsschläge schwer heimgesuchte R., mit seinem von Groll ob des unterjochten Vaterlandes Schmach erfüllten Herzen, paßte schlecht in den Casseler Carneval. Durch sein heftiges, hochfahrendes Wesen stieß er auch hier überall an. Im Grunde hatte er in seiner neuen Stellung nur die Aufgabe, die leichten Machwerke der Franzosen und Italiener zur Aufführung zu bringen; seine eigenen Compositionen, die er allerdings auch hier wieder zu sehr in den Vordergrund zu stellen suchte, wurden nicht verstanden und machten [642] durchaus kein Glück. Sein reizbares, barsches Naturell, seine bekannte Art, sich rücksichtslos zu äußern, verwickelten ihn mehrfach in unangenehme Händel; namentlich ein Streit mit dem Seminardirector hatte bedenkliche Folgen für ihn. Ein vom Landgraf Friedrich II. gestiftetes Lehrerseminar besaß einen trefflichen Chor. König Jerome befahl, daß die Zöglinge im Theaterchor mitzusingen hätten. R. ging noch weiter; er entwarf einen Plan, der sie ganz dem Theater überliefern sollte. Dagegen aber erhob der Director mit allem Nachdruck seine Stimme; Reichardt’s Absicht wurde vereitelt. In seinem Groll ging derselbe nun soweit, jenen auf offener Straße gröblich zu insultiren. Dieser Vorfall entfremdete ihm die Bevölkerung, wie die Orchestermitglieder, die schon dadurch verletzt waren, daß er jede Gemeinschaft mit ihnen mied und stets nur die Cirkel der Vornehmen besuchte. Es fehlte nun bald nicht mehr an Chicanen aller Art. So übergab man das Libretto einer zu componirenden Festoper: „Les Esclaves d’Algier“ – das Sujet auf eine der edelsten Handlungen des Königs, die Loskaufung französischer Sclaven in Algier sich beziehend, – nicht ihm, sondern einem andern, und er war verbunden, das Werk einzustudiren. Unter solchen Umständen konnte es ihm nur höchst angenehm sein, den Auftrag zu erhalten, nach Prag und Wien zu reisen, um hervorragende Gesangskräfte für eine in Cassel zu bildende Opera buffa zu werben. Reiseaufträge kamen ihm nie ungelegen und so ging er denn im Winter 1808 auf 1809 nach der ihm von früher her bekannten frohen Kaiserstadt, in der er schmeichelhafte Aufnahme, durch kunsteifrige Fürsten erwünschte Beschäftigung und die berühmtesten Componisten und Künstler versammelt fand. Die Generaldirection der Wiener Theater übertrug ihm die Composition des Collin’schen Textes „Bradamante“. Da ihm, um sein neues Werk insceniren zu können, die nöthige Urlaubsverlängerung nicht zugestanden wurde, entsagte er, hoffend, in Wien feste Stellung zu finden, der Casseler Bedienstung. Ehe jedoch die im fürstlich Lobkowitz’schen Palais zuerst aufgeführte Oper aufs Theater kam, brach wieder Krieg aus und R. zog sich nun, dortige Verwandte besuchend, zu dreimonatlichem angenehmen Aufenthalt nach Schlesien zurück. Während dem kam seine in Cassel zurückgebliebene Familie in peinliche Bedrängniß. Er hatte ihr seinen vollen Gehalt überlassen; nach Reichardt’s Entsagung zog der König denselben sofort ein und die Seinigen sahen sich plötzlich aller Existenzmittel beraubt. Es ist rührend zu lesen, wie seine Freunde, besonders der edle W. C. Grimm, in zarter Weise der Noth, der die verlassenen Frauen momentan preisgegeben waren, abzuhelfen suchten. Signor Riccoduro, Monsieur Righaar und Herr Thrahcier (wie er selbst seinen Namen umgekehrt schrieb), war so für immer vom leichtfertig-verrufenen Hoflager der westfälischen Majestät verschwunden. Fortan hielt er sich still in seinem lieben Giebichenstein. Er erlebte noch den Zusammenbruch der Napoleonischen Herrlichkeit, d. h. den ersten, 30. Mai 1814 geschlossenen Pariser Frieden, schloß aber schon einen Monat später seine Augen, bis in die letzten Lebenstage mit patriotischen Compositionsentwürfen beschäftigt.

R. war unbestritten einer der interessantesten Männer seiner Zeit. Geistvoll, geschickt und vielseitig, schien ihm doch das Talent zu einem bestimmten Berufe abzugehen. Eine unruhige, alles ergreifende, nichts mit Ausdauer festhaltende Natur, wurde er in beständigem Experimentiren alt. Musiker, Schriftsteller, Aesthetiker, Politiker, genialer Porträtzeichner, Componist und Dirigent, in allem bedeutend, vermochte er doch auf keinem Gebiete das Höchste zu erreichen und in keiner Situation zu behaglicher Ruhe zu gelangen. Immer sehen wir ihn unstät in der Welt umhergetrieben. Das Feld, auf dem er die meiste Ausdauer bethätigte, die Operncomposition, erwies sich ihm ganz undankbar, obwol er hier manche ehrende Erfolge zu vermerken hatte. Seine umfangreicheren [643] Schöpfungen, mehr Resultat der Bildung und des Nachdenkens als der Eingebung (obgleich er sehr schnell arbeitete), offenbarten wol vollständige Beherrschung der Mittel und kunstgerechte Factur und in musikalischer Charakteristik und einfach großer Darstellung viel Ueberraschendes und Ausgezeichnetes, vermögen aber Phantasie und Empfindung nur selten ganz zu befriedigen und sich über ein hohles Pathos nur ausnahmsweise zu erheben. Er vermag seine Vorbilder (Graun und Gluck) weder zu erreichen, noch zu übertreffen. Aber es wäre ein Unrecht, ihn als sclavischen Nachahmer bezeichnen zu wollen. Kein Componist von des Genius Gnaden, sondern vorwiegend reflectirenden Talentes, war er doch einer der Wenigen, denen gerade das Schwerste am besten gelang. Keiner der anderen Tonsetzer, auch ihm an künstlerischer Begabung überlegen, hat besser die andeutungsvolle Naivetät der Goethe’schen Lieder verstanden und musikalisch zu behandeln gewußt, als er. Der kennt ihn nur halb, der ihm Feinheit in der Beobachtung und Gewandtheit und Witz im Umgange abspricht; er besaß diese Eigenschaften in nicht minderem Grade, als weibliche Eitelkeit und Prahlsucht, die ihm in Verbindung mit seiner rücksichtslosen und rechthaberischen Art sich zu äußern, manche Unannehmlichkeiten und viele Gegner zuzogen. Vielleicht haben sein steter Umgang mit berühmten und hochstehenden Persönlichkeiten und ein zu lebendiges Gefühl seines Werthes diese Richtung seines Charakters entwickelt. R. war ein stattlicher, in früheren Jahren schöner, gewandter und lebhafter Mann. In der Unterhaltung anregend, laut, rücksichtslos, abspringend, zwanglos, zeigte er eine Unruhe, die in späteren Jahren, da sein Kopf ganz kahl geworden war, auffallen mußte. Eine gewisse künstlerische Vernachlässigung seines sonst gewählten und sauberen Anzuges bemerkte man bei dem berühmten Componisten recht unangenehm. Es existiren verschiedene vortreffliche Porträts von ihm, darunter eines von J. Enri, 1791, ein anderes von A. Graff, 1794 (letzteres noch im Besitze der Familie Raumer in Erlangen). Nach dem erstern erschien 1796 ein meisterhafter Stich in Linienmanier von B. H. Bendix in Berlin, nach letzterem ein solcher 1814 in punctirter Manier von J. A. Riedel in Leipzig. J. A. Hiller in Leipzig besaß ein Pastellbild, Hauptmann v. Wagner in Stendal eine Kreidezeichnung des Reichardt’schen Portraits. Eine Büste hat Kreul (Greuel?) in Weimar angefertigt; die Copie davon wurde im Concertsaale des königl. Schauspielhauses in Berlin aufgestellt. Aus erster Ehe waren R. zwei Töchter geblieben, Luise, von der in einem eigenen Artikel die Rede sein wird, und Juliane (1783–1838), an den Chefpräsidenten Stelzer in Halberstadt verheirathet. Ein Sohn, Wilhelm, starb 4 Jahre alt. In zweiter Ehe wurden ihm 5 Kinder geboren, Johanna mit Heinrich Steffens, Friederike mit Hofrath K. G. v. Raumer und Sophie, mit dem Superintendenten Radecke in Wernigerode verheirathet. Ein Sohn, Hermann, verunglückte (1801) als Gymnasiast in Magdeburg beim Schlittschuhlaufen, ein anderer, Friedrich, Architekt in Hamburg, hat den Vater überlebt. Seine eigentliche Erzieherin war seine Stiefschwester Luise. Reichardt’s zweite Frau brachte ihm drei Kinder in die Ehe: Wilhelm Hensler, der später den Namen R. annahm und in Frankreich lebte und starb, Charlotte mit dem Geh. Rath Pistor und Minna, mit dem Geh. Rath Alberti in der Folge vermählt. Die Schwestern derselben waren mit dem Dichter L. Tieck, dem älteren Waagen, berühmtem Kunstschriftsteller, und dem Consistorialrath und Professor A. W. P. Möller verheirathet.

Die schriftstellerische und compositorische Thätigkeit Reichardt’s war eine sehr reichhaltige und fruchtbare. Man mag mit Fassung und Stil, vielfach auch mit dem Inhalte seiner Schriften nicht ganz einverstanden sein, auch seine Parteilichkeit und Voreingenommenheit berühmten Collegen gegenüber (besonders Mozart) kleinlich und tadelnswerth finden, dennoch muß man in ihm den bedeutendsten Musikschriftsteller [644] seiner Zeit anerkennen. Als Kritiker und Kunsthistoriker, welterfahrener, einsichtsvoller Mann und scharfer Beobachter, recht wohl befähigt, ernste musikalische Fragen zu beantworten und wissenschaftlich zu behandeln, hat er sich vielfach ausgezeichnet. Nach der guten Sitte der Zeit hat er zu den meisten seiner Werke Vorreden geschrieben, die häufig zu den besten Leistungen seiner Feder zählen. Dieselben lassen sich hier nicht einzeln anführen.

Seine Schriften sind folgende: 1) „Briefe eines aufmerksamen Reisenden, die Musik betr.“ II. Frankf. u. Leipzig. 1774–76. 2) „Ueber die deutsche komische Oper, nebst einem Anhange eines freundschaftlichen Briefes über die musikalische Poesie.“ Hamburg 1774. – 3) „Schreiben über die Berlin’sche Musik an Herrn L. v. Sch. in M.“ Hamburg 1775. – 4) „Ueber die Pflichten des Ripien-Violinisten.“ Berlin und Leipzig 1776. – 5) „Leben des berühmten Tonkünstlers H. W. Gulden, nachher genannt Enr. Gugl. Fiorino.“ (Ein Versuch, wie der Verfasser sagt, die elende Erziehung und Lebensart der meisten Tonkünstler in helles Licht zu setzen und auf bessere Erziehung und edlere Kunstbildung aufmerksam zu machen. Eine Art Autobiographie; übrigens ein widerwärtiges und ganz verfehltes Buch.) I. (einziger Theil.) Berlin 1779. – 6) „Musikalisches Kunstmagazin.“ II. Berlin 1782–91 (sein bestes Werk). – 7) „J. J. Rousseau’s musik. Wörterbuch, mit Zusätzen und Anmerkungen.“ Lemgo. – 8) „G. F. Händel’s Jugend.“ Berlin 1785. – 9. „An das musik. Publicum, seine franz. Opern ‚Tamerlan‘ und ‚Panthée‘ betreffend“ (1787). – 10) „Studien für Tonkünstler und Musikfreunde“ (I. Mus. Wochenblatt 1791. II. Mus. Monatsschrift 1792). Berlin 1793. – 11) „Geist des mus. Kunstmagazins. Herausgeg. von J. A. (Alberti).“ Berlin 1793. – 12) „Musikalischer Almanach.“ Berlin 1796. – 13) „G. S. Löhlein’s Anweisung zum Violinspiel, mit praktischen Beispielen und zur Uebung mit 12 kl. Balletstücken a. d. Opern ‚Andromeda‘ und ‚Brennus‘ vermehrt herausgeg.“ Züllichau 1797. – 14) „Vertraute Briefe aus Paris, geschr. 1802.“ III. Hamburg 1804–5 (dagegen: Beleuchtung der vertr. Briefe über Frankreich. Berlin 1804). – 15) „Liederspiele“ (Lieb’ und Treue. Juchhei. Kunst und Liebe). Tübingen 1803. – 16) „Berl. mus. Zeitung 1505–6.“ – 17) „Vertraute Briefe, geschr. auf einer Reise nach Wien 1808–9.“ II. Amsterdam 1810. – Sehr zu bedauern ist, daß die 1787 angekündigten: „Musikalischen Reisen durch Deutschland, England und Frankreich“ in 3 Bänden nicht erschienen sind. Außerdem finden sich zahlreiche litterarische Arbeiten Reichardt’s in verschiedenen Zeitschriften zerstreut: in Nicolai’s allg. deutscher Bibliothek (Recension der Poesie und Musik der Wieland und Schweizerischen „Alceste“); in Boie’s und Dohm’s deutschem Museum (1777: Ueber den Wettgesang des Mai. Ueber die mus. Composition des Schäfergedichts); im Berliner Archiv der Zeit und des Geschmacks (1795. F. W. Wolff. Wanderungen und Träumereien im Gebiete der Tonkunst. Tischgespräche über Kirchenmusik); in der Berliner mus. Zeitung (1795) und in der Leipziger mus. Zeitung (1801, J. A. B. Schulz u. v. a.); in der allg. Jenaer Litteraturzeitung; im Lyceum der schönen Künste (1797, K. Fasch) u. s. w. – Damit ist jedoch Reichardt’s schriftstellerische Thätigkeit nicht erschöpft. Er zählte auch zu den bedeutendsten politischen Publicisten. Zeuge dessen sind die Journale „Frankreich“ (La France) 1795–1802 Lübeck; 1804–5 Hamburg; und Deutschland 1796, Berlin. – Das schon genannte: „Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Consulate.“ Germanien 1804 und dessen 2. Theil: „Napoleon Bonaparte wie er er leibt und lebt und das französische Volk unter ihm.“ Petersburg 1806. – „Offene Briefe des Freiherrn Arminius von der Eiche und seines Leibjägers Hans Heidekraut. Während ihres Leid- und Freudelebens in Frankreich zu Ende des Consulats und zu Anfange des Kaiserthums [645] geschrieben.“ Germanien 1806. Kleinere, seiner Feder entstammende Artikel lassen sich, da sie nicht immer unter seinem Namen erschienen, nicht verfolgen. Hier sei noch der Schrift gedacht: „Schreiben an den Grafen v. Mirabeau, Lavater betr.“ Hamburg und Berlin, um 1786, die allerdings besser unveröffentlicht geblieben wäre.

Das Verzeichniß seiner praktischen Musikwerke ist so umfassend, daß kürzeste Notirung hier geboten erscheint:

A. Oratorien, Kirchenstücke und Cantaten: 1) „Ariadne auf Naxos. Cantate von Gerstenberg.“ Leipzig 1775 (1778 und 1779 wiederholt umgearbeitet, 1780 bei Hofe aufgeführt). – 2) „Der Mai. Mus. Idylle von Ramler, für Sopran und Tenor mit Blasinstrumenten.“ – 3) Cantate von Ebeling, zur Eröffnung des Concertsaales der Handels-Akademie des Prof. Büsch.“ Hamburg 1778. – 4) Cantate von Burmann auf Friedrich’s II. Geburtstag.“ – 5) „Cantate auf den Frieden von Blum.“ 1779. – 6) „Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem von Ramler.“ Gotha 1782. – 7) „An die Musik. Gr. Chor zur Einweihung eines Musiksaales.“ – 8) „Der 165. Psalm nach Mendelssohn.“ 1784. Für den Herzog Friedrich von Mecklenburg-Schwerin, der ihm dafür als Beifallszeichen eine goldne Dose, eine goldne Uhr mit dem Porträt Friedrich’s II. sammt Kette und 40 Louisd’or zum Geschenke machte. – 9) „La Passione di Giesú Christo di Metastasio.“ 1785. – 10) „Auferstehungs-Oratorium für 2 Chöre.“ 1785. – 11) „Cant. in the Praise of Handel.“ Für 2 Chöre. 1785. – 12) „Weihnachtscantilene (Euch ist heute der Heiland geboren!) von Claudius.“ Berlin 1768. Part. 1792. – 13) „Der 64. Psalm von Spalding.“ – 14) „Cantus lugubris in obitum Fried. Magni.“ Potsdam 1787 (von Ramler deutsch: Ermunterung. Trauercantate von Lucchesini). – 15) „Te Deum zur Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s II.“ Für 2 Chöre. 1786. – 16) „Der 65. Psalm von Mendelssohn.“ – 17) „Amor timido“ und 18) „Il consiglio. Cant. di Metastasio“ 1788. – 19) „Cantate auf die Genesung der Prinzen von Preußen.“ 1789. – 20) „Der Sieg des Messias. Cant. von Tode.“ 1790 (für den Hof in Schwerin 1784 oder 85). – 21) „Ode auf die Wiederherstellung der Akademie der Wissenschaften in Berlin.“ 1799. – 22) „Deux Odes de Frédéric le Gr.“ (1. Le Retablissement. 2. Les troubles du Nord.) Berlin 1800. – 23) „Das neue Jahrhundert. Prophetische Ode von Klopstock.“ Für 2 Chöre. (1801). – 24) „Dem Unendlichen“ (wie 29 und 33 für die Singakademie). 1806. – 25) „Te Deum auf den Sieg bei Leipzig.“ 1814. – 26) „Arianna abandonnata. Cant. di Sanseverino.“ – 27) „La Danza. Cant. di Metastasio.“ – 28) „Il Cant. al giorno natalizio della s. A. Reale il Principe e la Principessa di Prussia.“ – 29) „Das Lob der Musik.“ – 30) „Milton’s Morgengesang“ (gedr. 1809). – 31) „Gottes Nähe von Lavater.“ – 32) „Die verborgenen Wege Gottes.“ – 33) „Trauerode am Kreuze Jesu.“ 34) „Drei Trauergesänge.“ – 35) „Laßt dem Erhalter.“ Cant. – 36) „Wohin mein Auge.“ Choral a 4 voci u. Orch. – 37) „Der Mensch lebt und bestehet“ und 38) „Der Sämann säet den Samen. Motette von Claudius.“ – 39) „Weihnachtscantate (Sie sind nun gekommen).“ – 40) „Der 67. Psalm.“ – 41) „Der 95. Psalm.“ – 42) „Sabbato sancto (Komm her mein Herz).“ – 43) „Trauerode auf den Tod der Großherzogin Helene, Erbprinzessin von Mecklenburg-Schwerin.“ – 44) In „Seize Chorales comp. p. Reichardt, Gürrlich, Zelter, Kunzen“, 1792, drei Gesangsstücke von R. – 45) Verschiedene Gelegenheitscantaten für Freimaurerlogen und Freunde. – Einige kleinere Cantaten finden sich auch in den Gesängen für das schöne Geschlecht. Berlin 1775. –

[646] B. Musik für die Bühne. Es muß hier wiederholt bemerkt werden, daß R. nicht nur zuerst den Bassisten den Weg zur Bühne bahnte, und das Orchester das Crescendo und Diminuendo ausführen lehrte, sondern auch der Erfinder (Dichter und Componist) der s. Z. beliebt gewordenen Liederspiele war, d. h. gemüthlicher Stücke. die mit sehr einfach gehaltenen Liedern von Goethe, Salis, Herder u. s. w. durchwebt waren. Es fanden sich manche Nachahmer dieser Gattung, unter denen besonders sein Amtsnachfolger Himmel durch seine „Fanchon“ ihn überflügelte. Außer vielen italienischen Arien zu „Siroe,“ „Angelica e Medoro“, „Rodelinda“, „Armida“, „Didone abbandonata“, „Orpheo“ (von Bertoni), „Piramo e Thisbe“ und solchen für die Königin Marie Antoinette geschriebenen, arbeitete er für das Theater: 1) „Orpheus“, 2) „Tripstrill“, Ballete. Königsberg. – 3) „Hänschen und Gretchen“ und 4) „Amor’s Guckkasten.“ Riga 1772. – 5) „Le Feste galanti. Opera.“ Um 1774. – 6) „La Gioja dopo il duolo o le Feste superbe. Drama (Serenada) p. Musica.“ 1776. (Auf die Genesung des Königs) – 7) „Il genio della Russia e il genio della Prussia. Prolog von Landi.“ 1776. – 8) „Artemisia.“ – 9) „Cephalus und Prokris. Duodrama von Ramler.“ – 10) „Der Bleidecker.“ Alle drei 1778. – 11) „Ino. Duodrama von Brandes.“ – 12) „Der Holzhauer“, Singspiel, beide 1779. – 13) „Das blaue Ungeheuer.“ – 14) „Der Hufschmied.“ Singspiel. – 15) „Liebe nur beglückt.“ Singspiel, 1781. – 16) „Panthée“ und 13) „Tamerlan.“ 1785–86. – 18) „Musik zu Macbeth.“ 1787. – 19) „Andromeda, Oper von Filistri.“ 1788. – 20) „Protesilao.“ – 21) „Brenno. Oper von Filistri.“ Beide 1789. – 22) „Claudine von Villabella“ 1789. – 23) „Erwin und Elmire.“ – 24) „Jery und Bätely.“ 1790. – 25) „Lilla.“ 1791. Singspiele von Goethe. – 26) In diese Zeit fallen noch die Compositionen zu vielen Goethe’schen Stücken: zu Egmont, Iphigenia, Triumph der Empfindsamkeit, Tasso, die Vögel, Clavigo, Götz von Berlichingen, Faust. – 27) „Olimpiade. Oper von Metastasio.“ 1791. – 28) „Die Geisterinsel. Singspiel von Gotter.“ 1798. (Die häufigst aufgeführte Oper Reichardt’s.) – 29) „Lieb’ und Treue.“ – 30) „Juchhei.“ (Der Jubel.) 1790. Liederspiele. – 31) „Rosmonda. Trag. lir.“ von Filistri. 1801. – 32) „Das Zauberschloß von Kotzebue.“ 1801. – 33) Musik zu dessen Schauspiel: Die Kreuzfahrer. 1802. – 34) „Des Herkules Tod. Monodrama nach Sophokles.“ 1802. – 35) „Kunst und Liebe,“ Liederspiel. 1807. – 36) „L’heureux naufrage.“ 1808. – 37) „Bradamante, Oper von Collin.“ 1808. – 38) „Der Taucher, Oper von Bürde.“ 1811. – 39) „Der bezauberte Wald.“ (?) – 40) Das letzte dramatische Werk, an dem R. arbeitete, war die Oper: „Sakontala.“ Hier dürfte wol noch anzufügen sein: mehrere Vorspiele fürs deutsche Theater bei Hofveranlassungen in Berlin und Schwedt. –

C. Lieder. Sie sind zahllos und in vielen Sammlungen, die R. selbst zusammenstellte, sowie in vielen gleichzeitigen Sammelwerken erschienen. Diese Liederbände enthalten das Trefflichste und Dauerndste, was R. geschrieben hat und nur die, für unser Ohr nicht mehr ausreichende, allzugroße Einfachheit dieser Lieder in Weise und Accompagnement ist Ursache, daß sie vergessen wurden. Es lohnte sich recht wohl, die besten der Reichardt’schen Lieder für die Gegenwart zu retten, denn eine Neuausgabe von fünf Goethe’schen Liedern (Lpz., Br. & H.) dürfte doch wol nur ein ungenügendes Bild seiner Arbeiten liefern. – 1) „Vermischte Musikalien.“ Riga 1773. – 2) „Gesänge für das schöne Geschlecht.“ Berlin 1775. – 3) „Oden und Lieder von Klopstock, Stolberg, Claudius, Hölty, Goethe, Bürger, Voß, Sprickmann, Herder“ u. a. III. Berlin 1779–81. – 4) „Lieder für Kinder.“ IV. Braunschweig 1781–82. – 5) „Frohe Lieder für deutsche Männer.“ Dessau. – 6) „Lieder von Kleist, Uz, Hagedorn“ u. a. Grottkau 1782. – 7) „Kleine [647] Clavier- und Singstücke.“ Königsberg 1782. – 8) „Lieder von Gleim und Jacobi.“ Gotha 1784. – 9) Viele Gesänge im mus. Kunstmagazin, 2 Bde. oder 8 Stücke. 1782–91, und 10) in der Cäcilia, 4 Stücke, 1790–95. – 11) „Deutsche Gesänge mit Clavierbegleitung.“ Leipzig 1788. – 12) „Deutsche Lieder und Oden.“ Leipzig 1789. – 13) „Lavater’s geistliche Lieder.“ Winterthur 1790. – 14) „Goethe’s lyrische Gedichte.“ Zuerst Berlin 1790 in 1 Bde. u. d. T.: „Musik zu Goethe’s Werken.“ Dann gesammelt in vier Bdn. Leipzig. (118 Nummern.) Diese reiche Sammlung enthält die im Volkston gehaltenen, die meiste Lebensfähigkeit erweisenden Tondichtungen Reichardt’s, die Lieder: „Ein Veilchen auf der Wiese stand,“ „Der untreue Knabe,“ „Das Haideröslein,“ das hinreißende „Freudvoll und leidvoll“ u. v. a. – 15) „Deutsche Gesänge beim Clavier. Gedichte von Matthisson.“ Berlin 1794. – 16) „Romances d’Estelle p. Florian.“ Berlin 1794. – 17) „Studien für Tonkünstler.“ Berlin 1793. – 18) „Mus. Blumenstrauß.“ IV Hefte. Berlin 1795. – 19) „Lieder geselliger Freude.“ II. 1796–97. (Dazu Instrumentalmusik für 2 Viol. od. 2 Clarinetten od. 2 Oboen, od. 2 Flöten und 2 Hörner, Cello od. Fagott. Auch u. d. T.: „Uebungsstücke für Anfänger.“ Leipzig.) – 20) „Wiegenlieder für gute deutsche Mütter.“ Leipzig. – 21) „Gesänge der Klage und des Trostes bei Gelegenheit des Todes des Prinzen Louis von Preußen.“ Berlin 1797. – 22) „Lieder der Jugend.“ II. Leipzig. – 28) Im Journal „Deutschland“ finden sich zehn Liedercompositionen. – 24) „Lieder der Liebe und Einsamkeit.“ Leipzig und Berlin 1798. – 25) „Volkslied auf den König“ von Seidel. Berlin 1798. – 26) „Romantische Gesänge.“ Leipzig. – 27) „6 Canzonette.“ – 28) „12 Elegien und Romanzen“ (der Mad. Louis Bonaparte dedicirt). Oranienb. 1804. – 29) „Le Troubadour italien, français et allemand.“ 3 Hefte oder 36 Nummern. Berlin 1805–6. – 30) „3 Lieder von C. L. Reissig.“ Leipzig. – 31) „Ode an die Unschuld“ von H. Schmidt. Berlin. – 32) „F. Schiller’s lyrische Gedichte.“ II. 46 Nummern. Leipzig. – Außerdem lieferte R. Beiträge zum Musenalmanach von Voß 1777–80. 1784. 1789. 1791. 1794–98, zum Claviermagazin für Kenner und Liebhaber 1787, zu Melodie und Harmonie 1788, zu Olla Potrida für Clavierspieler (die 3 letztern Sammlungen bei Rellstab in Berlin), zum Musenalmanach von Schiller 1796, zu den mus. Monatsfrüchten u. v. a. Auf diesem Gebiete steht R. auf gleicher Stufe mit seinen Zeitgenossen, theilt aber auch mit ihnen das gleiche Geschick, vergessen zu sein. –

D. Instrumentalmusik. Sinfonien: in Es 1776, in d 1776, beide Offenbach. 2 Sinfonien (?) 1779. 7 Sinfonien, in den Concerts spirituels 1783 und 84 aufgeführt. 4 Sinfonien, 1805 im Manuscript ausgeboten. – 6 Partien für Quartett und 2 Flöten, 1764 ebenso. Partita 1780. Partita in Es. – Ouverture zur Eröffnung des neuen Schauspielhauses in Berlin. Ouverture di vittoria und Schlachtsinfonie zur Feier der Leipziger Schlacht. – 6 Quintetten für Clav., 2 Flöten (2 Oboen) und 2 Hörner. Quintett für Clavier, Ob., Fag. und 2 Hörner. – Quartett für Clav., Ob. und 2 Hörner. Quartett für Laute, Flöte, Violine und Cello. 1770. Concertante für Flöte, Clar., Ob. und Fag. mit Orchester. – 6 Sonaten für 2 Viol. und Cello. Op. 1. Offenbach 1778. 3 Sonaten für Viol., Alto und Cello. Amsterdam 1782. 6 Sonaten für Viol. und Baß. Berlin 1778. Solo a Viol. e Basso. 6 Sonaten für Clav. und Violine. Amsterdam 1777. Sonaten für den Flügel und die Violine. Berlin 1788. (Derartige Sonaten sollen 11 vorhanden sein). Sonata a Flauto solo senza Basso. 1764. Sonate für Clav. und Flöte. – Violinconcerte in F, 1772 und Es. Riga 1773. 6 Violinsolos 1778. 6 Violinconcerte (?) 1779. 2 Concerte und ein Solo für Viol. [648] 1805 im Manuscr. ausgeboten. Concert für Fagott, ebenso. Tre sonate a Cembalo concertato con acc. 1764–66. Clavierconcerte in B. Riga 1773. VI Conc. à. l’usage du beau Sexe. Amsterdam 1774, Concert in g, Leipzig 1777. 6 Concerte. London 1795. – 6 leichte Claviersonaten. 1765. Kurze leichte Clavierstücke mit veränderten Reprisen. II. 1766–68. Claviersonate in B. Berlin 1771. Sonate, der Herzogin Amalie von Weimar gewidmet. 1772. 5 Hefte mit je 6 Claviersonaten. Berlin 1776, Amsterdam 1777. Berlin 1778, Amsterdam 1782, Paris 1785; 2 Sonaten, Paris 1785; 4 Sonaten 1793; Gr. Sonate in f-moll, 1813. 6 Rondeau’s, Paris 1785; Rondeau sur l’air des Hesperides dans l’opéra. Ándromeda, 1806. 11 Var. sur l’entrée d’Ariel dans l’opéra de l’isle des esprits, 1800. Andantino? – In den „Vermischten Musikalien,“ Riga 1773, findet sich eine Claviersonate in Es, eine Sonatine in F, eine Sonate für Clav. und Viol. in F, 2 Sonaten für Violine und Cello in F und B, eine Sonate für 2 Viol. und Cello in Es, ein Streichquartett in C. – Im 2. Hefte der „Kleinen Clavier- und Singstücke“ (das erste war dem Verfasser unzugänglich), Königsberg 1783, stehen 15 kleine charakteristische Tonsätze für Claviercembalo und eine große Phantasie für den Flügel. Der erste Band des „Kunstmagazins“ enthält u. a. 4 sehr interessante Clavierstücke. Grazioso für Harmonika. – Eine neue Ausgabe von 6 sehr hübschen Claviercompositionen Reichardt’s – 3 Sonaten und 3 kleinen Stücken – in Schletterer’s classischen Claviercompositionen aus älterer Zeit. Deutsche Schule. Heft 3. – Reichardt’s Werke sind längst im Buchhandel vergriffen und zählen heute zu den gesuchten Seltenheiten der musikalischen Litteratur. Keine Bibliothek, kein Sammler dürfte sie vollständig besitzen und da nur die wenigsten der Hefte mit Opuszahlen versehen sind (allerdings dafür, was ja fast noch schätzbarer ist, mit Jahreszahlen), läßt sich auch keine complette Reihenfolge aufstellen. Auch das sorgfältigste Verzeichniß wird unter solchen Umständen lückenhaft bleiben müssen. Diejenigen Compositionen Reichardt’s, die er im Manuscript ausbot, dürften wol großentheils verloren gegangen sein. – Eine eingehende Arbeit über R.: Joh. Fr. Reichardt. Sein Leben und seine musikalische Thätigkeit, vom Verfasser vorstehender Biographie, Bd. 1, erschien 1865 in Augsburg.

Juliane Reichardt, geb. Benda, des vorigen Gattin, war die Tochter des berühmten Violinspielers und Concertmeisters Friedrichs II., Fr. Benda, zu Berlin. Geboren 1752, verheirathete sie sich im Spätherbst 1776 und starb am 9. Mai 1783. Eine schöne Frau, mit den trefflichsten Eigenschaften des Herzens und Geistes begnadet, war sie auch eine angenehme Sängerin und geschmackvolle Clavierspielerin und versuchte sich sogar mit Erfolg in der Composition von Liedern und Sonaten. In Reichardt’s Oden und Liedern Bd. 1 und 3 und im Voß’schen Musenalmanach 1776, 1777, 1779 und 1780 finden sich mehrere ihrer Gesänge mitgetheilt.