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durchschaut hat, daß es aber fast unmöglich ist, sein eigenes mitleidiges Herz zu versteinern, wie die folgende kleine Episode beweisen könnte. Als ich nach Hause ging, begegnete ich auf der Treppe meines Hauses einer colossalen Brünette mit einem Banditengesicht, aus dem sie verstohlen mich seitwärts anschielte. Ich drückte mich dicht an das Geländer, um sie vorbei zu lassen, und sah der widerlichen Erscheinung mit Befremden nach. Denselben Abend, als ich ganz allein meine Mahlzeit hielt, klopfte es an meine Thür, und auf mein „Herein" erschien dieselbe Person vor mir, sich wiederholt tief verbeugend, mit einem Bündel unterm Arm. War mir schon vorher ihre Erscheinung unangenehm gewesen, so war sie es jetzt durch die kriechende Freundlichkeit und das grinsende Gesicht noch mehr. Auf meine Frage, zu wem sie wolle, erwiederte sie, daß sie von der Hauswirthin gehört habe, ich sei Lehrerin, und da sie derselben Klasse angehöre, in bedrängten Umständen sich befinde, so sei sie gekommen, mich um eine Gefälligkeit zu bitten. Dies sprach sie in provinzialischem Französisch. Auf meine Frage, womit ich ihr dienen könne, öffnete sie ihr Päckchen und zog eine Rolle Flanell heraus, den sie mir zum Verkauf anbot. Ich lehnte diesen ab und fragte nach ihrem Namen. Sie nannte sich Madame I… und versicherte, diesen Flanell von ihrer Tochter zu einem Schlafrock erhalten zu haben, nannte mir auch eine englische Familie, in welcher sie Bonne gewesen sei, jedoch habe dieselbe England mit Indien vertauscht, und gleichzeitig wies sie ein gutes Zeugniß vor. Jetzt bereuete ich mein Vorurtheil gegen die Arme und machte ihr ein Geldgeschenk, welches sie dankend annahm. Auf ihre Versicherung, daß sie halb verhungert sei, fühlte ich das innigste Mitleid und lud sie sogleich ein, mein Mahl mit mir zu theilen, was sie sich nicht zum zweiten Male heißen ließ. Sie erzählte mir hierbei eine sehr rührende Geschichte, wie sie sich seit lange um eine Stelle bemüht habe, ohne eine zu finden, weshalb sie in der traurigen Lage sei, einige Wochen Miethzins schulde und von der Wirthin mit Hinauswerfen bedroht worden sei. Ich ließ mich dermaßen von ihrem Unglück rühren, daß ich ihr versprach, sie zu unterstützen und ihr eine Stelle zu verschaffen, bezahlte auch sofort den Hauszins und bot ihr mein Zimmer während der Tagesstunden, weil es noch rauh war, zum Aufenthalte an. Da sie weder Kleider noch Wäsche hatte, um sich anständig zu präsentiren, schenkte ich ihr von dem Meinigen, was sie bedurfte und bemühete mich, mit Hülfe ihres Zeugnisses