„Freilich,“ antwortete die Mutter, „kennet er Dich und hat Dich auch herzlich lieb.“
„Wie kommt es,“ sagte das Kind, „daß er mir nichts Gutes thut und mich also in der Not lässet?“
„Mein lieber Sohn,“ sagte sie, „wir sind hier im Jammerthale und müssen leiden; wenn wir aber in den Himmel kommen, alsdann werden wir alle Freuden haben.“
Der Sohn fragte weiter: „Liebe Mutter, hat mein Vater noch mehr Söhne neben mir? Wo sind sie denn? Ich meinete, wir wären allein in der Welt.“
Sie sagte: „Ob Du schon niemals aus diesem Walde kommen bist, so solltest Du doch wissen, daß außerhalb dessen viel Städte und Länder sein, darinnen allerhand Leute wohnen, deren etliche Gutes thun. Die anderen aber, die Böses thun, kommen in die Hölle, darinnen sie ewig braten werden.“
Der Knabe sprach endlich: „Mutter, warum gehen wir nicht zu den anderen Leuten? Was thun wir in diesem Wald allein?“
Genovefa antwortete: „Wir sind hier, damit wir unserem himmlischen Vater desto besser dienen und desto höher im Himmel kommen mögen.“
Damit sie keine Weltlust in ihm erweckte, sagte sie ihm nicht, von welchem mächtigen Geschlecht er geboren wäre. Erst als sie einmal erkrankte und zu sterben vermeinete, worauf dann Schmerzenreich mit Zittern und Zagen sie bat, daß sie ihn nicht allein in dem Walde zurücklassen möchte, sagte sie ihm, daß zwei Meilen von ihrer Höhle hinter diesem Walde auf der Pfalzgrafenburg bei Trier auch sein irdischer Herr Vater wohne, der ihn mit Lust für seinen Sohn erkennen werde, da er ihm sehr ähnlich sähe.
Darnach glaubte sie augenblicklich zu sterben. Nun aber kamen zwei glänzende Engel in die Höhle, deren einer sie mit der Hand berührend sprach: „Du sollst leben, Genovefa, und jetzt noch nicht sterben; denn also ist der Wille des allerhöchsten Gottes.“ Auf welche Worte sie gleich verschwanden und die Gräfin ganz gesund hinterließen.
Nun lebte aber Graf Siegfried schon lange wieder am Hofe zu Trier. Als er von Straßburg dahin zurückgekommen war, hatte er die Vorsicht
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/167&oldid=- (Version vom 1.8.2018)