Angesicht, damit man sie nicht erkennen konnte und befahlen ihr mit aller Stille ohne einiges Geräusch hinauszugehen.
Da ging nun die arme Gräfin wie ein unschuldiges Schäflein zur Schlachtbank und that den Mund nicht auf. Das arme unschuldige Lämmlein trug sie auf ihren Armen, drückte dasselbe ohne Unterlaß an ihr Herz und hatte mehr Mitleiden mit demselben als mit ihrem eigenen Tode.
Im Walde angekommen, ergriffen die Diener zuerst das unschuldige Kind, zogen die Messer heraus, und wollten ihm die Gurgel abstechen. Da schrie Genovefa mit beweglicher Stimme: „Haltet ein, o haltet ein, Ihr lieben Leute, und wenn Ihr ja das arme Kind wollt töten, so bringt doch mich zuvor um, damit ich nicht gezwungen werde, doppelt zu sterben.“ Da wollten die Diener sie zuerst töten. Nun rief Genovefa: „O Ihr lieben Leute, ich bin zwar bereit zu sterben, aber wenn Ihr mich umbringet, so wird mein unschuldiges Blut über Euch Rache schreien.“
Die Herzen der Diener wurden durch diese Worte so tief ergriffen, daß ihnen unmöglich war, der Gräfin ein Leid anzuthun. Sie sprachen daher: „Gnädige Frau, wir wollten Euch gern das Leben schenken, wofern uns nicht von dem Hofmeister befohlen wäre, bei Todesstrafe Euch hinzurichten. Dennoch aber, wofern Ihr uns versprechen wollet, nimmer an Tag zu kommen, sondern Euch in dieser oder in einer anderen Wildnis aufzuhalten und unser in Eurem Gebete eingedenk zu sein, so wollten wir Euch und das Knäblein am Leben lassen.“
Dann stachen sie einem Windspiel, das mit ihnen gelaufen war, die Augen und Zunge aus und brachten dieselben ihrem Herrn Golo zum Beweise ihrer Mordthat. Golo aber begehrte dieselben nicht anzusehen, sondern befahl, sie den Hunden vorzuwerfen.
Genovefa hatte schwören müssen, in der Einöde zu bleiben. Sie brachte die erste Nacht in großer Angst ohne einigen Schlaf zu. Sie hatte den ganzen vorigen Tag weder gegessen noch getrunken und den anderen Tag war der Hunger bei ihr so groß, daß sie genötigt wurde, rohe Wurzeln auszurupfen und zu essen.
Den dritten Tag ging sie noch weiter in die Wildnis hinein und suchte so lange, bis sie eine steinerne Höhle und nächst dabei ein kleines Wasser fand. Dies nahm sie als einen ihr von Gott bescherten Ort an
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/164&oldid=- (Version vom 1.8.2018)