ADB:Grimm, Melchior Freiherr von

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Artikel „Grimm, Friedrich Melchior Baron von“ von Arthur Richter in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 676–678, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Grimm,_Melchior_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 02:25 Uhr UTC)
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Grimm: Friedrich Melchior, Baron von G., philosophischer Schriftsteller in französischer Sprache und diplomatischer Agent, geb. den 26. Decbr. 1723 zu Regensburg, gest. den 19. Decbr. 1807 zu Gotha, war der Sohn eines verdienten lutherischen Geistlichen zu Regensburg, geb. 1716, † 25. Aug. 1778, und erhielt seine Schulbildung auf dem dortigen Gymnasium. Schon in den oberen Classen desselben beschäftigte er sich mit litterarischen Versuchen, die er an Gottsched sandte. Der bedeutendste darunter ist seine Bearbeitung des Romans von der Asiatischen Banise, die ganz Gottsched’s Schule verräth, und von letzterem 1743 im vierten Theil seiner deutschen Schaubühne veröffentlicht wurde. Seine Studien vollendete G. zu Leipzig, er beschäftigte sich mit Philosophie, Rechtswissenschaft, alter und neuer Litteratur und schloß sich außer an Gottsched namentlich eng an Ernesti an. Nach vollendeten Studien wurde G. Secretär bei dem kursächsischen Reichstagsgesandten, dem Grafen von Schönberg, als solchen finden wir ihn 1745 bei der Wahl Franz I. in Frankfurt und auf dem Reichstage in Regensburg. Er befreite sich allmählich von dem Einfluß, den Gottsched auf ihn ausgeübt hatte, und suchte auf einem andern Gebiete, als dem der deutschen Poesie das Feld seiner litterarischen Thätigkeit. Schon sein gescheiterter Versuch Voltaire’s „Mémoire sur la Satire“ für Deutschland herauszugeben, zeigt ihn auf dem Wege, der Vermittler zwischen französischer und deutscher Litteratur zu werden. Der Wunsch nach einer großstädtischen Existenz ließ ihn Ende 1748 oder Anfang 1749 als Begleiter eines Sohnes des Grafen Schönberg nach Paris gehen. Hier wurde G. zuerst Vorleser beim Herzog von Sachsen-Gotha, dann Secretär bei dem Grafen Friesen, dem Neffen des Marschalls von Sachsen und nach dessen Tode Cabinetssecretär beim Herzog von Orleans. Von hervorragender Bedeutung für Grimm’s geistige Entwickelung und litterarische Thätigkeit wurde seine Bekanntschaft mit Rousseau, die Klüpfel, der Prediger des Herzogs von Gotha, bereits 1749 vermittelte. Gleiche Neigung für die [677] Musik fesselte beide Männer aneinander. Rousseau brachte G. mit Diderot, dem Baron von Holbach, d’Alembert, der Frau von Epinay u. a. in Beziehung. Grimm’s Verhältniß zu Gottsched wurde nun immer lockerer und hörte 1754 ganz auf, unterdessen lebte er sich in der höheren geistreichen Pariser Gesellschaft immer mehr ein, erwarb sich durch seine Kenntnisse und Talente auf dem Gebiet der Litteratur und Musik eine geachtete Stellung und wußte sich auch den Frauen interessant zu machen, wobei freilich unmännliche Eitelkeit und Sucht, Aufsehen zu erregen, mit unterlief. Als die italienische komische Oper zuerst nach Paris kam und sich die Pariser in zwei Parteien für und wider die neue Erscheinung spalteten, trat G. für die italienische Musik in dem geistreichen Schriftchen ein: „Le petit Prophète de Boehmischbroda“, Paris 1753 (verdeutscht von Gottsched’s Frau). Ihm folgte: „Lettre sur la musique française“, worin er seine Gegner mit glänzendem und schlagfertigem Witz abfertigte und der italienischen Musik zum Siege verhalf. Seine litterarische Hauptbedeutung gewann G. aber durch die Correspondenz, in die er von Paris aus mit auswärtigen Fürsten trat, denen er über französische Litteratur- und Culturzustände berichtete. Um über seine Beziehungen zu Friedrich dem Großen, Gustav III. von Schweden und Katharina II. von Rußland hinwegzugehen, da wir noch keine unmittelbare Einsicht in dieselben besitzen, so ist seine bedeutendste Leistung die Correspondenz, die an den Herzog von Sachsen-Gotha gerichtet war, bei der nahen Verbindung aber zwischen Gotha und Weimar, auch die leitenden Kreise der deutschen Litteratur mit der französischen in einen unmittelbaren Rapport setzte. Es ist dies die: „Correspondance littéraire, philosophique, critique addressée à un Souverain d’Allemagne par Grimm et Diderot“, Paris 1812–13. 16 Bde. Supplement, Paris 1814. Neue Ausgabe 15 Bde. Paris 1829. Deutscher Auszug 2 Bde. 1820–23. Auf Veranlassung von Luise Dorothea, Herzogin von Sachsen-Gotha-Altenburg hatte der Abbé Raynal 1747 Berichte über französische Litteratur- und Culturzustände zu schreiben begonnen (handschriftlich in Gotha). Seit 1753 setzte Grimm diese Berichte fort und führte dieselben bis 1792; wenn er durch diplomatische Reisen von Paris weggeführt war, vertrat Diderot seine Stelle. Besonderen Werth erhielt diese Correspondenz noch durch die Beilage vollständiger französischer litterarischer Werke, die nur auf diesem Wege nach Deutschland kamen. Aus diesen Beilagen übersetzte Goethe unter andern „Rameau’s Neffe“. Diese Berichte haben darum einen so hohen Werth, weil sie den Verlauf der wichtigen französischen Litteraturepoche von 1753–1792 im Spiegel deutschen Gemüthes und Geistes zeigen. Man hat G. mit Recht große Schmiegsamkeit und Hingabe in Auffassung der französischen Litteratur und Cultur, schlagfertiges und glänzendes Urtheil, Naivität und Frische des Vortrags nachgerühmt. Darum ist es mit Freuden zu begrüßen, daß gegenwärtig eine neue Ausgabe der Correspondenz vorbereitet wird. – Wie bereits bemerkt, führten G. Reisen in diplomatischen Geschäften, so 1769, 1773 mitunter von Paris in andere europäische Hauptstädte. In Folge der Verdienste, die er sich durch diese Thätigkeit erwarb, wurde er 1775 von Wien zum Baron, 1776 vom Herzog zu Sachsen-Gotha zu dessen bevollmächtigten Minister am französischen Hofe ernannt. Die Revolution vertrieb G. aus Frankreich; 1792 begegnen wir ihm bei Fr. Jacobi in Pempelfort, wo ihn Goethe persönlich kennen lernte. Dann siedelte er sich in Gotha an. 1795 ernannte ihn Katharina II. zum Staatsrath und bevollmächtigten Minister beim niedersächsischen Kreise in Hamburg[1] und Paul bestätigte ihn darin. Eine Krankheit aber, deren Folgen ihm das Augenlicht raubten, zwang ihn sich ganz von den Geschäften zurückzuziehen. Er starb fast erblindet in Gotha. Außer den genannten Schriften ist eine Dissertation und einige Briefe [678] von ihm gedruckt, deren Titel Meusel angibt. Handschriftliches ist in Petersburg zu suchen.

Vgl. Gottsched und seine Zeit von Th. W. Danzel, Leipzig 1848. S. 343–354. – Correspondance von 1770. T. I.Études sur Grimm par St. Beuve et Paulin Limayrac, Paris 1854.[2]

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 678. Z. 4 v. u.: Diese Briefe der Kaiserin Katharina II. an Grimm sind inzwischen (mit russ. Einleitung und Notizenapparat) von Grote im 23. Band der kais. Ges. für russ. Geschichtsforsch. veröffentlicht. [Bd. 17, S. 795]
  2. S. 676. (Zum Artikel Friedr. Melchior Grimm): Durch die neue, vielfach vervollständigende und berichtigende Ausgabe der „Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm. Diderot, Raynal, Meister …“ von Maurice Tourneux (Paris 1877–82, in 16 Bdn.), sowie durch das Buch von Edmond Scherer „Melchior Grimm“, Paris 1886, ist das Leben und Wirken dieses zwei benachbarten Völkern gleichmäßig angehörenden Mannes in mehreren Punkten genauer festgestellt worden. Auf Grund dieser zwei Arbeiten und eigener Studien folgen hier einige Ergänzungen:

    G. wurde nicht am 26. December (1723), sondern am 26. September geboren. – Sein Vater war nicht erst im J. 1716, sondern nothwendig früher geboren. Auch ist derselbe ohne Zweifel früher als im J. 1778 gestorben. Denn im J. 1769 hatte der Sohn in Deutschland nicht seinen Vater, sondern seine mehr als 85 Jahre alte Mutter wieder gesehen; vgl. Oeuvres de Diderot, édit. Assézat et Tourneux t. XIX, p. 329. – Die Angabe, daß Grimm bei seinem entschiedenen Auftreten für die italienische Musik gegen die französische auf seine Flugschrift „Le Petit Prophète de Boemischbroda“ (1753) noch eine „Lettre sur la musique française“ habe erscheinen lassen, ist unrichtig; letztere stammt vielmehr aus der Feder Rousseau’s. Bei dieser Gelegenheit mag zugleich darauf hingewiesen werden, daß Grimm in späterer Zeit auch für die Anerkennung der deutschen Tonkunst oder wenigstens eines ihrer vielversprechendsten Vertreter sich angelegentlich bemüht hat. Als nämlich der junge Mozart mit seinem Vater im J. 1763 nach Paris kam, nahm sich der einflußreiche Landsmann des „Wunderknaben“ freundlich an und empfahl ihn mit Erfolg in den höheren Kreisen und am Hofe. Bei seinem zweiten Aufenthalte in der französischen Hauptstadt fand an ihm Mozart gleichfalls einen Beschützer. Er war fast täglich Grimm’s Gast und wohnte zuletzt auch bei ihm bis zu seiner Abreise. – Nicht im J. 1775, sondern 1772 wurde Grimm durch Joseph II. zum Reichsbaron erhoben. – Nicht im J. 1795, sondern 1796 ernannte ihn die Kaiserin Katharina zum russischen Residenten in Hamburg. – In Betreff der Begegnung Grimm’s mit Goethe scheint eine zweimalige stattgefunden zu haben. Zum ersten Male sollen sie im J. 1777 in Eisenach (vgl. Goethe’s Werke, Hempel’sche Ausgabe, Band 23, S. 241, Anm. 63) sich begegnet haben. Das zweite Mal trafen sie im J. 1792 zusammen, und zwar entweder in Düsseldorf, wo sich damals G. aufhielt, oder in dem benachbarten Pempelfort, wo Goethe im Monat November war. – Was Grimm’s Hauptwerk, seine litterarische Correspondenz betrifft, welche er an deutsche und andere Fürsten richtete, so leitete er sie ungefähr zwanzig Jahre lang in einer ebenso einträglichen als litterarisch bedeutsamen Weise. In den Mittheilungen, welche er darin über die neuesten Erscheinungen in der Litteratur, Kunst und Wissenschaft gab, zeigte er sich als einer der hervorragendsten französischen Kritiker. Nicht bloß durch seinen Scharfsinn und seinen Stil, welcher nach dem Urtheile von Sainte-Beuve nicht selten demjenigen von Voltaire ebenbürtig war, zeichnete er sich aus, sondern auch durch Vielseitigkeit der Gesichtspunkte und ebenso gründliche als ausgebreitete Kenntnisse. So konnte er über zahlreiche Gegenstände unbefangener als die meisten französischen Schriftsteller urtheilen. Diese Vorzüge verdankte er der tüchtigen Schul- und Universitätsbildung, welche er in seinem deutschen Vaterlande genossen hatte. Im übrigen aber urtheilt er nicht sowohl als Deutscher, sondern vom nationalfranzösischen Standpunkte aus, in den er sich in vielen Beziehungen bei seinem langjährigen Aufenthalte in Paris ganz hineingelebt hatte. Es ist deshalb nicht richtig, wenn früher gesagt worden ist, daß seine „Berichte darum einen so hohen Werth haben, weil sie den Verlauf der wichtigen französischen Litteraturepoche von 1753–1792 im Spiegel deutschen Gemüthes und Geistes zeigen“. Der kühl angelegte G. besaß überhaupt nicht das, was man Gemüth nennt. Im Gegentheile könnte man ihm vorwerfen, daß er bei Besprechung hervorragender deutscher Dichtungen, welche in französischer Uebersetzung erschienen waren, nicht diejenige Wärme zeigt, welche er als geborener Deutscher hätte fühlen können. Uebrigens führte G. diese litterarische Correspondenz nicht so lange, als man vor Tourneux annahm. Er übergab sie, um seine diplomatischen Reisen ungestört ausführen zu können, nach und nach seinem Secretär Jak. Heinrich Meister (s. A. D. B. XXI, 256) welcher dieselbe seit März 1773 meistentheils, und seit 1775–1792 ausschließlich besorgte. Es dürfen also nicht, wie es selbst jetzt noch mitunter geschieht, Urtheile aus der letztgenannten Periode auf G. zurückgeführt werden. – Obwohl aber dieser Schriftsteller-Diplomat so rasch und völlig die Anschauungen und die Sprache Frankreichs angenommen hatte, daß er als Franzose gelten konnte, so darf man doch nicht glauben, daß er zuletzt ganz gleichgültig gegen sein Vaterland und dessen kräftig emporstrebende Litteratur geworden sei. Ein Blick in den Katalog seiner reichen Bibliothek zeigt, daß er viele neuere deutsche Werke besaß. Ferner theilt der vorhin erwähnte J. H. Meister, welcher zugleich sein Freund und Biograph war, mit, daß auf Niemand die ersten Schöpfungen Herder’s, Goethe’s und Schiller’s einen lebhafteren Eindruck gemacht hätten. Freilich äußert er diese Gefühle nicht öffentlich, selbst kaum in dem später geführten Briefwechsel (1774–1796) mit Katharina II., welcher zum ersten Male von J. Grot, St. Petersburg 1878 und 1880 veröffentlicht wurde, und in welchem er, mehr auf Anregung seiner angebeteten kaiserlichen Gönnerin, als aus eigenem Antriebe über Lessing und dessen Nachfolger, sowie deren Eigenschaften und Verdienste spricht. Um so wohlthuender berührt es zu sehen, daß G. in einem Briefe (1781), den er an Friedrich den Großen, mit welchem er in Briefwechsel (vgl. den XXV. Band der Werke Friedrich des Großen) stand, nach Empfang von dessen bekannter Schrift „De la littérature allemande“ richtete, geradezu für die heimathlichen Schriftsteller in die Schranken tritt. Er weist darauf hin, daß er auf seinen Reisen durch Deutschland vollkommen gut geschriebene deutsche Bücher gelesen und den Eindruck gewonnen habe, daß daselbst eine große geistige Umwälzung stattgefunden habe. So nahm sich G. gegen die Neige seines Lebens der deutschen Litteratur fast mit ähnlicher Liebe wieder an, mit welcher er dieselbe als junger Mann, kurz nach seiner Uebersiedlung nach Paris, den Franzosen empfohlen hatte. Damals hatte er nämlich der heimathlichen Dichtung in einflußreichen höheren Kreisen mit ebensoviel Geist als Eifer das Wort geredet. Halb im Scherz, halb im Ernst warf ihm ein Franzose vor (vgl. Th. Süpfle, Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, 1. Band, S. 143 nebst Anmerkung 329), daß er die ungeheuerlichen Schönheiten der Litteratur seines Landes über alles setze. Aber auch öffentlich trat G. als beredter Anwalt damals auf. In den Jahren 1750 und 1751 ließ er in dem Mercure de France zwei eingehende Briefe „Sur la littérature allemande“ erscheinen, in welchen er die früheste Uebersicht über ihre Geschichte gab, die Vorurtheile der Franzosen gegen sie zu zerstreuen suchte, die baldige Beliebtheit der heimathlichen Litteratur jenseits des Rheins prophezeite und mit Nachdruck auf Haller und Klopstock hinwies. So zeigte sich G. als einen verdienstvollen Vermittler unserer Dichtung bei den Franzosen, und zwar war er der erste Deutsche, welcher sich diese Aufgabe stellte und mit Geschick durchführte. – Wie die Wiege, so steht auch das Grab des über vierzig Jahre fern von seinem Vaterlande wirkenden Mannes auf deutschem Boden. Er starb in seinem 84. Jahre in Gotha, nachdem er in den letzten Jahren seines Lebens ebensoviel Kummer und Leiden, als vordem Ehren und Auszeichnungen erfahren hatte. Bestattet wurde er am 23. December 1807 auf dem kleinen Friedhofe in Siebleben bei Gotha in aller Stille. Gustav Freytag hat den Stein und das Grab aus ihrem Verfalle unlängst wiederherstellen lassen. [Bd. 26, S. 826–828]