Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Reichardt, Gustav“ von Hans Michael Schletterer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 622–624, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reichardt,_Gustav&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 16:30 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Reichard, Georg
Band 27 (1888), S. 622–624 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Gustav Reichardt in der Wikipedia
Gustav Reichardt in Wikidata
GND-Nummer 116397500
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|27|622|624|Reichardt, Gustav|Hans Michael Schletterer|ADB:Reichardt, Gustav}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=116397500}}    

Reichardt: Gustav R., geb. am 13. November 1797 zu Schmarsow bei Demmin in Vorpommern, † am 19. October 1884 in Berlin. – Ueberblicken wir die Leistungen auf dem Gebiete der musikalischen Litteratur, so können wir die überraschende Beobachtung machen, daß vortreffliche Tonsetzer, die eine große Zahl beachtenswerther Werke geschaffen haben, rasch vergessen werden, während andere durch eine einzige, äußerlich unscheinbare Leistung sich einen Nachruhm, ja die Unsterblichkeit, wenn man so sagen darf, erworben. Es sei hier nur an Cl. J. Rouget de l’Isle, den Componisten der „Marseillaise“, und an C. Wilhelm, den der „Wacht am Rhein“, erinnert. Was hundert andere, viel genialere, geistvollere, geschicktere Meister nicht zu erreichen vermochten und vergebens erstrebten, hat Fortuna in einem glücklichen Moment ihnen gewährt. Es ließen sich die Namen von manchen derartig vom Zufall begünstigten Tonsetzern hier anführen. Wir begnügen uns nur einen noch zu nennen, den des Componisten von „Was ist des Deutschen Vaterland“, G. R. – Wie die vorgenannten Tonsetzer hat auch er noch eine Reihe anderer Arbeiten veröffentlicht, [623] aber mit Ausnahme einiger Chorlieder, die eine gewisse Verbreitung fanden („Das Bild der Rose“ und „Die Pinzgauer Wallfahrt“) gingen sie alle spurlos vorüber, während es wohl keinen Deutschen in der Welt gibt, der nicht sein unübertroffenes Vaterlandslied kennt, keinen deutschen Gesangverein, der es nicht oftmals mit Begeisterung gesungen hätte und immer wieder singen wird. Ernst Moritz Arndt, dieser herrliche vaterländische Dichter und verehrungswürdige Charakter, schrieb sein „Was ist des deutschen Vaterland“ im J. 1813; obwohl er noch eine ganze Reihe von kräftigen und volksthümlichen Liedern gedichtet hat, die ebenfalls weite Verbreitung fanden, hat auch er in keiner seiner übrigen Poesien die Popularität des genannten wieder erreicht. Dichter und Tonsetzer arbeiteten sich hier in die Hände und ergänzten sich gegenseitig. Das Gedicht fand schon eine begeisterte Aufnahme, als es am 17. April 1814 die Hofschauspielerin Frau Fried. Aug. Conradine Bethmann, geb. Flittner, diese vollkommene Meisterin im Vortrage, zur Feier des Einzuges der Verbündeten in Paris, im Berliner Opernhause zum ersten Male declamirte. Dem Schicksale aller guten Dichtungen, oftmals componirt zu werden, konnte es voraussichtlich nicht entgehen. Es wurde von dem Jenenser Studenten J. Cotta, später Prediger in Willerstedt bei Weimar zuerst 1815 gesetzt und von der dortigen Burschenschaft am 12. Juni gesungen; aber keine der ersonnenen Weisen vermochte ins Volk zu dringen und eine tiefer gehende Wirkung hervorzubringen. R. mochte wohl lange schon im Geiste sich mit der Lösung der Aufgabe, einen entsprechenden musikalischen Ausdruck für Arndt’s entflammende Worte zu finden, getragen haben, aber es dauerte bis zum 3. August 1825, ehe sein Werk geboren wurde und plötzlich vollendet ins Leben trat. Auf einer Wanderung durch das Riesengebirge bestieg er mit vier musikalischen Freunden am genannten Tage die Schneekoppe. Oben angelangt, setzte er sich hin, um die unterwegs in seinem Kopfe fertig gewordene Melodie vierstimmig niederzuschreiben und unmittelbar darauf klang die neue Weise frisch und begeistert ins weite Land hinaus. Obwohl R. selbst zugestand, daß seine Composition eigentlich kein Nationallied, keine Voksweise sei, da es zu schwer und nicht rein melodisch ist und nur harmonisch in mehrstimmigem Tonsatz zu wirken vermag, daß er auch kein Volkslied zu geben beabsichtigte, sondern nur eine den Geist der Dichtung ausdrückende Tonschöpfung, galt sie doch von je als Nationallied und kein anderer Gesang hat wie dieser dem Einheitsdrange der Deutschen kräftigeren Ausdruck gegeben. Schwungvoll, feurig, energisch ist sie bei gutem Vortrag, besonders von einem starken Chor, von mächtigem Eindrucke. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit machte sie ihren Weg bis zu den fernsten Grenzen des Vaterlandes, überall den gleichen Erfolg, den Patriotismus zu heller Flamme entfachend, erzielend. – R. entstammte einer kindergesegneten Pfarrersfamilie. Der Vater, ein wissenschaftlich hochgebildeter, namentlich auch musikbegeisterter Mann, unterrichtete seine 8 Kinder selbst. Der kleine Gustav konnte sich schon vom 5. Jahre ab einer guten Belehrung im Gesange und Spielen mehrerer Instrumente erfreuen: im 9. Jahre war er bereits im Stande, als Geiger und Pianist in Concerten aufzutreten. Dem geistlichen Herrn war es endlich gelungen, sich in seiner Familie und von einigen Freunden unterstützt, eine Hauscapelle heranzuziehen, welche die vorbeethoven’sche Musiklitteratur recht wohl zu executiren vermochte. 1809–11 setzte R. seine Studien mit Eifer und Erfolg in Neustrelitz fort und trat sogar in die dortige Capelle als Violinist ein. Von 1811 an besuchte er erst das Gymnasium, dann, in der Absicht, Theologie zu studiren, die Universität in Greifswald. Darauf bezog er 1818 und 1819 die Berliner Hochschule, faßte dann aber den Entschluß, sich ganz der Kunst zu widmen und wurde nun B. Klein’s Schüler in der musikalischen Theorie. Für seine beginnende Thätigkeit als Componist war es von großem [624] Werthe, daß er im Besitz einer herrlichen, wohlgeschulten Baßstimme war, die ihn zu einer vielgesuchten Persönlichkeit und einem geschätzten Mitgliede der Singakademie machte, ja den alten Zelter sogar bewog, ihn zu seinem Nachfolger vorzuschlagen. Er fand Zugang in die höchsten Kreise der Berliner Geistesaristokratie, war am Hofe Friedrich Wilhelm’s III. gerne gesehen und wurde einer der beliebtesten Musiklehrer, u. a. auch der Gesanglehrer unseres Kaisers Friedrich, der bekanntlich als Solist und Chorist sehr anerkennenswerthes leistete. Der hohe Herr blieb ihm stets freundlich gesinnt; zu seiner Vermählungsfeier componirte R. 1858 eine Festcantate. Sein Haus war durch Decennien der Sammelplatz von Künstlern (an ihrer Spitze F. Mendelssohn-Bartholdy) und kunstgebildeten Dilettanten. Durch eine Reihe von Jahren leitete er die von ihm, L. Berger, B. Klein und L. Rellstab 1819 gestiftete jüngere Berliner Liedertafel. Diese Ehrenstelle hat ihn wohl auch zunächst zur Composition vieler hübscher Männergesänge angeregt. Obwohl 1850 zum königl. Musikdirector ernannt, hat er doch nie eine amtliche Thätigkeit begleitet, dafür aber sich auch die Unabhängigkeit gewahrt, alljährlich große Reisen machen zu können, die ihn steis längere Zeit von Berlin fernhielten. R. war von hohem stattlichen Wuchse; sein sonores Organ behielt er bis ins hohe Alter, ebenso seinen gesunden Humor und sein frisches Wesen. Seine Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit machten ihn zum hochwillkommenen Gaste, wo er eintrat und namentlich von den Gesangvereinen ward er verdientermaßen hochgeehrt und gefeiert. Da er gewohnt war, Deutschland nach allen Richtungen hin zu durchstreifen, konnte man oft die Freude haben, ihm zu begegnen. Reichardt’s Compositionen (meist in Berlin und Leipzig erschienen) sind folgende: „Das Nachtigallennest“. Polterabendfeier f. 4 St. mit Clav. 1821; 18 Lieder s. 1 St. mit Cl. op. 3 (1824), 6 (1825), 10 f. Baß 1830); 36 Tafellieder, op. 5 (1825), 7 (1827), 12 (1831), 14 (1835), 18 (1841), 22 (1853); 24 Volkslieder für Sopran, Alt, Tenor und Baß bearbeitet, op. 9, 11, (1831), 13 (1835), 16 (1889); „An den König“ von Goltammer, f. 1 St. mit Cl.; „Sol u. Selene“, Huldigung in Worten, Bild und Tönen f. 1 St. mit Cl., Ihrer Maj. der Königin Elisabeth von Preußen zum 13. November; „Chidice mal d’amori“, Duett; 4 Pièces instruct. en forme d’une Sonate, op. 4. Die Composition, mit der er seine schöpferische Thätigkeit abschloß, eine 1871 gesetzte Nationalhymne, Text von Müller v. d. Werra, gleichsam eine Antwort auf das Arndt’sche Lied, trägt die Opuszahl 36.