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Er trennte sich jedoch während desselben gänzlich von Golo, und da dieser bemerkte, wie wenig sein Gebieter sich wieder zu ihm hingezogen fühlte, verfolgete er mit sonderlichem Eifer eine weiße Hirschkuh. Dies war aber dasselbe fromme Tier, welches den armen Schmerzenreich von Anfang an in dem Walde ernähret hatte. Unablässig jagte Golo hinter der Hirschkuh her, bis dieselbe in die Nähe von Genovefas Höhle gelangte, wo sie dann zur Seite abbog und zwischen den Felsen verschwand. Golo und seine Hunde aber waren wie verblendet, indem sie an dieser Höhle vorbei wieder ins Dickicht hineinstoben, ohne den Seitensprung des frommen Tieres zu bemerken oder zu wittern.

Genovefa erschrak sehr, als sie, vor dem Crucifix knieend, das fromme Tier ganz plötzlich so atemlos in der Höhle erblickte. Sie stellte sich an den Eingang der Höhle, und wie klein diese Felsenspalte auch war, so war sie doch groß genug, daß sie das Gesicht des fürchterlichen Golo erkennen konnte, der eben auf das Dickicht an der entgegengesetzten Seite zustürmte.

So schwer es nun auch Genovefa ankam, sich von dem Cruzifix, welches in dieser Höhle befestigt war, zu trennen, so hielt sie doch nach dem schauderhaften Anblick des Hofmeisters Golo und nach der ganzen geräuschvollen Jagd in diesem Walde ihre, sowie ihres Sohnes und der Hirschkuh Sicherheit gefährdet. Sie beschloß also mit Schmerzenreich diese Gegend zu verlassen und eine weiter von Trier entfernte Wildnis aufzusuchen.

Am andern Morgen brachen sie auf. Die liebe Hirschkuh begleitete sie. Aber auch der zahme Wolf ging mit ihnen, mit welchem Schmerzenreich noch immer gern spielte und auf welchem er zu reiten gepflegt hatte, als er noch kleiner gewesen war. Auch die lieben Rotkehlchen und Amseln, welche ihnen bei der Höhle immer so schön gesungen hatten, blieben nicht daheim, sondern flatterten vor ihnen her, als ob sie alle mit einer Karawane in fremdes Land auszögen. Nicht minder wollten auch die Hasen und Kaninchen keineswegs zurückbleiben und wiesen auch auf der Reise dem Schmerzenreichen mit ihren Beinchen die zartesten Wurzeln und Kräuter, welche er dann für seine Mutter als Speise ausgrub.

So zogen sie freilich gar langsam dahin, und wenn der Abend hereinbrach, so ruhten Genovefa und Schmerzenreich neben der Hirschkuh und

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Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/169&oldid=- (Version vom 1.8.2018)