Seite:Proehle Rheinlands Sagen und Geschichten.djvu/173

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Der Graf ersiehet ungefähr eine treffliche Hirschkuh, setzet derselben durch Hecken und Gesträuch nach und verfolget das Wild so lange, bis es endlich zu dem hohlen Baume und der ihr bekannten Genovefa seine Zuflucht nimmt.

So kommt der Graf zu dem hohlen Baume, siehet zu demselben hinein und wird gewahr, daß ein Weib darinnen steht. Ihre alten Kleidungsstücke hatte Genovefa schon zerrissen, um den armen Schmerzenreich damit zu bekleiden, ehe der Wolf ihm das Schaffell brachte. Nach sieben Jahren aber war nicht ein Fetzen mehr von Genovefas Kleidung übrig geblieben, besonders da sie das Leinen, das sie einst auf dem Leibe getragen, schon mit zu den Windeln für den kleinen Schmerzenreich verbraucht hatte. So erschrak dann der Graf von ganzem Herzen, vermeinte, es sei ein Gespenst, bezeichnete sich mit dem heiligen Kreuze und sprach voller Ängsten: „Bist Du von Gott, so komm zu mir heraus und sage mir, wer Du seiest.“

Genovefa, die den Grafen gleich erkennet, von ihm aber nicht erkannt wurde, gab zur Antwort: „Ich bin von Gott, nur meine Kleider sind abgerissen. So Ihr dann wollet, daß ich zu Euch hinauskomme, so werfet mir ein Kleid herein.“

Der Graf warf ihr seinen Mantel hinein, darein wickelte sie sich, so gut sie konnte und ging zu ihm vor den hohlen Baum. Neben ihr stand ganz unerschrocken die Hirschkuh, welche sich von Anfang an nicht in dem hohlen Baume, wie groß er auch war, hatte verbergen können. Der Schmerzenreich war damalen nicht gegenwärtig, sondern hinausgegangen, um Kräuter und Wurzeln zu suchen.

Der Graf verwunderte sich über ihre erbärmliche Gestalt und fragte, wer sie doch sei.

Sie sprach: „Mein Herr, ich bin ein armes Weib aus Brabant gebürtig und lebe aus Not in den Wäldern, weil man mich sammt meinem armen Kinde unschuldigerweise hat umbringen wollen.“

Der Graf sprach: „Wie ist denn das zugegangen? und wie lange ist es her, daß solches geschah?“

Sie sagte: „Ich war verheiratet mit einem gewissen Herrn, dieser setzte auf mich einen Argwohn, als ob ich untreu wäre und befahl seinem

Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/173&oldid=- (Version vom 1.8.2018)