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Empfehlung mir erst nach Verlauf eines Jahres geben zu können. So beschloß ich denn nach sechs Monaten voll trauriger Erfahrungen, auf welche die Irviniten gewiß den meisten Einfluß übten, in das von der Königin gegründete Gouvernanten-Institut mich zu begeben, worin gut empfohlene Erzieherinnen gegen mäßige Bezahlung aufgenommen und mit Engagements versehen werden; zugleich aber beschloß ich auch, in dem damit verbundenen Collegium mein Examen abzulegen, weil man sogar meine wissenschaftliche Befähigung zu verdächtigen anfing.

Das Institut auf der Herley-Street in London war bei meiner Ankunft überfüllt mit Kostgängerinnen, so daß ich nur durch treffliche Empfehlungen Aufnahme fand und mit einer Engländerin einen Verschlag unter dem Dache als Schlafkabinet benutzen mußte. Sämmtliche Gouvernanten, sechsunddreißig an der Zahl, hatten einen einzigen Saal als Aufenthaltszimmer, die Directrice H. und ihre Nichte N. hatten jedoch besondere Wohnzimmer. Das ist das berühmte, unter dem Protectorate der Königin Victoria stehende Institut, das einzige seiner Art in der Welt.

In diesem Saale lasen, schrieben, musicirten, zeichneten, malten, näheten, stickten, studirten und conversirten 36 Damen! Der Lärm war bisweilen sinnverwirrend. Ueberhaupt dient der Aufenthalt hier nicht dazu, einen günstigen Begriff von dem Wesen der Frauen zu geben, deren Händen die Bildung der heranwachsenden Jugend der höchsten Stände anvertraut ist. Wenn eine spielte oder sang, so wollten zehn an’s Piano, während die übrigen schalten, daß sie nicht arbeiten könnten, und die andern sich einer niedrigen Medisance hingaben oder die Musizirende hämisch persiflirten. Streifte die eine an die andere nur an, so wurde sie gleich allerlei böser Absichten beschuldigt. Der Wortwechsel, das Beneiden, Hassen, Verkleinern, Verklatschen, Verleumden und Ränkeschmieden hörte den ganzen Tag nicht auf, und mehrmals geriethen sie in so heftigen Streit, daß Frau H. den Anstalts-Geistlichen mußte holen lassen, um dem Handgemenge ein Ende zu machen. Am unglücklichsten waren die Fremden, auf diese gingen alle Engländerinnen hinein, sie wurden von den Vorsteherinnen am meisten unterdrückt und bei jeder Gelegenheit zurückgesetzt. Beide waren höchst eigennützig, habsüchtig und ungerecht, gaben fortwährend zu verstehen, daß man ihre Gunst erkaufen müsse, indem sie eine Masse Kostbarkeiten unaufhörlich