ADB:Heinse, Wilhelm
Wieland sein poetisches Talent erkannte und ihn an Gleim in Halberstadt, den im Unterstützen nie müden väterlichen Freund aller jungen Dichtergenies jener Jahre, empfahl. Gleim ließ sofort eine Einladung an H. ergehen, doch hatte dieser sich schon, durch eigenthümliche Versprechen gewonnen, als Begleiter eines aberteuernden früheren Barbiers und nachmaligen preußischen Hauptmanns, der sich v. Günther oder auch v. Liebenstein nannte und damals als „Generalreiseinspector der dänischen Zahlenlotterie“ die Länder durchzog, verpflichtet. Heinse’s gewandte Feder sollte wol auf die verschiedenste Weise von Betreffendem ausgenutzt werden. Erst als Beider Verbindung sich 1772 gelöst hatte, kehrte Jener in seine Heimath und den Thüringer Wald zurück, nahm eine ihm durch Gleim vermittelte Hauslehrerstelle in Quedlinburg, bei einer zeitweilig ohne ihren Gemahl im Hause ihrer Eltern dort lebenden Frau v. Massow, an, gab dieselbe indessen bald wieder auf und verweilte noch längere Zeit, bis 1774, ohne andere bestimmte Beschäftigung, als die poetische, bei seinem Gönner selbst in Halberstadt. Eine Abwesenheit Gleim’s von dort, im April genannten Jahres, benutzte Johann Georg Jacobi zu Heinse’s Entführung nach Düsseldorf. Er bewog letzteren, mit ihm zu gehen, um sich an der von ihm projectirten Zeitschrift „Iris“ zu betheiligen, und H. schloß einen Contract mit dem Versucher, obwol sein Halberstädter Wohlthäter eben damals den Plan hatte, selber ein Journal zu gründen und Jenen dafür zu gebrauchen. Für die „Iris“ sollte H. „tändelnde prosaische Arbeiten zur Belehrung der Grazien“ (wie man die gebildeten Damen nannte) liefern. Niemand aber war weniger zum Damenschriftsteller geeignet, als gerade er, und so wurde zwar aus seiner Betheiligung an dem Jacobi’schen Unternehmen niemals viel, aber die Uebersiedelung Heinse’s nach Düsseldorf ward für seine Entwickelung ein neuer und großer Gewinn, besonders wegen der zu jener Zeit noch an Schätzen (die später nach München gewandert sind) reichen dortigen Gemäldegallerie. Dieselbe weckte in H. Liebe für die bildende Kunst und er ergab sich ihrem Studium mit glühendem Eifer und einer sonst an ihm ganz fremden Ausdauer. Dies flößte ihm Sehnsucht nach einer italienischen Reise ein, die er dann 1780, von Jacobi unterstützt, antrat. Er lebte nun über drei Jahre im Süden, meist in Rom, wo er vor allem mit dem „Maler Müller“ verkehrte. Aus Italien kehrte er zunächst nach Düsseldorf zurück, [652] und schrieb hier 1784, als die bedeutsamste Frucht seiner Reise, den „Ardinghello“. Nach dieser Zeit trat er in kurfürstl. mainzische Dienste. Die Beamten des Kurfürsten bildeten einen der hervorragendsten und belangreichsten der damaligen Gelehrtenkreise. Ihm gehörten H., Forster und Johannes v. Müller an. Ersterer wurde 1787 vorläufig „Lector des Kurfürsten“, rückte aber 1789 in die Bibliothekarsstelle mit Hofrathstitel ein, in welcher Sinecure – denn so und nicht anders wird man zu sagen haben – er 1803 starb, in demselben Jahre wie Gleim, der ihm nach Verwindung seines ersten Zorns über die einstige heimliche und schnelle Abreise, gewogen geblieben war bis an sein Ende.
Heinse: Johann Jakob Wilhelm H., eigentlich (laut Kirchenbuch) Heintze (als Sohn des „Consulis, Poligraphi et Organisti“ N. Heintze), deutscher Dichter, hier und da wohl den Classikern beigezählt, geb. am 16. Febr. 1749 zu Langenwiesen bei Ilmenau in Thüringen (Sachsen-Weimar), † am 22. Juni 1803 als Hofrath und Bibliothekar in Diensten des Kurfürsten von Mainz. Aus dem Gymnasium zu Schleusingen entlief der junge H. in seinem 14. Jahr, weil er sich nicht der herrschenden Schulordnung unterwerfen wollte, und bereitete sich privatim für die Universität vor. Unter großen Entbehrungen studirte er dann die Rechte in Jena und Erfurt, woDas Erste, was von H. erschien, waren die „Sinngedichte“ (1771). Ihnen folgten „Die Kirschen“ (auf Gleim’s Anregung nach dem Gedichte des Dorat bearbeitet, 1773), sowie die „Begebenheiten des Enkolp, aus dem Satirikon des Petron“, Rom (Schwabach 1773 u. 1783) – eine Uebersetzung Heinse’s, die nach seiner Versicherung „hauptsächlich der Hauptmann“ (jener v. Günther oder Liebenstein) „zu einer scandalösen und unzüchtigen Arbeit gemacht hatte“. Weiter erschienen: „Laidion oder die eleusinischen Geheimnisse“ (Roman, 1774 u. 1790); „Erzählungen für junge Damen und Dichter, gesammelt und mit Anmerkungen begleitet“ (2 Bde., 1775; Sachen von Hagedorn, Gellert, Lichtwer, Kestner, Gleim, Gerstenberg, Wieland, Jacobi, der Karschin und H. selbst enthaltend); „Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso“ (Prosaübersetzung, 4 Bde., 1781); „Roland der Wüthende, ein Heldengedicht von Ludwig Ariost dem Göttlichen“ (Prosaübersetzung, 4 Bde., 1782 f.); „Ardinghello oder die glücklichen Inseln“ (italienische Geschichte aus dem 16. Jahrh., 1787, 4. Aufl. 1838); „Hildegard von Hohenthal“ (Roman, 2 Bde., 1796, 3. Aufl. 1838); endlich „Anastasia und das Schachspiel“ (Briefe aus Italien, 2 Bde., 1803). Eine Gesammtausgabe der Heinse’schen Werke erschien unter folgendem Titel: „Sämmtliche Schriften Wilhelm Heinse’s, herausgegeben von Heinrich Laube“, 10 Bde., Leipzig 1838, 2. Aufl. 1851. Die 10 Bände enthalten: I.–II. Leben und Charakteristik Heinse’s; Ardinghello; III–IV. Hildegard v. Hohenthal; V. Laidion; VI.–VII. Anastasia; VIII.–IX. Briefe; X. Sinngedichte, die Kirschen, Schäferstunden, Armida (Auszug aus dem befreiten Jerusalem v. Tasso), Sappho, Theano, Frauenzimmer-Bibliothek, Kalender, Schlußwort. – H. ist einer derjenigen deutschen Dichter, über welche die Litterarhistoriker sich in den widersprechendsten Urtheilen ergehen: er wird verdammt und bewundert zu gleicher Zeit. Die Verdammungsurtheile gehen zumeist aus dem sittlichen Anstoß hervor, den man an seinen Werken vom moralischen Standpunkt aus allerdings in hohem Maße zu nehmen haben wird. Ein geistesverwandter Schüler Wielands, ging H. über diesen in Schlüpfrigkeit und Sinnenreiz noch weit hinaus – so daß Jener ganz Recht hatte, in Briefen an Gleim den „Jünger“ endlich zu perhorresciren. Auch darin besteht ein großer Unterschied zwischen beiden, daß Wieland’s Frivolität eine naiv tändelnde, die Heinse’s dagegen eine reflektirt-pathetische ist. Jedenfalls aber wird H. immer seine bedeutende litterarhistorische Stellung einnehmen und zur Zahl derer gehören, welchen es beschieden gewesen, der nationalen Poesie neuen Inhalt, neue Stoffe und Gesichtspunkte zuzuführen. Er ist einer der Vorläufer des classischen Zeitalters unserer Dichtung, und die Einflüsse, welche Goethe von ihm empfangen, sind direct nachweisbar. In dieser Beziehung hat H. Pröhle es sehr treffend betont, wie Heinse’s italienische Reise als die eigentliche Vorläuferin der Goethe’schen Flucht nach der Apenninenhalbinsel erscheint, wie sich H. mit Ardinghello und Hildegard v. Hohenthal Goethe’s Dichtungen ebenso genähert hat, wie er früher Wieland nahe gestanden, und wie über den ganzen letztgenannten Roman eine Zeitstimmung ausgebreitet liegt, welche dem Tone in Goethe’s Campagne in Frankreich und in dessen Belagerung [653] von Mainz ziemlich verwandt ist. – Der Gegenstand der beiden Hauptromane (und überhaupt der zwei Hauptwerke) Heinse’s ist die Kunst, in Ardinghello die bildende, in Hildegard die Musik. Beide sind als Kunstschöpfungen in Anlage und Ausführung verfehlt; viel Gutes, Sinnvolles und Geistreiches enthalten aber die einen großen Theil füllenden Ansichten über Kunst und in Ardinghello die zahlreichen Beschreibungen von Kunstwerken. Außerdem bestechen sie durch die glänzende Darstellung voll Feuer und Enthusiasmus und durch die bewegliche, wohllautende Sprache. H. ist mit diesen Werken der Begründer des deutschen „Kunstromans“ geworden und hat auf die Romantiker ebenso, wie auch noch auf die Jungdeutschen – freilich zumeist im Sinne der vielleicht minder unpoetischen, als unmoralischen „Emancipation des Fleisches“ (man denke an Schlegel’s „Lucinde“, an Gutzkow’s „Wally“ u. A. m.) – eingewirkt.
- Man vgl. über H. – abgesehen von seinem Leben und seiner Charakteristik, die H. Laube, wie bemerkt, für die von ihm besorgte Gesammtausgabe geliefert hat – u. A. noch: „Briefwechsel zwischen Gleim, Heinse und Johannes v. Müller“, herausgegeben von Körte, Zürich 1806–8, 2 Bde., sowie „Lessing, Wieland, Heinse. Nach den handschriftlichen Quellen in Gleim’s Nachlasse dargestellt von Heinrich Pröhle“ (Berlin 1877). Herm. Hettner in Westermann’s Illustrirten Monatsheften, Jahrg. 1866.