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Artikel „Reichardt, Luise“ von Hans Michael Schletterer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 648–651, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reichardt,_Luise&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 23:22 Uhr UTC)
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Reichardt: Luise R., Tochter von Johann Friedrich R., geb. 1780 in Berlin, † am 17. November 1826 in Hamburg, war das Lieblingskind[WS 1] ihres Vaters, der für ihre musikalische und wissenschaftliche Ausbildung möglichste Sorge trug und auch die Genugthuung hatte, daß sich ihre ungewöhnlichen Anlagen aufs glücklichste entwickelten. Sie besaß eine sehr schöne seelenvolle Stimme, spielte vortrefflich die Harfe, und die von ihr componirten Lieder zählen zu den geschätztesten Liedergaben ihrer Zeit; einige derselben („Nach Sevilla“, „Es singt ein Vöglein witt, witt, witt“, „Durch den Wald mit raschen Schritten“, „Welche Morgenröthen wallen“ u. a.) sind heute noch nicht verschollen. Sie begleitete ihren unstäten, seinen Aufenthalt so oft wechselnden Vater von Berlin nach Hamburg, Cassel, Giebichenstein u. s. w. und stand ihm als guter Genius [649] stets treu zur Seite. Im J. 1809 ließ sie sich in Hamburg als Gesanglehrerin nieder und gründete da im Verein mit den verdienstvollen Musiklehrern und Tonsetzern C. G. Clasing (1779–1829) und F. W. Grund (1791–1874) 1819 die Singakadernie. Diese so ideale und edle Jungfrau hatte die trübsten Lebenserfahrungen zu machen und darf wol zu den am schwersten heimgesuchten Frauen gezählt werden. In früher Jugend schon verlor sie ihre Mutter, aber noch ehe dieselbe starb, ward das bildschöne Kind von Blattern befallen, welche jede Spur früherer Anmuth von ihrem Antlitz tilgten. Das zarte, kränkliche Mädchen ward dann sammt ihrer kleineren Schwester, als R. von seiner Gattin begleitet, die Reise nach London und Paris machte, zweien Tanten übergeben, die sie, ihr Wesen nicht verstehend, eine harte Schule durchmachen ließen. 14 Jahre alt hatte sie bereits nebst ihrer Schwester die Erziehung ihrer jüngern Geschwister zu übernehmen, denn ihre Stiefmutter, eine durch Sorgen nicht gerne behelligte, hohe, gemessene Erscheinung, widmete sich der Pflege ihrer Kinder nur so lange, als sie dieselben stillte. Sie war durch die Gastfreundschaft, die sie zu üben hatte, wie durch ihre Lectüre, allzusehr beansprucht. Die Lücken, welche die väterliche Unterweisung in der Ausbildung Luisens gelassen, wurde durch den für sie zu einer reichen Bildungsschule sich gestaltenden Umgang mit den geistig hochstehenden Männern, die im elterlichen Hause verkehrten, genügend ergänzt. Da gingen ein und aus Goethe, Schleiermacher, die Brüder Schlegel, Voß, Tieck, Arnim, Brentano, Steffens, K. v. Raumer u. v. a. – Luisens schöner umfangreicher Sopran erregte schon früh Aufsehen; doch duldete ihr Vater nie, daß sie öffentlich sang. Obwol durch Pockennarben sehr entstellt, zog sie, die zudem die eigentliche Autorität im Hause übte, der man sich aber, weil mit Güte und Zartheit gehandhabt, willig fügte, neben ihren durch Schönheit glänzenden Schwestern vorzugsweise die Aufmerksamkeit auf sich. Die Reichardt’schen Töchter hatten es übrigens gar nicht so leicht. Täglich mußten sie bei sehr geringer Dienerschaft, 4 oder 5 Uhr morgens aufstehen und die häuslichen Geschäfte besorgen und dann während die Gäste beim Frühstück saßen, rasch die Fremdenzimmer ordnen. Obwol man sehr einfach lebte, kostete der Haushalt doch viel und Reichardt’s Taschen waren fast immer leer. Oft mußte unter Herzensangst und Thränen die arme Luise, ohne Geld in den Händen zu haben, die zahlreichen Gäste bewirthen. War Luise auch nicht schön, so war sie doch in hohem Grade interessant; sie wurde von jungen Männern bemerkt und vermochte tiefe Zuneigung zu erwecken. Wie durch einen leichten Schleier drang die geistreiche Tiefe ihrer Züge, und die unverletzten tiefblauen Augen schienen die Gewalt zu haben, den ganzen Zauber ihres gemüthvollen und lieblichen Wesens hervortreten zu lassen. Ein junger Mann, F. Aug. Eschen, durch seine Uebersetzung der Oden des Horaz und andere lieblich-zarte Gedichte bekannt (R. theilt im Lyceum der schönen Künste eine längere Dichtung: „Hyznnus an den Hermes“ von ihm mit) wußte die Gegenliebe Luisens zu gewinnen. Nach vollendeten Studien reiste er als Mentor eines jungen Berners frohen Muthes von Halle ab. Im Sommer 1800 wollte er gelegentlich eines Ausfluges nach Genf einen über 9000 Fuß hohen Berg besteigen. Sein Führer, unerfahren der sichern Steige, schlug einen ungewöhnlichen über einen Gletscher führenden Weg ein. Plötzlich brach die dünne Schneeschicht, die E. betreten hatte und der Unglückliche sank in einen 100 Fuß tiefen Eisspalt. Bis ein ihn begleitender Freund von dem sechs Stunden entfernten Servoz Seile und Stricke und Hilfe geholt, war Eschen erfroren. Man fand ihn, die Hände über den Kopf gekreuzt, sonst unverletzt. Nur die Fingernägel verriethen, mit welcher Verzweiflung er an seiner Rettung gearbeitet hatte. Dieser schauderhafte Tod erregte allgemeines Aufsehen. Eine Granitsäule an der Landstraße bei Servoz hält das Andenken an diesen Vorfall wach. Die [650] Nachricht von diesem unseligen Ereigniß stürzte die ferne Braut in tiefe Schwermuth. Jahre verflossen, ehe sie das Gleichgewicht ihres Wesens wieder zu finden vermochte. R., einst von einer Reise heimkehrend, brachte wie gewöhnlich einen neuen Gast mit. Diesmal war es ein genialer Maler, Namens Gareis. Bald führte ein sehr inniges, ja leidenschaftiches Verhältniß, das sich zwischen ihm und Luise gebildet, zu einer Verlobung. Auch die beiden Stiefschwestern Hensler verlobten sich um diese Zeit. Man beschloß, drei Hochzeiten an einem Tage zu feiern. Gareis wollte, um seine Studien zu vollenden, vorerst noch Paris und Rom besuchen. Ungeduldig erwarteten alle seinen letzten Brief, der den Vermählungstag bestimmen sollte. Statt dessen kam die Trauerkunde, daß der Geliebte in Florenz von einer heftigen Dysenterie und einem hitzigen Fieber hinweggerafft worden sei. Luisens Verzweiflung überstieg alle Grenzen; nichts vermochte ihren Schmerz zu besänftigen; Nächte lang irrte sie wehklagend im Garten umher. Damals hat sie ihre Stimme ausgeweint. Ihr Organ zwar blieb stets hell und lieblich, Kraft und Umfang hatte es jedoch verloren. Dennoch erholte sie sich soweit, daß sie am Hochzeitstage ihrer Schwestern als stille Zeugin unter der fröhlichen Menge anwesend sein konnte. Als Frau R. nach der Vertreibung K. Jerome’s wieder nach Giebichenstein zurückkehrte, fand sie infolge der Kriegszüge das Haus so verödet und zerstört, den Garten so verwüstet, daß sie einstweilen bei ihrem Schwiegersohne Steffens in Halle ein Unterkommen suchen mußte. Alle Mittel, die allen so liebe Besitzung wieder in Stand setzen zu lassen, fehlten. Mußten ja die Töchter durch ihre Handarbeiten die Bedürfnisse der Familie zu bestreiten suchen. Erst nach der Heimkehr Reichardt’s richtete man sich nothdürftig draußen wieder ein. Aber auch jetzt mußte man dem stolzen Manne die Mittel verbergen, durch die es möglich wurde, das Leben der verarmten Hausbewohner zu fristen. Lange weigerte sich der Vater, Luisen die Erlaubniß zu geben, durch Gesangunterricht in einer großen Stadt sich die Mittel zum Unterhalte zu erwerben. Endlich willigte er unter ihn sehr kennzeichnenden Bedingungen ein, so daß sie das gütige Anerbieten einer Frau Sillem in Hamburg annehmen konnte, vorerst in ihrem Hause, bis sie die nöthige Anzahl von Schülerinnen gefunden, Wohnung zu nehmen. Der Aufenthalt in dieser gastlichen Familie wurde für sie jedoch ein bleibender. Sie sah ihren Vater im J. 1811 zum letztenmale. Bei seinem Tode war sie nicht gegenwärtig; erst im J. 1821 konnte sie ihren Besuch in Giebichenstein wiederholen. Außer einer Reise nach London, 1819, hat sie Hamburg nicht mehr verlassen. Luisens Gesundheit war seit lange völlig zerrüttet; man versichert, daß sie in 20 Jahren keinen Tag im Behagen des Wohlbefindens verlebt habe. Gute Menschen aber nahmen sich ihrer stets herzlich an und sie hätte sich recht wol aus dem Erträgniß ihrer Lectionen ein Vermögen sammeln können, wäre sie fähig gewesen, ihrem im stillen geübten übergroßen Wohlthätigkeitssinne Schranken zu setzen und hätte ihre große Begeisterung für Händel sie nicht zu manchem Opfer veranlaßt, das sie brachte, dessen Werken weitere Verbreitung zu verschaffen. Die vernichtenden Stürme, denen sie von Jugend auf preisgegeben war, gingen nicht ohne tiefe Spuren zu hinterlassen an ihr vorüber. Von je zum Ernst und Nachdenken gestimmt, zog sie sich allmählich ganz in sich zurück und suchte in einem klösterlich-religiösen Leben fast allein Frieden und Ruhe zu gewinnen. Ihr Aeußeres entsprach vollkommen dieser innern Richtung. Wer sie nur einmal gesehen, dem entschwand ihr Bild nie wieder. Die schlanke Gestalt, die sich mit so feinem Anstande und edler Bescheidenheit erhob und bewegte; das ansprechende, ja bezaubernde Timbre ihrer Sprache; die gemessene Haltung bei behendester Leichtigkeit; ihr fast unhörbarer Gang; ihr gelassenes Verhalten, ja auch ihre Kleidung und die Hülle, welche ihr todtenbleiches Antlitz umrahmte, gaben ihrer Erscheinung [651] etwas eigen Nonnenhaftes, ja Geisterartiges. Fast konnte man meinen, sie hätte ein Gelübde gethan, in der Welt wie im Kloster zu leben; aber wer einen Blick in ihre Seele thun konnte, las auf dem stillen, vielsagenden Antlitz von großen Erschütterungen, harten Kämpfen und schweren Entsagungen. Noch jetzt sah man, so gesetzt und gehalten sie sich zu zeigen wußte, manche Bewegung des Schmerzes und innerlichen Ringens, die von ungewöhnlicher Verletzbarkeit ihres Gemüthes zeugend, über dasselbe zuckte; aber sie wachte und betete und stritt unverdrossen gegen sich selbst, und gegen das Andringen äußerer Einflüsse, mit tausend Wehen zur idealen, christlichen Höhe emporstrebend. Wahrhaft religiöse Bücher, die Schriften d. h. Augustin, Luther’s, Thomas v. Kempis, Tauler’s, so wie die der neueren Goßner, Schleiermacher, Herder, J. F. v. Meyer und die Bibel bildeten zuletzt ihre einzige Lectüre. Mit diesen frommen Bestrebungen verband sich bei ihr ein heiliger Eifer für geistliche Musik, und ihre feste Ueberzeugung, daß alle Offenbarungen der Tonkunst in der Tiefe auf Gott gerichtet sein müßten, wenn sie einem reinen und edlen Gemüthe wol thun sollten, wußte sie auch auf ihre zahlreichen Schülerinnen und alle ihr in Liebe geneigten Herzen zu übertragen. Die immer gleiche Freundlichkeit und unermüdliche Geduld der treuen Lehrerin, deren hochherzige Gesinnung selbst dürftigen Talenten Muth einflößte, sich ihr zu nahen, erzielte schönste Erfolge. Ueberhaupt ging wohl nie jemand ungetröstet oder mißvergnügt von ihr. Nach ihrem unvermuthet eingetretenen Tode offenbarte sich die stille Achtung und Liebe, die sie sich erworben und deren sie in hohem Grade würdig war. Viele ihrer Schülerinnen und Freunde sangen mit unverkennbarer Betrübniß an ihrem Sarge in der Johanniskirche zwei vor ihr mehrstimmig gesetzte Choräle und Clasing’s schönes Vaterunser. Alle begleiteten sie dann zur letzten Ruhestätte. Die Leipziger allgemeine musikalische Zeitung widmete ihr einen ehrenden Nachruf. Ihren Lebensgang schilderte M. G. W. Brandt in: Christliche Lebensbilder für Frauen und Jungfrauen, Zweiter Cyclus, Nr. IV, Karlsruhe 1858; in zweiter erweiterter Auflage, Basel 1865. – Wir besitzen von L. R. nur Liedercompositionen; sie sind meist sehr einfach, ausdrucksvoll, sangbar, tiefempfunden; alle athmen ein Gefühl von milder Schwärmerei, Sehnsucht und Klage. Einzelne hat schon ihr Vater in seine Sammlungen aufgenommen, wenige sind in besondern Drucken erschienen: („Der Jüngling am Bach“; „Das Mädchen am Ufer“). Mit Ausnahme des ersten in Berlin erschienenen Heftes, wurden die übrigen in Hamburg bei Cranz verlegt. „12 deutsche und italienische romantische Gesänge“ (der Herzogin Anna Amalie von Sachsen-Weimar ded.) Berl. 1806. (Darin: „Ruhe süß Liebchen“; „Wenn ich gestorben bin“; „Dicht von Felsen eingeschlossen“). 12 Gesänge (ihrer geliebten Schwester Friederike gewidmet). (Darin: „Nach Sevilla“.) 12 Gesänge (ihrer Schülerin L. Sillem gewidmet). Op. 3; „6 Lieder von Novalis“, Op. 4; „Sei Canzoni di Metastasio (alla sua cara sorella Sofia“), Op. 4 (?); „7 romantische Gesänge von Ludwig Tieck“, Op. 5. (Darin: „Feldeinwärts flog ein Vögelein“.) 6 Deutsche Gesänge. Op. 6. – 6 (5 ?) Deutsche Lieder. Op. 8. Darin: „Es singt ein Vöglein“; (12) „Christliche liebliche Lieder“; 6 geistliche Lieder unserer besten Dichter für zwei Sopran- und drei Altstimmen (Mad. Sillem, geb. Matthießen ded.). Noch erschienen 12 Gesänge mit Begleitung der Guit. liv. 1–6 Breslau.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Liebligskind