Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Siebenundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Achtundzwanzigstes Kapitel
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[245]
Siebenundzwanzigstes Kapitel.




Als ich am anderen Morgen in den Speisesaal ging, wo sich die ganze Familie und sämmtliche Dienerschaft zum Gebete versammelte, fand ich dasselbe noch ganz leer, die Leute in der Halle wartend. Es dauerte sehr lange, ehe die Familie aus dem Saale der Bibliothek kam, wo sie sich versammelte, und als sie endlich erschien, sprach sich so viel Aufregung in Aller Mienen aus, dabei aber auch so viel Verachtung gegen mich, daß ich einige Augenblicke wie vom Blitze getroffen stand. Julius erschien gar nicht. Herr R. las dann ein Kapitel aus den Sprüchen Salomons, worin die Narrheit der Thoren, die Ruchlosigkeit der Gottlosen, und die Vereitelung ihrer Hoffnungen und Pläne[WS 1], wie ihr endlicher Sturz und ihre Vernichtung geschildert werden. Bei jedem solchen Bilde und jeder Drohung heftete sowohl er als alle Familienglieder ihre Blicke auf mich, so daß kein Zweifel blieb, ich und Niemand anderes war unter den Thoren und Gottlosen gemeint. Glücklicher Weise sprach mich mein Gewissen rein, aber ich sah, daß sich eine Verfolgung gegen mich erhob, die meinen guten Namen zu beschimpfen, meinen Charakter zu brandmarken und mir alle Existenzmittel abzuschneiden drohte. Mein Ehre und Menschen liebendes Herz war am wenigsten geeignet, eine Beschimpfung zu ertragen, es entflammte in Zorn über diese Heuchler, die daheim nie daran dachten, die Bibel in die Hand zu nehmen, jetzt aber sich derselben bedienten, selbst das heilige Buch als Instrument ihrer Rache gebrauchten. Ich fühlte Flammen aus meinen Augen sprühen, indem ich sie von Kopf bis zu den Füßen [246] mit Verachtung musterte. Langsam und stolz schritt ich durch sie den Saal entlang.

Bei Tische war Julius abermals abwesend, seine Verwandten beobachteten aber dasselbe Benehmen gegen mich wie am Morgen, und Herr R. eröffnete den würdigen Angriff auf ein schwaches Mädchen, die Erzieherin seiner Kinder, mit Anspielungen auf die niedrigsten Vergehen, Frau B. sprach von der Strafe, welche allen Mördern gebühre, und Frau R. rieth zur Vorsicht gegen Diebe. Und während dieser schändlichen Reden sah mich die ganze Familie höhnend an. Empört fragte ich endlich: Herr R., auf wen beziehen sich denn eigentlich diese Anspielungen? erhielt aber nichts als hämische Gesichter zur Antwort. Beim Abendgebet war Julius wieder nicht zugegen, und Mister R. las wieder ein ähnliches Kapitel unter ähnlichen Manövern der Familie. – Am andern Morgen endlich erschien Julius beim Gebet, wiewohl ganz verändert, denn sein schönes Gesicht bedeckte Todtenblässe, seine Züge waren eingefallen und in seinen Augen glänzte ein fieberhaftes Feuer. Er heftete einen langen Blick auf mich, während ich ihn kalt fragend ansah. Auch er las ein Kapitel aus den Sprüchwörtern, welches zur Weisheit und Gottesfurcht vermahnt. Als wir niedergeknieet waren und er das Gebet las, zitterte seine Stimme und versagte dann gänzlich. Dies mehrte meinen inneren Jammer in dem Maße, daß ein Strom von Thränen über meine Wangen floß. An eine Fortsetzung des Gebetes war nicht zu denken, alle erhoben sich und ich suchte weinend mein Zimmer. Bei Tische erschien Julius zwar, aber aß nicht, sondern trank blos Wein. Seine Verwandten begannen jetzt wieder ihr voriges Manöver, und als sie jetzt ein frömmelndes Gespräch von sittlichen Fehlern anhoben, rollten Thränen aus seinen Augen; er stand auf, ging an’s Büffet und beschäftigte sich mit Nichts. Nach Tische suchte ich seine Schwester auf, um mir eine Erklärung über die schmachvolle, unerhörte Behandlung auszubitten, von deren Ursache ich keinen Begriff hatte. – Mistreß antwortete sehr geistreich und ganz in ihrer Manier: „Sie haben keine Freunde!“

„Also bin ich schutzlos, erwiederte ich; ist das aber recht und löblich gethan, den Schwachen zu mißhandeln? Gebietet nicht die Religion, dem Schwachen zu helfen und des Wehrlosen sich anzunehmen?“

„Ich meine, Sie haben keine Empfehlungen,“ verbesserte sie sich.

[247] „Aber wer sagt mir denn etwas Schlechtes nach? und was sagt man denn von mir?“

„Das bin ich Ihnen nicht schuldig, zu sagen, aber Sie sind zu unserm Unglück in’s Haus gekommen.“

Ich kehrte ihr den Rücken und ließ sie stehen. Gern hätte ich diese Familie sogleich gemieden, aber das hätte mir viel Schwierigkeiten und Kosten verursacht, denn ich hatte einen Theil meines Gepäckes in R., hätte die Reisespesen tragen und einen Monatsgehalt im Stiche lassen müssen. – Was aber das Schlimmste war, ich hätte kein Zeugniß bekommen. So elend und fast rechtlos ist die Stellung einer Erzieherin in England! Als ich Abends meine Stunden beendet hatte, ging ich im Halbdunkel die Treppe hinauf, um mich in meinem Zimmer satt zu weinen. Nach einer Stunde, als ich zurückkehrte, stürzte ich über einen großen Kasten, der in der Mitte der Treppe stand, fiel mit dem Kopfe vorwärts, der Kasten rollte über mich weg und zerschlug mir Haupt und Glieder dergestalt, daß ich blutend am Fuße der Treppe liegen blieb. Die Familie kam herbei auf das Gepolter, die Damen aber drängten, als sie mich erblickten, wie ich mich aufzuraffen bemühte, die Herren in den Salon zurück und sagten höhnisch: „Legen Sie sich in’s Bett!“

Ich kann mit Recht behaupten, daß Mistreß B. jenen Kasten zu meinem Verderben mir in den Weg hatte stellen lassen, denn es war die centnerschwere Truhe, aus welcher sie allabendlich den Bedarf an Talglichtern vertheilte; diese stand innerhalb des Schulzimmers und konnte nicht ohne bedeutende Mühe vom Platze bewegt werden. Weit entfernt, mir die geringste Theilnahme oder gar Mitleid zu erweisen über meine Schmerzen, begegneten mir Mutter und Töchter vielmehr mit dem grimmigsten Hohne und rohester Schadenfreude, worin die Kinder sie natürlich nachahmten. Einstmals sagten sie ganz deutlich, es sei Schade, daß ich nicht den Hals gebrochen hätte. In welchem andern Lande findet man wohl dergleichen, wie mir in England widerfuhr? Welche Frauen der Welt besitzen eine so wahrhaft kanibalische Grausamkeit wie die Engländerinnen? Wo ist die Heuchelei und Lüge in dem Grade Lebenselement der höheren Gesellschaft, wie in England? Ist der Haß der Welt gegen Britannien nicht schon dadurch begründet, abgesehen von allen seinen Verbrechen gegen die Menschheit?– Und was hatte ich begangen? Die emphatischen Huldigungen eines Jünglings, [248] der den wahnsinnig Verliebten spielte, mit halber Gleichgiltigkeit, fast mit Schonung hingenommen, was diesen geldlungernden Elenden schon die Besorgniß einflößte, ein armes Mädchen möchte in ihren reichen Cetus eindringen. Und waren diese Menschen etwa Mitglieder der hohen Aristokratie? Nein, R. war ein Fabrikant, B. eine Fabrikanten-Familie, Cor B. ein Bierbrauer, Julius B. ein Candidat. Aber goldklimpernde Gentlemans.

Am Morgen nach jenem Unfalle war Julius verreist, worauf die Verfolgung erst recht begann; die beiden Megären übertrafen sich in der Kunst, mich zu demüthigen und herabzusetzen. So ungünstig der Zeitpunkt auch war, ein Unterkommen oder Lectionen zu erhalten, faßte ich dennoch den Entschluß, die Familie zu verlassen, sobald wir in R… angekommen sein würden. Ich öffnete mein portatives Schreibpult, um an die Connexionen zu schreiben, denen ich noch vertraute, und sie von meinem Vorhaben in Kenntniß zu setzen, sah aber mit Schrecken, daß das Schloß herausgerissen und in seine Höhlung nur wieder eingedrückt war, alle meine sorgfältig geordneten Briefe wild durcheinander geworfen, während die Kostbarkeiten und das Geld unversehrt an ihrem Platze lagen. Aber auch diese Gewaltthat mußte ich schweigend über mich ergehen lassen, denn was konnte ich Schutz- und Wehrlose gegen die überwiegende Macht dieser gewissenlosen Familie ausrichten?– Abends ließ mich Frau B. in den Salon rufen und sagte mir in schnödester Weise, mir meinen rückständigen Sold aufzählend, daß ich meiner Dienste entlassen sei.

„Jeden Augenblick werde ich Ihre Dienste mit Freuden verlassen, entgegnete ich, indeß da Sie mich zu Ihrer eigenen Accomodation nach W.-H. gebracht haben, so sind Sie schuldig, meine Reisekosten über R… bis London nebst einem Monat Gehalt und Alimente zu bezahlen. Uebrigens haben Sie mich mit den Gründen dieser plötzlichen Entlassung, die meinem ferneren Fortkommen schadet, bekannt zu machen, da ich mich tadellos in Ihrem Hause betragen und meine Pflichten treulich erfüllt habe.“

„Sie wissen sehr wohl, daß nach dem Vorgefallenen an ein längeres Beisammenleben nicht zu denken ist, und je eher Sie das Haus verlassen, desto besser!“ sagte Mister R.

Hier brach meine Langmuth zusammen, ich trat einen Schritt auf den Schamlosen zu und sprach mit gehobener Stimme: „Von meiner [249] Seite ist durchaus nichts vorgefallen, dessen ich mich zu schämen brauchte, aber Ihnen ist wahrscheinlich mein Anblick unerträglich, weil Sie wissen, wie niederträchtig Sie an mir gehandelt haben.“

Cor, der mit seiner würdigen Schwester ebenfalls gegenwärtig war, wollte die Rache seiner Eifersucht kühlen, ich kehrte ihm den Rücken, zu stolz, die Gemeinheiten eines Bierbrauers aufzuheben, während Herr R. laut schrie: „Sie erhalten weiter gar nichts und verlassen das Haus morgen!“

War es mir nun wohl zu verargen oder gar sträflich, wenn ich nach solchen Mißhandlungen die Mäßigung verlor? Nein, es war vielmehr das einzige Mittel, mindestens einen Theil meines Rechtes zu erlangen. Ich versicherte also Mister R., daß ich zwar sein Haus augenblicklich verlassen, aber auch wegen meiner gerechten Forderungen, erlittenen Mißhandlungen und insonderheit in Betreff der gewaltsamen Erbrechung meines Pultes die öffentliche Gerechtigkeit um Hülfe anrufen würde. Dies wirkte wie ein elektrischer Schlag auf den ganzen Pöbel, sie wurden alle mäuschenstill und sahen sich betroffen an. Am Morgen darauf kam Frau R. in aller Frühe zu mir und sagte ganz höflich, ich solle noch bis zu Ende des Monates bleiben, weil sie mich an meinem Fortkommen nicht hindern wollten. Das war mir sehr fatal, denn da sie mich bleiben hieß, konnte ich keine Entschädigung verlangen, wenn ich ging, und mußte die Kosten bezahlen, wenn ich klagte. Ich hatte also noch ein mehrwöchentliches Märtyrerthum vor mir. Jetzt verging selten ein Tag, wo es nicht Gesellschaft im Hause gab, in deren Angesicht man mich Unglückliche mit den grausamsten indirecten Beschuldigungen, den Waffen aller Verleumder und Intrignanten, unaufhörlich angriff, während sie ihre Basiliskenblicke auf mich fixirten. – Das Schlimmste bei diesen durchaus meuchelmörderischen Anfällen ist, daß man sich auf keine Weise vertheidigen kann, sich nicht rechtfertigen, den Messerstichen nicht ausweichen kann. Denn alle Anwesenden sind so gut wie bestochene Zeugen, und so bald man von den Schmähungen Notiz nimmt, schreien sie, man fühle sich getroffen. Dann heißt es: Qui s’excuse, s’accuse, und der Schuldlose gilt für überwiesen.

Unter den zahlreichen Tafelfreunden zeichneten sich aber der Pfarrer von A… und der eines Nachbardorfes durch ihren Eifer aus, sich ihren Gastfreunden durch ihre Dienste dankbar zu zeigen. Der erste entwarf in milden, einschmeichelnden Worten ein Leben voll jener Verbrechen, [250] deren ich indirect geziehen ward, und wie es endlich enthüllt vor den Augen der Menschen daliegt und den verdienten Lohn empfängt. Der andere donnerte in emphatischen Worten gegen den Sittenverfall des Auslandes und bewies, daß England das Eldorado der Tugend sei, welcher der Umgang mit den Fremden gefährlich werde. – Dann schleuderte er den Bannstrahl gegen die Delila, die das Herz des geweiheten Simson gefesselt und verführt habe. „Stoßet die Sünderin hinaus,“ rief er seinen wohlunterrichteten Zuhörern zu, welche gar nichts besseres verlangten, als die bevorzugte und gehaßte Fremde zu stürzen, und ihre Blicke triumphirend auf das Schlachtopfer hefteten. – Dann wurde der Verlust des guten Namens bei jeder Gelegenheit als das größte Unglück geschildert, man hob den Selbstmord als das einzige Mittel, demselben zu entgehen, und das Verdienst, ihn unter solchen Umständen zu vollziehen, lobend hervor. Mistreß B. rühmte besonders den Wassertod und den Heldenmuth eines Unglücklichen, der sein Leben und seinen Schmerz in der kühlen Fluth endet. – Herr R. insinuirte, daß es das heroischste und poetischste sei, weit in den See zu schiffen und sich dort hinabzustürzen. Es scheint vielleicht unglaublich, aber es ist nichtsdestoweniger wahr, daß diese Menschen, die mich seither noch nie eingeladen hatten, auf dem Wasser zu fahren, mich jetzt mehrere Male aufforderten, mit ihnen zu schiffen, wofür ich jedoch dankte. Auf diese Weise suchten mich die Familien B. und R. zur Verzweiflung zu bringen. Aber wen Gott rechtfertigt, wer will den verdammen?

Nach drei Wochen kehrte Julius zurück, dessen Charakter und Verhalten in dieser Sache jeder selbst beurtheilen mag. Ich bin dazu weder fähig noch berufen. Jetzt war er nur noch der Schatten seines früheren Ich, seine hochgewölbte Brust, sein üppiger Wuchs war verschwunden, die Kleider schlotterten um seine Glieder, seine abgemagerten Züge trugen den Ausdruck schweren inneren Kampfes. Aber auch ich war unkennbar geworden, der Gram hatte alle Frische und Rundung von meinem Gesicht gezehrt, meine Augen waren erloschen und tiefliegend. Julius war krankhaft veränderlich, bisweilen hingebend und weich, dann wild und roh, bald klagte, bald scherzte er, die Nächte trieb er sich auf dem jetzt stürmischen See umher. Wir begegneten uns ernst und fremd, es kam nie zu einer Erklärung zwischen uns, wie es in schöneren Tagen nicht dazu gekommen war.

So kam der Tag der Abreise heran. Es war ein kalter Novembermorgen [251] und die Sonne blickte wie ein Feuerball durch den dicken Nebel hindurch als wir von W.-H. abreisten. – Julius begleitete uns, und in Kendal reiste er mit der Familie weiter in einer anderen Linie, während ich gerade nach London fuhr. – Unser Abschied war stoisch.

In London fand ich ein ruhiges Quartier bei der Familie eines City-Missionary, eines Stadt-Missionars, welches ich mir für die Zeit meiner Ankunft in London sicherte. Dann reiste ich nach R… wo auch die Familie R. bald ankam. Tages darauf erhielt ich meinen Gehalt nebst Reisegeld und trat sofort meine Rückkehr nach der Hauptstadt an. Ich übergehe die Empfindungen und Betrachtungen, welchen ich mich überließ, und gehe zu den Thatsachen über.

Schon nach einigen Tagen erhielt ich eine Stelle in der Familie eines Herrn G., welche der Typus des Engländers war, wie ihn der Deutsche sich denkt – personifizirter Stolz, kalt, schroff, voll Vorurtheile gegen Ausländer, so daß es bei dem aufrichtigsten Bestreben unmöglich war, eine Art von Annäherung oder Interesse zu erzielen. Eines Tages begegnete ich Herrn G. in Oxford-Street, aber ich wagte nicht, ihn anzublicken, denn ich war krank an Körper und Geist; doch habe ich es oft bereut, denn er blieb stehen und sah mir nach. Er schien ein edler Mann und hätte vielleicht meine Rechtfertigung gegenüber einer Meute von Verfolgern übernommen. – Welcher Mensch begeht aber nicht ähnliche Fehler, die uns beim Rückblick auf unser Leben mehr schmerzen als unser Unglück? – Ich sollte bald erfahren, wie unvergleichlich wahr die Verleumdung in der Arie des Basilio im Barbier von Sevilla geschildert ist – „und der Arme muß verzagen, den Verleumdung hat geschlagen, hülflos geht er und verachtet als ein Ehrenmann zu Grund.“ Bald merkte ich auch in meinem neuen Kreise die Wirkungen der R.’schen Künste, aber wenigstens hatte ich auch sogleich ein Palliativmittel. Ich lernte nämlich hier unter andern auch eine ältliche Dame, Miß D., kennen, deren ganzer Name nichts zur Sache thut, welche mir rieth, mich mit Stundengeben zu beschäftigen und versprach, mir eine hinreichende Connexion und darunter auch die Familie ihrer Schwester, Frau Henry B., zu verschaffen. Ich verlies daher nach einigen Monaten die Familie G. und trat zu Anfang der London-Season meine neue Laufbahn an. Durch Frau B. und Miß D. erhielt ich bald eine bedeutende Anzahl sehr einträglicher Lectionen, so daß ich mich besser stand [252] als in der besten Gouvernantenstelle. Miß D. besuchte mich täglich, vertiefte sich mit mir in Gespräche über Religion und entdeckte bald, daß ich am Lebens-Ueberdrusse laborirte. Sie versicherte mich, daß sie sich in demselben Zustande befunden und endlich Ruhe, Frieden und Glückseligkeit in der wahren und ursprünglichen Kirche Christi, unter dem Schirme seiner heiligen zwölf Apostel gefunden habe, daß diese das eigentliche Reich Gottes sei, um welches die ganze kämpfende Christenheit bete, daß ich ein Glied derselben werden müsse, wenn ich Frieden erlangen wolle.

„Wie nennt sich denn die Kirche, zu der Sie sich bekennen?“ fragte ich gespannt.

„Die apostolische.“

„Seit wann besteht sie denn?“

„Sie besteht, seitdem Christus sie selbst gründete, jedoch gerieth sie in Folge großer Verfolgungen in Verfall, bis Gott in unsern Tagen einen Mann sandte, der sie wieder aufrichtete.“

„Und wer war denn der Mann?“

„Es war der hochwürdige Herr Irving, weshalb wir uns Irviniten nennen.“

Und was sind die Dogmen desselben?“

„Es sind dieselben, die Christus und seine Apostel lehrten, nur richtete Herr Irving die eingegangenen Stützen, die Christus seiner Kirche gab, wieder auf – Zwölf Apostel, vier Evangelisten, Priester und Diakonen –, er stellte die geistlichen Gaben, als: die Gabe der Weissagung, Wunderkraft, das Sprechen in unbekannten Sprachen und das Auslegen derselben wieder her, denn Christus hat diese Gaben nie zurückgenommen, nur die Menschen ließen sie fallen, Herr Irving stellte sie alle wieder her.“

Die Sache ließ sich hören und reizte mein Interesse im höchsten Grade. Miß D. fuhr fort; „Ferner ist unsere Kirche auch insofern nach dem göttlichen Gesetz organisirt, daß sie nichts als den zehnten Theil der Habe ihrer Kinder fordert.“

„Wie bescheiden!“ entfuhr mir mit einem fast unmerkbaren Lächeln; aber Fräulein D. verstand keinen Spaß und sagte mit feierlichem Ernst: „Ich bin eine Diakonisse und bin gekommen, Ihnen zeitliches und ewiges Glück anzubieten. Ich habe bereits gesagt, daß die Kirche alles zu [253] geben vermag, und wenn sie den Zehnten fordert, so geschieht es nach dem Ausspruche der Schrift. Wollen Sie sich dieser Ordnung fügen?“

„Ja, wenn ich Irvingianerin oder Irvinitin werde.“

„Sie verstehen mich, liebes Fräulein, die Chargen, die ich Ihnen verschafft habe, sind in meiner Hand, und ich werde sie zurücknehmen, wenn Sie sich nicht von mir leiten lassen.“

„Aber Sie werden doch nicht verlangen, daß ich zu einer Religion übertrete, die ich nicht kenne?“ erwiederte ich entsetzt.

„Nein, lautete die kalte Antwort, Sie sollen unterrichtet werden, aber Sie geben Zehnten von dem Tage, wo Sie die einträglichen Unterrichtsstunden erhielten.“

Ich war höchst begierig, in die Lehren dieser Kirche eingeweiht zu werden, und versprach, den verlangten Zehnten zu geben. Fräulein D. befahl mir schließlich, denselben Nachmittag den Gottesdienst in der Hauptkirche in Newman-Street zu besuchen und versprach für das Uebrige zu sorgen.

Diese Kirche glich äußerlich ganz den Häusern in der Straße; durch die Thüre tritt man in eine geräumige Vorhalle, welche nach dem Innern der Kirche führt. Dieses ist ganz einfach, der ebenfalls ganz einfache Altar ist mit einem Gewande umgeben und hinter demselben befindet sich eine gewölbte Vertiefung, zu deren beiden Seiten Kapellen, die als Beichtstühle dienen. Ueber der Thüre dem Altar gegenüber ist in halber Höhe der Chor, und zu beiden Seiten desselben befinden sich Galerien. Ein alter Mann mit einem ehrwürdigen Gesicht kam, als der Gottesdienst beginnen sollte, aus der Sakristei hinter dem Altar und setzte sich neben diesem auf einen Armstuhl. Die Orgel spielte hierauf ein Präludium, worauf der alte Mann die Nummer des zu singenden Liedes nannte und dann selbst sang, wozu die Orgel und die Gemeinde begleitete. Hierauf erschienen sechs Geistliche in weißen Priesterhemden mit der Stola darüber, und stellten sich rechts vom Altar in einer Reihe abwärts. Der erste begann seine Rede mit dem Bibelvers: „Wie die Blume verblühet und das Gras verdorrt, so vergehet die Herrlichkeit des Menschen,“ worüber er eine Betrachtung machte, während er vor sich niederblickte. Der zweite setzte diese Betrachtung fort, und desgleichen thaten alle übrigen. Der Gottesdienst ward mit Gesang beschlossen. Sämmtliche Betrachtungen waren rein biblisch, durchdacht, die Sprache poetisch, die Gesänge gut, und das [254] Ganze hatte einen nicht ungünstigen Eindruck auf mich gemacht, weshalb ich versprach, auch dem Abendgottesdienste beizuwohnen, der in der Sprache der Irviniten der evangelische genannt wird und um 7 Uhr ebenfalls mit Gesang beginnt. Dann erschien „der Evangelist“ auf der Kanzel und sprach über 1. Mos., V. 10., Hauptgedanke war: das Paradies ist das Vorbild der Kirche Christi, der Strom, welcher den Garten durchwässert, ist Christus, die vier Arme desselben sind die Symbole der vier Evangelisten, die er seiner Kirche gab, für alle Ewigkeit gab, wie die zwölf Apostel, die Priester und die Diakonen, welche vier Orden ebenfalls in den vier Ausflüssen dargestellt sind, denn Gott ist kein solcher, der da giebt und wieder zurücknimmt. Hierauf erklärte er die symbolische Bedeutung der Zahl sieben, welche sich häufig im alten und neuen Testamente, hauptsächlich aber in der Offenbarung vorfindet. Unter anderem erklärte er auch, wie das Urbild der christlichen Kirche sowohl im alten Testamente durch die zwölf Stämme Israels, wie in der Apokalypse durch die zwölf Throne ausgedrückt sei, daß die zwölf Stämme und die zwölf Apostel die Säulen des Baues seien, ohne welche er nicht stehen könne, daß die Throne zugleich die Macht und Herrlichkeit der Kirche bedeuten. Dann wandte er sich gegen das Papstthum, indem er zu beweisen suchte, daß Petrus nicht der Felsen sei, auf dem die Kirche ruhe, sondern Christus, ja daß der ganze Zerfall der christlichen Kirche daher rühre, daß sie die zwölf Pfeiler nicht aufrecht erhalten, sondern dem Petrus und seinen Nachfolgern als Statthaltern Christi eine allzu große Bedeutung beigemessen habe, daß daher die Irvinitische Kirche das einzige Urbild der wirklichen Kirche Christi in sich trage.

Die Predigt war außerordentlich gelehrt und machte einen tiefen Eindruck auf mich. Fräulein D. stellte mich eines Tages einem Priester Namens B. vor, und zwar im Beichtstuhle; dieser Geistliche betrieb von diesem Augenblick meine Bekehrung mit dem größten Eifer, besuchte mich häufig und betete mit mir und für mich, jeden seiner Lehrsätze mit einer Bibelstelle belegend.

Bilder verehren die Irviniten nicht, aber sie verbeugen sich vor dem Altar, glauben an die Fürsprache der Heiligen, Reinigung der Seelen nach dem Tode, an die Wirksamkeit des Gebetes für dieselben, und schreiben dem Gebet der Geistlichen unfehlbare Kraft zu. Auf den [255] Zehnten und Almosen halten sie streng und machen häufig Collecten für den Bedarf der Kirche.

Bald bestürmten mich Miß D. und Herr B, den Morgengebet-Stunden, worin die Uebung der „geistlichen Gaben“ betrieben wird, beizuwohnen und das Abendmahl zu empfangen, vor allem aber meine Beichte abzulegen. Beide bewiesen durch Bibelverse, daß die Ohrenbeichte von Gott verordnet sei und von den Kindern der Kirche unbedingt gefordert werde. Ich hatte dagegen nichts einzuwenden und begab mich in die Kirche, fest entschlossen, eine aufrichtige und reine Beichte abzulegen. Herr B. entwickelte dabei eine bewundernswürdige Bereitwilligkeit, mir auf die Sprünge zu helfen, indem er Fragen an mich richtete, die mich tief erröthen machten, obwohl ich sie allesammt mit gutem Gewissen verneinen konnte. Herr B. schüttelte verschmitzt lächelnd den Kopf und versicherte mich, daß die Geheimnisse der Beichte im Busen des Priesters vergraben blieben und daß unter seinen Beichtkindern sich Verbrecher aller Art befänden, welche, von der Kirche gereinigt und geheiligt, ihrer innigsten Liebe und Achtung sich erfreueten.

„Das glaube ich recht gern, sagte ich, aber ich kann doch nicht bekennen, was ich nicht begangen habe.“

Herr B. gab mir nach diesen Worten ein Buch, welches eine Form der Beichte enthielt, empfahl mir, dasselbe gründlich zu studiren und die von mir begangenen Sünden mit Bleistift anzustreichen, erlaubte mir aber noch nicht, am Abendmahle Theil zu nehmen. Dagegen forderte er mich auf, den geistlichen Uebungen beizuwohnen und mich den Einwirkungen des Geistes zu überlassen. Diese Exercitien fanden von früh 6 Uhr an statt, und ich verfügte mich daher zu dieser Stunde in die von einem feierlichen Halbdunkel erfüllte Kirche, in welcher hier und da Gruppen andächtiger Beter saßen. Um 6 Uhr ward die Thüre geschlossen. Rückwärts vom Altare saßen die Priester, neben dem Altare saß der „Engel der Kirche“, wie die Irviniten Herrn E… nannten, und ringsherum herrschte ein tiefes Schweigen.

„Uäck naaa bschumkrrring wapp“ kreischte plötzlich eine zitternde Alteweiberstimme im höchsten Discant, worauf alle sich nach der Gegend hinwandten, aus welcher der Schall kam. Miß D., die glücklicher Weise neben mir saß, flüsterte mir zu: „Die Gabe der fremden Sprachen!“ – Nach einer Pause rief eine geisterhafte Baßstimme, wie aus einem Grabe kommend: „O wehe, wehe, wehe denen, die ihre Sünden nicht [256] bekennen, ihr Licht soll erlöschen und ihre Leuchte umgestoßen werden!“ – „Beichtet, beichtet, bekennet eure Sünden, so sollt ihr glänzen wie die Silberfittige einer Taube!“ rief eine zweite Frauenstimme. – „Fliehe, fliehe, fliehe in das Heiligthum der apostolischen Kirche, daß dich die Würger nicht ereilen, oh die Würger, die Würger, die Würger! schon folgen sie dir auf dem Fuße! – Aber seine heiligen Apostel werden eine Wagenburg um dich schlagen, daß sie dich nicht erreichen, ja mit Blindheit werden sie sie schlagen, daß sie dich nicht sehen werden,“ rief eine hohle Stimme hinter dem Altare.

„Die Gabe der Prophezeiung,“ bemerkte Miß D.

„Haaaoowoowonuuack, brummte eine Stimme, o, die Throne, oh die Throne, oh die Throne seiner heiligen Apostel, wie sie glänzen, wie sie schimmern! fallet nieder, betet an!“ meckerte eine alte Frau in einem singenden Tone, wozu die ganze Versammlung die Hände andächtig faltete und ihre Mienen in anbetende Verzückung verzog. Ich sah, daß ich es mit einer geldgierigen, listigen Pfaffengesellschaft zu thun hatte, und beschloß, List mit List zu begegnen, um in die Geheimnisse derselben eingeweiht zu werden.

Auf Miß D.’s Frage, wie mir der Gottesdienst gefallen habe, erwiederte ich, daß ich so von der Erhabenheit und Würde desselben erschüttert sei, daß ich mich in die Zeit der Apostel zurückversetzt gefühlt habe und vor Begierde brenne, ein Glied der Kirche zu werden.

„Das sollen Sie auch, sprach Miß D. überaus liebevoll, wenn Sie sich ganz meiner Leitung überlassen und Ihrem Beichtvater Gehorsam leisten. Aber fühlen Sie nicht auch eine Regung des Geistes? oder sollten Sie seinem Einfluß unzugänglich sein?“

„Nein, nein, ich hätte weinen mögen vor Rührung.“

„Aber fühlten Sie nicht einen innerlichen Drang, Ihren Glauben, Ihre Begeisterung auszusprechen?“

„Oh, einen mächtigen Drang!“

„Nun, ein anderes Mal sprechen Sie nur Ihre Gefühle aus; vielleicht besitzen Sie die Gabe der Prophezeiung, oder die der fremden Sprachen oder der Auslegung derselben, oder die, Kranke zu heilen, die Todten zu erwecken oder die Teufel auszutreiben.“

„Wie glücklich wollte ich mich schätzen!“

Fast in demselben Augenblicke sollte ich die Erfahrung machen, daß man den abgefeimtesten Schurken überlisten kann, sobald man ihn [257] durchschaut hat, daß es aber fast unmöglich ist, sein eigenes mitleidiges Herz zu versteinern, wie die folgende kleine Episode beweisen könnte. Als ich nach Hause ging, begegnete ich auf der Treppe meines Hauses einer colossalen Brünette mit einem Banditengesicht, aus dem sie verstohlen mich seitwärts anschielte. Ich drückte mich dicht an das Geländer, um sie vorbei zu lassen, und sah der widerlichen Erscheinung mit Befremden nach. Denselben Abend, als ich ganz allein meine Mahlzeit hielt, klopfte es an meine Thür, und auf mein „Herein" erschien dieselbe Person vor mir, sich wiederholt tief verbeugend, mit einem Bündel unterm Arm. War mir schon vorher ihre Erscheinung unangenehm gewesen, so war sie es jetzt durch die kriechende Freundlichkeit und das grinsende Gesicht noch mehr. Auf meine Frage, zu wem sie wolle, erwiederte sie, daß sie von der Hauswirthin gehört habe, ich sei Lehrerin, und da sie derselben Klasse angehöre, in bedrängten Umständen sich befinde, so sei sie gekommen, mich um eine Gefälligkeit zu bitten. Dies sprach sie in provinzialischem Französisch. Auf meine Frage, womit ich ihr dienen könne, öffnete sie ihr Päckchen und zog eine Rolle Flanell heraus, den sie mir zum Verkauf anbot. Ich lehnte diesen ab und fragte nach ihrem Namen. Sie nannte sich Madame I… und versicherte, diesen Flanell von ihrer Tochter zu einem Schlafrock erhalten zu haben, nannte mir auch eine englische Familie, in welcher sie Bonne gewesen sei, jedoch habe dieselbe England mit Indien vertauscht, und gleichzeitig wies sie ein gutes Zeugniß vor. Jetzt bereuete ich mein Vorurtheil gegen die Arme und machte ihr ein Geldgeschenk, welches sie dankend annahm. Auf ihre Versicherung, daß sie halb verhungert sei, fühlte ich das innigste Mitleid und lud sie sogleich ein, mein Mahl mit mir zu theilen, was sie sich nicht zum zweiten Male heißen ließ. Sie erzählte mir hierbei eine sehr rührende Geschichte, wie sie sich seit lange um eine Stelle bemüht habe, ohne eine zu finden, weshalb sie in der traurigen Lage sei, einige Wochen Miethzins schulde und von der Wirthin mit Hinauswerfen bedroht worden sei. Ich ließ mich dermaßen von ihrem Unglück rühren, daß ich ihr versprach, sie zu unterstützen und ihr eine Stelle zu verschaffen, bezahlte auch sofort den Hauszins und bot ihr mein Zimmer während der Tagesstunden, weil es noch rauh war, zum Aufenthalte an. Da sie weder Kleider noch Wäsche hatte, um sich anständig zu präsentiren, schenkte ich ihr von dem Meinigen, was sie bedurfte und bemühete mich, mit Hülfe ihres Zeugnisses [258] ihr ein Unterkommen zu verschaffen. Mehrere Damen wünschten sie zu sehen, aber immer kam sie mit abschläglicher Antwort zurück. Nachdem ich sie vierzehn Tage lang erhalten und einst wieder nach einer Stelle ausgeschickt hatte, kehrte sie nicht zurück, und schon war ich in Sorgen, daß der Unglücklichen ein Unfall zugestoßen sei, da bemerkte ich zu meiner Beruhigung, daß sie mein Bureau erbrochen und mehrere Goldstücke gestohlen hatte. Glücklicher Weise hatte ich mein Geld in der Bank, sonst wäre es vollends in Madame I… Tasche spaziert. Ich habe von dieser dankbaren Seele nie wieder etwas gehört noch gesehen.

Meine Connexion hatte sich inmittelst sehr vermehrt, jedoch nicht durch Miß D. und ihre Vermittelung, sondern durch meine eigenen Bekanntschaften; nichtsdestoweniger verlangte jene nebst Master B. den Zehnten von allen meinen Einkünften. Ich verweigerte diesen entschieden, erklärte mich jedoch bereit, den Zehnten von dem durch Miß D. erlangten Erwerb zu steuern, welchen ich auch richtig in den Tithe-box steckte. Dieser Zehntenkasten wurde sorgfältig controlirt. – Vor und nach dem Gottesdienste stand immer eine Menge Herren, meistens Geistliche, in der Vorhalle und erzählten einander die seltenen Wunder, welche bald dieser, bald jener von ihnen sollte gewirkt haben; bald sollte einer einen Sterbenden durch das bloße Auflegen der Hände augenblicklich gesund gemacht haben, bald sollte ein anderer durch einen Machtspruch einen vom Teufel Besessenen befreit, bald einer einen Blinden sehend und einen Tauben hörend und wieder ein anderer einen Todten lebendig gemacht haben, welches die Gläubigen mit großer Andacht anhörten. Bei keinem Volke habe ich überhaupt soviel Frechheit auf der einen Seite und soviel Heuchelei auf der andern gefunden, wie bei den Engländern. Aber nicht blos Männer, auch Frauen befleißigten sich der Wunderkraft, und je größer der Betrüger, je höher steigt er in der Gunst der Geistlichkeit, die schon jetzt eine bedeutende Hierarchie bildet, und mit Aemtern, Würden und einflußreichen Stellungen den Eifer ihrer Anhänger zu beleben vermag. In London allein giebt es sieben irvinitische Kirchen, deren jede ihren Engel oder Bischof hat. Zu einem solchen Engel gehört hauptsächlich ein recht durchtriebener Schalk, der recht psalmodiren kann. Von Zeit zu Zeit bekam ich gedruckte Berichte über die Verbindung und Organisation der irvinitischen Kirche auf dem Festlande zu lesen, und sah zu meinem Erstaunen, daß Deutschland, [259] Frankreich, die Schweiz, selbst Rußland und Italien ihre Apostel, Geistlichen und zahlreiche Anhänger haben. Der Apostel von London ist ein Advokat, und viele der höchsten Geistlichen sind Handwerker und Gewerbsleute; aber es giebt eine Anzahl Geistlicher aller Grade der Kirche von England dabei, welche ganz in Geheim für die Verbreitung der irvinitischen Lehre arbeiten. An dem einen Sonntag-Nachmittag predigte ein deutscher Missionar, an einem andern ein Franzose, bald ein Italiener, bald ein Schweizer u s. w., so daß ganz Europa von diesem Raupengespinnst überzogen ist, dessen letzter und höchster Zweck Gelderpressung ist. Schottland und Irland haben jedes ihren eigenen Apostel, und häufig geschah es, wenn ich in eine nicht irvinitische Kirche ging, daß ein Geistlicher, den ich in den irvinitischen Versammlungen gesehen, hier die Lehre jener Sekte in verblümten Worten vortrug, während seine Gemeinde einen Priester der Landesreligion zu besitzen glaubte. So wird selbst das Heiligste unter einem entarteten Geschlechte zum Gaukelspiel!

Ich verschaffte mir natürlich alle mögliche Aufklärung über den Ursprung und die Geschichte der Irviniten, aber sie sind in fast undurchdringliches Dunkel gehüllt, bilden durch ihren gemeinsamen Zweck eine Kette, die man nicht zergliedern kann, ohne selbst ein Glied zu werden, und nur durch dieses letztere Mittel bin ich befähigt worden, diese Aufschlüsse zu geben. Das kann ich aber nur, nachdem ich den Continent wieder unter meinen Füßen habe, in England wäre meine völlige Vernichtung, wahrscheinlich mein Tod die Folge davon gewesen. Die Quarterly-and Edinburgh-Review sagte ungefähr Folgendes: „Irving war ein Priester der Kirche von England, da er jedoch Neuerungen und Paradoxe lehrte, das Volk mit Aberglauben und Irrlehren verführte, wurde er aus der Kirche gestoßen, worauf er einige Zeit seine Versammlungen im Freien hielt, bis seine Anhänger mächtig genug waren, eine Kirche zu gründen. Er erlebte jedoch die jetzige Organisation derselben nicht, sondern endete sein Leben im kräftigsten Mannesalter in einem Irrenhause.“

Vermittelst der Ohrenbeichte und durch ihren ununterbrochenen Umgang mit ihren Beichtkindern erlangen die Geistlichen eine genaue Kenntniß der wichtigsten wie der unbedeutendsten Angelegenheiten, nicht minder auch eine unumschränkte Herrschaft über die Gewissen ihrer Anhänger, und ich habe vornehme Damen gekannt, die das Loos des [260] Ananias und der Saphira erwartet hätten, wenn sie einen Theil ihres Vermögens verschwiegen hätten.

Eines Tages, als ich auch in die Kirche ging, fand ich eine große Anzahl Menschen um einen Mann mit einem verdunsenen Gesicht und blauen Lippen versammelt. Neben ihm stand Herr B., und fragte ihn, wie lange er vom Teufel besessen gewesen sei?

„Von meiner Kindheit an, Ihro Ehren,“ erwiederte er mit einem starken irländischen Accent.

„Und wie war Euch, als ich dem Teufel gebot, aus Euch zu fahren?“

„Mir war, als ob man mir das Herz herausriß, und seitdem bin ich wie neu geboren, Ihro Ehren.“

Herr B. erzählte dann den Umstehenden, wie er diesem Menschen vom Teufel, der sich durch furchtbare epileptische Anfälle kundgegeben, befreit habe, worüber seine Zuhörer vor Verwunderung die Hände zuammenschlugen und in die fanatischesten Extasen ausbrachen. Patty wurde von jetzt an ein fleißiger Besucher der Kirche, und ich nahm mir vor, ihn näher zu erforschen. Ich ging ihm daher eines Tages nach und redete ihn an, gerade als er in einen Branntweinladen treten wollte, denn ich dachte: In vino veritas!

„Möchten Sie mir wohl ein kleines Päckchen tragen, wenn ich Ihnen ein gutes Trinkgeld gebe?“

Patty warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Laden und fragte dann: „Wo ist denn das Päckchen?“

„Ich will mir dort beim Bäcker Brod kaufen und mag es nicht gern selbst tragen,“ antwortete ich.

„Schon gut, ich will derweil nur einmal trinken,“ sagte Patty.

Ich ging also zum Bäcker und kaufte ein Brod, welches ich einpacken ließ, und beim Kaufmann daneben kaufte ich eine Flasche Whisky, das Lieblingsgetränk der Irländer, und ging damit Patty entgegen, welcher sich noch die Lippen leckte. Ich gab ihm das Päckchen, sagte ihm meine Wohnung und er ging langsam vor mir her. Zu Hause angekommen, gab ich ihm seinen Lohn und sagte, indem ich ihm ein Glas Whisky einschenkte: „Hier, mein Freund, trinken Sie erst einmal auf das Wohl Irlands.“

„Erin go brah“ – Irland für immer, in der irischen Sprache – [261] sagte Patty, indem er das Glas schmunzelnd zum Munde führte und auf einen Zug leerte.

„Es ist ein schönes Land und verdient wohl, daß man auf sein Wohl trinkt,“ sagte ich, indem ich wieder einschenkte. Patty traute kaum seinen Augen, doch ließ er sich nicht zweimal nöthigen, es auszutrinken.

„Sie scheinen eine gute Gesundheit zu haben,“ sagte ich.

„Stark wie ein Pferd,“ erwiederte Patty.

„Waren Sie noch niemals krank?“

„In meinem Leben nicht.“

„Was haben Sie denn da für eine Beule am Kopfe?“ fragte ich, indem ich wieder einschenkte. Patty ergriff das Glas hastig und sagte, nachdem er abermals ausgetrunken hatte: „Ich bin ein armer Teufel und kriege nur selten etwas gutes, aber dann genieße ich es umsomehr. Ich hatte letzthin meinem Schutzpatron zugetrunken und war beim Heimgehen gefallen, worauf mich ein Herr aufhob und mich in sein Haus führte, wo er mir eine Flasche Sodawasser zu trinken gab, was mich um die glückliche Gemüthsstimmung brachte, die mich mein Geld kostete; indessen kann es mir etwas einbringen.“

„Das war gewiß ein guter Mann, der Sie aufhob?“

„Es war ein Geistlicher, der sich einbildete, ich sei vom Teufel besessen und den Leuten erzählt, er habe ihn aus mir herausgetrieben.“

Patty lallte schon mit schwerer Zunge und verzerrte sein gedunsenes Gesicht zu einem breiten Grinsen, als er dieses erzählte.

„Und thut der Herr nichts weiter für Sie?“ frug ich ihn.

„Er hat mir Arbeit in einem Garten verschafft und mir versprochen, für mich zu sorgen, wenn ich mich bekehren will.“

Ich wußte für den Augenblick genug und entließ Patty.

Miß D. und Master B. betrieben indeß das Werk meiner Bekehrung auf das Eifrigste, ich meinerseits durchschaute ihre eigennützigen Motive und tief angelegte Betrügereien ihres Systems täglich mehr. War ich einmal einen Tag nicht in der Kirche gewesen, so erhielt ich strenge Vorwürfe deshalb, aber hauptsächlich nur aus dem Grunde, daß ich nicht versäumen möchte, zu den häufigen Collecten beizutragen, welche für allerlei Zwecke gemacht wurden, bei welchen Gelegenheiten die Becken stets von einer Menge Diakonen und Kirchväter umringt waren, welche beobachteten, was jeder hineinlegte. Zugleich peinigten [262] sie mich auf das entsetzlichste, meine Beichte zu machen und mich in den geistlichen Gaben zu üben. Auf meine Frage, warum die Frauen in ihrer Kirche sprechen, da doch der Apostel Paulus es ihnen verboten hat? erwiederten sie, daß Gott in diesen letzten Tagen durch seine Propheten offenbart habe, daß das Weib, durch welches die Sünde in die Welt gekommen, berufen sei, das Reich Gottes zu befördern. Die Form der Beichte war ein Register aller möglichen Sünden, von dem kleinsten Fehler bis zu den schändlichsten Verbrechen, deren bloßer Name mit Abscheu erfüllt.

„Aber giebt es denn wirklich Menschen, die ruchlos genug sind, diese Verbrechen zu begehen?“ fragte ich B., als er mich aufforderte, zur Beichte zu kommen.

„Es giebt sogar unter unserer Gemeinde solche ehemalige Bösewichter, die sich jetzt durch Eifer und gute Werke auszeichnen,“ entgegnete er.

„Und also entgehen solche Menschen den Händen der Gerechtigkeit?“ fragte ich mit Verwunderung.

„Die Kirche hat Macht, alle Sünden zu vergeben,“ antwortete er mit Bestimmtheit.

Ich ging also zur Beichte und bekannte alle Fehler, deren ich mir bewußt war; Herr B. aber schüttelte wieder den Kopf, sagte, es sei eine kindische Beichte und legte mir wiederum allerhand Fragen vor, die ich in Wahrheit nicht bejahen konnte. Hierauf erklärte er, mich noch nicht in die Gemeinde aufnehmen zu können. Wer war froher als ich! Miß D. hingegen war wüthend und sagte, ich sei nicht die gute lenksame Person, für die sie mich gehalten, ich sei nachlässig im Besuchen der Kirche, nachlässig im Entrichten des Zehnten und der Beiträge, nachlässig im Ueben der geistlichen Gaben, und wenn ich mich nicht bessere, werde sie mir meine Chargen entziehen. Ich verachtete und verabscheute die Irviniten-Gesellschaft, war fest entschlossen, mich ihr niemals anzuschließen und bemühete mich, von Miß D. unabhängig zu werden. Da meine Einkünfte sehr bedeutend waren, so ersparte ich eine große Summe, mit welcher ich zu Ende der Season nach Amerika zu gehen und dort ein Institut zu gründen gedachte.

Auf wiederholtes Antreiben ging ich einst wieder zur Beichte, verblieb aber bei meiner Beichtform, d. h. bei der Wahrheit. B. sagte hierauf, daß die heiligen Propheten durch Weissagung offenbaren würden, [263] ob ich rein gebeichtet habe, verlas die Absolution und hieß mir beim Abendmahl zu erscheinen. Hier hatte ich die Beschämung, daß er mich überging, und auf mein Anfragen, warum er mir Brod und Wein nicht gereicht, erwiederte er, er sei selbst Prophet. Ich war empört über diesen Hokuspokus und nahm mir vor, diesen Betrügern einen Streich zu spielen. Am nächsten Morgen, als ich mich wieder in die Kirche begeben wollte, nahm ich einen großen schwarzen Kater unter meinen Shawl und ging damit auch richtig in die Kirche. Kaum habe ich mich niedergelassen, so ruft eine Stimme mit geisterartigem Tone: „Eine Mörderin ist unter uns!“ und im Nu waren alle Augen auf mich gerichtet. Dieser elende Versuch, mich zu terrorisiren, kam mir so komisch vor, daß ich nur mit Mühe ein lautes Lachen zurückhielt, denn da ich zur Uebersiedlung nach Amerika entschlossen war, war mein natürlicher Muth zurückgekehrt. Als alles wieder ruhig war, strich ich den Schwanz des Murners rückwärts, worauf er wie eine Baßgeige brummte. Alle lauschten der neuen geistlichen Gabe mit Verwunderung, ich streiche noch ein wenig derber, und jetzt schreit der Kater helle weg, was aber durch den dicken Shawl so gedämpft wurde, daß man den Klang nicht deutlich unterscheiden konnte. Die Propheten und Dolmetscher wollten sich nicht nachsagen lassen, daß sie eine fremde Sprache nicht ausdeuten könnten, und so rief einer: „Die Stimme sagt: Gebet der Kirche euern Mammon, damit sie euch schütze mit ihrer Macht!" – Hierauf strich ich die Katze noch recht tüchtig und ließ sie laufen: sie sprang in blinder Wuth wie ein Teufel mitten unter die Geistlichen hinein, ohne daß jemand wußte, woher sie kam, und war nur mit Mühe zu entfernen.

Patty hatte sich längst durch seine geistlichen Gaben hervorgethan, er stand bei der Geistlichkeit wie bei der Gemeinde sehr wohl, denn er hatte sich sehr gelehrig gezeigt und Niemand ahnete, mit welchem abscheulichen Exceß der Schelm scheiden sollte, ein Mensch, an dem ein solches Wunder verübt worden war. Er hatte sich meine Adresse ganz wohl gemerkt, kam oft, um Handdienste zu verrichten und sich Whisky einschenken zu lassen, und wenn es Morgens war, trug er mir Gebetbuch, Trumeaux und Shawl in die Uebungstunden voraus. An einem solchen Tage, wo er schon ein halb sechs Uhr in großer Geschäftigkeit war, weil er wahrscheinlich kein Geld hatte, rief ich ihn in’s Zimmer, um ihm seinen Lohn zu geben, und sagte, ihm wie gewöhnlich einen [264] Whisky einschenkend: „Patty, Sie sollen mich die fremden Sprachen lehren, ich kann nicht dahinter kommen.“

Er liebäugelte sofort mit dem Glase und trank begierig davon, dann sagte er: „Es ist eine schöne Gabe, Miß, nicht wahr?“

„Sehr schön, aber wie machen Sie es, wie lernen Sie die Sprachen?“

„Nun, Miß, Sie wissen doch ohne Zweifel die Bedeutung von „unbekannt“?“

Ich schenkte Patty wieder ein. „Unbekannt, sagte er dann, ist dasjenige, was noch gar nicht dagewesen ist, also muß man es selbst erfinden.“

Ich schenkte wieder ein, gab ihm einen Schilling für den Unterricht, und Patty ging festen Trittes voran, verfügte sich in der Kirche auf seine Galerie, und ich ging in das Schiff. Ich hoffte, daß Patty mit Hülfe meiner Geister sich heute der Gemeinde als Besessener zeigen werde, damit die Wahrheit an den Tag komme, und somit die Schurkerei des Herrn B., allein Patty überschritt alle Grenzen und verfehlte dadurch den Hauptzweck. Es entstand nämlich plötzlich ein unerhörter Rumor auf der Galerie, Schreien, Kreischen, Verwünschungen und Flüche schwirrten durcheinander, alles blickte nach oben, und was sehen aller Augen! Es ist kaum zu sagen und nur in England möglich. Patty saß auf der Brustwehr der Galerie und zeigte der Gemeinde denjenigen Theil seines Körpers im ademitischen Zustande, den man überein gekommen ist zu bedecken. Einige Herren bemächtigten sich sogleich seiner und schafften ihn aus der Kirche. Ich weiß nicht, ob man mich mit dieser schmählichen Scene in Connexität brachte, aber so viel ist gewiß, daß B. und Miß D. noch an demselben Tage in großer Aufregung zu mir kamen und ihren Besuch mit den heftigsten Vorwürfen eröffneten, indem sie mich eine Verächterin des göttlichen Wortes, Lügnerin im Beichtstuhle und Verrätherin an der Kirche nannten.

Auch mein Zorn überstieg alle Grenzen, so daß ich alle Mäßigung bei Seite setzte, indem ich ihnen mit schneidender Ironie entgegnete: „Ihr seid wohl die Kirche? ihr heuchlerischen Betrüger! Ich habe eure Mummereien von Anfang an durchschaut, ich habe eure Alfanzerei nicht für Wort Gottes gehalten, sondern ich habe euch nur wie Sixtus V. als Krücke gebraucht, und jetzt werfe ich euch weg!“

Ein Blitzstrahl hätte nicht elektrischer wirken können als meine [265] Worte auf die Irviniten, denn nichts macht den Betrüger so zornig, als wenn er sich von seinem vermeintlichen Opfer überlistet sieht. Unter Drohungen und Ausbrüchen der Wuth verließen sie mich und betraten von da an meine Schwelle nicht wieder. In der Thüre drehte sich Herr B. noch einmal um und sagte mit scharfem Accent: „Unsere Wege werden sich hoffentlich nicht mehr kreuzen, sollten Sie sich aber beikommen lassen, gegen uns öffentlich aufzutreten, so zählen Sie auf unsere Rache, die Sie lehren wird, wie thöricht es von einer schwachen Fremden gehandelt ist, wenn sie den Kampf gegen Millionen beginnt.“

Es war jetzt die Zeit, wo alles was da kann, London verläßt, auch meine Connexionen hatten sich meistentheils zerstreut. Unter diesen befand sich eine reiche und distinguirte Familie aus der Umgegend von W…, Namens B., deren drei Töchter ich in der Musik und den Sprachen unterrichtete und die sich immer höchst zufrieden mit mir zeigte. Da sie jetzt auf ihr Gut gehen wollte, fragte mich Frau B., ob ich nicht eine gute Stellung als Lehrerin auf dem Lande annehmen wolle? in W… gebe es nicht eine einzige Sprachlehrerin, ungeachtet des herrschenden Bedürfnisses, welches mehr als eine beschäftigen werde. Zugleich versprach sie mir, unter den bisherigen Bedingungen mich beschäftigen und mir eine glänzende Verbindung unter ihren dortigen Bekannten sichern zu wollen. Dieses Anerbieten war zu gut, um abgewiesen zu werden, ich nahm es daher an und legte mein kleines Kapital in Eisenbahn-Actien an. Leider jedoch sollte ich den grenzenlosen Eigennutz der Briten auch diesmal wieder fühlen, denn alle Familien, an welche mich Mistreß B. adressirte, hatten Gouvernanten, die Bevölkerung im Allgemeinen zeigte gar kein Verlangen nach Sprachunterricht und zuletzt rückte jene mit der Erklärung heraus, daß sie die Lectionen und das Honorar auf zwei Drittel reduciren wolle, weil man auf dem Lande weniger zahle und die Kinder ohnehin das ganze Winterhalbjahr zum Lernen vor sich hätten. Dies war für mich ein harter Schlag, ich sah, daß es blos auf Ausbeutung meiner Fähigkeiten abgesehen war, allein Mistreß B. war jetzt, da die Marquise v. S. lau gegen mich that und die Lady de W. mit ihrem Gemahl auf dem Gesandtschaftsposten in Brüssel abwesend war, meine mächtigste Beschützerin, an deren Gunst mir alles liegen mußte. Sie wußte und benutzte dies schonungslos, indem sie mir von dem kargen Lohne auch noch den Theil abzog, der auf versäumte Unterrichtsstunden fiel und mir erklärte, eine genügende [266] Empfehlung mir erst nach Verlauf eines Jahres geben zu können. So beschloß ich denn nach sechs Monaten voll trauriger Erfahrungen, auf welche die Irviniten gewiß den meisten Einfluß übten, in das von der Königin gegründete Gouvernanten-Institut mich zu begeben, worin gut empfohlene Erzieherinnen gegen mäßige Bezahlung aufgenommen und mit Engagements versehen werden; zugleich aber beschloß ich auch, in dem damit verbundenen Collegium mein Examen abzulegen, weil man sogar meine wissenschaftliche Befähigung zu verdächtigen anfing.

Das Institut auf der Herley-Street in London war bei meiner Ankunft überfüllt mit Kostgängerinnen, so daß ich nur durch treffliche Empfehlungen Aufnahme fand und mit einer Engländerin einen Verschlag unter dem Dache als Schlafkabinet benutzen mußte. Sämmtliche Gouvernanten, sechsunddreißig an der Zahl, hatten einen einzigen Saal als Aufenthaltszimmer, die Directrice H. und ihre Nichte N. hatten jedoch besondere Wohnzimmer. Das ist das berühmte, unter dem Protectorate der Königin Victoria stehende Institut, das einzige seiner Art in der Welt.

In diesem Saale lasen, schrieben, musicirten, zeichneten, malten, näheten, stickten, studirten und conversirten 36 Damen! Der Lärm war bisweilen sinnverwirrend. Ueberhaupt dient der Aufenthalt hier nicht dazu, einen günstigen Begriff von dem Wesen der Frauen zu geben, deren Händen die Bildung der heranwachsenden Jugend der höchsten Stände anvertraut ist. Wenn eine spielte oder sang, so wollten zehn an’s Piano, während die übrigen schalten, daß sie nicht arbeiten könnten, und die andern sich einer niedrigen Medisance hingaben oder die Musizirende hämisch persiflirten. Streifte die eine an die andere nur an, so wurde sie gleich allerlei böser Absichten beschuldigt. Der Wortwechsel, das Beneiden, Hassen, Verkleinern, Verklatschen, Verleumden und Ränkeschmieden hörte den ganzen Tag nicht auf, und mehrmals geriethen sie in so heftigen Streit, daß Frau H. den Anstalts-Geistlichen mußte holen lassen, um dem Handgemenge ein Ende zu machen. Am unglücklichsten waren die Fremden, auf diese gingen alle Engländerinnen hinein, sie wurden von den Vorsteherinnen am meisten unterdrückt und bei jeder Gelegenheit zurückgesetzt. Beide waren höchst eigennützig, habsüchtig und ungerecht, gaben fortwährend zu verstehen, daß man ihre Gunst erkaufen müsse, indem sie eine Masse Kostbarkeiten unaufhörlich [267] als Geschenke ihrer Günstlinge herumzeigten. Mehrere Umstände wirkten zusammen, mich zum Gegenstand des Neides und Hasses sämmtlicher Damen des Institutes zu machen, hauptsächlich der, daß ich sehr glänzende Sprachzeugnisse erhielt, ja im Englischen sogar mehrere Engländerinnen übertraf, und im Gesange keine einzige sich nur entfernt mit mir messen konnte. Wenn ich mit meiner Theaterstimme sang und die Vorübergehenden lauschend stehen blieben, dann schossen sie Blitze und Dolche aus ihren Augen nach mir.

Da es zu Erlangung guter Engagements und Lehrstunden eben ungünstige Zeit war, so nahm ich ein Anerbieten auf drei Monate bei einem Landpfarrer, Herrn B. in B…, Grafschaft Kant, gegen ein sehr mäßiges Honorar an, besonders aber deßhalb, um möglichst schnell aus der Hölle des Institutes zu kommen. Aber niemals war das Incidit in Scyllam qui vult vitare Charybdim treffender anzuwenden, als diesmal auf mich. Die Familie bestand aus dem hochwürdigen Herrn B., seiner Gemahlin und einer achtzehnjährigen Tochter, meiner Elevin. In diesen hoffte ich religiöse, gebildete Menschen zu finden, unter denen ich kurze Zeit ruhig und zufrieden leben könnte; wie groß war daher mein Verdruß, als der alte Herr von sechszig Jahren mir auf die markirteste und beleidigendste Weise den Hof machte! Frau B., die ihren Schatz kennen mochte und ihm auf allen Schritten nachging, war eifersüchtig und ließ ihren Aerger an uns Beiden gleichmäßig aus, wofür er sie wieder in meiner und der Tochter Gegenwart auf das Kränkendste behandelte. Ich bemühete mich, Herrn B. durch ein ernstes und vernünftiges Betragen zu seiner Pflicht zurückzuführen, allein vergebens, Herr B. war nicht abzuweisen und genirte sich auch vor Niemanden. Sonntags Nachmittags las er uns regelmäßig schlüpfrige Bücher und häßliche Zweideutigkeiten vor, was ich nicht hindern konnte, da seine Familie es mit Lachen hinnahm. Fürwahr ein geistliches Haus! Meinem beharrlichen Widerstande setzte er endlich Rache entgegen, die ich in allen ihren Ergüssen viel leichter ertrug als seine Zärtlichkeit. Aber seine Gluth loderte immer von neuem auf und sollte bald zu einem entscheidenden Ausbruche gelangen. Ich war ungefähr zwei Monate in seinem Hause, als Herr B., da eben seine Gemahlin und Tochter ausgegangen waren, plötzlich in mein Zimmer trat. So erschrocken ich auch war, da ich über seine Absicht natürlich nicht in Zweifel sein konnte, schlüpfte ich doch schnell hinaus und lief die Treppe [268] hinauf nach meinem Schlafkabinet, B. hinterdrein, ich vor Schreck zitternd springe durch die nächste Thüre und riegle diese von innen zu. B. suchte vergebens diese zu sprengen und sein Lärmen rief endlich die Köchin herbei und befreite mich aus meiner fatalen Lage.

Kurz nachher, als Frau B. nach Hause kam, sagte er mir in ihrer Gegenwart, daß ich dem vorliegenden Bedürfnisse nicht genüge, und hieß mich in den beleidigendsten Ausdrücken das Haus augenblicklich verlassen.

„Herr B., sagte ich so ruhig als möglich, zwingen Sie mich nicht durch Ungerechtigkeit, Maßregeln zu ergreifen, die Ihnen schaden müßten, bedenken Sie Ihren Stand und daß eine plötzliche Entlassung aus Ihrem Hause meine ganze Laufbahn gefährden müßte, da die Directricen H. und N. unsern Contract gesehen haben.

„Das will ich eben, das ist Ihnen ganz recht,“ lachte er boshaft.

„Herr B., die Köchin ist Zeuge Ihres heutigen Betragens,“ rief ich erbittert über diese Nichtswürdigkeit eines Geistlichen.

Er stutzte, faßte sich aber sogleich wieder und versetzte: „Sie verlassen mein Haus sofort, und damit Punktum!“

„Ja, fiel Mistreß B. ein, die froh war, den Gegenstand ihrer glühenden Eifersucht möglichst schnell los zu werden, das ist das Allerbeste, wir behalten Sie keine Stunde mehr.“

„Gut, ich dringe mich Ihnen nicht auf, aber schreiben Sie mir ein Zeugniß und bezahlen Sie mich,“ entgegnete ich.

„Nimmermehr bekommen Sie ein Zeugniß von mir, und da Sie auch den Anforderungen nicht entsprechen, können Sie auch kein Geld bekommen,“ versetzte B. mit schadenfrohem Lachen.

„Haben Sie die Folgen dieses gottlosen Verfahrens auch wohl überlegt?“ fragte ich bebend.

„Machen Sie, was Sie wollen, vor Ihnen fürchte ich mich nicht,“ antwortete der würdige Seelsorger.

„Gut, erwiederte ich, jetzt werde ich bleiben, denn ich kenne die Gesetze und werde meinen Contract erfüllen.

Ich begab mich auf mein Zimmer und schrieb sofort an den Erzbischof von Canterbury, Dr. S., dessen Werke und vortrefflicher Charakter mir bekannt waren, und schilderte ihm haarklein Herrn B.’s Betragen gegen mich, wie auch sein Privat- und Familien- Leben, berief mich auf das Zeugniß der Köchin, schilderte ihm sogleich die Schande [269] und den Schaden, der mich, ein schuld- und hülfloses Mädchen, durch eine so schimpfliche Entlassung treffen mußte, und bat ihn um Schutz und Gerechtigkeit. Diesen Brief trug ich selber auf die Post und erwartete nun mir der äußersten Spannung das Resultat.

Am zweiten Morgen darauf, als Herr B. beim Frühstück die eben erhaltenen Briefe las, beobachtete ich ihn erwartungsvoll und bemerkte, daß er plötzlich bei Durchlesung eines derselben wie vom Blitze getroffen aussah, mich erschrocken anstarrte, sprachlos dasaß und ebenso das Zimmer verließ. Noch an demselben Morgen verreiste er und ich sah ihn an diesem Tage nicht wieder. Am nächsten herrschte eine unverkennbare Bestürzung in der Familie, und Frau B. that mir sehr höflich zu wissen, daß ich mich wegen meiner Abreise nicht zu beeilen brauche, ihr Gemahl habe sich verfehlt. Einige Tage später erhielt ich einen sehr gütigen Brief vom Erzbischof, worin er nur zu wissen that, daß Herr B. seinen Contract pünktlich halten werde, auch habe er selbst an das Comité des Gouvernanten-Instituts geschrieben und meine Aufnahme in dasselbe ausgewirkt, so daß ich von jetzt an jeden Augenblick dort eintreten könne, auch ohne ein Zeugniß des Herrn B. Dieser Brief des Erzbischofs von Canterbury ist noch in meinem Besitz, als ein Beweis der vollkommenen Wahrheit dieser Erzählung.

Ich habe nie erfahren, was zwischen dem Erzbischof und Herrn B. verhandelt worden ist, aber ich hatte von diesem Tage an Ruhe bis zu meinem Abgange, nur bei der Auszahlung ließen Herr und Frau B. noch möglichst ihre Rache an mir aus, und kaum war ich im Institute erwarmt, als auch die grausamen Verfolgungen dieser Prediger-Familie begannen. Es war unmöglich, von hier aus eine Versorgung zu erhalten, ich bezog daher eine Privatwohnung und fand auch sogleich eine Stelle in der Familie B. auf St. bei Douglas.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Plane