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Autor: Heinrich Pröhle
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Titel: Genovefa (Trier und Laach)
Untertitel:
aus: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten, S. 143–170
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Tonger & Greven
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Erscheinungsort: Berlin
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans eines Exemplares der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berlin, Signatur 19 H 104 auf Commons; E-Text nach Deutsche Märchen und Sagen
Kurzbeschreibung:
Siehe auch Genoveva von Brabant
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[143]
Genovefa (Trier und Laach).

Unter die Zahl derjenigen Frauen, welche von ihren Männern unschuldigerweise sind verfolgt worden, gehört auch die tugendreiche heilige Genovefa. Ihr Leben ist so anmutig und ihre Verfolgung so unbillig, daß die Geschichte kaum ohne Mitleid gelesen werden kann.

Sie hat sich zugetragen um das Jahr Christi 750, zu den Zeiten des Trierschen Bischofes Hidulfi. Dazumal war ein vornehmer Graf namens Siegfried in dem Trierschen Lande. Derselbige verheiratete sich mit einem sehr reichen und tugendhaften Fräulein, Genovefa genannt, Tochter des Herzogs von Brabant.

Diese beiden jungen Eheleute lebten nun in einer Liebe und Freundlichkeit beisammen zu Trier, wenn der Herr sie auch nicht sogleich durch einen Leibeserben erfreut hatte.

Zu jener Zeit fiel der König der Mohren, Abderrahman, mit einer großen Macht in Spanien ein.

Nachdem er aber dieses Land verheert hatte, gedachte er auch in Frankreich einzudringen.

Als Martellus, welcher in Franken herrschte, diese große Gefahr vor Augen sah, befahl er allen Fürsten und Grafen, daß sie ihm Hülfe bringen und mit ihm gegen den Mohrenkönig streiten sollten. Mit Karl mußte [144] auch der Pfalzgraf Siegfried zu Felde ziehen, weil das Triersche Land damals zum Reiche der Franken gehörte.

Da sich nun der Graf mit den Seinigen zum Feldzuge fertig gemacht hatte, und nunmehr von seiner lieben Gemahlin Genovefa Abschied nehmen wollte, so war es gar erbärmiglich anzusehen, wie kläglich sich diese so betrübte Frau stellete und mit ihren bitteren Zähren alle Anwesenden zum Mitleid bewegte.

Als ihr der Graf vor der Abreise die Hand reichte, wurde sie von solchem Herzeleid überfallen, daß sie halbtot vor Ohnmacht zu Boden sank. Mit traurigen Worten sprach er zu ihr: „Betrübt Euch nicht zu sehr über unsern Abschied, herzliebste Gemahlin, denn ich hoffe zu Gott, er werde uns mit Freuden wieder zusammenführen. Nächst ihm befehle ich Euch der allerseligsten Jungfrau Maria, welche Euch in meiner Abwesenheit beschützen und in Eurem Leide trösten wird. Ich lasse Euch meinen getreusten Golo, welcher Euch in meinem Namen fleißig dienen und mit allem bestens versorgen wird.“

Als ihr der Graf nun abermals die Hand reichte, fiel sie von neuem in Ohnmacht. Wie höchlich ihr Herr sich hierüber betrübt habe, ist leicht zu erachten. Deswegen wendete er sich um und ritt bitterlich weinend von dannen.

Da er nun mit den Seinigen in dem königlichen Lager angekommen war und alle Fürsten und Herren sich versammelt hatten, so zog Martellus mit einer Armee von 60 000 Mann zu Fuß und 12 000 Mann zu Pferde gegen das barbarische Lager der Mohren.

Diese waren viermal stärker, und dennoch gab Gott den Franken großes Glück. Ihre Scharen schlugen so herzhaft zu, daß 365 000 Mohren auf dem Platze blieben, dahingegen der Christen nicht mehr als 1500 umkamen.

Der König der Mohren begab sich mit den Trümmern seines Heeres in die Stadt Avignon.

In ihr wehrte er sich so tapfer, daß die Belagerung durch die Christen sehr lange währte; so geschah es denn, daß die Heimkehr des Pfalzgrafen Siegfried sich um ein ganzes Jahr verzögerte.

Darüber war die Pfalzgräfin Genovefa hochbetrübt. Auf der ganzen [145] Welt fand sie keinen anderen Trost als in Gott und im Gebet. Alle ihre Untergebenen trieb sie zur Andacht an und gab ihnen ein hohes Beispiel durch ihr frommes und tugendhaftes Leben. Darum wurde sie vom Satan verfolgt, welcher sie bei aller Welt in Schanden zu bringen suchte. Und hierzu mußte ihm Golo, der Hofmeister des Grafen, als Mittel dienen.

Denn siehe, da dieser böse Mann, welcher sich gegen Siegfried immer verstellt hatte, der Genovefa auf Befehl ihres Gemahles täglich aufwarten mußte, so gab ihm der Teufel gar böse Gedanken gegen sie ein. Er wollte sie zur Untreue gegen ihren Gemahl verleiten.

Als er die brave Frau solches merken ließ, sprach sie mit zornigen Worten zu ihm:

„Schämst Du Dich denn nicht, Du leichtsinniger Diener? Ist das die Treue, welche Du dem Pfalzgrafen versprochen hast? Willst Du ihm keinen andern Dank für seine Liebe erweisen? Sei nur nicht so frech und vergiß nicht, daß Du Dich strenger Zucht und Ehrerbietung der Gemahlin Deines Herrn gegenüber zu befleißigen hast. Sonst muß ich selbst Sorge tragen, daß Dir die rechte Strafe für Dein Benehmen von Deinem Herrn zugeteilt wird.“

Da erschrak der gottlose Golo, und, ohne seine Gedanken zu beherrschen, nahm er sich doch vor, sie mehr zu verbergen.

Genovefa aber meinte, ihre Reden hätten den bösen Menschen wirklich gebessert. Nun hatte sie kürzlich für ihren Gemahl ihr Bild malen lassen. Da fragte sie den Golo, ob er meine, daß diesem schönen Stücke noch etwas mangele.

Da antwortete er: „Wiewohl diesem Bilde keine Schönheit mag beikommen, so vermeine ich dennoch, es gehe ihm eins ab: es müßte lebendig sein und mir eigentümlich zugehören.“

Genovefa erbleichte bei diesen Worten. Sie zeigte ihm ein zorniges Antlitz und erteilte ihm einen harten Verweis, so daß er beschämt davonging.

Aber mehr denn je beherrschte ihn der Wunsch, die schöne Gräfin sich geneigt zu machen. Einst spazierte diese im Garten allein nach dem Abendessen. Da machte sich der Hofmeister allgemach näher zu ihr. Der Satan hatte seine Sinne nun ganz und gar gefangen genommen, und so erdreistete [146] er sich, seiner Herrin seine Liebe in gleißenden Worten zu verraten und sie aufzufordern, ihres abwesenden Gemahles nicht mehr zu gedenken.

Da wurde Genovefa so entrüstet, daß sie einen Eid leistete, sie würde es gewiß ihrem Herrn berichten, wofern er noch ein einziges mal in solcher Weise sich ihr zu nahen suche.

Von da an verwandelte sich Golos unlautere Zuneigung zu seiner Herrin in Haß. Er hatte nur noch den einen Gedanken, wie er sich an der Gräfin rächen könnte.

Wie er nun lange Zeit auf ihr Thun und Lassen fleißig Achtung gegeben hatte, so vermerkte er endlich, daß sie dem Koche Dragones, welcher in seiner Einfalt ein sehr frommer und andächtiger Mann war, sehr wohl wollte.

Die Gräfin erzeigte sich dem gottseligen Menschen mehr als anderen bei Hofe gewogen, wie sie denn überhaupt allen frommen Leuten zugethan war.

So oft Dragones vorüberging, sprach sie ihn an. Wo sie ihm einen Gefallen thun oder in einer Widerwärtigkeit trösten konnte, da geschah es.

Aber die Hochachtung oder die ehrbare Liebe, die sie dem kindlichen Dragones so gern bewies, legte der falsche Golo in seinem Sinne aus und hoffte alsbald, deshalb bei dem Grafen eine Anklage gegen die Gräfin vorbringen zu können.

Zuerst sagte er seinen vertrautesten Freunden, daß das Verhalten der Gräfin gegen den Koch verdächtig wäre. Er meinte auch, sie sollten nur aufmerken, wie sie demselben mit Worten gar freundlich begegne, wenn er vorüberginge, so würden sie sich wohl bald klar machen können, was von dieser Vertraulichkeit zu halten sei.

So brachte denn Golo nach und nach die Gräfin bei etlichen ihrer Diener in Verdacht. Sie hatten keine Ahnung von Golos heimlichen Anschlägen gegen des Grafen Gemahlin, und sie bedachten auch nicht, daß gerade die Offenheit all ihres Thuns ihre Lauterkeit und Unschuld bekundete. Da sagte Golo eines Tages dem Koche Dragones heimlich, die Gräfin begehre seiner auf ihrem Zimmer. Als nun der arme Tropf solches glaubte und die Gräfin auch dort einige huldvolle Worte an ihn richtete, so kam [147] ihm der Hofmeister bald nach und that, als hätte er eine Entdeckung gemacht, die der Gräfin zum Vorwurf gereiche.

Er ging ohne ein Wort zu sprechen wieder hinaus. Der Koch aber, weil er vernommen hatte, daß seine Frau ihn nicht hatte rufen lassen, folgete ihm auf dem Fuße nach.

Doch Golo erhub alsbald ein Geschrei, berief seine Vertrauten und erzählte mit großem Zorn, daß er den Koch auf dem Zimmer der Gräfin mit ihr allein gefunden habe.

„Was ratet Ihr dazu, meine lieben Freunde?“ sprach Golo nun, „kommen wir dem Übel nicht zuvor, so wird noch ein größeres daraus erwachsen. Wie mögen wir aber dann bei der Rückkehr unseres lieben Herrn bestehen? Gewiß hat der Koch unserer Herrin mit einem Zauber durch die von ihm bereiteten Speisen es angethan. Nun will sie nicht von ihm lassen und wenn es ihr Ehre und Leben kosten sollte. Darum, so vermeine ich, es werde nötig sein, den Koch in ein Gefängnis zu werfen. Was dünket Euch, Ihr meine lieben Freunde, und was erteilet Ihr mir in diesen gefährlichen Angelegenheiten für einen Rat?“

Darauf antworteten sie, weil ihm der Graf die Sorge für die Gräfin aufgetragen habe, so möge er immerhin thun, was ihm selber am ratsamsten erscheine.

Da ließ der Hofmeister den Koch vor sich berufen, fuhr ihn mit rauhen Worten an und warf ihm vor, daß er der Gräfin verzauberte Pulver in die Speisen gethan und sie mit Gewalt sich wohlgeneigt gemacht habe. Darum sei er wert, daß er in Eisen geschmiedet und in den tiefsten Turm geworfen würde.

Darüber war der arme Dragones von Herzen erschrocken und beteuerte bei Himmel und Erde seine und der edlen Gräfin Unschuld.

Der arme Mensch mochte aber sagen, was er wollte, so ward er doch in eiserne Bande geschmiedet und in ein Gefängniß geworfen, in welchem er sein Leben im höchsten Elend verzehren mußte, auch nicht eher wieder herausgekommen ist, bis man ihn tot herausgetragen hat.

Aber mit solcher Tyrannei war der gottlose Golo noch nicht einmal zufrieden, denn er stürmte mit etlichen seiner Gesellen in das Zimmer der Gräfin, sagte, daß er lange genug zugesehen habe, was für verdächtige [148] Gemeinschaft sie mit dem Koch gehalten, daß er aber solches Übel nicht länger dulden könne, woferne er bei seinem Grafen und Herrn bestehen wolle.

Darum solle sie in ein Gefängnis geworfen und nicht eher als auf Befehl ihres Herrn wieder herausgelassen werden.

Nun hoffte aber Genovefa zum ersten Male ein Kindlein zu bekommen, und während sie bisher voller Freude ihres Gemahles Heimkehr entgegengesehen hatte, so wurde sie nun ohne das geringste Vergehen, ja, um ihrer Tugendhaftigkeit willen, von ihrem eigenen Diener gefangen geführt und in den Turm eingeriegelt.

Wie schmerzlich sie da dem lieben Gott ihre Unschuld geklagt hat, das haben die heiligen Engel wohl in Obacht genommen.

In dem Turme aber ging niemand aus und ein als die Amme des Hofmeisters. Dieses alte Weib mußte der Gräfin in ihrer Gefangenschaft tagtäglich eine ganz geringe Nahrung bringen.

Außer ihr besuchte sie noch zum öfteren der Hofmeister, immer noch hoffend, ihr reines Herz zu bethören.

Es half ihm jedoch alles nichts. Die edle Gräfin wollte tausendmal lieber sterben, als von Tugend und Treue lassen.

Endlich mußte auf Anstiften Golo’s das schlechte Weib, seine Amme, versuchen, ob sie durch Versprechung besserer Behandlung und Pflege die Gräfin nicht anderen Sinnes machen könne. Allein Genovefa wollte lieber im Kerker verhungern, als Gott erzürnen.

So lebte die treue Gemahlin des Grafen eine Zeit lang. Da kam der Tag, da Gott ihr ein Knäblein schenkte. Die Alte gab ihr nicht einmal eine Windel, um ihr Neugeborenes dareinzuwickeln.

Sie wickelte es deshalb in eine Serviette. Vergebens bat sie, daß das arme Kindlein zur heiligen Taufe getragen würde. Endlich taufte sie es selbst und nannte es mit Namen Schmerzenreich.

Dabei sprach sie: „Billigerweise nenne ich Dich, meinen lieben Sohn, Schmerzenreich, weil Du unter so vielen Schmerzen das Licht der Welt erblickt hast. Mit noch viel größeren Schmerzen werde ich Dich erziehen, mit den allergrößten Schmerzen aber werde ich Dich vielleicht verschmachten sehen, denn wie werde ich Dich als einen Säugling erhalten können, da [149] ich selber kaum habe, davon ich mein Leben fristen mag? Ach armer Schmerzenreich, ach armes unglückliches Kind!“

Golo erhielt nun durch die Alte die Zeitung, daß nunmehro in dem Kerker zwei Gefangene lägen. Wohl wurde er für sie um eine Labe gebeten, damit die edle Frau sich selbst und den neugeborenen Grafen erhalten könne. Allein der heillose Verbrecher hatte kein Erbarmen. Er wollte nur verhindern, daß sie vor Mattigkeit stürbe. Darum befahl er ihr etwas mehr Brot zu geben als vorher, aber außerdem nichts als Wasser, wozu er sie dann noch täglich mit seinen Scheltworten und Schmähreden speisete.

Bis zu dieser Zeit hatte aus Furcht vor dem Hofmeister noch niemand über alle diese Vorfälle dem Grafen etwas berichtet. Nun war die Heimkehr des Grafen aber auch noch dadurch verzögert worden, daß er bei Avignon einen Pfeilschuß erhalten hatte, welcher nur langsam heilte. So schickte denn Golo, da schon das Kind nicht weniger als zwei Monate alt war, einen Boten, welcher dem Grafen die nötigsten Nachrichten brachte.

„Gnädigster Herr,“ schrieb Golo, „Euer Gnaden belieben von dem Boten, welchen ich sende, sich mündlich berichten zu lassen, was hier geschah und in seine Erzählungen keinen Zweifel zu setzen. Mir aber, als Eurem getreusten Diener, wollen Euer Gnaden kund thun, wie ich mich in der schweren Sache, über welche nun der mündliche Bericht von dem treuen Boten erfolgen wird, zu verhalten habe.“

Durch solchen Brief geriet Graf Siegfried alsobald in die größte Aufregung, zumal da auch seine Wunde, welche er in Languedoc heilen lassen wollte, immer noch nicht vernarbt war. Als nun gar der von Golo bestochene Bote die schändlichsten Lügen von der Gräfin und dem armen unschuldigen Koch Dragones vorbrachte, auch dabei erzählte, des Grafen treulose Gemahlin habe einen Sohn bekommen, der nun gerade einen Monat alt sei, da kannte des armen Grafen Zorn keine Grenzen mehr.

Alsobald fing er an zu wüten und lästerte den Koch sammt der Gräfin. „Du verfluchtes Weib,“ sagte er, „darfst Du die angelobte Treue so schändlich zerbrechen? O Du meineidige Frau, wie hast Du Dich so schändlich bei mir angestellt, als wenn Du gar ehrbar und heilig wärest!“

Nun besann sich der Graf hin und her, wie er die Untreue seiner Gemahlin am besten bestrafen könne. Endlich schickte er den betrüglichen [150] Diener dem teuflischen Golo mit dem Befehle zurück, die Gräfin solle so eng eingeschlossen werden, daß niemand mit ihr reden noch zu ihr gelangen könne. Den schalkhaften Koch aber solle Golo mit solchen Martern hinrichten lassen, wie er wüßte, daß seine Missethat verschuldet hätte.

Mit solchem ungerechten Urteile kehrte der Diener eilends zurück. Bei dem bösen Hofmeister verdiente er großen Dank, denn vortrefflich hatte er seinen Auftrag ausgerichtet. Indessen vertraute Golo seiner bösen Sache so wenig, daß er den armen unschuldigen Koch nicht einmal öffentlich hinrichten lassen wollte. Vielmehr ließ er ihm bloß Gift in seine Speisen mengen, und ihn, da er gestorben war, mitsammt den Ketten und Banden, darinnen er gefangen war, in einen Sumpf werfen und etwas Erde darüber schütten. Die unglückliche Gräfin konnte nicht mehr enger gefangen gesetzt werden, als sie schon vorher eingeschlossen war.

Aber das ärgerte nun eben den schändlichen Golo. Dabei mußte er jedoch fürchten, daß seine böse Falschheit und List noch einmal möchte an den Tag kommen. Freilich hatte der bestochene Diener dem Grafen gesagt, daß alle Hofleute von der Untreue der Gräfin überzeugt wären. Aber dem war schlechterdings nicht also. Da nun gar der fromme Koch vergiftet und die edle Gräfin ihres schweren Gefängnisses nicht erledigt war, so waren ihrer viele bei Hofe, welchen solche Unbill mißfiel und die laute Klagen dagegen führten. Golo fürchtete, daß alle diese schwachen Menschen endlich ihre laute Stimme erheben würden, um die tugendhafte Genovefa aus dem Kerker zu erretten, sobald der Graf Siegfried zurückgekehrt wäre.

In dieser seiner Angst wurde nun dem Hofmeister Golo auch noch berichtet, daß der Graf von Karl Martel einen gnädigen Abschied erhalten habe und schon nach Trier unterwegs wäre. Da brach dem Golo der kalte Schweiß aus und mußte sich kurz besinnen, wie er sich in dieser gefährlichen Sache verhalten sollte.

Er setzte sich also selber eilends auf ein Pferd, jagte seinem Herrn entgegen und gelangte nicht eher zu ihm, als bis der Pfalzgraf schon zu Straßburg eingeritten war. In selbiger Stadt aber wohnete eine alte Hexe, die gab sich mit dem Scheine der Heiligkeit für eine gar gottselige Matrone aus. Dem losen Golo war sie schon seit vielen Jahren bekannt, [151] denn sie war die Schwester von Golos böser Amme. Zu ihr ging der Bösewicht zuerst, erzählte ihr alles und sagte, gegen Abend werde er mit dem Grafen wiederkehren. Dann solle sie ihm ein Gespenst vorspiegeln, damit er glaube, was ihm von Golo fälschlich berichtet worden sei.

Hierauf gab er ihr ein gutes Stück Geld und verfügete sich alsbald dahin, seinen gnädigen Herrn Grafen zu bewillkommnen. Kaum aber hatte er denselben begrüßet, so nahm ihn der Graf bei Seite und verlangte von ihm völligen Bericht alles dessen, was sich in seinem Hause zugetragen habe. Da brach der Bösewicht aus Angst vor Strafe, die er selbst verdienet hatte, in Zähren aus und seine Thränen mußten seinen Lügen einen Schein von Wahrheit geben. Ja, sein Zittern um sein Leben, daß nur von Furcht vor dem wohlverdienten Tode und Gericht herrührte, konnte der Graf nicht anders deuten, als ob der treue Haushalter ganz zerknirscht wäre, weil er gezwungen würde, so unerhörte Dinge von seiner gnädigen Frau zu berichten. Er sagte auch, daß er den Koch Dragones um der Gräfin willen nicht habe vor Gericht gestellet, sondern nur heimlich hinrichten lassen.

Indessen forschte doch der Graf immer peinlicher nach allen Umständen und Beweistümern und Golo mußte endlich befürchten, daß er sich mit seinen eigenen Worten widersprechen und eine Schlinge bereiten werde. Darum sagte er, es sei zu Straßburg eine gar heilige und in aller Offenbarung verborgener Dinge hochberühmte Matrone. Solche wolle der Graf umständlich befragen, so werde er einen völligen Bericht über den völligen Verlauf der Sache empfangen.

Da ging der Graf bei anbrechender Nacht mit Golo zu dieser Hexe und gestand ihr, daß er seine eigene Ehehälfte in einem schlimmen Verdacht habe, worüber er von ihr als einer weisen Frau Auskunft verlange.

Nun führete sie die Zauberin in einen düsteren Keller, darinnen ein grünes Licht brannte, so einen blauen Schein von sich gab. Mit einem Stecken machte sie zween Kreise auf den Boden und stellete in den einen, den Grafen, in den anderen den Golo. Darnach aber warf sie einen Spiegel in ein Geschirr voll Wasser, drehte sich zu dreien malen vor dem Geschirr herum, hauchete dreimal hinein, rührete es mit ihren Händen um und machte wunderliche Zeichen darüber.

[152] Da mußte der Graf in den Spiegel sehen und schaute Genovefa, wie sie gar unschuldig neben dem Koch Dragones stand.

„Ist nichts Unrechtes,“ sagte der Pfalzgraf.

„So wollen wir sehen, ob es vielleicht Gott gefällt, ein Mehreres zu zeigen,“ sprach die Heuchlerin.

Sie wiederholete nun zu mehreren malen ihre schändlichen Zauberkünste und machte dem edlen Pfalzgrafen endlich ein solches Blendwerk vor, daß er vor Wut schäumte und befahl, Golo solle nach Trier voraus reiten und ehe sein Herr dort seinen Einzug halten würde, Genovefa sammt ihrem Kinde hinrichten lassen.

Da jagte der böse Hofmeister nach Trier, wagte aber wiederum nicht, die Pfalzgräfin öffentlich hinrichten zu lassen. Als er sich mit seiner schändlichen Amme beriet, wie er die edle Genovefa mit ihrem Knäblein vom Leben zum Tode bringen wollte, hörte ihn das kleine Töchterlein dieses bösen Weibes, welches der armen Genovefa mehr ergeben war als der eigenen gottlosen Mutter.

Dieses kleine unschuldige Mägdlein verfügete sich sogleich zu Genovefas Kerker, stellte sich vor das Fenster, dadurch man das Brot und das Wasser hineinreichte und weinete so bitterlich, daß die Gräfin davon erschreckt wurde. Sie fragte das Mädchen, warum es so weine. Da erzählte das Kind alles. Die Gräfin aber wehklagte, und als sie wieder etwas ruhiger geworden war, so ließ sie sich von dem Mägdlein aus ihrem Zimmer etwas Feder, Dinte und Papier bringen. Da schrieb sie einen Brief an ihren Gemahl, berichtete ihm Alles und ließ ihn von dem Kinde wieder heimlich auf ihr Zimmer tragen, wofür sie sich von ihren Kleinodien nehmen sollte, so viel als sie nur möchte.

Die ganze folgende Nacht brachte Genovefa im eifrigen Gebete zu und befahl Gott ihr Leben und ihr Sterben. Des Morgens früh berief Golo zween seiner getreusten Diener, eröffnete ihnen den ernstlichen Befehl seines Herrn und befahl ihnen die Gräfin sammt dem Kindlein in einen Wald hinauszuführen und zu töten und zum Zeichen des vollbrachten Befehles ihre ausgestochenen Augen und Zunge mitzubringen.

Die Diener nahmen den Befehl billiglich an, gingen alsbald zu der Gräfin in das Gefängnis, legten ihr ein schlechtes Kleid an, bedeckten ihr [153] Angesicht, damit man sie nicht erkennen konnte und befahlen ihr mit aller Stille ohne einiges Geräusch hinauszugehen.

Da ging nun die arme Gräfin wie ein unschuldiges Schäflein zur Schlachtbank und that den Mund nicht auf. Das arme unschuldige Lämmlein trug sie auf ihren Armen, drückte dasselbe ohne Unterlaß an ihr Herz und hatte mehr Mitleiden mit demselben als mit ihrem eigenen Tode.

Im Walde angekommen, ergriffen die Diener zuerst das unschuldige Kind, zogen die Messer heraus, und wollten ihm die Gurgel abstechen. Da schrie Genovefa mit beweglicher Stimme: „Haltet ein, o haltet ein, Ihr lieben Leute, und wenn Ihr ja das arme Kind wollt töten, so bringt doch mich zuvor um, damit ich nicht gezwungen werde, doppelt zu sterben.“ Da wollten die Diener sie zuerst töten. Nun rief Genovefa: „O Ihr lieben Leute, ich bin zwar bereit zu sterben, aber wenn Ihr mich umbringet, so wird mein unschuldiges Blut über Euch Rache schreien.“

Die Herzen der Diener wurden durch diese Worte so tief ergriffen, daß ihnen unmöglich war, der Gräfin ein Leid anzuthun. Sie sprachen daher: „Gnädige Frau, wir wollten Euch gern das Leben schenken, wofern uns nicht von dem Hofmeister befohlen wäre, bei Todesstrafe Euch hinzurichten. Dennoch aber, wofern Ihr uns versprechen wollet, nimmer an Tag zu kommen, sondern Euch in dieser oder in einer anderen Wildnis aufzuhalten und unser in Eurem Gebete eingedenk zu sein, so wollten wir Euch und das Knäblein am Leben lassen.“

Dann stachen sie einem Windspiel, das mit ihnen gelaufen war, die Augen und Zunge aus und brachten dieselben ihrem Herrn Golo zum Beweise ihrer Mordthat. Golo aber begehrte dieselben nicht anzusehen, sondern befahl, sie den Hunden vorzuwerfen.

Genovefa hatte schwören müssen, in der Einöde zu bleiben. Sie brachte die erste Nacht in großer Angst ohne einigen Schlaf zu. Sie hatte den ganzen vorigen Tag weder gegessen noch getrunken und den anderen Tag war der Hunger bei ihr so groß, daß sie genötigt wurde, rohe Wurzeln auszurupfen und zu essen.

Den dritten Tag ging sie noch weiter in die Wildnis hinein und suchte so lange, bis sie eine steinerne Höhle und nächst dabei ein kleines Wasser fand. Dies nahm sie als einen ihr von Gott bescherten Ort an [154] und wollte ihr übriges Leben in dieser Höhle zubringen. Sie machte sich ein Bett von Laub und Ästen der Bäume. Sonst hatte sie nichts mehr außer den Wurzeln, was zu ihrer Lebensnahrung vonnöten war. Weil sie aber ein so kümmerliches Leben führen mußte, vermochte sie bald ihr liebes Kindlein nicht mehr zu säugen.

Dieses unerträgliche Leid konnte sie nicht länger mehr ansehen. Sie legte das sterbende Lämmlein unter einen Baum. Allda knieete sie nieder mit erhobenen Händen und betete, daß Gott ihr Kindlein erhalten möchte.

Sogleich kam eine Hirschkuh zu ihr, welche sich als ein zahmes Vieh anstellte und freundlich um sie her strich, als wollte sie gleichsam sagen, Gott habe sie dahergesendet, daß sie das Kindlein ernähren solle. Die betrübte Mutter erkannte sogleich die Fürsehung Gottes und ließ das Kind so lange an der Hirschkuh saugen, bis es wieder Kraft bekam. Durch diese himmlische Wohlthat wurde die liebe Genovefa so sehr erfreut, daß sie mit vielen süßen Zähren Gott danksagte und um Fortsetzung dieser Güte demütig anhielt.

Ihr Gebet wurde erhöret und die Hirschkuh kam täglich, so lange sie in der Einöde waren, zweimal das Kind zu säugen. Dies war nun die einzige Nahrung, welche das unschuldige Kind sieben Jahre lang empfing, da währenddem seine gute Mutter nur von Wurzeln und Kräutern lebte. Ihre Kammerjungfrauen hatte sie vertauscht mit den unvernünftigen Tieren, ihr sanftes Ruhebette mit hartem Laub und Reisern.

Im Sommer war zwar ihr Elend einigermaßen erträglich; wenn sie aber im Winter trinken wollte, mußte sie das gefrorene Eis im Munde behalten, bis es schmolz; wenn sie Wurzeln haben wollte, mußte sie den Schnee fortschaffen und gar mühselig mit einem Stücke Holz in die Erde graben; wenn sie sich erwärmen wollte, so mußte sie ihre eiskalten Hände so lange zusammenschlagen, bis sie in etwas erwärmt wurden. Ach Gott, wie müssen dieser verlassenen Gräfin die Winternächte so lang worden sein! Wer will aber leugnen, daß, wenn die Mutter so untröstlich weinete, das arme Kind nicht auch mit ihr getrauert habe? Sie brachte die meiste Zeit im Gebet zu und übte sich je länger je mehr in der Andacht göttlicher Liebe.

Einstens, als sie bei ihrer Höhe knieend ihre Augen starr gen Himmel gerichtet hatte, sah sie einen Engel von der Höhe zu ihr herabfliegen, welcher [155] ein gar schönes Kreuz in den Händen trug, daran der gekreuzigte Christus aus schneeweißem Elfenbein so künstlich gebildet war, daß man leichtlich erachten konnte, solche Arbeit wäre von Engelshänden gemacht worden. Denn die Gestalt Christi war so beweglich ausgearbeitet, daß sie niemand ohne herzliches Mitleiden anschauen konnte. Dieses himmlische Kreuz reichte ihr der Engel und sprach mit freundlichen Worten zu ihr: „Nehme hin, Genovefa, dies heilige Kreuz, welches Dir Dein Erlöser zu Deinem Troste herabsendet.“

Nachdem der Engel verschwunden war, stellte das Kreuz sich auf einen Altar in ihrer Höhle, welchen die Natur selbst hervorgebracht hatte. Sie fiel oft vor diesem Kreuze demütig nieder. Im Anschaun des Leidens Jesu Christi fand sie ihren Trost. Im Sommer zierte sie das Kreuz mit grünem Laube und feinen Waldblumen, im Winter mit Tannen, Walddisteln und Wachholderstauden.

Es war aber erbärmlich anzusehen, daß das arme Kind meist nackend und barfüßig ging, darum schickte unser lieber Gott einen Wolf dahin, welcher eine Schafshaut im Maule trug und dieselbige vor dem lieben Kinde fallen ließ. Die Mutter nahm das Geschenk dankbar an und wickelte den kleinen Schmerzensreich hinein, so gut als sie konnte.

Es fingen auch die wilden Tiere von der Zeit an, mit ihnen ganz vertraut zu werden, daher sie täglich zu ihnen kamen und dem lieben Kinde manche Kurzweil machten. Es ritt vielmal auf dem Wolfe, der ihm das Schaffell gebracht hatte, und spielete öftermal mit den Hasen und anderen Tieren, so allda herumliefen. Die Vögel flogen ihm auf Haupt und Hände und erfreuten Mutter und Kind mit ihrem lieblichen Gesange. Wenn der Knabe ausging, für die Mutter Kräuter zu suchen, so liefen unterschiedliche Tiere mit ihm und zeigten ihm mit ihren Füßen, welches gute Kräuter waren.

Einstens sagte der liebe Schmerzenreich zu Genovefa: „Mutter, Ihr befehlet mir so oft, ich sollte sagen: Vater unser, der Du bist in dem Himmel. Saget mir doch, wer ist denn mein Vater?“

„Liebes Kind,“ sprach die Mutter, „Dein Vater ist Gott droben, da Sonne und Mond scheinet.“

Das Kind sprach: „Kennet mich auch mein Vater?“

[156] „Freilich,“ antwortete die Mutter, „kennet er Dich und hat Dich auch herzlich lieb.“

„Wie kommt es,“ sagte das Kind, „daß er mir nichts Gutes thut und mich also in der Not lässet?“

„Mein lieber Sohn,“ sagte sie, „wir sind hier im Jammerthale und müssen leiden; wenn wir aber in den Himmel kommen, alsdann werden wir alle Freuden haben.“

Der Sohn fragte weiter: „Liebe Mutter, hat mein Vater noch mehr Söhne neben mir? Wo sind sie denn? Ich meinete, wir wären allein in der Welt.“

Sie sagte: „Ob Du schon niemals aus diesem Walde kommen bist, so solltest Du doch wissen, daß außerhalb dessen viel Städte und Länder sein, darinnen allerhand Leute wohnen, deren etliche Gutes thun. Die anderen aber, die Böses thun, kommen in die Hölle, darinnen sie ewig braten werden.“

Der Knabe sprach endlich: „Mutter, warum gehen wir nicht zu den anderen Leuten? Was thun wir in diesem Wald allein?“

Genovefa antwortete: „Wir sind hier, damit wir unserem himmlischen Vater desto besser dienen und desto höher im Himmel kommen mögen.“

Damit sie keine Weltlust in ihm erweckte, sagte sie ihm nicht, von welchem mächtigen Geschlecht er geboren wäre. Erst als sie einmal erkrankte und zu sterben vermeinete, worauf dann Schmerzenreich mit Zittern und Zagen sie bat, daß sie ihn nicht allein in dem Walde zurücklassen möchte, sagte sie ihm, daß zwei Meilen von ihrer Höhle hinter diesem Walde auf der Pfalzgrafenburg bei Trier auch sein irdischer Herr Vater wohne, der ihn mit Lust für seinen Sohn erkennen werde, da er ihm sehr ähnlich sähe.

Darnach glaubte sie augenblicklich zu sterben. Nun aber kamen zwei glänzende Engel in die Höhle, deren einer sie mit der Hand berührend sprach: „Du sollst leben, Genovefa, und jetzt noch nicht sterben; denn also ist der Wille des allerhöchsten Gottes.“ Auf welche Worte sie gleich verschwanden und die Gräfin ganz gesund hinterließen.

Nun lebte aber Graf Siegfried schon lange wieder am Hofe zu Trier. Als er von Straßburg dahin zurückgekommen war, hatte er die Vorsicht [157] seines Hofmeisters gelobt, der, wie er vermeinte, Mutter und Kind in der Stille hatte hinrichten lassen. Aber kurze Zeit darauf fing dem Grafen das Gewissen an zu schlagen. Einst sah er im Schlaf, wie ihm ein Drache seine geliebte Gemahlin vor seinen Augen hinweg riß. Aber dieser Traum, welcher auf Golo ging, wurde von diesem arglistigen Manne am andern Morgen selbst so ausgelegt: „Der Drache bedeutet den Koch Dragones, der Euch, gnädigster Herr Pfalzgraf, das Herz der Gräfin entrissen hat.“

Eines Tages kam der Graf in das Zimmer seiner Gemahlin und fand unter anderen Schriften denjenigen Brief, den sie in dem Kerker, ehe sie sollte ausgeführet werden, geschrieben hatte. Als er den Brief gelesen hatte, wurde der Graf gegen Golo so erzürnt, daß er ihn auf der Stelle durchstochen hätte, wenn derselbe gegenwärtig gewesen wäre. Aber der arglistige Golo erfuhr es von anderen Hofbedienten, machte sich einige Tage aus dem Staube und kam nicht eher wieder, als bis er vernahm, daß der erste Zorn des Grafen verraucht wäre. Alsdann sagte er zu seinem Herrn: „Genovefa bezeugt in dem Briefe, sie sei unschuldig. Ei wohl, eine schöne Verantwortung! Wenn das Leugnen genug ist, so sind alle Diebe die unschuldigsten Leute auf der Welt!“

Mit dergleichen Worten besänftigte er den Grafen und brachte sich selbst wieder zu den vorigen Gnaden. Damit der Graf seine traurigen Gedanken möchte in den Wind schlagen, suchte der Golo auf, was er wußte, das den Grafen belustigen konnte. Allerhand Kurzweil richtete er an, als gegenseitiger Besuch der Freunde, Tanzen, Gastereien und Rennen.

Endlich stellte er dem Grafen vor, daß so lange kein großes Jagen in seinen Wäldern abgehalten sei. Der Graf hatte dem Golo immer wieder seine Verleumdung geglaubt, die er gegen die unschuldige Genovefa ausgesprochen hatte, denn wenn er Zweifel in Golos Worte setzte, so mußte er sich selbst große Schuld beimessen an dem vermeinten Tode der Genovefa und ihres Sohnes. Darum fand er noch immer einen Trost darin, wenn er dem verhaßten Golo glaubte und verschmähte es auch nicht, mit diesem Bösewichte den rauschenden Vergnügungen nachzugehen, welche auf seinen Schlössern an der Mosel und dem Rheine niemals heimisch gewesen waren, so lange als Genovefa bei ihm war. So willigte er denn auch ein, daß dieses große Jagen in dem Walde veranstaltet wurde.

[158] Er trennte sich jedoch während desselben gänzlich von Golo, und da dieser bemerkte, wie wenig sein Gebieter sich wieder zu ihm hingezogen fühlte, verfolgete er mit sonderlichem Eifer eine weiße Hirschkuh. Dies war aber dasselbe fromme Tier, welches den armen Schmerzenreich von Anfang an in dem Walde ernähret hatte. Unablässig jagte Golo hinter der Hirschkuh her, bis dieselbe in die Nähe von Genovefas Höhle gelangte, wo sie dann zur Seite abbog und zwischen den Felsen verschwand. Golo und seine Hunde aber waren wie verblendet, indem sie an dieser Höhle vorbei wieder ins Dickicht hineinstoben, ohne den Seitensprung des frommen Tieres zu bemerken oder zu wittern.

Genovefa erschrak sehr, als sie, vor dem Crucifix knieend, das fromme Tier ganz plötzlich so atemlos in der Höhle erblickte. Sie stellte sich an den Eingang der Höhle, und wie klein diese Felsenspalte auch war, so war sie doch groß genug, daß sie das Gesicht des fürchterlichen Golo erkennen konnte, der eben auf das Dickicht an der entgegengesetzten Seite zustürmte.

So schwer es nun auch Genovefa ankam, sich von dem Cruzifix, welches in dieser Höhle befestigt war, zu trennen, so hielt sie doch nach dem schauderhaften Anblick des Hofmeisters Golo und nach der ganzen geräuschvollen Jagd in diesem Walde ihre, sowie ihres Sohnes und der Hirschkuh Sicherheit gefährdet. Sie beschloß also mit Schmerzenreich diese Gegend zu verlassen und eine weiter von Trier entfernte Wildnis aufzusuchen.

Am andern Morgen brachen sie auf. Die liebe Hirschkuh begleitete sie. Aber auch der zahme Wolf ging mit ihnen, mit welchem Schmerzenreich noch immer gern spielte und auf welchem er zu reiten gepflegt hatte, als er noch kleiner gewesen war. Auch die lieben Rotkehlchen und Amseln, welche ihnen bei der Höhle immer so schön gesungen hatten, blieben nicht daheim, sondern flatterten vor ihnen her, als ob sie alle mit einer Karawane in fremdes Land auszögen. Nicht minder wollten auch die Hasen und Kaninchen keineswegs zurückbleiben und wiesen auch auf der Reise dem Schmerzenreichen mit ihren Beinchen die zartesten Wurzeln und Kräuter, welche er dann für seine Mutter als Speise ausgrub.

So zogen sie freilich gar langsam dahin, und wenn der Abend hereinbrach, so ruhten Genovefa und Schmerzenreich neben der Hirschkuh und [159] den anderen vierfüßigen Tieren unter einem Baum. Die Vöglein aber setzten sich über ihnen in die Zweige und weckten am andern Morgen die Reisegesellschaft, indem sie zuerst ihr Morgenlied anstimmten.

So wanderte Genovefa sogar über die Gebirge fort. Sie kam in die Gegend von Laach und Mainfeld, wo Siegfried ererbte Schlösser und Güter besaß. Bei der jetzt sogenannten Genovefaquelle wurde sie von einem furchtbaren Unwetter überrascht. Da erblickte sie gleich daneben einen hohlen Baum. Sie flüchtete mit Schmerzenreich in denselben. Der Baum war aber so groß, daß sie sich darin wohnlich einrichtete wie einst in der Höhle. Indessen hatte Gott beschlossen, daß sie hier nach zwei Jahren vom Pfalzgrafen Siegfried aufgefunden werden sollte.

Nach jener großen Jagd bei der Steinhöhle der Genovefa hatte sich auf dem nur zwei Meilen entfernten Pfalzgrafenschlosse bei Trier folgende schreckliche Geschichte ereignet. Der Graf lag während der Nacht in seinem Schlafzimmer. Da hörte er um Mitternacht ein Gespenst mit starkem Schlage die Thür öffnen, gleich als ob es mit den Füßen schlurfend in sein Zimmer hineinging. Wiewohl nun der Graf nichts sah, so kam ihn gleichwohl eine solche Angst an, daß er nach seinen Dienern rief, welche ihm eilends zu Hülfe kamen und den Geist durch ihre Gegenwart vertrieben. Nachdem aber die Diener hinweg waren und der Graf noch voller Angst im Bette lag, kam der Geist zum andernmale, schlug die Zimmerthür auf, ging in dem Zimmer auf und ab und schleifte an Händen und Füßen eine lange Kette. Dem armen Grafen war so bange, daß ihm der kalte Schweiß ausbrach. Für Ängsten wußte er nicht, was er thun oder lassen sollte.

Da winkte ihm der Geist, und als der Graf nicht sogleich kam, drohte er ihm mit einem Finger. Also mußte der arme Graf voller Ängsten aus dem Bette steigen und mit unglaublichem Schrecken zu dem Geiste kommen.

Der Geist ging voran, winkte, er solle ihm nachfolgen und führte den Grafen an einen abgelegenen sumpfigen Ort. Allda deutete er mit dem Finger auf die Erde und verschwand ohne ein Wort zu sagen.

Der Graf rief nun abermals seine Diener, welche ihn nur mit Mühe wieder aus dem Sumpfe herauszogen. Am andern Morgen ließ er sie hier graben und aufräumen, da fanden sie einen toten Körper, der an Händen und Füßen lange Ketten hatte.

[160] Sie erkannten, daß dies der Koch Dragones war, welchen der Hofmeister Golo vergiftet hatte. Der Graf ließ die Gebeine hinwegnehmen, auf dem geweihten Kirchhofe begraben und für die arme Seele Messen lesen. Der Spuk des Kochs aber vermehrte die Gewissensangst des Grafen, denn es war ein klares Zeichen von der Unschuld des treuen Dieners. Der klarste Beweis von Golos Betruge aber war folgender:

Diejenige Zauberin, welche den Grafen zu Straßburg durch ihr Teufelsblendwerk betrogen hatte, wurde nach einer Reihe von Jahren eingezogen und gerichtlicher Weise als Hexe zum Feuer verdammt. Nachdem sie nun herausgeführt und bereits in ihre Hexenhütte war gestellt worden, bat sie die Richter, sie wollten ihr vergünstigen, vor ihrem Ende nur noch ein einziges Wörtlein zu reden.

Nachdem sie die Erlaubnis dazu erhalten hatte, sprach sie also: „Obschon ich all mein Lebtag sehr viele schwere Sünden begangen habe, dennoch schmerzet mich keine so sehr, als daß ich einstmals den Grafen Siegfried schändlich betrog und seine Gemahlin Genovefa bei ihm verleumdete, welche deswegen mit dem frommen Koch Dragones unschuldigerweise ist hingerichtet worden und mit ihrem Kinde hat sterben müssen. Ich widerrufe meine Worte und bekenne, daß die Gräfin sammt dem Koch unschuldig sind. Ich bitte auch, man wolle dem Grafen berichten und ihn wissen lassen, daß ich auf Anstiftung des Golo gehandelt habe.“

Nachdem nun dieses dem Grafen in aller Eile berichtet worden war, stellete er sich nicht anders an, als wenn er vor Leid verzweifeln wollte. Jetzt erkannte er nun ganz klar, wie ihn der verruchte Golo umgarnt und seine arme Gemahlin sammt seinem einzigen Kinde unschuldig in den Tod gejagt hatte. Die Erinnerung daran that ihm so wehe, daß er vor großem Herzeleid fast wäre von Sinnen gekommen.

Golo war jedoch, als die Nachricht aus Straßburg bei Hofe einlief und schon als das Gespenst des Koches den Grafen erschreckt hatte, bei Hofe nicht anwesend. Durch seine Helfershelfer erfuhr er aber, welche Nachrichten der Graf empfangen habe und wie dieser nun gegen ihn gesonnen sei. Darum hielt er sich zwei Jahre von Hofe entfernt, und der Graf wußte nicht, wie er diesen listigen Fuchs fangen sollte.

Nun stand der Graf damals seiner edlen Gemahlin an Frömmigkeit [161] und Wahrhaftigkeit durchaus noch nicht gleich. Darum scheute er auch keine List, um den Golo wieder in seine Gewalt zu bringen. Nach mehr als einem Jahre schrieb der Graf dem Golo zum Schein einen sehr freundlichen Brief, in welchem er sich gleichsam verwundert anstellte, warum jener ihn verlassen habe, da der Graf ihm doch alle Zeit große Liebe und Ehre erwiesen hätte.

Golo entschuldigte seine Abwesenheit mit unvermeidlichen Geschäften, die er gehabt hätte. Der Graf schrieb ihm zu unterschiedlichen Malen ganz freundlich, verbarg all seinen Widerwillen und gab ihm zu erkennen, wie sehr er nach seiner freundlichen Konversation verlangte.

Dies Briefschreiben und Antworten währte eine geraume Zeit, wodurch der Golo vermeinte, der Graf wäre ihm wieder in Gnaden gewogen. Endlich hörte der böse Mann auch, daß die Freunde des Grafen damit umgingen, ihm eine junge schöne Gemahlin antrauen zu lassen. Da zweifelte der böse Haushofmeister nicht länger, daß sein Herr nun der Genovefa und ihres Söhnleins vergessen habe.

Zu dieser Zeit hielt sich aber der Graf nicht auf der Pfalzgrafenburg bei Trier, sondern auf seinen Schlössern und Gütern bei Laach auf. Die Nachricht, welche Golo erhalten hatte, daß Siegfried sich wieder vermählen wolle, war falsch. Indessen stellte er doch auf einem seiner Schlösser am Rheine ein großes Fest an, wozu er alle Freunde, auch den Golo, einlud, der ihn sogar schon vorher wieder auf die Jagd begleiten sollte.

Der sonst so listige Fuchs war diesmal nicht gescheit genug gewesen, sondern freiwillig in das zubereitete Netz gelaufen. Der Graf hieß ihn freundlich willkommen sein und freute sich gar höchlich seiner Ankunft. Sie führten einige Tage gar freundliche Konversation und erwarteten sämmtliche Gäste.

Damit nun die vielen ankommenden Gäste desto besser traktieret würden, wollte der Graf mit einem ganz vorzüglichen Wildbret die Tafel zieren, ritt derselbe am heiligen Dreikönigstage zum angesagten Jagen hinaus, nahm, wie schon gesagt, neben vielen andern auch den Golo mit sich. Sie rannten in der Wildnis hin und her und befleißigten sich ein jeder, ein Stück Wild aufzutreiben.

[162] Der Graf ersiehet ungefähr eine treffliche Hirschkuh, setzet derselben durch Hecken und Gesträuch nach und verfolget das Wild so lange, bis es endlich zu dem hohlen Baume und der ihr bekannten Genovefa seine Zuflucht nimmt.

So kommt der Graf zu dem hohlen Baume, siehet zu demselben hinein und wird gewahr, daß ein Weib darinnen steht. Ihre alten Kleidungsstücke hatte Genovefa schon zerrissen, um den armen Schmerzenreich damit zu bekleiden, ehe der Wolf ihm das Schaffell brachte. Nach sieben Jahren aber war nicht ein Fetzen mehr von Genovefas Kleidung übrig geblieben, besonders da sie das Leinen, das sie einst auf dem Leibe getragen, schon mit zu den Windeln für den kleinen Schmerzenreich verbraucht hatte. So erschrak dann der Graf von ganzem Herzen, vermeinte, es sei ein Gespenst, bezeichnete sich mit dem heiligen Kreuze und sprach voller Ängsten: „Bist Du von Gott, so komm zu mir heraus und sage mir, wer Du seiest.“

Genovefa, die den Grafen gleich erkennet, von ihm aber nicht erkannt wurde, gab zur Antwort: „Ich bin von Gott, nur meine Kleider sind abgerissen. So Ihr dann wollet, daß ich zu Euch hinauskomme, so werfet mir ein Kleid herein.“

Der Graf warf ihr seinen Mantel hinein, darein wickelte sie sich, so gut sie konnte und ging zu ihm vor den hohlen Baum. Neben ihr stand ganz unerschrocken die Hirschkuh, welche sich von Anfang an nicht in dem hohlen Baume, wie groß er auch war, hatte verbergen können. Der Schmerzenreich war damalen nicht gegenwärtig, sondern hinausgegangen, um Kräuter und Wurzeln zu suchen.

Der Graf verwunderte sich über ihre erbärmliche Gestalt und fragte, wer sie doch sei.

Sie sprach: „Mein Herr, ich bin ein armes Weib aus Brabant gebürtig und lebe aus Not in den Wäldern, weil man mich sammt meinem armen Kinde unschuldigerweise hat umbringen wollen.“

Der Graf sprach: „Wie ist denn das zugegangen? und wie lange ist es her, daß solches geschah?“

Sie sagte: „Ich war verheiratet mit einem gewissen Herrn, dieser setzte auf mich einen Argwohn, als ob ich untreu wäre und befahl seinem [163] Hofmeister, er solle mich mit dem Kinde meines lieben Gemahles umbringen lassen. Die Diener aber schenkten mir aus Mitleiden das Leben, und ich versprach ihnen, daß ich nimmermehr vor meinen Herrn und Gemahl kommen, sondern in den Wäldern Gott dienen wollte, und das sind nun sieben ganzer Jahre.“

Über diese Rede hatte der Graf tausenderlei Gedanken. Er fing an zu argwöhnen, ob dies nicht seine Genovefa sei. Er starrte ihr ins Angesicht, konnte sie aber nicht erkennen, weil sie zu abgezehrt war.

Darum sprach er weiter zu ihr: „Meine liebe Freundin, saget mir doch: wie ist Euer Name und wie ist der Name Eures Eheherrn?“

Sie sprach seufzend: „Ach, mein Eheherr hieß Siegfried. Ich Armselige nenne mich Genovefa.“

Diese wenigen Worte erschreckten den Grafen mehr, als wenn ihn ein Donnerstreich getroffen hätte. Darum fiel er vom Pferde plötzlich zu Boden und lag auf der Erde mit seinem Angesichte, als wenn er ganz ohne Sinnen wäre. Dann richtete er sein Haupt auf und sprach auf den Knieen sitzend: „Genovefa, ach, Genovefa, seid Ihr es?“

Sie sagte: „Lieber Herr Siegfried, ja, ich bin die unglückliche Genovefa.“

Da war nun dem Grafen vor herzlichem Mitleiden nicht möglich die Zähren einzuhalten, noch vor Erstarrung ein Wort zu sprechen. Nach vielem heißen Weinen aber sprach er noch immer knieend: „Ach meine herzliebste Genovefa, wie finde ich Euch in solchem Stande? Ach, daß Gott im Himmel erbarme! Daß ich Euch Elende ansehen muß! Ich bin nicht wert, daß die Erde mich tragen soll! O wehe meiner armen Seele! Wie will ichs bei Gott abbüßen und den erlittenen Schimpf und die Schande wieder einbringen können! Verzeiht mir, o liebe Genovefa! Ich stehe nicht auf vor Euren Füßen, bis ich von Euch Gnade erlanget habe.“

Die gottselige Gräfin war durch die Worte Siegfrieds so bewegt worden, daß sie vor Mitleiden und großem Weinen nicht gleich konnte antworten.

Endlich sprach sie: „Nicht betrübt Euch, mein Herr Siegfried, nicht betrübt Euch so sehr. Es ist nicht aus Eurer Schuld, sondern aus Verordnung Gottes geschehen, daß ich in diese Wüste gekommen bin. Ich verzeihe [164] Euch von Herzen und habe Euch schon von Anfang an verziehen. Der barmherzige Gott wolle uns beiden unsere Sünden vergeben und uns seiner Gnade würdig halten.“ Darauf reichte sie dem Grafen die Hand und hob ihn von der Erde auf.

Hier stand nun der betrübte Graf, anschauend das abgemagerte Angesicht, und meinete, sein betrübtes Herz müßte ihm vor Mitleiden zerspringen, weil das holdselige Angesicht, welches vor Zeiten den Engeln geglichen hatte, jetzt so entstellt aussah. Er spürte solche Ehrerbietung gegen Genovefa, als ob er vor einer großen himmlischen Heiligen stände. Wiewohl sie ihm alle Freundlichkeit erzeigte, so konnte er doch vor Ehrfurcht kaum mit ihr reden.

Doch sprach er nach einigen tiefen Seufzern wieder zu ihr: „Wo ist denn das arme Kind hingekommen, das Ihr im Kerker bekommen habt? Ist es denn nicht mehr am Leben?“

Sie antwortete: „Daß es noch lebet, ist ein großes Wunder von Gott. Der gütige Gott hat mir dieses Wild geschicket, welches das Kind täglich zweimal gesäuget und also aufgezogen hat.“

Indem sie dieses redete, kam der liebe Schmerzenreich in seine Schafshaut eingewickelt barfuß daher und hatte seine beiden Hände voll wilder Wurzeln. Als er aber den Grafen bei seiner Mutter sah, wurde er erschrocken und rief: „Mutter, was ist das für ein wilder Mann, der bei Euch stehet? ich fürchte mich vor ihm.“

Die Mutter sprach: „Fürchte Dich nicht, mein Sohn, komm nur geschwind her, der Mann thut Dir nichts.“

Unterdessen sprach der Graf zu Genovefa: „Ist das unser lieber Sohn?“

Sie sprach: „Ach, daß Gott erbarm! Das ist das arme Kind.“

Sollte nun nicht dem Grafen das Herz zersprungen sein, als er seinen einzigen gräflichen Sohn in solchem Elende daherkommen sah? Leid und Freude waren so groß bei ihm, daß er selbst nicht wußte, welche den Vorzug hatte.

Da sprach Genovefa zu Schmerzenreich: „Siehe, das ist Dein Herr Vater! Küsse ihm die Hand.“

Als das Kind dies that, nahm der Graf es auf seine Arme, drückte [165] es an sein Herz, küssete es ganz süßiglich ohne Unterlaß und konnte vor Leid und Freude nichts mehr sagen als: „Ach, mein herzliebster Sohn, ach, mein herzgüldenes Kind!“

Nachdem er nun den Knaben lange umarmt hatte, blies er stark in sein Jägerhorn und berief die Jägerburschen zusammen. Diese kamen eilig und verwunderten sich höchlich, als sie die wilde Frau bei ihrem Herrn und das Kind auf seinen Armen sahen.

Der Graf sprach: „Was dünket Euch um dieses Weib? solltet Ihr sie wohl kennen?“

Sie sagten alle: „Nein!“ Aber der Graf sprach weiter: „Kennet Ihr denn Eure Herrin nicht mehr?“

Da überfiel sie eine solche Verwunderung, daß sie nicht wußten, was sie sagen oder denken sollten. Einer nach dem andern aber ging hinzu und hieß sie freundlich willkommen. Alle aber freuten sich von Herzen, daß diejenige noch lebte, deren wegen der ganze Hof schon sieben Jahre lang geseufzt hatte.

Von allen Dienern, welche das Jagdhorn zu dem Grafen berief, war Golo der letzte, denn es dünkte ihn, daß nichts Gutes für ihn geschähe. Darum schickte ihm der Graf Boten entgegen mit dem Befehle, der Haushofmeister solle geschwind kommen, denn sein Herr hätte ein wunderseltsames Tier gefangen.

Als er nun hinzu kam, sprach der Graf zu ihm: „Golo, kennst Du dieses Weib?“

Er wurde ganz erschreckt und sagte: „Nein, ich kenne sie nicht.“

Der Graf sprach: „Du gottloser Bösewicht, kennest Du denn Genovefa nicht, welche Du fälschlich vor mir verklagt und unschuldig in den Tod geschickt hast? Wenn ich Dir alle erdenklichen Martern anthäte, so hättest Du doch noch mehr verschuldet“.

Der Golo lag auf der Erde und bat mit weinenden Augen um Barmherzigkeit. Der erzürnte Graf aber befahl, man solle ihn hart binden und als den größten Übelthäter gefangen nehmen.

Zween Diener waren eilfertig nach Hause geritten und holten eine Sänfte, die ganz ausgemergelte Gräfin darin zu tragen, und Kleider, sie ehrlich damit zu bedecken. Darum bat der Graf nun Genovefa, sie sollte [166] sich gefallen lassen mit ihm der Sänfte entgegen zu spazieren. Bevor sie aufbrachen, dankte Genovefa noch in dem hohlen Baume Gott für alle Wohlthaten, welche sie hier und in der Höhle bei Trier empfangen hatte.

Danach nahm sie der Graf bei der Hand, ein edler Ritter trug den jungen Grafen Schmerzenreich hinten nach und man ging also langsam und gemächlich, bis ihnen die Sänfte entgegen kam. Die lieben Vögel flohen über sie her und gaben mit dem Flattern der Flügel genugsam zu verstehen, wie ungern sie Genovefa sammt dem jungen Grafen von sich ließen.

Die Hirschkuh aber folgte der Gräfin wie ein sanftmütiges Lamm nach und wollte kein paar Schritte von ihr weichen. Eine Strecke Weges waren sie fortgegangen, da kam ihnen die Sänfte entgegen sammt einem großen Haufen aller derer, die im Schlosse wohnten, weil ein jeder dieser allgemeinen Freude beiwohnen und die Gräfin mit Ehren heimbegleiten wollte.

Als man nun nahe zum Schlosse gelangt war, begegneten dem Grafen zween Fischer. Sie verehrten ihm einen Fisch von ungewöhnlicher Größe. Da man ihn eröffnete, fand man Genovefas Trauring, welchen sie einst im Unmut über ihr Geschick in den Laacher See geworfen hatte. Der Graf konnte Gott nicht genug loben, daß er durch dieses Wunder die Wiederherstellung seiner Ehe gleichsam bekräftigt hatte.

Die heilige Genovefa war kaum im Schlosse angekommen, da wollte jeder diese wunderliche Heilige sehen. Sonderlich fanden die Freunde und geladenen Gäste in dem Schlosse größere Ursache zu frohlocken, als sie hatten verhoffen können, indem sie ihre liebe Base gleichsam von den Toten auferstehend antrafen und die wunderliche Weise, durch welche Gott ihre Unschuld offenbaret hatte, vernahmen. Die Festlichkeiten auf dem Schlosse dauerten nun die ganze Woche. Doch hatte sich Genovefa so sehr an ihre Kräuter und Wurzeln gewöhnt, daß sie weder Fisch noch Fleisch, weder Bier noch Wein mehr zu genießen vermochte. Schon im Kerker hatte ihr ja der böse Golo, wie schon früher erzählt ist, nie etwas anderes als Brot und Wasser reichen lassen.

So ließ denn auch diesen Bösewicht mitten unter den Freuden, die [167] während dieser Woche auf dem Schlosse stattfanden, der Graf vor seine Gäste führen. „Sehet, meine Freunde!“ rief er, „das ist der, welcher so viel Übles angestellet hat, den frommen Koch Dragones mit Gift umgebracht, meine Liebe samt dem Kinde zu töten befohlen. Nun urteilet Ihr, was für eine Strafe ein solcher Verbrecher verdienet hat.“

Die ganze Freundschaft verurteilte ihn zum allergrausamsten Tode. Der gottlose Bösewicht warf sich aber Genovefa zu Füßen und bat um Christi willen, sie solle ihm verzeihen und für ihn um Gnade bitten. Die barmherzige Dame bat inständig, sie wollten diesem armen Sünder um ihretwillen Gnade erweisen und das Leben schenken. Da ließ der Graf seine und Genovefas Freundschaft entscheiden, weil diese durch Genovefas Beschimpfung zugleich beleidigt wäre. Die Freunde aber wollten durchaus dem Golo keine Gnade bewilligen, damit nicht in künftigen Zeiten möchte gesagt werden: Golo ist unschuldig gewesen, darum hat man ihm das Leben nicht nehmen können.

Sie verurteileten ihn deswegen, daß er in ihrer Aller Gegenwart mit Ochsen sollte zerrissen werden. Da band man an Hände und Füße dieses Sünders Stricke, und diese wurden an vier Ochsen angefesselt, welche nach den vier Teilen der Welt getrieben den boshaften Golo in vier Teile zerrissen.

Gleich darauf wurden auch alle diejenigen, die es mit dem Golo gehalten, von dem Henker mit dem Schwerte hingerichtet und ihre Kinder aus der Grafschaft vertrieben. Das Mädchen aber, das der Gräfin Feder und Tinte gereicht hatte, sowie alle anderen, die ihr treu geblieben waren, wurden reichlich belohnt. Unter diesen war noch einer der Diener, welche ihr das Leben geschenkt hatten. Weil aber der andere verstorben war, so haben seine Kinder dessen Belohnung empfangen.

Genovefa lebte nachher mit dem Grafen in größter Heiligkeit. Der Sinn der Gräfin stand nicht nach dem Hofleben, sondern nur nach dem Himmel.

Eines Tages, als sie im Gebete begriffen war, erschien ihr eine Schar vieler heiligen Frauen und Jungfrauen, unter welchen die Mutter Gottes selber am glorwürdigsten einherging. Eine jede von diesen Heiligen präsentierte ihr eine himmlische Blume. Die Mutter Gottes aber [168] hielt in der Hand eine köstliche, mit Edelgestein besetzte Blume und sprach: „Geliebte Tochter, beschaue diese Krone, welche Du erworben hast durch jene dörnerne Krone, die Du in der Wildnis getragen hast! Empfange sie von meinen Händen, denn nunmehr ist die Zeit, daß sich bei Dir anhebt die Ewigkeit Deiner Freuden.“ Mit diesen Worten setzte sie ihr die Krone auf das Haupt und fuhr mit ihrer Gesellschaft wieder gen Himmel.

Nur ein Vierteljahr hatte sie jetzt bei dem Grafen gelebt, da starb sie den 2. April im Jahre des Herrn 750. Da fiel der betrübte Graf samt seinem lieben Sohne über den toten Leib her. Sie führten ein so erbärmliches Klagen und Heulen, daß man befürchtete, sie würden beide vor großem Herzeleid sterben. Es klagten und trauerten auch mit ihnen alle Diener und Kammerjungfrauen so schmerzlich, daß, wer solches Leid hörte, mit ihnen zu weinen bewegt wurde. Es schmerzte sie am meisten, daß sie so eine heilige Frau verloren hatten und ihre süßen Unterhaltungen nicht länger genießen konnten.

Die arme Hirschkuh, welche bis dahin im Schlosse verblieben und von allen war sonderlich geliebt worden, fing beim Tode der Gräfin an zu trauern und sich so betrübt zu stellen, daß es erbärmlich anzusehen war. Da man aber den heiligen Leichnam hinaustrug, ging das Wild ganz traurig mit gesenktem Kopfe der Leiche nach und schrie so erbärmlich und beweglich, daß alle Menschen sich mußten erbarmen. Dieses Schreien und Heulen dauerte fort, bis der heilige Leichnam begraben war. Nach dem Begräbnis aber legte sich das arme Tier aufs Grab, heulte noch viel erbärmlicher und ließ nicht eher ab, bis es endlich vor lauter Trauern auf dem Grabe gestorben ist.

Genovefa aber wurde begraben in Frauenkirchen, eine gute Stunde vom Kloster Laach hinter Niedermendig. Hier befindet sich jetzt die Meierei Frauenkirch mit einer Kapelle nebst dem Grabmale der heiligen Genovefa. Man hatte nach ihrem Tode auf ihrem bloßen Leibe auch noch ein härenes Gewand gefunden.

Die Trauer des Grafen über die Leiden, welche er Genovefa einst hatte bereiten müssen, bewegte Gott ihm einen Engel vom Himmel herab zu schicken, der ihn trösten sollte. Dieser kam zu ihm in eines Pilgers Gestalt, als er sich mit Schmerzenreich nicht mehr in der Nähe des Laacher [169] Sees, sondern wieder auf der Pfalzgrafenburg bei Trier befand. Der Engel hielt um die Nachtherberge an und wurde von dem Grafen aufs freundlichste angenommen. Unter dem Nachtessen aber ermahnte der Engel den Grafen, daß er sich hinfort besser in Geduld schicken möge. Des Morgens, als der Graf weiter mit ihm reden wollte, war er nicht zu finden, hatte aber zum Danke seine Pilgerkleidung in der Kammer zurückgelassen.

Nun begab sich der Graf einst zur Höhle der Genovefa und fand daselbst einen Hirsch, welcher, wiewohl die Hunde gegen ihn bellten, dennoch ohne Furcht stehen blieb. Der Graf hielt dies für ein Wunder und ließ die Hunde einhalten, damit dem Wilde kein Leid geschähe. Er aber ging in die heilige Höhle, begoß dieselbe mit seinen Zähren und beschloß, hier ein einsiedlerisches Leben zu führen, wie seine Genovefa dort fünf Jahre und zwei Jahre in dem hohlen Baume bei Laach gethan hatte. Darauf betete er vor Genovefas Kruzifix. Da löste sich die rechte Hand von dem Kreuze ab und erteilte ihm den Segen.

Als der Pfalzgraf noch einmal auf sein Schloß kam, ordnete er alles an, wie er es nur bei seinem Tode hätte verordnen können. Er berief seinen Herrn Bruder zu sich und sagte ihm, daß dieser hinfort des lieben Schmerzenreich Vater sei und einstweilen regieren solle, bis dieser herangewachsen sei. Da sprach der liebe Schmerzenreich: „Liebster Herr Vater, meinet Ihr denn, daß Ihr den Himmel wollt für Euren Teil erwählen und wollt mir nur ein wenig Erde hinterlassen? Mein Herr Vater, das will ich nicht! Wo Ihr wollt leben, da will ich auch leben und wo Ihr wollt sterben, da will ich auch sterben. Schon sieben Jahre habe ich das Probierjahr ausgestanden, darum bleibe ich bei meiner Resolution, und wir leben und sterben zusammen da, wo ich von meiner heiligen Frau Mutter bin auferzogen worden. Euch, mein Herr Vetter, hinterlasse ich meine Grafschaft, daß Ihr sie frei beherrschen und den Armen Gutes thun sollet.“

Über[1] dieses Vorhaben verwunderten sich Vater und Vetter und umfingen beide das Kind mit herzlicher Liebe. Der Vater that die Pilgerkleidung an, welche ihm der Engel auf dem Pfalzgrafenschlosse bei Trier hinterlassen hatte, und ließ dem Schmerzenreich eben das gleiche Kleid anmessen. Darnach nahmen diese beiden ihren Abschied mit großem Trauern [170] und Weinen der ganzen Freundschaft und verfügeten sich in die rauhe Wildnis, allda Gott zu dienen bis an ihr Ende.

Sobald der Schmerzenreich bei der Höhle ankam, erkannten ihn seine vorigen Gespielen, die wilden Tiere. In großer Menge kamen sie dahin und erfreuten sich seiner Ankunft. Allhier in der Wildnis haben Vater und Sohn ihr Leben heilig zugebracht und sind auch daselbst gottselig entschlafen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Üeber