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mit Verachtung musterte. Langsam und stolz schritt ich durch sie den Saal entlang.

Bei Tische war Julius abermals abwesend, seine Verwandten beobachteten aber dasselbe Benehmen gegen mich wie am Morgen, und Herr R. eröffnete den würdigen Angriff auf ein schwaches Mädchen, die Erzieherin seiner Kinder, mit Anspielungen auf die niedrigsten Vergehen, Frau B. sprach von der Strafe, welche allen Mördern gebühre, und Frau R. rieth zur Vorsicht gegen Diebe. Und während dieser schändlichen Reden sah mich die ganze Familie höhnend an. Empört fragte ich endlich: Herr R., auf wen beziehen sich denn eigentlich diese Anspielungen? erhielt aber nichts als hämische Gesichter zur Antwort. Beim Abendgebet war Julius wieder nicht zugegen, und Mister R. las wieder ein ähnliches Kapitel unter ähnlichen Manövern der Familie. – Am andern Morgen endlich erschien Julius beim Gebet, wiewohl ganz verändert, denn sein schönes Gesicht bedeckte Todtenblässe, seine Züge waren eingefallen und in seinen Augen glänzte ein fieberhaftes Feuer. Er heftete einen langen Blick auf mich, während ich ihn kalt fragend ansah. Auch er las ein Kapitel aus den Sprüchwörtern, welches zur Weisheit und Gottesfurcht vermahnt. Als wir niedergeknieet waren und er das Gebet las, zitterte seine Stimme und versagte dann gänzlich. Dies mehrte meinen inneren Jammer in dem Maße, daß ein Strom von Thränen über meine Wangen floß. An eine Fortsetzung des Gebetes war nicht zu denken, alle erhoben sich und ich suchte weinend mein Zimmer. Bei Tische erschien Julius zwar, aber aß nicht, sondern trank blos Wein. Seine Verwandten begannen jetzt wieder ihr voriges Manöver, und als sie jetzt ein frömmelndes Gespräch von sittlichen Fehlern anhoben, rollten Thränen aus seinen Augen; er stand auf, ging an’s Büffet und beschäftigte sich mit Nichts. Nach Tische suchte ich seine Schwester auf, um mir eine Erklärung über die schmachvolle, unerhörte Behandlung auszubitten, von deren Ursache ich keinen Begriff hatte. – Mistreß antwortete sehr geistreich und ganz in ihrer Manier: „Sie haben keine Freunde!“

„Also bin ich schutzlos, erwiederte ich; ist das aber recht und löblich gethan, den Schwachen zu mißhandeln? Gebietet nicht die Religion, dem Schwachen zu helfen und des Wehrlosen sich anzunehmen?“

„Ich meine, Sie haben keine Empfehlungen,“ verbesserte sie sich.