Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Bezeichnung jährlich wiederkehrender Winde
Band VI,1 (1907) S. 713717
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Etesiai.

1. Die Wortform οἱ ἐτησίαι (etesiae bei den Römern) wird zu verstehen sein als Analogiebildung nach andern Windnamen auf -ίας (vgl. ὀρνιθίαι, καικίας, ἀπαρκτίας, die von Ortsnamen hergenommenen wie Στρυμονίας; der Sing. ἐτησίας Etym. M. 386, 53 = Lex. Gud. 215, 18. Eustath. Il. XXI 346); in Erinnerung an die Zusammengehörigkeit mit dem Adjekt. ἐτήσιος hat man den Genet. barytoniert (vgl. Choiroboskos bei Bekker Anecd. gr. 1260). Die Form ἐτήσιοι hat Polyb. IV 44, 6, dann wieder Lyd. de mens. IV 107 (p. 146, 8. 148, 12 W.) in einer erst von ihm – nach Seneca – griechisch gegebenen Stelle (vgl. Diels Abh. Akad. Berl. 1885, 6, 3); als Fehler der Überlieferung tritt ἐτήσιοι auf bei Adamantios (Rose Anecd. gr. I 41ff.); ἐτήσιοι ἄνεμοι bietet Arrian (anab. VI 21, 1), ἐτήσιαι αὖραί Nonn. Dionys. V 278, ἐτήσιοι oder ἐτήσιαι αὖραι Apoll. Rhod. II 498. 525, ἐτήσια πνεύματα Cleom. I 6 (p. 60, 11 Z.). Neben der selbstverständlichen Ableitung von ἔτος (Schol. Arat. 152 p. 366 M. Hyg. astr. II 4 p. 37, 20 B. Schol. Demosth. Phil. I p. 46, 26 Reiske) findet sich die von ἔθος (Etym. M. = Lex. Gud.), von ἐτεός (Schol. Arat. 152) und, vom Komödiendichter Amphis spielend aufgebracht, die von αἰτεῖν (s. u. S. 717, 2. Hyg. astr. a. a. O.). Die Lexika bieten sonst für Form und Deutung nichts Dienliches (Hesych. s. Ἀργέσται. Phot. p. 221 N. = Bekker Anecd. gr. 257, 6. Suid. s. ἐτησίαι = Schol. Demosth. a. a. O.).

2. Der Begriff E. bezeichnet jährlich wiederkehrende Winde. Als solche lernten die Griechen zuerst die sommerlichen Nordostpassate des Ägäischen Meeres kennen (vgl. Neumann-Partsch Phys. Geogr. v. Griechenl. 95f.). Sicherlich haben die ionischen Physiker seit Thales, wenn sie sich mit der Erscheinung beschäftigten (s. u. S. 715), auch schon den Namen E. angewandt; in der erhaltenen Literatur tritt er zuerst bei Herodot (II 20) auf; wenig später ist er den Parapegmatisten (s. u. S. 714) geläufig. Die Sache, nicht den Namen, kennt Hesiod (op. 662ff.). Je mehr sich dann der geographische Gesichtskreis erweiterte, desto vielfältigere Anwendung fand der Name E.; Aristoteles (Meteor. II 6 p. 365 a 5; nach ihm Περὶ κόσμ. 4 p. 395 a 2, wohl auch Gell. noct. Att. II 22, 25) kennt westliche E. für den westlichen, östliche E. für den östlichen Teil der Oikumene (weitere Belege für West-E. s. Diels Abh. Akad. Berl. 1885, 11f.), Theophrast postuliert E. auch für die Gegenden πρὸς μεσημβρίαν (in der verstümmelten Stelle de vent. 14). Seit dem Alexanderzug heißt der Monsun des Indischen Ozeans E. (Strab. XV 690–692. Arrian. anab. VI 21; Ind. 21, 1), Poseidonios bezeichnet als E. einen im westlichen Mittelmeer während des Sommers vorherrschenden Südostwind (Strab. III 144. Plin. n. h. II 127). Fand man so die Erscheinung von E. weit verbreitet, so wurde gelegentlich auch das Fehlen von E. konstatiert (für Thessalien und Makedonien bei Theophr. de vent. 30. 31) oder doch für manche Gegenden angenommen (so vom Gegner des Poseidonios bei Cleom. I 6 p. 60, 11, der die E. nicht [vgl. Strab. II 97] als Argument für die [714] Bewohnbarkeit der heißen Zone gelten lassen will).

3. Die Wirkungen der E. des Aegaeischen Meeres machten sich vor allem für die Schiffahrt geltend (vgl. Neumann-Partsch a. a. O. 97f., wo ihre Bedeutung für die Kolonisation des Pontos gewürdigt ist, Hesiod. op. 662ff. Arat. phaen. 152); für kriegerische Operationen zur See konnten sie ein entscheidender Faktor sein (vgl. Neumann-Partsch a. a. O.). Ihre Bedeutung für die Landwirtschaft spiegelt sich wieder in der Aristaiossage (s. u. S. 716, 67); als ein Göttergeschenk preist sie Poseidonios bei Cic. n. d. II 131. Daß aber ihr Übermaß von Übel sein konnte, lehrt die Empedokleslegende bei Diog. Laert. VIII 60. Nach Plin. n. h. XVII 133 ist die Zeit der E. für Griechenland und die Kyrenaika die der Aussaat, für Kos die der Rebenpflanzung. Noch unmittelbarer greifen die E. ins Menschenleben ein, insofern ihr normaler Verlauf als wesentlich für den normalen Witterungscharakter des Jahres und damit für die Gesundheitsverhältnisse gilt (Hippocr. de aere etc. 10 p. 49, 17; epid. I 1 p. 180, 8. 4 p. 184, 14. 13 p. 191, 7. III 2 p. 224, 15. [Theophr.] de sign. 34. Theophr. de vent. 14). Im Gebiet des Aegaeischen Meeres sind die E. trocken, im Süden und Osten aber feucht nach Theophr. de vent. 4 (vgl. Senec. n. qu. V 18, 2); daß Indien durch die E. Regen empfängt, ist sogleich erkannt worden (Strab. XV 690 [‌Eratosthenes‌]. 691. 692 [‌Aristobulos]; auch den Troglodyten bringen die E. Regen, Strab. XVI 776).

4. Natürlich war man, zumal bei der Neigung zum Schematisieren, welche für die Anfänge der antiken Meteorologie bezeichnend ist, bald darauf bedacht, die jährliche Periode der E. genau zu bestimmen. Aber daß nicht alle Jahre die Erscheinung in gleicher Stärke zeigen, war selbstverständlich auch unverkennbar (Theophr. de vent. 12. Geop. I 12, 11. 36). An Schwankungen der Stärke innerhalb längerer Zeitperioden dachte Theophrast (de vent. 13. 14), veranlaßt durch Beobachtungen über Wandlungen der Vegetation Kretas und im Hinblick auf den Ursprung der Aristaiossage. Der Beginn der E. wird kalendarisch allgemein ungefähr auf die Zeit des Frühaufgangs des Seirios gesetzt; nur Seneca (n. qu. V 10, 3) betrachtet mißverständlich diese Phase als Ende der E. Beträchtlich differieren hingegen die Angaben über die Dauer der E.; aus gelegentlichen Angaben und den Notaten der Parapegmen (die Stellen in Wachsmuths Lyd. de ost. Ind. s. ἐτησίαι') ergibt sich folgendes: nur 23 Tage (Anfangs- und Enddatum hier wie stets eingerechnet) gibt ihnen Euktemon (Ptol. Gem.), 30 Columella, 30, nach andrer Überlieferung 40 (p. 330, 14 W. mit adn.) Plinius. Für Eudoxos berechnet sich die Dauer nach den Parapegmen auf 37 Tage (Gem. Ptol.), doch steht im Geminusparapegma für ihn (p. 212, 6 M.) die Zahl 55 überliefert. Die gleiche Zahl (55) ergibt sich für die ,Ägypter‘, wenn man Ptolemaios und Plinius kombiniert, 40 dagegen rein aus Ptolemaios. Die Zahl 40 ist die am häufigsten bezeugte (s. schon oben Plin.), Clod. p. 140, 10 W. Apoll. Rhod. II 526. Adamantios (Rose Anecd. gr. 12 p. 42f.). Damit kann man das Ergebnis für Hipparch aus Ptolemaios (39 Tage) identifizieren. Längere Dauer verzeichnen die Ansätze [715] bei Ammian. Marc. XXII 15, 7 (45 Tage), Timosthenes im Schol. Apoll. Rhod. II 526 (50 Tage), Schol. Arat. 152 (p. 366 M.) gar 60 Tage. Hier ist noch die approximative Bestimmung ἀπὸ τῆς τοῦ Κυνὸς ἑώιας ἐπιτολῆς μέχρι‘Αρκτού⟨ρου⟩ ἐπιτολῆς beigefügt, die bei dem Anon. de Nilo (Athen. II 89 als Zitat aus Kallisthenes) und, für die indischen E., nach Aristobulos bei Strab. XV 691 wiederkehrt. Die zwischen der Sommerwende und dem Seiriosaufgang wehenden Nordwinde heißen πρόδρομοι (s. d.). Bezüglich der täglichen Periode stellt Aristoteles fest, daß die E. nur des Tages wehen (Meteor. II 5 p. 362 a 1. 7; ferner Probl. 26, 51. 60. Theophr. de vent. 12. Plin. n. h. II 127); die Erklärung liefert ihm seine Theorie (s. u.) ungesucht. Bei Theophrast kommt hiezu die weitere Beobachtung, daß die E. um Mittag fallen (de vent. 31).

5. Die Ursache der E. in der Luftauflockerung im Gebiet der heißen Zone zu suchen konnte den Alten nicht wohl beikommen. Sie suchten die Ursache in der Gegend, woher der Wind wehte. Ob die Frage darnach vor Aristoteles überhaupt gestellt worden ist, geht aus unserer Überlieferung nicht klar hervor. Denn die Nachrichten über die ältesten Erwähnungen der E. bei den Physikern sind verquickt mit der Überlieferung über das Problem der Nilschwelle (s. Art. Nilschwelle; Belege bei Diels Doxogr. 228; Seneca und Lucan. Abh. Akad. Berl. 1885.: Berger Gesch. d. wiss. Erdk. d. Gr.2 130ff.; vgl. auch Alexander in Aristot. Meteor. 53, 5. Olympiodor. ebd. 94, 5). Thales hatte die E. zur Erklärung des Phänomens in der Weise verwendet, daß er an eine aufstauende Wirkung dachte. Nach Demokrit führen die E. die Feuchtigkeit, welche bei der sommerlichen Schneeschmelze im hohen Norden ausgeschieden wird, südwärts und entladen sich ihrer an den Bergen Aithiopiens (eine ähnliche Hypothese sucht für Anaxagoras wahrscheinlich zu machen Berger a. a. O. 138. 144, 2). Während Thales nach dem Ursprung der E. nicht zu fragen brauchte, liegt bei Demokrit der Gedanke nahe, er habe die E. selbst als Folgeerscheinung der Schneeschmelze aufgefaßt, deren Produkt sie mit sich führen. Deutlich ausgesprochen finden wir das in Demokrits Fragmenten (Diels Vorsokr. 386) freilich nicht, sondern erst bei Aristoteles, der keinen Vorgänger nennt, wiewohl er einen solchen gehabt haben muß (Meteor. II 5 p. 361 b 35; davon abhängig Theophr. de vent. 11. Aristot. Probl. 25, 16. 26, 2. 51. Adamantios bei Rose Anecd. gr. c. 10–15. Galen. XVI 410 K. [vgl. Kaibel Hermes XX 591]. Metrodor bei Diels Doxogr. 375 a 8. 632, 13. Phot. cod. 249, 441 b. Mich. Glyc. Ann. 7). Des Aristoteles Aitiologie der E. ergibt sich folgerichtig aus seiner Windtheorie (s. Art. Winde; wie weit sie original ist, ist noch nicht ermittelt). Der Schwierigkeit, daß man hienach den Eintritt der E. zu einem früheren Termin erwarten müßte, begegnet er mit der Erwägung, daß die Sonne bei allzu großer Nähe die feuchten Ausscheidungen verzehre, ehe sie Wind erzeugten. Auch über das Postulat strenger Logik, daß die Sonne nach dem Wintersolstiz südliche E. erzeugen müßte, macht er sich Gedanken (p. 362 a 14; vgl. auch Probl. 26, 2); seine Worte (ἀποροῦσι δέ τινες) zeigen, [716] daß dieses Postulat und damit die von Aristoteles vertretene Theorie schon vor ihm erörtert worden ist (zu der Hypothese einer ἀνταπόδοσις nördlicher und südlicher Luftströmungen ist dieser Gedanke erweitert bei Theophr. de vent. 10). Als solche südliche E. gelten ihm die λευκόνοτοι (die von den Parapegmatisten nicht beachtet worden sind); es bleibt nur zu erklären, weshalb diese nicht so stark und regelmäßig auftreten wie die nördlichen E.; vom Monsun des Indischen Ozeans hat ja Aristoteles noch keine Kunde. Wenn hier eine ältere Hypothese durch einen neuen Gedanken gestützt wird, so ist hingegen Aristoteles schwerlich selbständig in den Bemerkungen über die ὀρνιθίαι (p. 362 a 22). Was er von ihnen sagt, ist so lässig an die vorige Partie angeschlossen, daß wir uns nicht wundern dürfen, wenn Spätere daraufhin die ὀρνιθίαι mit den λευκόνοτοι identifiziert, also für Südwinde gehalten haben; alle bezüglichen Angaben gehen nämlich auf unsere Stelle zurück (Plin. n. h. II 122 [verworren 127]. Alexander in Aristot. Meteor. 99. Olympiod. ebd. 177. Adamant. c. 13 p. 44 Rose) und sind Mißverständnis derselben. Denn da Aristoteles die Entstehung der ὀρνιθίαι, die er ,schwache E.‘ nennt, aus der beginnenden Schneeschmelze und ihre geringe Bedeutung aus der weiten Entfernung der Sonne von dem Ort, wo sie entstehen, erklärt, so ist kein Zweifel, daß er unter ihnen Nordwinde versteht, so gut wie das in aller selbständigen Überlieferung geschieht (Eudoxos bei Ptolem. 243, 1 W. = Colum. p. 305, 17 W. περὶ κόσμ. 4 p. 395 a 4). Als kalte Winde werden sie bezeichnet von Demokrit, Euktemon, Hipparch (s. Wachsmuth Lyd. de ost. Ind. s. ὀρνιθίαι). [Hipp.] Epid. VII = III 697 K. Schol. Aristoph. Acharn. 877. Auf die Quelle dieses zu Mißverständnissen einladenden Abschnitts führt die Datumangabe: 70 Tage nach der Winterwende setzt die ὀρνιθίαι nur Demokrit (Winterwende [wie bei Eudoxos, vgl. Pap. Eud. 301, 516 W.] 27. Dezember [Gem.], ὄρνιθίαι 6. März [Gem.]). Eine Polemik gegen Aristoteles ist nur bei Seneca (n. qu. V 11) erhalten. Die dort erhobenen Einwände, daß nämlich die E., wenn durch die Sonnenwärme verursacht, sich am frühen Morgen erheben müßten (nach Plin. n. h. II 127 setzen sie erst drei Stunden nach Sonnenaufgang ein) und daß die Zeit der eigentlichen Schneeschmelze vor das Sommersolstiz fällt, also auch die E. vor diesem wehen müßten, zeigen uns im Verein mit der irrtümlichen Angabe über die Dauer (s. o. S. 714), daß Seneca die Darstellung des Aristoteles selbst nicht kennt, sondern nur ein oberflächliches Referat gibt; ob seine Quelle gegen die Aristotelische Theorie als Ganzes sich aussprach, ob darin eine andere Hypothese an deren Stelle gesetzt war, erfahren wir nicht. Möglich, aber nicht erweisbar ist, daß diese Quelle Asklepiodot (s. Oder Philol. Suppl. VII 290f.) war; Poseidonios ist es jedenfalls nicht gewesen, da Seneca an jener Stelle eben gegen diesen zu polemisieren scheint (nach der verstümmelten Stelle Diog. Laert. VII 152 deckte sich dessen Windtheorie mit der Aristotelischen).

6. Auch in der Sage spielen die E. eine Rolle. Sicherlich sehr alt ist ihre Verbindung mit Aristaios, übrigens auf die Insel Keos beschränkt (s. Art. Aristaios Bd. II S. 852ff. [717] [‌Hiller v. Gaertringen]). In freier Erfindung verwebt die E. in sein Oporamärchen Amphis (frg. 48 K.; s. Kaibel o. Bd. I S. 1953); als neues Zeugnis ist der ,Aratus latinus‘ Maass Comm. in Ar. rel. 251f. hinzugekommen, wo die Etymologie (von αἰτεῖν) überliefert ist.

Literatur (außer der gelegentlich angeführten): Ukert Geogr. d. Griech, u. Römer II 1, 125f. J. L. Ideler Meteorologia veterum 114ff. Forbiger Handb. d. alt. Geogr. I 619f. Pauly Realencycl.¹ s. Geographie III 752 (Baumstark).

[Rehm. ]