ADB:Gluck, Christoph Willibald Ritter von

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Gluck, Christoph Willibald“ von Felix Bamberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 244–253, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gluck,_Christoph_Willibald_Ritter_von&oldid=- (Version vom 8. Oktober 2024, 06:38 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Gloxin, David
Band 9 (1879), S. 244–253 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Christoph Willibald Gluck in der Wikipedia
Christoph Willibald Gluck in Wikidata
GND-Nummer 118539841
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|9|244|253|Gluck, Christoph Willibald|Felix Bamberg|ADB:Gluck, Christoph Willibald Ritter von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118539841}}    

Gluck: Christoph Wilibald G., ist am 2. Juli 1714 in dem Pfarrdorfe Weidenwang bei Neumarkt in Baiern, als ältester Sohn aus der Ehe des Försters Alexander G. mit Anna Walpurgis geboren. Den Forschungen von Aloys Fuchs, denen die umfassenderen Anton Schmid’s folgten, ist diese endliche Feststellung der Abkunft des unsterblichen Tonsetzers, mit welcher man die eines schon im J. 1700 geborenen Oheims desselben verwechselt hatte, zu verdanken. Da der Vater seit dem J. 1717 bei verschiedenen Herrschaften in Böhmen Dienste nahm, so verlebte G. dort den größeren Theil seiner Jugend. Er wurde hart, doch keineswegs roh erzogen: wie sein jüngerer Bruder Anton mußte er zwar, selbst in rauher Jahreszeit, barfuß Jagd- und Meßgeräthe tragend, seinen Vater in den Wald begleiten; aber sowol seine Elementar- wie seine musikalische Bildung war der Art, daß sie seinem geistigen Leben einen festen Grund legte. Gluck’s musikalische Natur konnte keinen günstigeren Boden finden als den Böhmens. Wenn schon das waldreiche Land und das Waldleben überhaupt die tiefen Töne der Natur in dem Knaben widerhallen ließen, so fand er in Kirche, Schule und Nachbarhaus vielfache Gelegenheit zu Gesang und Spiel, so daß er frühzeitig Noten las und Violine und Violoncell ausdrucksvoll spielte. Daß der arme Forstmann die Dorfschule für den Zwölfjährigen unzureichend fand und ihn 1726 nach Kommotau zu den Jesuiten auf das Seminar brachte, wo er 6 Jahre verweilte, ist kein geringer Beweis für die Strebsamkeit der Familie. Dieser Aufenthalt kam auch der musikalischen Ausbildung Gluck’s zu statten, da es an Aufführungen in der Ignatiuskirche und an Gelegenheit, die Orgel zu spielen, nicht fehlte. In seinem 18. Jahre wanderte G. behufs weiterer Ausbildung nach Prag, wo die Musik ihm zum Broterwerb diente. Er erhielt aus einigen Kirchen monatliche Besoldungen, die indessen für seinen Unterhalt nicht ausreichten, und so machte er zuweilen Wanderungen in Dörfern und Städten, um daselbst vor den Häusern oder bei Tanzgelagen zu spielen. Die böhmischen Bauern belohnten ihn oft nur mit Eiern, die er dann gegen andere Lebensmittel austauschte. Er erzählte in späteren Jahren, daß ihm bei diesem Wanderleben, das mehrere Jahre dauerte, trotz seines hohen und kräftigen Körperbaues sein grober Tuchmantel, unter welchem er seine armselige Habe verbarg, im Sommer besonders lästig war. Schon damals scheint der junge Künstler indessen die Aufmerksamkeit adlicher Personen der Art auf sich gezogen zu haben, daß sie ihn unterstützten; namentlich war dies in der Familie des Fürsten Lobkowitz der Fall, deren G. sich stets mit größter Dankbarkeit erinnerte. Diese Familie war es auch, welche ihn in den Stand setzte, 1736 seinen Aufenthalt in Wien zu nehmen. [245] Sie ließ ihn dort höhere musikalische Studien machen und es that sich nun eine neue Welt für den strebenden Jüngling auf. Entscheidend für seine ganze fernere Laufbahn wurde aber der Umstand, daß er schon nach kurzer Zeit im Lobkowitz’schen Hause den Fürsten Melzi (einen Sprößling des in der Geschichte der Malerei bekannten Freundes von Leonardo da Vinci) kennen lernte, der ihn zu seinem Kammermusikus ernannte und nach Mailand mitnahm, wo Sammartino während mehrerer Jahre sein Lehrer wurde. G. legte schon damals große Proben von Talent ab, denn er wurde in Mailand aufgefordert, für das Hoftheater eine Oper zu schreiben. Dieses sein erstes Werk „Artaserse“ von Metastasio kam 1741 daselbst mit entschiedenem Beifalle zur Aufführung und begründete seinen Ruf. Es scheint, wie alle ersten von ihm in Italien geschriebenen Opern, leider verloren, was um so mehr zu bedauern ist, als es charakteristischer Weise bereits ein Denkmal der Originalität und Selbständigkeit Gluck’s war, indem er, der noch Unbekannte und Fremde, es wagte, von dem üblichen durch Schnörkel verunstalteten italienischen Opernstyl, der damals die musikalische Welt beherrschte, abzuweichen. Man hat dies (selbst Marx) wegen des italienischen Charakters der späteren Opern Gluck’s bezweifelt, ohne zu bedenken, daß sogar der Genius eines Mozart sich nur theilweise der hergebrachten Formen entwinden konnte, und daß jene von den Zeitgenossen, namentlich von Reichardt, überlieferte Nachricht von der besonderen Originalität der ersten Gluck’schen Oper um so eher bewahrt zu werden verdient, als sie im Grunde nur den bei genialen Naturen gewöhnlichen Proceß bestätigt, daß die von ihnen erworbene Bildung schließlich nur zu einer reiferen Entfaltung ihrer ursprünglichen Eigenthümlichkeiten dient. Innerhalb 4 Jahren brachte G. in Mailand noch die Opern „Demofonte“, „Siface“ und „Fedra“ zur Aufführung, setzte inzwischen (1742) für das Theater San Samuele in Venedig Metastasio’s „Demetrio“ unter dem Titel „Cleonice“ und für S. Giovanni Crisostomo die „Ipermenestra“ in Musik, welchen Werken 1743 zu Cremona „Artamene“ und 1745 zu Turin „Il Re Poro“ folgten. Es ist anzunehmen, daß eben nur die leichtere italienische Methode dem zwischen seinem 27. und 31. Jahre Stehenden erlaubt hatte, innerhalb 5 Jahren 8 Opern zur Aufführung zu bringen und seinen Ruhm zu verallgemeinern. 1745 reiste G. in Gesellschaft des Fürsten Ferdinand Philipp v. Lobkowitz über Paris nach London. Von diesem ersten kurzen Aufenthalte Gluck’s in Paris weiß man sehr wenig; um so interessanter ist ein im Besitze des Unterzeichneten befindliches, zu jener Zeit in Paris nach dem Leben gemaltes Oelporträt Gluck’s, welches in der Wiener historischen Ausstellung von 1873 Interesse erregte. Es dürfte dies wol das älteste Bild sein, das von G. existirt: er ist in den ersten Mannesjahren, mit offener Brust, Noten in der Hand haltend, gemalt. Der etwas kräftige Kopf hat einen ernst schwärmerischen Ausdruck, die Haare sind gepudert, der braune Rock sieht wie ein Reiserock aus, unter welchem sich eine hellblaue Weste zeigt. Das pastös gefertigte Bild scheint von einer Dame gemalt, denn es führt die deutliche Unterschrift „Cecile“, während der Familienname scheinbar absichtlich verwischt ist. Auf der Rückseite steht in alter Schrift „Gluck Professeur“. Am 7. Januar 1746 kam in London am Haymarket-Theater Glucks’ „Caduta dei Giganti“ zur Aufführung, erlebte indessen wegen der durchaus mangelhaften Aufführung nur fünf Vorstellungen. Die zweite Oper „Artamene“ hielt sich etwas länger; aber auch ein aus seinen besseren Arien zusammengesetztes, dem Texte von „Piramo e Tisbe“ angepaßtes „Pasticcio“ fand nicht den rechten Beifall, so daß G., da auch der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stehende Händel sich kalt gegen ihn benahm, London in unzufriedener Stimmung verließ und gegen Ende 1746 über Hamburg nach Deutschland zurückreiste. Pietro Mingotti von Venedig, der zugleich in Hamburg und in Dresden an einer [246] zweiten italienischen Oper, die im Zwinger spielte, Unternehmer war, nahm G. als Kapellmeister an, aber dieses Verhältniß dauerte nur kurze Zeit. Die Doppelstellung Mingotti’s mag Dlabacz in seinem Künstlerlexikon für Böhmen und nach ihm Schmid zu der Annahme veranlaßt haben, daß G. damals eine Stelle in der kurfürstlichen Kapelle zu Dresden gefunden hat. Fest steht hingegen, daß er auf Mingotti’s Veranlassung, gelegentlich der Vermählung einer Tochter August III. mit dem Kurfürsten von Baiern, das Festspiel „Le nozze d’Ercole e d’Ebe“ componirte und daß dieses am 29. Juni 1747 im Pillnitzer Schloßgarten aufgeführt wurde. Ueber Gluck’s Fruchtbarkeit in dieser und der darauf folgenden Zeit kann man nur staunen. Anfangs 1748 nach Wien, das ihn wegen seines damaligen Musikreichthums unwiderstehlich anzog, zurückgekehrt, gab man bereits am 14. Mai daselbst zum Geburtstage Maria Theresia’s mit entschiedenem Erfolge seine „Semiramide riconosciuta“, in welcher er sich bereits stellenweise zum Hochtragischen erhob. Wie groß damals schon Gluck’s Ruf gewesen ist, geht unter anderem daraus hervor, daß er in den ersten Monaten 1749 zur Feier der Geburt des dänischen Kronprinzen, späteren Königs Christian VII., nach Kopenhagen ging und dort die zweiaktige Serenade „Tetide“ schrieb, die am 9. April aufgeführt wurde. Auch seine Oper „Artamene“ wurde in Kopenhagen gegeben. G. verliebte sich in demselben Jahre in Wien in die ältere Tochter des reichen Kaufherrn Joseph Pergin, konnte sie aber, da dieser seine Zustimmung verweigerte, erst nach dessen 1750 erfolgtem Tode heimführen. Er hatte gerade in Rom, wohin er gereist war, den „Telemaco“ aufführen lassen, der seinen zweiten großen Fortschritt zum Unvergänglichen in der Kunst bezeugt, und dessen Partitur die Eigenthümlichkeit darbietet, daß er sie für seine späteren Meisterwerke, so zu sagen geplündert hat. 1751 begab er sich mit seiner jungen Gemahlin nach Neapel, brachte dort die Oper „Clemenza di Tito“ in welcher Caffarelli sang, zur Aufführung und erntete gelegentlich einer musikalischen Streitfrage über die berühmte Arie „Se mai senti spirarti sul volto“ das entschiedenste Lob des damaligen Nestors der Musik, Durante. Schon gegen Ende des Jahres wieder in Wien, bot sich ihm in Folge seiner Bekanntschaft mit dem leidenschaftlichen Musikliebhaber Joseph Friedrich von Sachsen-Hildburghausen und der von Maria Theresia angeordneten Reform in der Leitung des Theaters neue Gelegenheit zu ruhmvoller Wirksamkeit. Es scheint fast, als ob der Meister in den Jahren 1752 und 1753 die eigentlichen Honigmonate seiner jungen Ehe in Wien verlebt habe, denn die Nachrichten über sein künstlerisches Schaffen in dieser Zeit lauten spärlich. Erst im J. 1754 sehen wir ihn wieder bei den Festlichkeiten betheiligt, welche auf dem dem schon genannten sächsischen Prinzen gehörigen Gute Schloßhoff gelegentlich eines Besuches des gesammten Kaiserhauses stattfanden. G. hatte zu diesem Empfange das Festspiel „Li Cinesi“ componirt, das am 24. September aufgeführt wurde. Nachdem Graf Jacob v. Durazzo in diesem Jahre die Leitung des Hoftheaters übernommen hatte, erhielt G. an demselben eine Stelle als Kapellmeister mit 2000 Gulden Gehalt. Er behielt sie volle zehn Jahre, machte aber, obgleich er nicht allein Opern, sondern auch Gelegenheitsmusik für die Hoffeste schrieb, mehrfache Reisen nach Italien und zwar schon zu Ende des J. 1754 nach Rom, wo seine Opern „Il trionfo di Camillo“ und „Antigone“ aufgeführt wurden und der Papst ihn zum Ritter vom goldenen Sporn ernannte. In den beiden darauffolgenden Jahren gab man in Wien „La Danza“ und „L’Innocenza giustificata“, welche letztere, obgleich nur einaktig, als eine neue Vorarbeit zur Vervollkommnung des lyrischen Drama’s angesehen werden kann. Darauf folgte schon im December 1756 „Il Re pastore“, zwar noch in italienischem Geschmacke, aber mit einer schon der klassischen Richtung sich hinneigenden Ouverture und voll seltener Schönheiten, 1760 die [247] zweite Serenade „Tetide“, 1761 das Ballet „Don Juan“, aus welchem einige Nummern später in „Iphigenia in Aulis“ und in „Armida“ übergegangen sind, und 1762: „Il trionfo di Clelia“, welche Oper zur Einweihung des neuen Theaters in Bologna von G. daselbst geschrieben und aufgeführt wurde. Dort lernte er auch den greisen mit Ruhm bedeckten Sänger Farinelli und den Pater Martini kennen. In diese Periode seiner Wirksamkeit, welche ihren Mittelpunkt in Wien hatte, fällt auch eine Reihe von anderen Arbeiten, die, obgleich vorzugsweise zur Unterhaltung des Hofes bestimmt, doch wesentlich zu Gluck’s späteren Beziehungen zu Frankreich beigetragen haben. Seine tiefe Natur drängte ihn die Lücken seiner früheren Erziehung auszufüllen, er beschäftigte sich mit deutscher, französischer und italienischer Litteratur und erwarb sich so die zur innigeren Verbindung zwischen Musik und Poesie seinem Geiste noch fehlenden Kenntnisse. Da gleichzeitig Graf Durazzo mit Paris und besonders mit dem bekannten dortigen Theaterdirector und Schriftsteller Favart in Verbindung stand, der ihm zum Theil selbstverfaßte Texte, Partituren und praktische Kräfte übermittelte, so traten mehrere neue Aufgaben an G. heran Er componirte die komischen Opern „La fausse esclave“, „L’Ivrogne corrigé“, „Le Cadi dupe“, „Le diable à quatre“, den bereits durch schärfere Charakteristik der Personen sich auszeichnenden „Arbre enchanté“, und durchflocht eine Reihe von ähnlichen französischen Operntexten, wie „Les amours champêtres“, „Le chinois poli en France“, „Le Deguisement pastoral“, „l’Isle de Merlin“, die später umgearbeitete „Cythère assiégée“ und „On ne s’avise jamais de tout“ mit neuen Gesängen, und zwar derartig, daß sie ausschließlich für seine Schöpfung galten. Es ist kein geringes Zeugniß von Vielseitigkeit, daß mehrere dieser Opern, wie „La Cythère assiégée“ und „L’isle de Merlin“ durch Favart in Paris zur Aufführung kamen und von ihm rückhaltlos gelobt wurden. In diese jetzt fast vergessene Reihe von Gluck’s Werken gehört auch die 1765 geschriebene komische Oper „La Rencontre imprévue“, deren Stoff kein anderer ist als der der Entführung aus dem Serail von Mozart, und die in deutscher Uebersetzung lange ein Lieblingsstück des Wiener Publikums war. Unter anderem macht sich hier eine Nebenperson, der Maler Vertigo (Schwindler), anheischig, die Gewalt des Donners zu malen. Endlich führt Fétis auch noch eine unbekannt gebliebene komische Oper „Le chasseur en defaut“ an. Die bisherigen Leistungen Gluck’s würden ihm in der Geschichte der Musik etwa die Stelle eines der besseren italienischen Operncomponisten des 18. Jahrhunderts angewiesen haben, denn er kann sich auch in rein melodischer Beziehung mit ihnen messen. Heinse’s entgegengesetzte Ausführungen in dem musikalischen Roman „Hildegard v. Hohenthal“ sind um so willkürlicher, als einzelne Arien und sonstige Compositionen, die G. aus den Opern seiner ersten Kunstperiode in die späteren klassischen Werke aufgenommen hat, zu den mit Recht am meisten bewunderten gehören. Aber Natur und Bildungsgang hatten G. ein höheres Ziel vorgeschrieben. Die italienische Oper, welche damals das Theater beherrschte und zu welcher besonders Metastasio die Texte schrieb, bestand theils aus heroischen und mythischen Handlungen, theils aus Schäfer-Idyllen, und war, obgleich sehr verschiedenartig von Werth, weniger ein geschlossenes musikalisches Drama, als ein Gewebe von Scenen, in welchem dem Componisten Gelegenheit gegeben wurde, seine lyrischen Ergüsse und dramatischen Steigerungen zu verwenden. In der Regel hielten nur dürftige Recitative das Ganze zusammen, der Chor hatte mehr eine begleitende, die Scene abschließende, als eine handelnde Rolle, und die durch die bezaubernden Leistungen einer jetzt gänzlich in Verfall gerathenen Gesangskunst erklärlichen Anmaßungen der Sänger schrieben dem Componisten die Einflechtung sogenannter Bravour-Arien vor, welche die Handlung störend unterbrachen. Es ist dies die Rococo-Periode der Musik, aber von [248] allem, was diese Ausschweifung des Geschmacks im Gebiete der Künste erzeugt hat, ist die damalige Musik das Seelischste und Tiefste. Die geschwungenen und weichen Linien des Rococo, die in der Bau- und Bildhauerkunst in Spielerei ausarten, greifen in den Gesängen Jomelli’s, Traetta’s, Leo’s, Piccini’s und mancher Anderen oft in die tiefste Tiefe menschlicher Empfindung und Leidenschaft und gestalten sich zu mustergültigen Ausdrücken derselben. Von dem Zauber der durch die glänzendste Ausstattung bereicherten Opern jener Zeit haben wir jetzt nur eine unvollkommene Vorstellung; aber wie groß muß der Künstler gewesen sein, der alle diese zum Theil wirklichen, von der Mehrzahl der Kenner für unübertrefflich gehaltenen Schönheiten einem höheren Zwecke, dem der Schöpfung eines musikalischen Dramas unterordnen wollte, in welchem sowol die ganze auf Einheit berechnete Handlung, wie die verschiedenen Scenen und Personen musikalisch gestaltet und charakterisirt werden. Es kann den Ruhm Gluck’s nicht schmälern, wenn man gleichzeitig in Rechnung bringt, daß unmittelbar vor und zu seiner Zeit, neben der in ganz Europa verbreiteten italienischen Oper, die Franzosen allein eine nach Quinault’s Dichtungen besonders durch Lully und Rameau gegründete nationale Oper hatten, in welcher die Anflüge zu den späteren Gluck’schen Idealen unverkennbar sind. Die Bekanntschaft mit ihr ist nicht ohne Einfluß auf G. geblieben, und der an den klassischen Mustern des Alterthums und ihrer eigenen Litteratur gebildete Geschmack der Franzosen erklärt auch, warum gerade Paris später die Stätte der größten Triumphe Gluck’s geworden ist. Bereits 1758 hatte G. sich mit seinen Reformideen an den in Wien als Rath bei der niederländischen Rechnungskammer lebenden Schriftsteller Raniero di Calzabigi aus Livorno gewandt und dieser schrieb für ihn die Oper „Orfeo und Euridice“, welche am 5. October 1762 im Hoftheater aufgeführt wurde. Die ersten Vorstellungen erregten mehr Staunen als Bewunderung, aber schon nach kurzer Zeit verbreitete sich der Enthusiasmus weit über Wien hinaus, so daß die Vorstellungen in Bologna 20,000 Fremde anzogen und 100,000 Zechinen eintrugen. G. hat im Orpheus nicht allein zum ersten Male sein damals übrigens noch nicht völlig gereiftes Ideal eines musikalischen Dramas verwirklicht, sondern mit demselben in symbolischer Bedeutung den Triumph der Musik gefeiert, indem nicht das bloße mythische Handeln des Orpheus, sondern die sich steigernde unwiderstehliche Schönheit seines Gesanges die Furien zum Weichen bringt. Ueberhaupt haben die den Orpheus eröffnende Grabesscene, die mit dem hochtragisch in die Handlung eingreifenden Furienchor, die des Wiedersehens im Elysium und die des über der Leiche der Euridice klagenden Orpheus in der Musik keiner Nation ihres Gleichen. Wir dürfen hier die Opern „Ezio“, „Il Parnasso confuso“ und „La Corona“ aus den J. 1763–65 übergehen, um uns mit dem zweiten Hauptwerke Gluck’s, der „Alceste“, zu beschäftigen, mit welchem ein noch entschiedenerer Schritt auf dem Wege der Reform vollbracht wurde. Den Text hatte Calzabigi nach Euripides gedichtet. Die Oper kam am 16. December 1767 in Wien zur Aufführung und nachdem, wie gelegentlich des Orpheus, der erste Eindruck des Fremdartigen vorüber war, wurde ihre Wirkung nicht allein in Wien, sondern überall wo man sie kennen lernte, eine geradezu Epoche machende. Wie aus der 1769 in Wien erschienenen Partitur hervorgeht, widmete Calzabigi den Text der Kaiserin Maria Theresia (die übrigens keinen besonderen Gefallen an dieser Oper fand), und G. die Musik dem Großherzoge Peter Leopold von Toscana. In dem der Partitur vorgedruckten Widmungsschreiben hat G. seine Reformideen ausgesprochen und es hat deshalb kunstgeschichtliche Bedeutung. Da die Hauptstelle desselben jedoch in der sonst so zuverlässigen Biographie Gluck’s von Schmid ungenau übersetzt ist und diese Ungenauigkeit selbst Jahn’s Folgerungen über G. ungünstig beeinflußt hat, da ferner auch Marx sich des [249] von Schmid gegebenen Textes bediente, so möge jene Hauptstelle hier in treuester Uebersetzung folgen: „Ich gedachte“, sagt G., „die Musik auf ihren wahren Beruf zu beschränken, der Poesie bei dem Ausdrucke und bei den Situationen der Fabel zu dienen, ohne daß die Handlung unterbrochen oder durch unnütze Verzierungen erkaltet wird, und ich glaubte sie müßte das thun, was die Lebhaftigkeit der Farben und der wohlberechnete Gegensatz von Licht und Schatten, welche dazu dienen die Gestalt zu beleben, ohne deren Umriß zu entstellen, zu einer correcten und wohlgeordneten Zeichnung thut.“ Diese an die anderweitigen klassischen Standpunkte Winkelmann’s und Lessing’s erinnernde Lehre ist von Jahn und vor ihm schon von Berlioz, als die Aufgabe der Musik übertrieben beschränkend, angegriffen worden, während Marx ihren wahren Sinn richtiger erkannt hat. Gluck’s dichterische Natur hat eben die Zeichnung gleichzeitig mit der Farbe, d. h. die Gestalten selbst geschaffen und schlagend sagt deshalb Marx, daß Jahn’s eigenes Urtheil aus Gluck’s Werken widerlegt, was er aus Gluck’s Worten entnommen hat. Es ist für den Charakter und die Größe unseres Meisters höchst bezeichnend, daß der Erfolg des Orpheus ihn noch strenger gegen sich selbst und die zu lösende Aufgabe gemacht hat. Im Grunde behandelt er in Alceste den menschlichen Kampf gegen das Schicksal und den Sieg über dasselbe durch die reinste Aufopferung zum zweiten Male, aber die Auffassung ist hier auch, rein musikalisch genommen, viel antiker, die den Schauplatz und die Gestalten zeichnenden Linien sind großartiger, die Accente gewaltiger, die Handlung wird durch ein musikalisches Idiom ausgedrückt, das die Wirkung der antiken Tragödie im Original ahnen läßt. Schöpfungen wie die das Ganze vorbereitende symphonische Introduction und die Orakelscene mit dem Recitativ des Hohenpriesters standen bis dahin nicht allein einzig da, sondern haben das gesammte Feld der Musik erweitert. Der Oper Alceste folgte unmittelbar darauf „Paride e Elena“, zu welcher gleichfalls Calzabigi den Text gedichtet hatte. Auch die Partitur dieses Werkes hat ein längeres an den Herzog Johann von Braganza gerichtetes Widmungsschreiben, welches eine weitere Entwicklung ästhetischer Grundsätze enthält und unverholen die Klage ausspricht, die neu gebrochene Bahn mehr verfolgt als befolgt zu sehen. „Je mehr man“, sagt G., „nach Vollkommenheit und Wahrheit strebt, desto nothwendiger werden die Eigenschaften der Richtigkeit und Genauigkeit. Die Züge, welche Raphael von den übrigen Malern unterscheiden, sind in manchen Fällen kaum bemerkbar. Leichte Abweichungen in den Umrissen zerstören die Aehnlichkeit eines Caricaturkopfes nicht, aber sie verunstalten das Antlitz einer schönen Gestalt gänzlich.“ Wie ernst er es mit dieser Formschärfe meinte, geht unter Anderem daraus hervor, daß er weiter erklärte, in der vorliegenden Oper eine Verschiedenheit der Farben ersonnen zu haben, die er in den entgegengesetzten Charakteren des phrygischen und spartanischen Volksstammes suchte, indem er dem rauhen und wilden Sinn des Einen den zarten und weichen des Anderen gegenüberstellte. Die aufgeworfene Frage, ob G. sich bei der Redaction seiner Widmungen und Briefe hat helfen lassen, ist, da seine Thaten seine Gedanken verwirklicht haben, eine sehr untergeordnete. Nach Ch. Brack, dem Uebersetzer des Burney’schen Werkes über die Musik in Deutschland etc., wäre die Widmung der „Alceste“ von dem Abbé Coltellini, einem damals in Wien lebenden Dichter, redigirt. Dramatische Mängel des Gedichtes sind besonders daran Schuld, daß dieses Werk, trotz seiner hohen Schönheiten und der tief durchdachten Charakteristik, nach welcher Paris weich und Helena herb gehalten ist, von der Bühne verschwand. Nach so großen idealen Bestrebungen mußte G. doch wieder bestellte Musik schreiben, und zwar zu den 1769 in Parma stattfindenden Hoffestlichkeiten „Le feste d’Apollo“, „L’atto di Baucis e Filomene“, „L’atto d'Aristeo“ und „L’atto di Orfeo“. Er [250] lebte dann einige Jahre, während welcher sich ein näheres Verhältniß zwischen ihm und dem ihm nachstrebenden Salieri entwickelte, in einem Kreise von Freunden zufrieden in Wien. Von Salieri hat er später gesagt, daß dieser allein ihm seine Manieren ablerne, da kein Deutscher von ihm lernen wollte. G. erfreute sich zu dieser Zeit an der musikalischen Ausbildung seiner Nichte Marianna, die ihm der Tod aber schon frühzeitig entriß, und wurde 1772 unter anderen von dem bekannten englischen Gelehrten Dr. Burney besucht, der in seinem Tagebuche werthvolle Nachrichten über ihn hinterlassen hat. In diesen Jahren componirte er auch Lieder und Oden von Klopstock und Theile von dessen Hermannsschlacht, die er zwar aus dem Kopfe vorgetragen, aber, wie angegeben wird, niemals niedergeschrieben hat. Verschiedene Umstände deuten darauf hin, daß er damals seine Erfolge noch nicht für durchgreifend genug hielt, und Paris als den Ort betrachtete, wo noch geschlossenere musikalische Dramen von ihm den geeigneten Boden finden würden. So kam die Oper „Iphigénie en Aulide“, zu welcher der damals der französischen Gesandtschaft in Wien angehörige Bailly du Rollet nach Racine den Text dichtete, zu stande. Nach längeren fruchtlosen Unterhandlungen mit der Direction der Pariser Oper wandte der energische Mann sich an Maria Antoinette, einst seine Schülerin, und so wurde er im Herbste 1773 zur Aufführung der Iphigenia nach Paris gerufen. Die dortige, durch den Streit der Bouffonisten mit den Anhängern von Lully und Rameau und durch die Verschiedenheit der Richtungen überhaupt sehr erhitzte musikalische Welt erwartete den zur Aufführung festgesetzten 19. April 1774 mit der lebhaftesten Ungeduld. Auch hier war nicht gleich die erste Vorstellung von durchschlagendem Erfolge, aber selbst die Gegner fühlten, daß mit Gluck’s Iphigenia ein neues Element in das Musikleben der Weltstadt gekommen war und bald wurden die Wirkungen Gluck’s weit mächtiger als alle seine früheren. Schon die berühmte Ouverture, an sich ein erhabenes symphonisches Drama, setzte die Kenner in Erstaunen, noch mehr aber riß die in einer einheitlichen Handlung, durch theils erschütternde, theils sanft hinreißende Melodien sich entwickelnde Gestaltung der Personen hin. Am 2. August desselben Jahres brachte G. seinen für die französische Bühne umgearbeiteten Orpheus mit dem größten Erfolge zur Aufführung und kehrte nach vollständigem, trotz eines lebhaften, sogleich näher zu besprechenden Zeitungskrieges und mancher Kabale erlebten Triumphe 1775 nach Wien zurück. In Straßburg war er zu seiner größten Freude mit Klopstock zusammen gekommen. Er bearbeitete nun auch die Alceste mit wesentlichen Veränderungen für die französische Bühne und setzte Quinault’s „Armide“ in Musik. Schon 1776 war er wieder in Paris und am 22. April kam es dort zur ersten Vorstellung der „Alceste“. Sie wurde geradezu ausgezischt, G. verließ in Verzweiflung das Theater und stürzte auf der Straße einem Freunde mit den Worten in die Arme „Alceste est tombée“! „Oui“, erwiederte dieser, „elle est tombée du ciel“! In der That zeigte sich Paris sehr bald von dieser Oper begeistert und G. beherrschte Jahre hindurch das größte Pariser Theater. Dieses und das spätere Wirken Gluck’s ist in der Geschichte der Musik um so entscheidender geworden, als es die durch zahlreiche Anhänger vertretenen alten Schulen besiegt hat, und heute noch in dem Pariser Musikleben nachklingt. Wie bereits erwähnt standen die Verehrer Lully’s und Rameau’s, als G. zuerst nach Paris kam, im Kampfe mit den Verehrern der komischen Oper, den sogenannten Bouffonisten, und an diesen knüpfte sich dann der zwischen den Anhängern Gluck’s und Piccini’s, eigentlich der italienischen Schule überhaupt. Letzterer in der großen wie in der komischen Oper hervorragend, war dem deutschen Meister als Rival gegenüber gestellt worden und während Männer wie Rousseau, zum Theil auch Voltaire, der kunstsinnige Abbé Arnaud, der scharfe Suard und Andere auf [251] Seite Gluck’s standen, entwickelten Laharpe, Marmontel, Grimm und deren Freunde die lebhaftesten Angriffe gegen ihn. Schließlich hatte sich der gesammten höheren Gesellschaft von Paris eine seltene Leidenschaftlichkeit, theils für die eine, theils für die andere Richtung bemächtigt, und G. selbst nahm durch Schrift und Wort am Kampfe Theil. Einzelne jener Streitschriften, namentlich die von Rousseau und Arnaud, sind wahre Muster edler Kritik, in anderen, in denen man so weit ging, G. das melodische Talent abzusprechen, waltet neben bestechendem Talente jene Falschheit und Sophisterei, der wir alltäglich begegnen. Witz und Sarkasmus fehlten nicht. Marmontel, der von einer Stelle der Alceste sagte, daß sie ihm die Ohren zerreiße, mußte von Abbé Arnaud hören, daß dies ein Glück wäre, wenn er dafür andere bekäme. Von demselben Marmontel sagte Arnaud in populär gewordenen Versen, dieser Pedant behauptet er hätte das Geheimniß Racine’sche Verse zu machen: nie sei ein Geheimniß besser bewahrt worden! Daß die Gluckisten ihrerseits sich auch ungerecht gegen Piccini und andere große Italiener zeigten, lag in der Natur der Sache. Am 23. September 1777 kam „Armide“ nach Quinault’s Text zur Aufführung und errang sich erst nach und nach jenen Ruf eines klassischen Meisterstückes, den sie heute noch genießt. G. hat hier die Leidenschaften glühender, weil unter dem Zauber der Romantik dargestellt und dabei einen Melodienreichthum entwickelt, der die Oper in Paris später fast zu einer populären gemacht hat. Wieland hatte ihm am 13. Juli 1776, gelegentlich des am 21. April erfolgten Ablebens der jungen Marianna geschrieben: „Orpheus, Alceste und Iphigenia haben Sie schon bearbeitet, was ist noch übrig, das Ihrer würdig wäre?“ Außer der „Armide“ war es noch „Iphigénie en Tauride“, die von Guillard als Oper bearbeitet, in Paris am 18. Mai 1779 zum ersten Male in Scene ging. Sie ist von allen Opern Gluck’s die erhabenste und reinste, kein Liebesabenteuer stört hier die Darstellung des Menschengeschickes, das sich, nachdem es dem Höchsten in uns Ausdruck gegeben hat, die schönste Versöhnung erwirbt. Bewunderungswürdig ist die Kunst, mit welcher G. das scythische und das griechische Element, das Finstere und Unruhige des Thoas, das Marmorhelle und Stillduldende der Iphigenie, das Leidenschwere des Orest und das Sprühende der Freundschaft des Pylades dargestellt hat. Die aus einer einzigen kleinen Figur sich entwickelnde Schilderung des Sturmes an der taurischen Küste, die Arie des Thoas, die Furienscene und mehrere Recitative und Arien von Iphigenie werden fortleben, so lange es überhaupt Musik gibt. Wie weit in dieser Oper die Tiefe der Auffassung geht, beleuchtet unter Anderem der folgende Zug. Als man G. einmal bei der Stelle, in welcher Orest sich mit den Worten: „Le calme rentre dans mon coeur“ der Ruhe hinzugeben versucht, die Bemerkung machte, daß das unruhige Fortarbeiten der Bässe in der Begleitung hiermit in Widerspruch stehe, rief G. aus: „er lügt, die Furien sind stets in ihm, hat er doch seine Mutter ermordet.“ Schon die Gräfin Genlis hebt in ihren Memoiren die tiefe Bedeutung dieses Wortes hervor. Ihren Schüler, den greisen König Ludwig Philipp, habe ich in einem Hofconcerte in Neuilly, bei der bekannten aus der Aulidischen Iphigenie mit Meisterhand in die Taurische aufgenommenen Melodie des Opferumzuges weinen sehen. G. hat den deutschen Text noch selbst unter den Gesang dieser Oper geschrieben und diese bei Schmid unter den Autographen Gluck’s angeführte Handschrift befindet sich seit 1843 in meinem Besitze. „Iphigenie in Tauris“ machte G. in Paris endgültig zum Sieger und erlebte innerhalb drei Jahren 151 Vorstellungen, deren letzte noch 15,000 Francs eintrug. Es war offenbar ein Fehler, daß der 66 Jahre alte Künstler fünf Monate nach der Iphigenia mit der neuen Oper „Echo und Narciß“ auftrat, die schon ihrem Inhalte nach von der streng klassischen Richtung abwich und keinen Beifall fand. Neuere Forschungen im französischen [252] National-Archiv haben ergeben, daß G. zuletzt Honoraransprüche machte, die selbst nach Pariser Maßstab übertrieben schienen. Nach Wien zurückgekehrt, lebte er daselbst hochverehrt und zufrieden, von den besten Männern seiner Zeit gesucht und gerühmt, in glänzenden Vermögensverhältnissen noch eine Reihe von Jahren. Ein Schlagfluß hatte jedoch seine Gesundheit untergraben und er erlag einem zweiten Anfalle am 15. November 1787. Schmid führt in der Liste der Gluck’schen Werke drei Kirchencompositionen an: ein „De profundis“, den Psalm „Domine dominus“ und einen Theil der Cantate „le jugement dernier.“ Marx glaubt, daß das „De profundis“ erst nach der Iphigenie in Tauris componirt wurde.

Die unscheinbare Gedenktafel, die auf dem Matzleinsdorfer Kirchhofe sein Grab bezeichnete, ist erst 1846 durch ein würdigeres Denkmal ersetzt worden. Gluck’s berühmte Marmorbüste von Houdon, die 1778 in Folge einer öffentlichen Subscription im Foyer der Oper aufgestellt wurde, scheint in dem letzten Pariser Opernbrand untergegangen zu sein; ein Originalabguß mit Houdon’s Unterschrift und dieselbe Büste verkleinert in Bronze sind im Besitze des Verfassers. Es kommen in Paris noch von Zeit zu Zeit unbekannte Bildnisse Gluck’s zum Vorschein, so daß die von Schmid mitgetheilte Liste keineswegs vollständig ist. So wurde daselbst in den sechziger Jahren ein Originalporträt von G. verkauft, von welchem ich später eine Wiederholung in Versailles gesehen habe. Der in reiferen Jahren stehende Künstler ist im grünen großblumigen Schlafrocke dargestellt und neben ihm liegen die Hauptpartituren seiner Opern. Andere Bilder von ihm besaßen Auber und Franz Delsarte, dessen Wittwe außerdem noch eine höchst interessante kleine Farbenskizze, G. im Feuer der Arbeit vorstellend, aufbewahrt, welche lebhaft an die Scene erinnert, in welcher der 16jährige Mehul den componirenden G. hinter einer spanischen Wand belauscht haben soll. Auch die Surmond’sche, jetzt der Berliner Gallerie einverleibte Gemälde-Sammlung enthält ein Porträt von G. aus seinen besten Mannesjahren. Nach Houdon’s Büste ist unter Anderem ein kleines Medaillon gestochen, das die Unterschrift trägt: „Il me guide, il me désespère“. Nicht minder interessant sind die in jüngster Zeit in Paris zum Vorschein gekommenen, sowol Schmid wie dem eifrigen Sammler Aloys Fuchs unbekannt gewesenen Autographen: zunächst die fast ganz vollständige Partitur der für Paris bearbeiteten Alceste, zuletzt im Besitze des Fräuleins Pelletan, und merkwürdige Briefe, worunter besonderes einer in der Sammlung von Feuillet des Conches. Die Litteratur über G. ist sehr reich, aber trotz mancher verdienten Arbeit über ihn gibt es noch keine Biographie Gluck’s, die an Vollständigkeit den Arbeiten von Jahn über Mozart, Chrysander über Händel, Spitta über Bach und Pohl über Haydn gleichzustellen wäre. Es dürfte deshalb von Nutzen sein, hier die älteren und neueren Hauptquellen zu einer Biographie Gluck’s zusammenzustellen. Forkel, Allgemeine Litteratur der Musik, Leipzig 1792, führt bereits eine bedeutende Anzahl Schriften über G. und den Pariser Zeitungskrieg an, unter Anderem auch die wichtigen „Mémoires pour servir à l’histoire de la Révolution operée dans la musique par Msr. le Chevalier Gluck.“ Naples et Paris 1781. Eine deutsche Ausgabe hiervon hat Siegmeyer veranstaltet. Die erste umfassende, mit Fleiß und Liebe gearbeitete Biographie Gluck’s ist die von Anton Schmid (Leipzig 1854). Sie enthält auch ein sehr schätzenswerthes Quellenverzeichniß, welches hier nicht wiederholt zu werden braucht. Ihr folgte das umfangreichere Werk von A. B. Marx, Gluck und die Oper, Berlin 1863, welches sich das biographische Material Schmid’s angeeignet hat und in Betreff der Analyse und Kritik zum Theil meisterhaft ist. Ferner ist zu nennen: Lindner, Die erste stehende deutsche Oper; Berlioz, Voyage musicale, Paris 1844, und A travers Chant von demselben, Paris 1862. F. Florimo, Cenno storico della scuola musicale di Napoli. Neapel 1869 ; C. H. Bitter, Mozart’s Don Juan und [253] Gluck’s Iphigenia in Tauris, Berlin 1866, mit vortrefflichen Erläuterungen über den Styl Gluck’s; G. Desnoiresterres, Gluck et Piccini, Paris 1872; W. H. Riehl, G. als Liedercomponist (in den freien Vorträgen), Stuttgart 1873. Th. v. Lajarte, Bibliothèque musicale du théâtre de l’Opéra, welche unter den Auspizien des französischen Ministeriums veröffentlicht wird und deren vierter Band G. betreffen wird. Gluck’s Werke erscheinen jetzt zum ersten Male in einer Gesammt-Ausgabe bei Breitkopf & Härtel, und zwar auf Veranlassung der oben bereits erwähnten, vor zwei Jahren frühzeitig verstorbenen Pariser Kunstliebhaberin Pelletan, welche die handschriftliche Partitur der Alceste einer Pariser Bibliothek vermacht zu haben scheint. Roquit-Lieutaud hat schon 1785 an Salieri geschrieben, daß selbst Corneille in Frankreich nie soviel Aufsehen erregt hat wie G. Diese Wirkungen, die in Deutschland nie in demselben Maße stattgefunden haben, hängen ebenso mit den relativen Mängeln wie mit den Vorzügen Gluck’s zusammen. Selten war in einem Künstler die Unmittelbarkeit des Genies so mit ruhiger Denkkraft gepaart wie bei ihm. Sein vor Allem auf scenische Darstellung gerichteter Sinn entlockte ihm sogar die leicht mißzuverstehende Aeußerung, daß er, wenn er an das Componiren gehe, zu vergessen suche, daß er Musiker sei und einmal erklärte er sich seinen Widerwillen gegen eine Stelle dadurch, daß sie „nach Musik rieche“. So begreift man, warum er, der in der höheren Technik Bach und Händel, in Behandlung der Massen und in Freiheit der Bewegung Haydn, Mozart und Beethoven nachsteht, sie alle an scenischer Wirkung und an Rührung durch Einfachheit des Ausdruckes übertrifft. Selbst die Anforderung seiner Gegner, daß die Musik in den Wunden die sie schlägt, Balsam zurücklassen müsse, hat keiner mehr befriedigt wie er. Trotz der Unbiegsamkeit seines Charakters, der eisernen Strenge beim Einstudiren seiner Werke und eines oft in Eigenlob sich kundgebenden Selbstbewußtseins, hat G. durch die hohe Macht seines Genies auf fremdem Boden gesiegt und ihn derjenigen Kunst zugänglich gemacht, in welcher Frankreich jetzt Deutschland unbestritten die Palme reicht.