Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Sechsundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Siebenundzwanzigstes Kapitel
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Sechsundzwanzigstes Kapitel.




Als ich in London ankam, war die günstigste Zeit der Season schon vorüber und der größere Theil der vornehmen Welt bereits zerstreut; ich fand jedoch die Marquise von S. noch, welche mir ihre fernere Empfehlung zusagte. Aber bald sollte ich es bereuen, das sonnige Lusitanien mit dem nebeligen Britannien vertauscht zu haben, denn kaum hatte ich diesen Boden wieder betreten, als ich auch die Influvien der englischen National-Eigenschaften des Hochmuthes, Eigennutzes und der Herzlosigkeit sofort wieder empfand. Ich nahm zunächst eine Stelle bei einer Familie R. an, die mich unter einigen dreißig Bewerberinnen [236] erkohr, weil mir die Protection der Marquise von S. zur Seite stand, und ich folgte ihnen bald nach R…, wo sie seßhaft waren. Die R.’s verdankten ihr Vermögen dem Fabrikbetriebe ihrer Eltern, worin gewiß nichts Erniedrigendes liegt, aber leider machten sie die lächerlichsten Prätensionen, die nur jemals Emporkömmlinge zur Schau trugen. Da ihnen die Verbindung mit den höheren Ständen abging, welche ihr Dünkel ihnen unentbehrlich erscheinen ließ, so boten sie alles auf, um dieses Ziel ihrer Wünsche zu erreichen, zunächst häufige und kostspielige Gastmäler, welche ihnen natürlich eine Menge sogenannter Freunde zuführten. Leider wurde die Erziehung der Kinder ganz im Geiste der Eltern betrieben, und es war mir unmöglich, die moralischen Auswüchse, welche in dieser Familie als so viele Zierden galten, an meinen Zöglingen zu vertilgen, wenn ich mich nicht den gröbsten Demüthigungen aussetzen wollte. Diese erfolgten nämlich sofort vor den Kindern und Gästen, wenn ich es nur wagte, die Unarten jener zu rügen; allein ich kehrte mich so wenig als möglich an diese Chicanen, sondern betrieb mein Amt mit Gewissenhaftigkeit und als vor Gott verantwortlich. Ich ermahnte, untersuchte und strafte, und ging trotz alles Widerstandes in allem auf den Grund; den Mechanismus des englischen Lehrsystems, nach welchem die Kinder einige Sätze Sprachlehre, Geographie, Geschichte u. s. w. memoriren müssen, ohne zusammenhängende und klare Begriffe dadurch zu erlangen, diesen legte ich gänzlich bei Seite. Statt dessen hielt ich Vorlesungen und Erklärungen, wobei sie mir den Kern derselben nicht nur wiederholen, sondern auch niederschreiben mußten. Um ihrem frivolen Gedankenlauf Einhalt zu thun, machte ich auf unseren Spaziergängen unsere Studien oder die Wunder der Natur zum Gegenstand unserer Unterhaltungen. Obgleich meine Schülerinnen Sophie, Mathilde und Auguste schon sechszehn, funfzehn und vierzehn Jahre alt waren, so hatten sie doch gar keinen Religions-Unterricht genossen, ihre religiösen Begriffe beschränkten sich auf die kalten und schwülstigen Predigten, welche sie des Sonntags von dem dortigen Rector, einem aufgeblasenen Narren der Hochkirche, abhaspeln hörten. Johann, ein Knabe von 12 Jahren, machte mir den meisten Kummer, denn er war das gelungenste Conterfei seines Vaters, dessen Eigenschaften mehr dem Thierreiche als dem Menschenthume angehörten. Ich sah nur zu bald, daß ich einen Mißgriff gethan hatte, aber ich mußte das vor der Hand Unabänderliche mit Geduld tragen.

[237] Schon in den ersten Wochen meiner Anwesenheit in dieser Familie kamen Mistreß R.’s Brüder, Cor und Julius, zu uns auf Besuch, und ich hatte bald das Leidwesen, zu bemerken, daß beide in Aufmerksamkeiten gegen mich wetteiferten. Neigt nun mein Temperament von Natur zur Kälte hin, so hatte das Leben die Zerstörung aller jugendlichen Empfänglichkeit vollendet, so daß nichts meinem Herzen entfernter lag, als der Gedanke an Liebe. Allerdings trug ich den Zustand meines Innern nicht zur Schau, und die Elasticität meines Geistes wie meine Energie ließen mich wahrscheinlich als das glücklichste Geschöpf erscheinen, aber in meinem Herzen war es öde und leer wie in einer Gruft.

War ich mit meinen Zöglingen im Garten, so gesellten sich Cor und Julius zu uns, und so weit war dies ganz natürlich; aber während sie mit ihren Nichten spielten, suchte jeder meine Aufmerksamkeit zu erregen und mir zu beweisen, daß ich der Gegenstand seiner Gedanken war. Jeder meiner Bewegungen folgten sie mit ihren Blicken und beobachteten mich mit einer Intensität, die mir fast schmerzlich war. Noch auffallender war ihr Betragen bei Tische, hier beobachteten sie sowohl sich gegenseitig wie mich mit einer wahrhaft komischen Wachsamkeit und Spannung, der ich mich auf keine Weise entziehen konnte. Ich erwiederte ihre Artigkeiten mit Höflichkeit und Ernst, indessen war es schwer, die Mittelstraße zwischen Gleichgiltigkeit und Unhöflichkeit zu beobachten, da man so leicht mißfällt und sich Feindschaft zuzieht, was einer Gouvernante sehr nachtheilig ist. Höchst störend waren sowohl für mich wie für meine Zöglinge die häufigen Besuche beider Brüder im Schulzimmer, bei welchen Gelegenheiten die Kinder sich immer etwas emancipirten. Cor, der ältere, war von mittler Statur und in jeder Beziehung der minder Begabte, auch hatte sein Betragen etwas schüchternes und unbeholfenes, was an einem Manne stets mißfällt. Julius hingegen war hoch und schön gewachsen, sein Gesicht von seltener Regelmäßigkeit, seine Formen waren die eines fein gebildeten Weltmannes. War er im Zimmer, so nahm er gewöhnlich den kleinen Inseparable der Mädchen aus seinem Gebauer, küßte ihn lange und zärtlich, indem er seine Augen mit leidenschaftlichem Ausdrucke auf mich heftete und setzte mich durch diese und tausend andere verliebte Tändeleien meinen Zöglingen gegenüber in peinliche Verlegenheit. Ich ließ mich jedoch nicht zerstreuen, sondern entledigte mich meiner Pflichten mit aufrichtigem Eifer trotz aller mich umgebenden Schwierigkeiten.

[238] Zwar gelang es mir nach und nach, meinen drei weiblichen Zöglingen richtigere Begriffe und Kenntnisse beizubringen, sie auch in Musik und Gesang zu vervollkommnen, allein alle Versuche, ihren Gemüthern eine religiöse und ästhetische Richtung zu geben, scheiterten an der schlecht übertünchten Rohheit der Eltern. Herr und Madame R., diese zwei vollkommensten Nullitäten in der Geisterwelt, welche keine anderen Genüsse kannten als thierische, deren einzige Unterhaltung in Klatscherei bestand, sahen in allen meinen Bestrebungen unberufenen Tadel und Kriticismus, ja sie waren empört, an einer Untergebenen statt knechtischer Unterwürfigkeit und Schmeichelei ein selbstständiges Urtheil, und wo es galt, Widerspruch zu finden. Als niedrige Menschen ergriffen sie daher jede Gelegenheit, mein Ansehen in der Gesellschaft wie in der Familie zu beeinträchtigen. Zu ihrem großen Leidwesen gelang es ihnen jedoch nicht so leicht, wie sie wünschten, weil der unpartheiische und selbstständige Theil der Gesellschaft mir nur mit Hochachtung und Auszeichnung begegnete, sogar mit Bewunderung von meinen Talenten sprach. Inzwischen fuhren Cor und Julius fort, mir ihre unheilvollen Huldigungen darzubringen, ja, sie feindeten sich bald gegenseitig als Rivalen an, wodurch ich in die schmerzlichste Verlegenheit gerieth. Julius hatte Theologie studirt, den Grad eines Magister artium erlangt und war wohl im Stande, eine tiefere Neigung einzuflößen; allein einerseits war ich älter als er, von armer Herkunft, von Leiden und Studien, Leben und Contemplation überdies hoch gehoben über den beschränkten Gesichtskreis eines Jünglings, andererseits war dieser viel zu stürmisch in der Empfindung, um mir Vertrauen einflößen zu können, zu wenig gereifter Mann, dazu sehr reich, von einer Familie, der das verfluchte Geld das Herz ausgebrannt hatte – so daß eine Verbindung mit ihm mehr als Thorheit gewesen wäre. Meine Lage war also eine höchst beunruhigte, als ein neuer Umstand eintrat, welcher einen bedeutenden Einfluß darauf ausübte. Ich hatte seit meinem Eintritt in die Familie viel von einem Herrn G. und seinen zwei Schwestern in London, wie von ihrem großen Reichthum gehört. Diese kamen einst auf Besuch, bei welcher Gelegenheit ich ihnen vorgestellt wurde. Ich fand in den beiden Schwestern zwei höchst gutmüthige und liebenswürdige ältliche Damen, die mich durch ihr einfaches und wohlwollendes Entgegenkommen ungemein anzogen. Der Bruder, ein Herr von höchstens vierzig Jahren, besaß eine sehr gefällige Persönlichkeit, die Formen eines Gentlemans und den [239] Ruf eines trefflichen Charakters. Es bedurfte keines großen Scharfsinns, um zu bemerken, daß Mistreß R. diesen Mann mit der Hand ihrer ältesten Tochter zu beglücken wünschte. So klug diese letztere nun auch manövrirte, so entging mir hinter den Coulissen doch nicht, wie eifrig sie den Wunsch ihrer Mutter secundirte. Es läßt sich daher leicht denken, wie groß der Verdruß Beider war, als Herr G. sich beinahe ausschließlich mit mir unterhielt und mir in Gegenwart so vieler heirathsfähiger junger Damen eine vorwiegende Aufmerksamkeit schenkte. Diese Annäherung ausgezeichneter Männer hatte mir immer den Haß der hohlköpfigen Schönen zugezogen, und ihr Neid wuchs, je mehr sie sich überzeugen mußten, daß jene Huldigungen mir ohne alles mein Hinzuthun gespendet wurden, während sie alle ihre Kunststückchen vergebens losschossen, um das Interesse auf sich zu lenken. Mir entging auch jetzt nicht, wie gehässig nicht nur Mistreß R., sondern alle Damen mich beobachteten, seitdem die zwei Brüder mich umschwärmten, sonderlich aber heute. Endlich kam die Dame mit schlecht verhehlter Heftigkeit auf mich zu und sagte mit verbissenem Aerger: Ich glaube, Ihr Platz ist bei Ihren Zöglingen! und kehrte mir den Rücken. Ihre Töchter saßen in dem andern Salon und unterhielten sich mit mehreren Damen, und ich begab mich schweigend dahin. Kaum hatte ich mich ihnen angeschlossen, als Herr G., secundirt von mehreren Herren, mich zum Singen aufforderte, ihren vereinten Bitten nachgebend, sang ich ein deutsches Lied, die Fahnenwacht von Lindpaintner, was von nun an in ganz England Furore machte. Ich erhielt allgemeinen Beifall und mußte noch ein Duett mit Julius singen, der nun den ganzen Abend nicht wieder von meiner Seite wich. Ich weiß nicht, was ich noch hätte musiciren müssen, wenn nicht meine Zöglinge mich darin abgelöst hätten. Die Leidenschaft jenes jungen Mannes beunruhigte mich immer mehr, während die Zuneigung des Herrn G. mir wohl that, denn er war ein Mann, der vermöge seiner Jahre die Welt und sich kannte, dabei eine durchaus unabhängige Stellung einnahm, vor allem aber von Liebe gänzlich schwieg. Aber nicht lange sollte ich von dieser Seite Ruhe haben, sondern bald meine unglückliche Anziehungskraft verwünschen, die mich fast so unglücklich machte, wie den Herrn von Mißmuth in dem „Berggeist“ die seinige. Wahrlich, ich begriff sie selber nicht, wenigstens gab mir mein Spiegel keinen Aufschluß, vielmehr sagte er mir ganz offen, daß ich an körperlicher Schönheit hinter vielen Damen meiner Umgebung [240] weit zurückstehe und demungeachtet die Sonne war, welche bei ihrem Erscheinen sogleich umkreist ward von einer Schaar großer und kleiner Planeten.

Die Schwestern des Herrn G. erzählten mir kurz vor ihrer Abreise, daß ihr Bruder nur in früher Jugend einmal geliebt, jetzt aber, in seinen späteren Jahren, zu ihrer großen Freude wieder von einer tiefen Leidenschaft ergriffen sei. Sie sahen mich bei diesen Worten so bedeutungsvoll an, daß ich über den Gegenstand der Neigung des Herrn G. kaum noch in Zweifel sein konnte, aber doch aus weiblicher Neugierde und Eitelkeit die Frage nicht unterdrücken konnte: Wen liebt Ihr Herr Bruder, wenn man fragen darf? In diesem Momente erschienen in einiger Entfernung meine Eleven und die älteste Miß G. sagte nur noch: Versprechen Sie, uns in den nächsten Ferien zu besuchen, bis dahin wissen Sie genug! Weiter konnten wir nichts sprechen, die Geschwister G. nahmen einen herzlichen Abschied von mir, welcher der Familie R. wieder nicht zu behagen schien, und gleich nachher reisten auch Cor und Julius ab. Ich athmete tief auf, aber gleich nachher theilte mir Mistreß mit, daß ihr Bruder Julius die ganze Familie auf seinen Landsitz am Windermoore-See in Westmoreland eingeladen habe und ich von der Parthie sein solle, weshalb ich meine Vorkehrungen schleunig treffen möge, denn die Reise solle demnächst angetreten werden.

Mir klopfte das Herz heftig, denn ich erwartete nichts gutes von diesem Ereigniß, ich verwünschte das Schicksal, das mich aus einem Strudel in den anderen warf, und meine Individualität, welche gegen meinen Willen die mächtigsten Elemente in Bewegung setzte. Zwei Tage später traten wir unsere Reise auf der Eisenbahn über London an und trafen Abends spät auf W…-H…, dem prächtigen, schloßähnlichen Gebäude, ein, von welchem Julius als Besitzer nebst seiner Mutter die Honneurs machten und wo jener mich mit so auffallender Zärtlichkeit empfing, daß der Verdacht der Familie sogleich wieder mächtig angeregt ward. Meine Schülerinnen sagten mir noch denselben Abend, Julius habe sich erboten, die sämmtlichen Reisekosten zu tragen, man wisse aber schon, wem dies alles gelte. Mir schlug das Herz vor Sorge und Erwartung, die Leidenschaft dieses Jünglings konnte mich unter diesen Menschen höchst unglücklich machen. Nachdem ich meine Reisekleider abgelegt hatte, führten mich meine Schülerinnen in den glänzend erleuchteten Speisesaal, in dessen Mitte die Tafel stand, welche unter [241] Speisen und Silber und Wein hätte brechen mögen. Bald darauf erschienen die zahlreichen Familienglieder, darunter noch ein verheiratheter Bruder der Mistreß R. mit seiner Frau. Alle Anwesenden waren fröhlich, keine Fessel drückte, das Ganze hatte den lieblichen Charakter eines Familienfestes. Ich hatte die besondere Ehre, neben dem Herrn des Hauses zu sitzen, welcher sich bemühte, mich meine Fremdheit und Stellung in der Familie vergessen zu machen. Da am anderen Morgen meine Eleven noch schliefen, als ich längst angekleidet war, so ging ich in’s Freie, um die berühmte Gegend zu sehen. Aus der Halle trat ich auf einen Perron, von welchem aus das Auge unmittelbar auf schöne Laubgänge, Baumgruppen und Blumenparthieen fiel. Rechts erhoben sich waldige Berge, und links schlängelte sich der Park hinab, bis er sich außerhalb des Thores mit der Straße vereinigte. Links um die Ecke biegend, befand ich mich auf der Terrasse, welche das Haus von zwei Seiten umgiebt. Hier bot sich mir eine höchst angenehme Ueberraschung dar. Tief unter meinen Füßen lag der große Landsee Windermoore, von hohen Bergen umschlossen, auf deren Gipfeln man hin und wieder ein schönes Schloß, und an deren Abhängen man hier und da eine malerische Villa erblickt. An dem östlichen niederen Ufer ragten die zierlichen weißen Häuser des Dorfes A… aus dem lachenden Thale zwischen schönen Gärten und Bäumen hervor, hier und da lief eine mit üppigem Baumwuchs bedeckte Schlucht landeinwärts. Die dunkeln Berge, deren Schatten im Spiegel des krystallenen Sees zitterte, bildeten einen schönen Contrast zu den von der Morgensonne erleuchteten, und erfreueten das Auge durch ihre bunten Lichter. Auf der Terrasse standen schöne Pflanzen und Blumen, die mit ihrem Dufte die reine Luft erfüllten. Das Haus, der Park, die Anlagen, alles war malerisch und sinnreich, aber traurige Erinnerungen zogen durch meine Brust und erfüllten mich mit tiefer Wehmuth.

Sobald ich in das Schulzimmer trat, fand ich gewöhnlich Julius auf mich wartend, seine Besuche daselbst wurden immer häufiger, und so ehrbar auch sein Betragen stets gegen mich war, so verrieth es dennoch sein Motiv unverkennbar. Daneben beging er die Unvorsichtigkeit, daß er mir durch seine Nichten bisweilen Aufträge schickte, die allzusehr nach Zärtlichkeit schmeckten, als daß sie nicht hätten Aufmerksamkeit erregen sollen. Die Folge davon war, daß die Ueberbringerinnen die zielendsten Glossen darüber machten. Die Schwierigkeiten meiner Lage [242] und meine Sorgen, wie der Haß der Familie wuchs nun täglich, obwohl dieser sich noch vor Julius verbarg. Julius hatte durch Vermögen, Bildung und Schönheit die glänzendsten Ansprüche, die vornehmsten und schönsten Mädchen der Umgegend suchten ihm zu gefallen und ich Arme war der Gegenstand ihrer Eifersucht, durch welche sich die jüngste Tochter des Rectors zu R… und ihre verheirathete Schwester, Frau M., besonders hervorthaten.

Die Gegend von Windermoore war von jeher der Lieblingsaufenthalt der englischen Dichter, Romantiker, Maler und der ausgewählten Gesellschaft überhaupt, und zwar wegen ihrer pittoresken Schönheiten und milden Klimas. Ein wunderniedliches, glänzend weißes Häuschen, welches wie ein Vogelnest zwischen hohen Felsenklippen hängt und D… genannt wird, war die Wohnung der frommen Dichterin Hemanns, und beinahe jedes Haus erinnert sich, eine Berühmtheit beherbergt zu haben. Eines Tages wurde ich dem gekrönten Hofdichter (Poet laurent) Wordsworth vorgestellt, welcher ein poetisches Häuschen auf Bergeshöhen bewohnte. Es war ein hoher Greis mit einem durchgeisteten Angesicht, in welchem sich eine tiefe Schwermuth aussprach. Er hatte vor Kurzem seine Tochter verloren und lebte seitdem ganz zurückgezogen. Bei den häufigen und glänzenden Diners, welche auf W.-H. stattfanden, war stets der Rahm der dortigen Gesellschaft versammelt, und wahrhaft magnificent zeigte sich hier die Gastfreundschaft des Hausherrn, die mit den Delicatessen aller Länder besetzte Tafel hätte einen Monarchen befriedigen müssen. Ihren gründlichsten Kenner fand sie denn auch in Herrn R., dessen ausgebildetstes Organ der Magen war. Da Frau B., die Mutter des Eigenthümers, als Hausfrau galt, so fehlte es auch an Damen nicht, besonders aber lud sie die ausgesuchtesten Mädchen ein. Doch auch in ihrer Gegenwart brachte mir Julius Huldigungen dar, die mich in die äußerste Verlegenheit versetzten und auf die arme Erzieherin den Haß der aristokratischen Frauenwelt lenkten. – Alle meine Bemühungen, den jungen Thoren zur Besinnung zu bringen, blieben fruchtlos. Nach Tische, wenn sich die Damen in den Salon begaben, während die Herren nach englischer Sitte beim Glase weilten, mußte ich die Unterhaltung leiten, weil Mistreß R. nicht das geringste Talent dazu besaß. Mit den Herren kam neues Leben in die Gesellschaft, aber dann nahm der Hausherr wieder mein musikalisches Talent in Anspruch, was Beides wieder die Scheelsucht seiner Mutter und [243] Schwester erregte, denn meine Stimme erregte stets glänzenden Beifall und Julius’ Triumph darüber war leider zu sichtbar. Oft sangen wir auch Duette, in welcher seine wirklich schöne Stimme unter der Fülle mächtiger Gefühle leise zitterte, während sein Blick mit beängstigender Consequenz den meinigen suchte. Als bald nach unserer Ankunft in W.-H. auch Cor und die Familie G.… zum Besuche erschienen, wußte Mistreß R. die Einrichtung immer so zu treffen, daß ich mit ihren Brüdern wie mit G. nur bei Tische zusammen traf. So waren ein paar Monate verflossen, als eines Tages nach der Mahlzeit Madame mich einlud, eine Spazierfahrt mit ihr zu machen. Ich stutzte über diese ungewohnte Verbindlichkeit, aber sie empfahl mir Eile, weil der Wagen gleich vorfahren werde. – Nach einigen Minuten saß ich neben Herrn und Frau R. im Wagen, jener fuhr, und außer uns war Niemand gegenwärtig; meine Bemerkungen über die Gegend beantwortete sie einsilbig, kurz ich ersah aus allem, daß sie ein Colloquium vorhatte, weshalb ich schwieg.

Nach einer Weile fing Frau R. folgendermaßen das Gespräch an: „Wie lange sind Sie denn schon in England, Fräulein?“

Diese Frage verursachte mir eine unangenehme Ueberraschung, weil ich auf Rath der Mistreß E. wie aller meiner Freunde meinen fünfjährigen Aufenthalt im Hause der verrufenen Familie N. nie erwähnt hatte. Ich antwortete daher, daß ich anfangs ein paar ungünstige Engagements gehabt habe, weshalb ich mit Genauigkeit die Zeit nicht angeben könne. Wäre meine jetzige Gebieterin eine edeldenkende und gebildete Frau gewesen, so hätte ich offen und vertrauensvoll mit ihr über meine bisherigen Verhältnisse sprechen können; aber welche Auffassung durfte ich von dieser gemeinen Seele erwarten?

„Wer waren Ihre Eltern und in welchen Verhältnissen lebten sie?“ war die zweite Frage.

„Mein Vater war Großhändler, verarmte später und wandte sein Weniges auf die Erziehung seiner Kinder.“

„Waren Sie in Portugal?“

„Ja, und auch in Spanien.“

„Sie werden wissen, aus welchem Grunde ich Ihnen diese Fragen vorlege und deshalb entschuldigen, wenn ich Sie um die Adresse Ihrer Familie ersuche.“

[244] „Ich stehe ganz zu Ihren Diensten, Madame, aber darf ich Sie fragen, wozu?“

„Sie wissen, daß mein Bruder Julius ernste Absichten auf Sie hat, und so hat er mich beauftragt, mit Ihnen deswegen zu sprechen und Sie offen zu fragen, ob er Ihnen seine Hand anbieten darf?“

„Aber warum fragte er mich nicht selbst? das wäre ja das Einfachste und Kürzeste?“

„Wenn wir befriedigende Auskunft über Sie und Ihre ganzen Verhältnisse haben werden, dann erst wird er mit Ihnen allein darüber sprechen.“

„So werde auch ich jene Frage dann erst beantworten. Vor Allem muß ich aber darauf aufmerksam machen, daß ich älter bin als er und schon einmal verlobt war. Auch weiß ich recht gut, daß Ihr Bruder eine ganz andere Verbindung schließen kann als mit einer armen Erzieherin, und glauben Sie mir, sein Glück liegt mir mehr am Herzen als das meinige. Uebrigens bin ich zu sehr an das Unglück gewöhnt, um noch auf Glück zu hoffen.“

Als wir nach Hause kamen, war es schon spät, man brachte mir mein Abendessen wie gewöhnlich auf mein Zimmer und ich sah die Familie an jenem Abende nicht mehr. Am anderen Morgen trat Julius wie gewöhnlich in das Schulzimmer, aber aus seinem Erröthen errieth ich, daß er den Inhalt jenes Gespräches bereits kannte. Ich leugne nicht, daß die Zartheit und Innigkeit seiner Neigung ihre Wirkung auf mich nicht verfehlte, und kein weibliches Wesen hätte unter ähnlichen Umständen sich ihr entziehen können. Es würde mir jedoch nicht anstehen, die zahllosen Demonstrationen eines Liebenden zu schildern, da dies ohnehin Dinge sind, deren Ausdruck wohl dem Dichter, weniger demjenigen zusagt, welchem sie galten. Dagegen vermag ich ein Anzeichen nicht mit Stille zu übergehen, was mir die bevorstehende tragische Katastrophe unverkennbar ankündigte. Eines Nachmittages, als ich mich in meinem Zimmer ankleidete, um mit meinen Eleven auszugehen, hörte ich hinter mir in nächster Nähe einen so gellenden Glockenschlag, daß ich heftig zusammen fuhr und unwillkürlich einen Schrei ausstieß. Bei näherer Untersuchung sah ich, daß ein starkes und leeres Wasserglas auf meinem Waschtische wie mit einem Messer von seinem Boden abgeschnitten war. Obgleich mir die physikalische Ursache, warum Glas von selbst zerspringt, nicht unbekannt war, so fand ich doch die Art und Weise, [245] wie es hier geschehen, so unnatürlich, daß ich den Vorfall augenblicklich für eine wohlgemeinte Warnung meines Schutzgeistes hielt, die mich auf neues Unglück vorbereiten sollte.

„Glück und Glas
Wie bald bricht das!“

sagte ich seufzend und verließ das Zimmer.