ein gar schönes Kreuz in den Händen trug, daran der gekreuzigte Christus aus schneeweißem Elfenbein so künstlich gebildet war, daß man leichtlich erachten konnte, solche Arbeit wäre von Engelshänden gemacht worden. Denn die Gestalt Christi war so beweglich ausgearbeitet, daß sie niemand ohne herzliches Mitleiden anschauen konnte. Dieses himmlische Kreuz reichte ihr der Engel und sprach mit freundlichen Worten zu ihr: „Nehme hin, Genovefa, dies heilige Kreuz, welches Dir Dein Erlöser zu Deinem Troste herabsendet.“
Nachdem der Engel verschwunden war, stellte das Kreuz sich auf einen Altar in ihrer Höhle, welchen die Natur selbst hervorgebracht hatte. Sie fiel oft vor diesem Kreuze demütig nieder. Im Anschaun des Leidens Jesu Christi fand sie ihren Trost. Im Sommer zierte sie das Kreuz mit grünem Laube und feinen Waldblumen, im Winter mit Tannen, Walddisteln und Wachholderstauden.
Es war aber erbärmlich anzusehen, daß das arme Kind meist nackend und barfüßig ging, darum schickte unser lieber Gott einen Wolf dahin, welcher eine Schafshaut im Maule trug und dieselbige vor dem lieben Kinde fallen ließ. Die Mutter nahm das Geschenk dankbar an und wickelte den kleinen Schmerzensreich hinein, so gut als sie konnte.
Es fingen auch die wilden Tiere von der Zeit an, mit ihnen ganz vertraut zu werden, daher sie täglich zu ihnen kamen und dem lieben Kinde manche Kurzweil machten. Es ritt vielmal auf dem Wolfe, der ihm das Schaffell gebracht hatte, und spielete öftermal mit den Hasen und anderen Tieren, so allda herumliefen. Die Vögel flogen ihm auf Haupt und Hände und erfreuten Mutter und Kind mit ihrem lieblichen Gesange. Wenn der Knabe ausging, für die Mutter Kräuter zu suchen, so liefen unterschiedliche Tiere mit ihm und zeigten ihm mit ihren Füßen, welches gute Kräuter waren.
Einstens sagte der liebe Schmerzenreich zu Genovefa: „Mutter, Ihr befehlet mir so oft, ich sollte sagen: Vater unser, der Du bist in dem Himmel. Saget mir doch, wer ist denn mein Vater?“
„Liebes Kind,“ sprach die Mutter, „Dein Vater ist Gott droben, da Sonne und Mond scheinet.“
Das Kind sprach: „Kennet mich auch mein Vater?“
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/166&oldid=- (Version vom 1.8.2018)