ADB:Schletterer, Hans Michael

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Artikel „Schletterer, Hans Michael“ von Pius Wittmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 41–43, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schletterer,_Hans_Michael&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 20:25 Uhr UTC)
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Schletterer: Dr. phil. Hans Michael Sch., Tonsetzer und Musikschriftsteller, geboren zu Ansbach am 29. Mai 1824, † am 4. Juni 1893. Sein Vater, der ehrsame Schneidermeister Joachim Kaspar Schletterer, beabsichtigte den talentvollen Jungen dem Schuldienste zuzuführen. Er ließ ihm daher sehr bald die Anfangsgründe im Clavierspiel beibringen (durch Lehrer Peter in Hamenbach) und sandte das Söhnlein wöchentlich drei Mal auf den Herriederthorthurm, woselbst es der Stadtmusikus Ott mit Behandlung der Streichmusik vertraut machte. Unter Leitung des Kantors Dürrner, Organisten Maier, wie der Dichter Scheurle und Güll vervollkommnete der Knabe seine Fertigkeiten und Kenntnisse im Violin- wie im Clavierspiel, in der musikalischen Theorie und im Aufsatz. Am 2. November 1840 erfolgte seine Aufnahme ins Lehrerseminar zu Kaiserslautern. Zwei Jahre später erhielt er Anstellung als „Schulgehülfe“ daselbst. Von unwiderstehlichem Drang nach [42] gründlicher musikalischer Ausbildung beseelt, bat er um Urlaub und wandte sich zunächst nach Kassel und Leipzig. Dort waren es Kraushaar und Spohr, hier David und Richter, denen er mit Begeisterung lauschte, in deren Spuren zu wandeln er unablässig sich bemühte. Nachdem Sch. seine Studien in Dresden, Dessau und Berlin vollendet hatte, folgte er einem Rufe als „Musiklehrer“ nach dem damals noch französischen Städtchen Finstingen (Fénétrange) in Lothringen, von wo er 1847 als „Theatercapellmeister“ nach Zweibrücken (Rheinpfalz) übersiedelte. Sechs Jahre später treffen wir ihn als „Musikdirector“ der Universität zu Heidelberg. Sein Umzug dorthin vollzog sich bei überaus rauhem Wetter im Januar 1853. Ein lange währendes, schmerzhaftes Augenleiden hatte darin seinen Grund. Unterm 26. Mai 1858 wurde Sch. als „Capellmeister“ an der protestantischen Kirche zu Augsburg angestellt. In dieser altehrwürdigen Stadt entfaltete er nun eine unermüdliche, fast darf man sagen fieberhafte Thätigkeit als Chordirigent, Organisator, Tonsetzer und Componist. Nach achtjährigem Ringen gelang ihm die Gründung des „Oratorienvereins“, im October 1873 jene der „Musikschule“. Fünf Jahre später zeichnete ihn die Universität Tübingen in Anerkennung seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen (namentlich auf dem Gebiete der Musikgeschichte) durch Verleihung des philosophischen Doctorgrades aus. Sein starres Festhalten an den Ueberlieferungen der Classiker brachte ihn jedoch in Fehde mit den Anhängern von Wagner und wurde für ihn die Quelle bittersten Leides. Im ungleichen Kampfe gegen die übermächtige neue Strömung unterlag Sch. „Krankheitshalber“ mußte er den Dirigentenstab des von ihm mehr als zwei Decennien liebevoll geleiteten und zu hoher Blüthe gebrachten Oratorienvereins niederlegen und einer jüngeren, „zeitgemäßen“ Kraft Platz machen. Die unverdiente Kränkung brach ihm das Herz oder beschleunigte doch sein Ende. Am 7. Juni 1893 wurde seine entseelte Hülle unter riesigem Andrang von Verehrern aus allen Ständen und Bekenntnissen auf dem protestantischen Gottesacker zu Augsburg der Erde übergeben. Alle Tagesblätter ohne Unterschied der Parteien brachten mehr oder minder umfangreiche, rühmende Nachrufe, und wo immer Schletterer’s Name bekannt war, klagte man aufrichtig über den Verlust.

Sch. hat überall, besonders aber in der ihm zur zweiten Heimath gewordenen Kreishauptstadt Schwabens, sich um das musikalische Leben sehr verdient gemacht. Streng conservativ, suchte er die Schöpfungen Haendel’s, Bach’s, Gluck’s, Haydn’s, Mozart’s und anderer Größen auf dem Gebiet der Claviersonate, der Kammermusik, der Symphonie sowie des Einzelchors und Oratoriengesanges in den von ihm veranstalteten (mehr als 500) Concerten zu allgemeinem Verständnis zu bringen.

Nebenbei entfaltete er eine bewundernswerthe Fruchtbarkeit in Compositionen jeder Art, sowie in historischen und pädagogischen Werken, die sich ebenso sehr durch Klarheit der Auffassung und Schönheit der Diction wie durch Kenntnis und Verarbeitung der Quellen auszeichnen. Seine „Violin-“ und „Chorgesangsschule“ erfreuten sich durchschlagenden Erfolges, sie wurden auch in fremde Sprachen übertragen. Die Compositionen und Liedervertonungen im einzelnen namhaft zu machen, fehlt hier der Raum. Man vergleiche deshalb Riemann’s Musiklexikon und C. A. Krause in der Zeitschrift: „Der Chorgesang“ (Leipzig 1889, Nr. 12), woselbst auch das gut getroffene Bildnis des Künstlers und Facsimile seiner Handschrift zu finden ist.

An größeren wissenschaftlichen Publicationen seien hier genannt: „Johann Friedr. Reichardt, sein Leben und seine musikalische Thätigkeit“, Bd. I (mehr nicht erschienen), Ausgb. 1863; „Die Entstehung der Oper“, [43] Nördlingen 1873; „Katalog der in der Kreis- und Stadtbibliothek, dem städtischen Archiv und der Bibliothek des Historischen Vereins zu Augsburg befindlichen Musikwerke“, Berlin 1876; „Studien zur Geschichte der französischen Musik“, Berlin 1884/85, 3 Bde. Zu beachten sind ferner Schletterer’s Aufsätze: „Giovanni Battista Pergolese“, „Ludwig Spohr“, „Luigi Boccherini“ in Sammlungen musikalischer Vorträge (Leipzig 1880/82) und seine ebenda (1882) erschienene Abhandlung „Die Ahnen moderner Musikwerke“; dann die scharfe und witzige, für den Autor aber verderbliche Schrift „Richard Wagner’s Bühnenfestspiel“ (Nördlingen 1876) sowie seine Beiträge für die „Allgemeine deutsche Biographie“ (Reichardt, Sonntag, Spohr).

Sch. war ein schöner, geistreicher, rastlos thätiger Mann, ein guter Gesellschafter, stets hülfsbereiter College. Obschon gläubiger Lutheraner, lebte er doch im besten Einvernehmen mit katholischen Zunftgenossen. Sein Eifer für die „Masonei“, der er sich in Straßburg als Jüngling angeschlossen hatte, flaute im Laufe der Zeit stark ab. Die Loge kümmerte sich deshalb auch nur wenig um seine Hinterbliebenen.

Seine Ehefrau Hortensia Zirges, als Mädchen eine bewunderte Künstlerin auf der Geige, später gelähmt, überlebte den Gattin noch um elf Jahre und starb am 27. Februar 1904. Sie stammte aus vornehmem, polnischen Geschlecht, das jedoch Heimath und Namen aufgeben mußte. Ihr Vater war Buchhändler zu Leipzig, der erste deutsche Admiral Rudolf Brommy ihr Onkel.

Eigene Erinnerung, Mittheilungen von Familiengliedern, Schülern und Zeitgenossen; Nekrologe in verschiedenen Zeitschriften und Encyklopädien.