Der auswärtige Handel (1914)

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Autor: Bernhard Harms
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Titel: Der auswärtige Handel
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Sechstes Buch, S. 235–265
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
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Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[683]
Der auswärtige Handel
Von Prof. Dr. Bernhard Harms, Kiel


I.

Jede Darstellung des Außenhandels eines Landes hat anzuknüpfen an die Linienführung seiner äußeren Handelspolitik. Das Deutsche Reich hat in dieser Beziehung bekanntlich eine wechselreiche Geschichte. Unmittelbar nach Gründung des Reiches machte die seit den sechziger Jahren schon im Zollverein stark zur Geltung gekommene freihändlerische Strömung solche Fortschritte, daß nach dem am 1. Januar 1877 erfolgten restlosen Inkrafttreten des Zolltarifs von 1873 Deutschland ein Freihandelsland genannt werden konnte. Durch den im Jahre 1879 zur Einführung gelangenden Zolltarif wurde jedoch grundsätzlich und tatsächlich der Umschwung in der Richtung des Schutzzolles herbeigeführt.

Die Handelspolitik unter Bismarck.

Charakteristisch für die nun einsetzende Handelspolitik war einmal der umfassende Zollschutz der „nationalen Produktivkräfte“ in Landwirtschaft und Industrie, sowie zum andern die möglichst konsequente Durchführung der „autonomen“ Handhabung des Zolltarifs und dementsprechend die bewußte Fernhaltung von differenzierter Vertragspolitik. Die Zollsätze an sich waren zunächst von geringer Bedeutung, gemessen an heutigen Verhältnissen sogar ohne Bedeutung. Weizen, Roggen und Hafer z. B. bezahlten nach dem Tarif von 1879 nur 1 M. für 100 kg. Auch die Zölle auf Eisen und Textilwaren hielten sich auf bescheidener Höhe. Die Steigerung ließ indessen nicht lange auf sich warten. Der Tarif von 1887 belegte Roggen und Weizen schon mit einem Zoll von M. 5.– und brachte überdies eine Steigerung der Zölle auf andere agrarische Produkte, vornehmlich auf Vieh und Holz. Auch die Industriezölle wurden seit 1879 sehr erheblich und in rascher Folge erhöht.

Auf die Gründe, die unter Bismarcks Führung zu dem handelspolitischen Umschwung des Jahres 1879 hingeführt haben, kann hier nicht eingegangen werden, da die vorliegende Abhandlung es mit der nachbismarckischen Zeit zu tun hat. Wohl aber muß, um den Boden für die weiteren Ausführungen zu finden, mit einigen Worten der Entwicklung des Außenhandels in jener Zeit gedacht werden. Der deutsche Außenhandel (Spezialhandel) belief sich im Jahre 1872 auf 5956,8 Mill. Mark, um bis zum Jahre 1879 auf 6708,9 Mill. Mark zu steigen. Im Jahre 1891 erreichte der Außenhandel eine Höhe von 7743,2 Mill. Mark. In der ersten Periode demnach eine durchschnittliche Steigerung [684] von zirka 107 Mill. Mark jährlich, in der zweiten von 86 Mill. Mark. Zergliedern wir diese Zahlen in Einfuhr und Ausfuhr, so zeigt sich die folgende Entwicklung:

  Einfuhr   Ausfuhr
1872 3464,6 2492,2
1879 3888,1 2820,8
1891 4403,4 3339,8

Die Einfuhr hat sich mithin in der ersten Periode durchschnittlich um 61, in der zweiten um 43 Mill. Mark jährlich vermehrt. Bei der Ausfuhr ergeben sich für die erste Periode 47, für die zweite 43 Mill. Mark[1].

Es zeigt sich somit, daß die Intensität des Außenhandels nach dem handelspolitischen Umschwung im Jahre 1879 zurückgegangen ist; am auffallendsten tritt dies bei der Einfuhr in die Erscheinung. Das damals im Auge gehabte Ziel, eine Verringerung der Einfuhr herbeizuführen, ist also erreicht worden, gleichzeitig freilich auch die nicht gewollte Verlangsamung in der Vermehrung der Ausfuhr in Kauf zu nehmen gewesen.

Die Caprivische Handelspolitik.

Als Kaiser Wilhelm II. 1888 die Regierung übernahm, war die letzte handelspolitische Aktion (der Tarif von 1887) eben beendet. Zu weiteren positiven Maßnahmen von größerer Bedeutung ist es dann zunächst nicht gekommen. Erst zu Anfang der 90iger Jahre setzt eine neue handelspolitische Ära ein: die Caprivische Handelspolitik, an deren Durchführung Kaiser Wilhelm II. bekanntlich den regsten Anteil genommen hat und die uns hier etwas eingehender beschäftigen muß.

Die im Jahre 1887 erfolgte Zollerhöhung auf agrarische Produkte war nicht ausschließlich durch die Lage der deutschen Landwirtschaft bedingt, sondern entsprang zum Teil der Auffassung Bismarcks, daß er gegenüber Rußland und Österreich, welchen Ländern die deutschen Tarifänderungen den Anlaß zu namhaften Erhöhungen der Zölle auf deutsche Industrieprodukte gegeben hatten, ein Kampfmittel in der Hand haben müsse. Die Anwendung dieses Kampfmittels führte freilich zu Mißerfolgen, da beide Staaten ihre bisherigen Maßnahmen nur verschärften und eine Verständigung nicht zustande kam. Ähnlich lagen die Verhältnisse in andern Ländern. Hierzu kam weiter, daß die europäischen Staaten in den achtziger Jahren ein umfassendes Konventionaltarifsystem geschaffen hatten, das die Bedingungen des gegenseitigen Güteraustausches für längere Zeit festlegte. Deutschland hatte infolge seiner autonomen Handelspolitik an diesem Vertragssystem nur in ganz bescheidenem Umfange teilgenommen (Spanien, Italien, Griechenland); es regelte seine Handelsbeziehungen durch bloße Meistbegünstigungsverträge. Hierdurch behielt es für seine eigenen Maßnahmen freie Hand, während es gleichzeitig [685] an den Vorteilen jener Tarifbindungen teilnahm. Dieser für Deutschland günstige Zustand mußte aber im Jahre 1892 sein Ende erreichen, denn Frankreich, das Mittelpunkt dieses Vertragssystems war, zeigte gleichfalls ausgesprochene Neigung zu autonomer Handelspolitik und war entschlossen, die am 2. Februar 1892 ablaufenden Verträge nicht zu erneuern. Dieser Tatsache gegenüber war die handelspolitische Situation unmittelbar nach Bismarcks Entlassung äußerst schwierig. Zwei Wege standen offen. Entweder konnte die Bismarcksche Absperrungspolitik fortgeführt, d. h. eine weitere Erhöhung der deutschen Zölle vorgenommen werden, oder aber es konnte der Versuch gemacht werden, auf die Erneuerung des Vertragssystems hinzuwirken und durch eigene Beteiligung auf seine künftige Gestaltung einen maßgebenden Einfluß zu üben. Die Entscheidung fiel in dem letzteren Sinne.

Die Initiative zur Einleitung der neuen Handelspolitik ergriff Kaiser Wilhelm II. in eigener Person. Bei der im Sommer des Jahres 1890 in Schlesien mit dem Kaiser von Österreich veranstalteten Zusammenkunft wurde im Hinblick auf das künftige handelspolitische Zusammenwirken eine grundsätzliche Übereinstimmung erzielt. Die unmittelbar darauf von Caprivi in Wien eingeleiteten Verhandlungen führten nach Überwindung großer Schwierigkeiten im Mai 1891 zum Abschluß eines Handelsvertrages. Deutschland konzedierte die Herabsetzung des Zolls auf Weizen und Roggen von 5 M. auf M. 3,50, Hafer von 4 M. auf 2,80 M. und Gerste von 2,25 M. auf 2 M. Dazu traten deutscherseits Zollermäßigungen auf für die österreichische Ausfuhr wichtige Rohstoffe und Halbfabrikate, sowie das Anerbieten einer Veterinärkonvention. Österreich setzte seine Zölle auf Textilwaren um durchschnittlich 20% herab und willigte außerdem in die Ermäßigung seiner Zölle für Eisenwaren, Maschinen, Instrumente, Glas, Tonwaren usw. ein. Auf gleicher Basis wurden mit der Schweiz, Italien und Belgien Verhandlungen eingeleitet, die ebenfalls zum Abschluß von Verträgen führten. Sämtliche Verträge wurden dem Reichstag am 14. Dezember 1891 vorgelegt und von diesem nach heftiger Opposition der „Agrarier“ am 17. Dezember ohne Kommissionsberatung angenommen. Auch ein erheblicher Teil der Konservativen hatte für sie votiert. In der Folge wurde das so geschaffene Vertragsgebiet erweitert durch Verträge mit Rumänien und Serbien und schließlich (1894) – nachdem zuvor ein Zollkrieg überwunden war – mit Rußland. Auch diese Verträge fanden die Zustimmung des Reichstags; die Mehrheiten wurden jedoch ständig kleiner, und die Opposition nahm Formen an, die auf der rechten Seite des Reichstags bisher nicht üblich gewesen waren. Sämtliche Verträge hatten eine Gültigkeitsdauer bis zum Jahre 1904.

Würdigung der Caprivischen Handelspolitik.

Die Urteile über die Caprivische Handelspolitik gingen und gehen noch heute stark auseinander. Am prägnantesten für sie eingetreten ist Kaiser Wilhelm, der jener handelspolitischen Ära mit dem ganzen Schwergewichte kaiserlicher Macht zum Siege verhalf. „Ich glaube, daß die Tat, die durch Einleitung und Abschluß der Handelsverträge für alle Mit- und Nachwelt als eines der bedeutsamsten geschichtlichen Ereignisse dastehen wird, geradezu eine rettende zu nennen ist.“ Dies Wort des Kaisers [686] fand damals freilich bei den „Anhängern der wohlbewährten Bismarckschen Wirtschaftspolitik“ so scharfe Kritik, daß schließlich selbst der Opposition um die Folgen ihres radikalen Gebahrens bange wurde. Auch heute wird an diese „Frühzeit“ der Regierung Kaiser Wilhelms II. nicht selten nur in dem Sinne erinnert, daß jener „Mißgriff“ später wieder „gutgemacht“ worden sei, während von anderer Seite jenes Wort des Kaisers auch jetzt noch als im vollem Umfange zu Recht bestehend erachtet wird. Es mag deshalb auf die Ursachen und Folgewirkungen der Caprivischen Handelspolitik, soweit dafür exakte Unterlagen vorliegen, etwas näher eingegangen werden. Dies rechtfertigt sich auch deshalb, weil, wie weiter unten darzulegen sein wird, die deutsche Handelspolitik seitdem an den damals aufgestellten Grundsätzen festgehalten hat.

Politische und wirtschaftliche Gründe.

Außer allem Zweifel steht zunächst, daß bei dem Abschluß des österreichischen Handelsvertrages (und später des russischen) politische Gründe mitgewirkt haben und insofern der Vorwurf Bismarcks, daß hier „wirtschaftliche Interessen mit den Fragen der auswärtigen Politik vermengt“ worden seien, eine gewisse Berechtigung enthält, wenn aus solcher Vermengung überhaupt ein Vorwurf abgeleitet werden kann.[2] Ebenso zweifellos steht heute aber fest, daß politische Gründe damals selbst gegenüber Österreich und Rußland nicht in erster Linie wirksam gewesen sind, geschweige denn bei den übrigen Verträgen eine nennenswerte Rolle gespielt haben. In der Hauptsache drängten wirtschaftliche und soziale Gründe die deutsche Handelspolitik in die neue Richtung. Um dies zu illustrieren, sei das Folgende hervorgehoben:

Mit dem Tarif von 1887 war in Deutschland im Gegensatz zu den Folgewirkungen der Maßnahmen von 1879 und 1885 eine merkliche Steigerung der Getreidepreise eingetreten. Diese erreichte im Jahre 1891 infolge ungünstiger Ernten in den Haupterzeugungsländern eine solche Höhe, daß mit gewissem Recht von Teuerungspreisen gesprochen werden konnte. Der Weizenpreis stieg in Berlin auf 224, der Roggenpreis auf 211 M. Ähnlich waren auch die Preise der übrigen Agrarprodukte in die Höhe gegangen. Angesichts solcher Sachlage wurde in Deutschland je länger desto mehr die Herabsetzung der Getreidezölle gefordert. Die Reichsregierung lehnte dies jedoch ab, weil sie solche Ermäßigung als Kompensationsobjekt bei den von ihr beabsichtigten Vertragsverhandlungen mit Agrarländern benutzen wollte. Lag in diesen agrarischen Notstandspreisen ein triftiger Grund für die deutsche Reichsregierung, in eine Herabsetzung der Getreidezölle einzuwilligen, so sind damit keineswegs schon die Motive gekennzeichnet, die schließlich zu einer langfristigen Bindung des Zolltarifs gegen das Äquivalent der Herabsetzung ausländischer Industriezölle führten. Eine Behebung der Teuerung, die im wesentlichen internationale Ursachen hatte, wäre ja auch durch die zeitweilige Herabsetzung der Getreidezölle möglich gewesen.

[687]

Konsequenz der Verschiebung des deutschen Wirtschaftslebens.

Der eigentliche Grund für die Caprivische Handelspolitik lag − abgesehen von den gewöhnlich überschätzten politischen Absichten und Rücksichten − wesentlich tiefer. Letzten Endes war nämlich die Caprivische Handelspolitik nichts anderes als die Konsequenz der Verschiebung des deutschen Wirtschaftslebens vom überwiegenden Agrar- zum überwiegenden Industriestaat. Es galt, die schnell wachsende deutsche Industrie vor den Folgewirkungen der vielfach schon eingetretenen und nach dem Jahre 1892 noch schärfer zum Ausdruck kommenden Absperrungsmaßnahmen der als Ausfuhrgebiete hauptsächlich in Betracht kommenden Länder zu schützen. Dies und nichts anderes ist als letztes Motiv hinter allen handelspolitischen Maßnahmen jener viel angefeindeten Ära Caprivi wirksam gewesen. Aus welchen Gründen aber der Wille zu industriefördernder Tätigkeit entstanden ist, hat Caprivi in seiner Reichstagsrede vom 10. Dezember 1891 eingehend dargelegt: „Lohnende Arbeit wird..., wenn diese Verträge zur Perfektion kommen, gefunden werden. Wir werden sie finden durch den Export; wir müssen exportieren: entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage, weiter zu leben.“ Die erschreckend hohen Auswandererziffern jener Zeit haben damals eine große Rolle gespielt. Von 1872 bis 1878 war die Zahl der deutschen Auswanderer ständig gesunken: von 128 000 auf 25 000. Das Jahr 1879 aber bedeutete einen entscheidenden Wendepunkt in aufsteigender Richtung. Der jetzt eintretende Wanderverlust ist so gravierend, daß er hier im einzelnen dargestellt sei. Die Zahl der Auswanderer betrug:

1879   35 888
1880   117 097
1881   220 902
1882   203 585
1883   173 616
1884   149 065
1885   110 119
1886   83 225
1887   104 787
1888   103 951
1889   96 070
1890   97 103
1891   120 089

In der Zeit von 1872–79 hatte die Auswanderung sich im jährlichen Durchschnitt auf 54 081 gestellt, in den Jahren 1880–1891 aber auf 131 623. Der relative Rückgang des Warenexportes hatte demnach in der Tat in einer starken Zunahme des Menschenexports sein Korrelat gefunden. Es lag auch ohne weiteres auf der Hand, daß diese ungünstige Entwickelung sich künftig noch stärker ausprägen würde, wenn es nicht gelang, der weiteren Zollerhöhung und willkürlichen Handhabung des Zolltarifs in andern Staaten, auf deren Markt die deutsche Industrie angewiesen war, Einhalt zu tun.

Es ist nun aber anderseits keineswegs richtig, daß die in der Caprivischen Handelspolitik zum Ausdruck gekommene Industrieförderung in der Absicht geschehen sei, dies auf Kosten der Landwirtschaft zu tun, daß gewissermaßen die Neigung bestanden habe, das englische Beispiel zu befolgen und um des „Industrie- und Handelsstaates“ willen, die Landwirtschaft fallen zu lassen. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß einer Anzahl von Mitgliedern der linken Parteien des Reichstages dies „Ideal“ vorgeschwebt hat. [688] Mancherlei doktrinär anmutende Reden aus jener Zeit über „internationale Arbeitsteilung“ rechtfertigen solche Annahme. Aber die große Mehrheit derjenigen, die die Handelsvertragspolitik mitgemacht haben, war nichts weniger als „landwirtschaftsfeindlich“ – am allerwenigsten die Reichsregierung. Daß man das englische Beispiel nicht nachahmen dürfe, daß Deutschland aus den verschiedensten Gründen auf die Erhaltung einer leistungsfähigen Landwirtschaft angewiesen sei, war nicht zuletzt auch Caprivis tiefeingewurzelte Überzeugung, der er oft genug Ausdruck gegeben hat. Nach der damaligen Sachlage aber, vor allem im Hinblick auf den hohen Stand der agrarischen Preise, glaubte man, die Herabsetzung der industriellen Zölle des Auslandes und deren vertragliche Bindung für längere Zeit mit einer Reduktion der Getreidezölle erkaufen zu dürfen, ohne daß die deutsche Landwirtschaft geschädigt würde. Dies um so mehr, als ja der im Jahre 1887 eingeführte Zoll von 5 M. gar nicht in erster Linie als Schutzzoll gedacht war, sondern Kampfeszwecken gegenüber Rußland dienen sollte. Dies war von Bismarck stets mit aller Energie betont worden. Jener Kampfzweck war nun erreicht, folglich konnte der Zoll, wenn dem nicht dringende Gründe des Preisstandes widersprachen (das Gegenteil war der Fall) wieder reduziert werden. Hierbei ist zu beachten, daß diese Reduktion immer noch um 50 Pf. über den Satz von vor 1887 stehen blieb.

Folgewirkungen der Ära Caprivi.

Es fragt sich nun, inwieweit alle diese Voraussetzungen durch die eingetretenen Folgewirkungen der Caprivischen Handelspolitik gerechtfertigt worden sind. Zweckmäßig erfolgt die Antwort für Industrie und Landwirtschaft gesondert. Daß die Wirkung der Handelsverträge für die gewerbliche Tätigkeit Deutschlands und für dessen Außenhandel ungemein günstig gewesen ist, wird heute von kaum einer Seite bezweifelt, so daß an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen zu werden braucht. Nur die zahlenmäßige Entwicklung des Außenhandels sei kurz angeführt. Legen wir zunächst die erste Periode der Verträge, die bekanntlich bis zum 1. März 1906 dauerte, zugrunde. Ausgangspunkt sei das Jahr 1894, in welchem (20. März) der russische Vertrag in Kraft trat. Aus- und Einfuhr stellten sich im Spezialhandel für diese 12 Jahre wie folgt:

Einfuhr   Ausfuhr
in Mill. Mark in Mill. Mark
1894: 4285,5 3051,5
1895: 4246,1 3424,1
1896: 4558,0 3753,8
1897: 4864,6 3786,2
1898: 5439,7 4010,6
1899: 5783,6 4368,4
1900: 6043,0 4752,6
1901: 5710,3 4512,6
1902: 5805,8 4812,8
1903: 6321,1 5130,3
1904: 6854,5 5315,6
1905: 7436,3 5841,8

Die Aufstellung ergibt eine Durchschnittseinfuhr pro Jahr von 5612,3, eine Ausfuhr von 4396,7 Mill. Mark. Die durchschnittliche jährliche Zunahme beläuft sich bei der Einfuhr auf 262,5, bei der Ausfuhr auf 232,5 Mill. Mark. Vergleichen wir hiermit die Steigerung der Außenhandelsziffern in der Zeit von 1872–1890 so springt der Unterschied in die Augen. Es ist nun allerdings richtig, daß die Tarifstaaten an [689] dieser Entwicklung nicht stärker beteiligt sind als die übrigen Länder in ihrer Gesamtheit. Der Anteil der Tarifstaaten betrug nämlich:

  Einfuhr Mill. Mark   Ausfuhr Mill. Mark
1894 1643,9 = 38% 1060,5 = 34%
1905 2684,4 = 36% 1923,5 = 33%

Dabei ist aber zu beachten, daß in den hier zum Vergleich stehenden 12 Jahren der Außenhandel Deutschlands mit den überseeischen Ländern sich stark entwickelt hat und so das Gesamtbild sich verschiebt. Diese Möglichkeit der Pflege eines erweiterten Marktes ist im übrigen mitbedingt gewesen durch die langfristig geregelten handelspolitischen Verhältnisse in den hauptsächlichsten Ländern Europas, die hier ein verhältnismäßig stetiges Geschäft sicherten und demgemäß Kraft und Kapital für weitere Expansionstätigkeit freimachten. Endlich ist zu bedenken, daß es sich bei mehreren der Tarifsvertragsländer um Volkswirtschaften mit stark zunehmender Industrie handelt, denen gegenüber schon die Erhaltung der proportionalen Ausfuhrsteigerung ein Erfolg ist. Jedenfalls kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Ausfuhrbeziehungen zu jenen Vertragsländern bei Fortdauer der handelspolitischen Zustände, wie sie vor der Ära Caprivi bestanden, schweren Erschütterungen unterworfen gewesen wären und nicht annähernd die gleiche Entwicklung genommen hätten. Dies fällt um so mehr ins Gewicht, als es sich bei den Tarifvertragsländern etwa um die Hälfte der gesamten Ausfuhr Deutschlands nach dem europäischen Ausland handelt.

Wirkung auf die Landwirtschaft.

Eine tiefergreifende Analyse des deutschen Außenhandels soll weiter unten gegeben werden. An dieser Stelle möge zunächst die Wirkung der Caprivischen Handelsverträge auf die Landwirtschaft kurz zur Darstellung kommen. Ausgangspunkt sei die Preisentwicklung für Getreide. Wie bereits bemerkt, kostete der Weizen in Berlin 1891: 224 M., der Roggen 211 M. per Tonne. Diese Preise gingen in den nächsten Jahren rapid herunter. Weizen stand im Jahre 1894 auf 136, Roggen auf 118 M. (Berlin). Mithin innerhalb von drei Jahren ein Preissturz von 88 bezw. 93 M. Es bedarf keines Wortes der Erklärung, daß die am Körnerbau interessierte Landwirtschaft hierdurch in eine schwere Krisis geriet. Es fragt sich nun, inwieweit diese Verhältnisse auf die Caprivische Handelsvertragspolitik zurückzuführen waren. Der Preissturz bewegte sich zwischen 88 und 93 M. Der Zoll war aber nur um 15 M. herabgesetzt worden. Nehmen wir den Fall, die Handelsverträge wären damals auf der Basis des Tarifes von 1887, also mit 5 M. Zoll abgeschlossen worden, so wäre vermutlich irgendwelche nennenswerte Opposition nicht erfolgt, denn die Gegner der Caprivischen Politik forderten vornehmlich die Beibehaltung des Tarifes von 1887. Der Preissturz wäre dann aber nicht minder krisenhaft gewesen, da er sich – vorausgesetzt, daß die Zölle volle Wirkung gehabt hätten – immer noch zwischen 73 und 88 M. bewegt hätte. Es ist deshalb durchaus unberechtigt, den großen Preissturz seit 1891 der Caprivischen Politik zuzuschreiben. Er war vielmehr in den allgemeinen Weltmarktpreisen begründet und wurde durch die Ermäßigung der deutschen Zölle nur etwa zu einem Sechstel herbeigeführt. Hätte man [690] den Preis von 1891 festhalten wollen, so würde es dazu statt 35 M. eines Zolls von 123 bezw. 128 M. per Tonne bedurft haben! Weiter ist zu beachten, daß, wie schon bemerkt, die Preise von 1891 Teurungspreise waren, deren Aufrechterhaltung untunlich erschien. Mitte der achtziger Jahre hatten die Preise zeitweilig nicht viel höher gestanden als 1894.

Immerhin muß zugegeben werden, daß die Lage der körnerbauenden Landwirtschaft in jenen Jahren in der Tat äußerst kritisch war. Nur das muß bestritten werden, daß die Ermäßigung des Zolles um 15 M. hierzu wesentlich beigetragen hat. Will man die Handelsverträge mit jener Kalamität in Verbindung bringen, so kann es nur in dem Sinne geschehen, daß die Bindung des Tarifs eine den Weltmarktpreisen folgende Erhöhung des Zolls – die, wie gezeigt, allerdings den Satz von 1887 mindestens hätte verdoppeln müssen, wenn ein voller Ausgleich hätte herbeigeführt werden sollen – verhinderte. Die Bedeutung der Caprivischen Politik lag, dies muß immer wieder mit Schärfe betont werden, keineswegs in der Höhe der Zollsätze, sondern in deren Bindung. Dies ergibt sich u. a. auch aus der Weiterentwicklung der Brotgetreidepreise während der Gültigkeitsdauer der Handelsverträge. Es kostete in Berlin

im Jahre   Weizen   Roggen
1894 136 M. 118 M.
1895 143 M. 120 M.
1896 156 M. 119 M.
1897 174 M. 130 M.
1898 186 M. 146 M.
1899 155 M. 146 M.
1900 152 M. 143 M.
1901 164 M. 141 M.
1902 163 M. 144 M.
1903 161 M. 132 M.
1904 174 M. 135 M.
1905 175 M. 152 M.

Für diese ganze Zeit hat derselbe Zoll bestanden, und trotzdem ergab sich eine sehr unterschiedliche Preisentwicklung, die eben in den Weltmarktverhältnissen begründet lag und teilweise Sätze erreichte, die zu Anfang der neunziger Jahre auch von den Gegnern der Caprivischen Politik als ausreichend erachtet wurden und die im Frühjahr 1898 sogar zu Erörterungen im Reichstag darüber führten, ob der Zoll nicht zeitweise herabgesetzt werden müsse. Hiergegen wandte sich aber besonders scharf das Zentrum: „Wir wollen unter der Herrschaft des 3½ M.-Zolles bei steigender Konjunktur den Landwirten den Vorteil von den hohen Preisen lassen, nachdem sie bei niedrigen Preisen den Nachteil gehabt haben.“ (Lieber.)

Im Grunde genommen ist deshalb die Situation der deutschen Landwirtschaft, soweit sie am Körnerbau interessiert war, während der Zeit der Caprivischen Handelsverträge so zu beurteilen, daß mit dem Inkrafttreten der Verträge zufällig ein internationaler Preissturz zusammenfiel, der zu einer unverkennbaren Notlage führte, die zeitweilig eine Erhöhung der Getreidezölle als dringend erwünscht erscheinen ließ, ohne daß diese infolge der Bindung des Tarifs möglich gewesen wäre. Von Mitte der 90er Jahre ab aber änderte sich das Preisniveau auf dem Weltmarkt und damit auch in Deutschland so sehr, daß von einer „Notlage“ nicht mehr die Rede sein konnte. Hierbei ist freilich zu beachten, daß um die Wende des 19. Jahrhunderts die schon in den 70er Jahren erkennbar gewordene Preissteigerung des landwirtschaftlich benutzten Bodens ganz ungewöhnlich starke Fortschritte machte und [691] den neuen Besitzern von landwirtschaftlichen Gütern eine den gestiegenen Getreidepreisen entsprechende Rentabilität vorenthielt.

Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Getreidepreise nicht der allein ausschlaggebende Faktor für die Landwirtschaft sind. Die kleineren und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe sind an den Getreidepreisen unmittelbar weniger interessiert, mittelbar sogar vielfach derart, daß ihnen an niedrigen Preisen gelegen sein muß, da das Schwergewicht ihrer Produktion auf den Gebieten der Viehzucht, der Milchwirtschaft, des Gemüsebaues, der Geflügelzucht usw. liegt. Mit Rücksicht hierauf hat die Caprivische Politik aber zweifellos eine günstige Wirkung gehabt, denn die zunehmende Industrialisierung des deutschen Volks hat die Konsumenten der bäuerlichen Wirtschaft nicht nur vermehrt, sondern auch kaufkräftiger gemacht. Der gutbezahlte Industriearbeiter mit seinem starken Konsum an animalischen Produkten darf geradezu als eine Stütze des bäuerlichen Betriebes angesprochen werden. Die Erhaltung und Kräftigung des landwirtschaftlichen Klein- und Mittelbetriebes hat sich in Deutschland in engster Wechselwirkung mit der industriellen Entwicklung vollzogen und wäre ohne diese niemals möglich gewesen. Bei einer Gesamtwürdigung der Ära Caprivi darf solcher Zusammenhang nicht aus dem Auge gelassen werden. Das Verständnis für jene vielumstrittene handelspolitische Epoche ist erst dann gegeben, wenn dieser Zusammenhang zwischen Industrie und Landwirtschaft richtig gewürdigt wird. Sobald dies geschieht, wird man Schmoller zustimmen, wenn er sagt: „Mögen die Handelsverträge von 1891–1894 nicht in jeder Beziehung vollkommen gewesen sein, hätte man vielleicht besser den Tarif vorher revidiert, hätte man für die Verhandlungen besser vorbereitet sein können, im ganzen waren sie doch eine rettende Tat.“

Zusammenfassung.

Alles in allem wird das Urteil dahin zusammenfaßt werden dürfen, daß die Caprivischen Handelsverträge in erster Linie für Industrie und Handel von fruchtbringender Bedeutung geworden sind, indem sie gewissermaßen die Grundlage schufen, auf der die innerlich notwendig gewordene Entwicklung Deutschlands zum überwiegenden Industriestaat sich beharrlich und folgerichtig vollziehen konnte. Daneben aber haben sie mittelbar die bäuerliche Wirtschaft gekräftigt, d. h. deren Absatzgebiet und Produktionssphäre erweitert. Für die körnerbauende Landwirtschaft hingegen bedeuteten sie zunächst eine Verschärfung des durch internationale Marktverhältnisse bedingten Preissturzes. Diese Wirkung war jedoch nur vorübergehend, da das Anziehen der Weltmarktpreise von Mitte der 90er Jahre ab eine ausgesprochene Besserung der Lage herbeiführte. Ob freilich die später erzielten Preise im Einklang standen mit den erhöhten Boden- und sonstigen Produktionskosten, darf bezweifelt werden. Wenn es im übrigen als erwünscht erachtet wird, daß im Gegensatz zu den Industrieerzeugnissen die Preisbewegung des Getreides möglichst gleichmäßig verläuft, – ein Problem, das hier nicht zu erörtern ist – so wird dies Ziel durch einen langfristigen Tarifvertrag mit festen Sätzen überhaupt nicht zu erreichen sein. Es könnte dies nur geschehen entweder durch einen autonomen Tarif, der den Schwankungen der Preise entsprechend ständig geändert würde, [692] oder aber durch eine feststehende gleitende Skala, die sich automatisch dem Schutzbedürfnis anpaßte. Ersteres ist heute mit Rücksicht auf das Ausland, dem damit beständig Anlaß zu Repressivmaßnahmen gegeben würde, gänzlich ausgeschlossen. Ob die gleitende Skala dem System der Tarifverträge, an welchem unter allen Umständen festzuhalten sein wird, einzugliedern ist oder ob tiefgreifende Änderungen der Getreidepreise auch künftig zu riskieren sind, wird Gegenstand eingehendster Erörterung bei künftiger Regelung der deutschen Handelspolitik sein müssen.

In diesem Zusammenhang darf auch darauf hingewiesen werden, daß unter Caprivi eine ganze Anzahl von anderen die Landwirtschaft fördernden Maßnahmen zur Durchführung gekommen oder doch begonnen worden sind. Um nur die wichtigsten anzudeuten: die Aufhebung des Identitätsnachweises, aus der sich das heutige Einfuhrscheinwesen entwickelte, die Abänderung des Unterstützungswohnsitzgesetzes, das Weingesetz von 1892, das Reichsviehseuchengesetz von 1894, die Schaffung von Landwirtschaftskammern in Preußen (1894), die Rentengutsgesetzgebung 1891, die Staatszuschüsse zur Förderung des Meliorationswesens und der Kleinbahnen, der Beginn der großen Reform der direkten Besteuerung durch Miquel, die auf die Verschuldung des Grundbesitzes weitestgehende Rücksicht nahm und eine Steuerentlastung des platten Landes um 28½ Mill. Mark mit sich brachte.

Welcher Art aber die parteipolitische Stellungnahme gegenüber der Ära Caprivi auch immer sein möge: solange es in Deutschland objektive Historiker gibt, wird in der Geschichtsschreibung des neudeutschen Wirtschafts- und Soziallebens der Name Caprivi einen ehrenvollen Klang behalten, wird man nicht vergessen, daß Kaiser und Kanzler in jener Zeit mit weitausschauendem Verständnis gegen eine Welt von Widerständen den ökonomischen und sozialen Triebkräften des neuen Deutschlands freie Bahn schufen.

Hohenlohe.

Im März des Jahres 1894 schied Caprivi aus dem Amt. Sein Nachfolger wurde Fürst Hohenlohe, der mit seinem Amt wieder die seit 1892 losgelöste preußische Ministerpräsidentschaft vereinigte. Hohenlohe hat sich niemals in direkten Gegensatz zu der Handelspolitik seines Vorgängers gestellt, immerhin betonte er von vornherein sehr scharf, daß er „die Fürsorge für die Landwirtschaft für die dringendste Aufgabe der inneren Politik in den kommenden Jahren“ halte, „nachdem die Maßnahmen der letztvergangenen Zeit ausschließlich Handel und Industrie zugute gekommen“ seien. Dementsprechend begann er in seiner wirtschaftspolitischen Gesetzgebung mit einer Reihe von landwirtschaftsfreundlichen Maßnahmen: die Erneuerung der Ausfuhrprämien für Zucker, die Erhöhung der Zollsätze auf solche Artikel, die in den Vertragstarifen nicht gebunden waren, die Verstärkung der in Zollkriegen zur Verfügung stehenden Kampfmittel, die Einberufung einer internationalen Münzkonferenz zur Regelung der Währungsfrage (Doppelwährung), Verbot des Getreideterminhandels, das Margarinegesetz, das Zuckersteuergesetz von 1896, die Abänderungen der Branntweinbesteuerung, die Beschränkung der Zollkredite für Getreideimporteure, die Beseitigung zahlreicher Getreidetransitlager an der Ostgrenze (1896) usw. Hingegen lehnte Hohenlohe und mit ihm die überwältigende Mehrheit des Reichstages den sog. „Antrag Kanitz“ ab.

[693] Neue Tarifverträge sind unter Hohenlohe nicht abgeschlossen worden. Die unter ihm zustande gekommenen Verträge beschränkten sich auf die Gewährung der Meistbegünstigung.

Die Handelspolitik unter dem Fürsten Bülow.

Alle diesen „kleinen Mittel“ traten aber zurück hinter dem Bestreben, die künftige Erneuerung der Caprivischen Verträge nicht „als bloße Abschriften der jetzt bestehenden Verträge“ hinzunehmen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die wechselreiche Geschichte dieser Vorbereitungszeit einzugehen, die ihren Ausgangspunkt nimmt von der berühmten Hildesheimer Rede Miquels mit der Parole der „Sammlung“, eine Neubelebung der Bismarckschen Solidarität der protektionistischen Interessen von Landwirtschaft und Schwerindustrie zeitigte und schließlich – unter dem Reichskanzler von Bülow, der im Herbst 1900 Nachfolger Hohenlohes geworden war – in der Nacht des 13. Dezember im Reichstag zur Annahme des Zolltarifs von 1902 führte. Wir müssen uns darauf beschränken, den jetzt hergestellten Zustand demjenigen der Ära Caprivi gegenüberzustellen. Der neue Tarif unterscheidet sich von seinem Vorgänger zunächst einmal dadurch, daß er auf der ganzen Linie eine Erhöhung der Sätze bringt, ohne allerdings ein sog. „lückenloser Tarif“ zu sein. Bei der Aufstellung der 946 Positionen ist man den Wünschen der Interessenten in ungewöhnlichen Maße entgegengekommen. Hierbei ist freilich weniger die Absicht leitend gewesen, den Tarif auch wirklich anzuwenden, als vielmehr das Bestreben, bei künftigen Verhandlungen ein Rüstzeug in der Hand zu haben. Die Regierung hat denn auch alle auf einen Doppeltarif gerichteten Wünsche abgelehnt, da sie sich auf eine untere Grenze für die von ihr zu gewährenden Konzessionen nicht festlegen wollte. Nur bei den 4 Hauptgetreidearten hat sie in Minimalsätze eingewilligt. Im Tarif ist für Weizen ein Zoll von 7,50 M., für Roggen, Gerste und Hafer ein solcher von 7 M. vorgesehen. Das Zolltarifgesetz sagt nun, daß diese Zollsätze durch vertragsmäßige Abmachungen

bei Roggen nicht unter   5,00 M.
bei Weizen und Spelz nicht unter 5,50 M.
bei Malzgerste nicht unter 4,00 M.
bei Hafer nicht unter 5,00 M.

für einen Doppelzentner herabgesetzt werden sollen. Faktisch bedeutet dies mit Rücksicht auf die gegenüber den Nichttarifländern bestehende Meistbegünstigungsklausel, daß der hier angegebene Satz schlechtweg zur Anwendung kommt. Es ist somit der Satz von 1887 wiederhergestellt worden, bei Weizen sogar um 50 Pf. darüber hinausgegangen. Auch die meisten der andern agrarischen Positionen (einschl. wichtiger Futtermittel) sind namhaft erhöht oder neu eingeführt worden, so vor allem die Zölle für Pferde, Vieh und tierische Produkte. Ermäßigt wurden die Sätze für Futtergerste.

Einfuhrscheine.

Eine wichtige Änderung erfuhr ferner das System der Einfuhrscheine. Im Jahre 1879 war gleichzeitig mit dem Zolltarif der [694] Identitätsnachweis eingeführt worden, das heißt, es konnte ausländisches Getreide zollfrei nach Deutschland eingeführt werden, wenn nachgewiesen wurde, daß ein gleiches Quantum ausländischen Getreides von demselben Importeur und aus demselben Transitlager zur Ausfuhr gelangte. Es geschah dies im Interesse der Durchfuhrmöglichkeit fremden Getreides. Nachdem dieser Identitätsnachweis im Jahre 1882 zugunsten des Müllereigewerbes durchbrochen war, wurde er durch Gesetz vom 1. Mai 1894 allgemein aufgehoben: „Bei der Ausfuhr von Weizen, Roggen, Hafer, Hülsenfrüchten, Gerste, Raps und Rübsaat aus dem freien Verkehr des Zollinlandes werden, wenn die ausgeführte Menge wenigstens 500 kg beträgt, auf Antrag des Warenführers Bescheinigungen (Einfuhrscheine) erteilt, welche den Inhaber berechtigen, innerhalb einer vom Bundesrat auf längstens sechs Monate zu bemessenden Frist eine dem Zollwert der Einfuhrscheine entsprechende Menge der nämlichen Warengattung ohne Zollentrichtung einzuführen.“ Der Bundesrat wurde außerdem ermächtigt, die Anrechnung der Scheine zum Nennwert auch bei Begleichung der Zölle für andere Waren als Getreide zuzulassen. Hiervon machte der Bundesrat alsbald Gebrauch, indem er vom vierten Monat nach dem Datum der Einfuhrscheine ab die Anrechnung auf Kaffee, Petroleum, Reis usw. genehmigte. Im Anschluß an den Tarif von 1902 ist diese Angelegenheit nun so geregelt worden, daß die bei der Ausfuhr von Getreide erteilten Einfuhrscheine zur zollfreien Einfuhr jeder beliebigen Getreidegattung verwendet werden können, und sie ferner zur Verzollung von Kaffee und Petroleum schlechtweg angerechnet werden. Außerdem ist Buchweizen neu aufgenommen worden. Durch eine neue Verfügung des Bundesrats ist die Anrechnung für Kaffee und Petroleum bis auf weiteres inhibiert.

Für die Industrie bedeutet der neue Zolltarif gleichfalls eine Erhöhung der Zölle auf der ganzen Linie, und zwar vom primitivsten Halbfabrikat bis zum Fertigprodukt, nicht selten sogar einschließlich wichtiger Rohstoffe. Außerdem zeigen die neuen Industriezölle eine viel tiefergehende Differenzierung als diejenigen des früheren Tarifs.

Die Erneuerung der Verträge.

Die Gegner des neuen Tarifs hatten ihre Stellungnahme u. a. damit motiviert, daß auf seiner Basis die Erneuerung der Caprivischen Verträge nicht möglich sein werde. Dies Ziel aber hatte die Reichsregierung mit den Vertragsfreunden, deren Zahl inzwischen erheblich zugenommen hatte, als unbedingt erstrebenswert bezeichnet. Sie hat sich in der Erwartung, daß der neue Zolltarif ein geeignetes Instrument zur Verwirklichung solcher Pläne sei, auch nicht getäuscht. Trotz großer Schwierigkeiten gelang es, sämtliche Verträge zu erneuern. Es geschah dies in der Form von Zusatzverträgen, unter Beibehaltung von Form und Inhalt der bisherigen Verträge mit Ausnahme der Tarifsätze. Neu ist u. a. die Aufnahme einer Vereinbarung in den Verträgen mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, der Schweiz und Serbien, daß zur Entscheidung strittiger Tariffragen eine schiedsgerichtliche Entscheidung vorgesehen wurde. Dies Schiedsgericht wird für jeden Streitfall besonders gebildet, und zwar durch drei Schiedsrichter, [695] deren zwei die beteiligten Länder stellen, während der dritte (als Obmann) ein Angehöriger eines befreundeten Staates ist, der von beiden Kontrahenten gewählt wird.

Der für die Landwirtschaft in Aussicht genommene höhere Schutz.

In der den neuen Verträgen seitens der Regierung beigegebenen Denkschrift war ausdrücklich zugegeben, daß bei dem Abschluß „in erster Linie das Bestreben maßgebend gewesen sei, den für die Landwirtschaft in Aussicht genommenen höheren Schutz tunlichst aufrechtzuerhalten“. Hierdurch sei es unmöglich gemacht worden, für die gewerbliche Ausfuhr diejenigen Zugeständnisse zu erhalten, „auf die wir andernfalls vielleicht hätten rechnen können“. Das entsprach den Tatsachen. Die Vertragsstaaten hatten nicht nur die Minimalhöhe für Getreide akzeptiert, sondern auch die im Tarif vorgesehenen sonstigen landwirtschaftlichen Zölle im wesentlichen angenommen. Diese Zugeständnisse waren aber nur gegen schwere Opfer erreicht worden. Die meisten der Kontrahenten (Rußland, Österreich-Ungarn, die Schweiz, Rumänien) hatten sich für die Verhandlungen gleichfalls mit ansehnlichen Tariferhöhungen „vorbereitet“, die nun zum größten Teile von Deutschland hingenommen werden mußten. Die künftige Ausfuhr von deutschen Fabrikaten und Halbfabrikaten in die Vertragsländer war dadurch außerordentlich erschwert, so daß der erhöhte Schutz der Landwirtschaft tatsächlich auf Kosten der am Export interessierten Industrie vorgenommen wurde. Man hoffte allerdings durch die gleichzeitig erfolgte Erhöhung der eigenen Industriezölle ein Äquivalent zu schaffen, das ausgleichend wirkte. Immerhin war mit einer Erschwerung des Verkehrs zwischen den Vertragsländern auf jeden Fall zu rechnen, so sehr sich im übrigen die Wirkung solcher „Rückversicherung“ zunächst der zuverlässigen Beurteilung entzog.

Die neuen Verträge wurden im Reichstag sämtlich angenommen. Es stimmte auch ein erheblicher Teil derjenigen Abgeordneten für sie, die erbitterte Gegner des Tarifs gewesen waren. Es geschah dies mit der Motivierung, daß ein noch so schlechter Vertragszustand einem vertragslosen Zustand unter allen Umständen vorzuziehen sei. Die Verträge traten am 1. März 1906 in Kraft und gelten bis zum 31. Dezember 1917. Sie laufen von da ab mit einjähriger Kündigungsfrist für unbestimmte Zeit weiter. Nur in dem Vertrage mit Österreich-Ungarn ist mit Rücksicht auf den 1915 zu erneuernden Ausgleich zwischen beiden Ländern der 31. Dezember dieses Jahres als möglicher Endtermin vorgesehen.

Die übrigen handelspolitischen Beziehungen Deutschlands.

Bevor in eine grundsätzliche Würdigung dieses neuen Vertragswerkes eingetreten wird, seien noch die handelspolitischen Beziehungen Deutschlands zu den übrigen Ländern kurz dargestellt. Aus Raumgründen muß dabei die Beschränkung auf den gegenwärtig geltenden Zustand erfolgen.

Weitere Tarifverträge sind seitdem zustandegekommen mit Bulgarien (1905), Portugal (1910), Schweden (1911), Japan (1911), so daß z. Zt. insgesamt mit den folgenden [696] Ländern Tarifverträge in Kraft sind: Belgien, Bulgarien, Griechenland, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Portugal, Rumänien, Rußland, Schweden, Schweiz und Serbien. Die übrigen der vom Deutschen Reich abgeschlossenen Verträge sind Meistbegünstigungsverträge ohne oder mit ganz vereinzelten Tarifbindungen. (Nebenbei sei erwähnt, daß auch die Tarifverträge sämtlich die Meistbegünstigungsklausel enthalten.) Solche Meistbegünstigungsverträge bestehen mit fast allen Staaten der Erde; in den Ländern China und Siam handelt es sich dabei um die einseitige Meistbegünstigung für Deutschland, während dieses selbst nur den autonomen Tarif gewährt. Im Verkehr mit den andern Staaten aber gilt beiderseitige Meistbegünstigung. Einige orientalische Staaten (Türkei, Ägypten, Marokko, Zanzibar) gewähren Deutschland außerdem einseitige Tarifbegünstigungen. Keine Abmachungen bestehen mit Brasilien, Kuba und Kongostaat. Einigermaßen kompliziert liegen die handelspolitischen Verhältnisse zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. An dieser Stelle muß die Bemerkung genügen, daß Deutschland seinen Vertragstarif und die Vereinigten Staaten ihren Minimaltarif gewähren. Mit England und seinen Kolonien besteht das Meistbegünstigungverhältnis (seit dem 1. August 1898 als ständig erneuertes „Provisorium“). Ausgenommen ist Kanada, mit dem seit der Beendigung des Zollkrieges (1910) ein Abkommen besteht, demzufolge Kanada seinen Generaltarif anwendet und Deutschland für 24 Positionen seines autonomen Tarifes die Zollsätze erhebt, die den Erzeugnissen des meistbegünstigsten Landes gewährt werden.

Würdigung der neuesten deutschen Handelspolitik.

Versuchen wir nunmehr in eine prinzipielle Würdigung dieses neuesten Abschnittes deutscher Handelspolitik einzutreten. Festzustellen ist da zunächst, daß der Grundgedanke der Ära Caprivi auch jetzt festgehalten worden ist: die Vertragspolitik mit gebundenen Tarifen. Was damals zu stürmischen Protesten führte und selbst von Bismarck ein „Sprung ins Dunkle“ genannt wurde, war inzwischen hinsichtlich seiner Zweckmäßigkeit so allgemein anerkannt worden, daß Widerspruch gegen das Prinzip sich kaum noch geltend machte. Regierung und Reichstagsmehrheit haben in keinem Stadium der Vorbereitungsmaßnahmen einen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß die Fortführung der Tarifvertragspolitik dringend geboten sei, und eben deshalb Minimalsätze des autonomen Tarifs, die dies von vornherein unmöglich machten, schlechterdings nicht akzeptierbar seien. Es ist unverkennbar, daß solche Auffassung eine glänzende Rechtfertigung des prinzipiell bedeutsamsten Ausgangspunktes der Caprivischen Handelspolitik bedeutet. Und diese Meinung hat sich erhalten bis auf den heutigen Tag und wird – bei allen Bedenken im einzelnen – je länger desto mehr die Herrschaft gewinnen. Man kann sich die Abwicklung des mitteleuropäischen Handelsverkehrs ohne das System der Tarifverträge mit ihrer langjährigen Gewähr von Stetigkeit und Sicherheit der gegenseitigen Bedingungen gar nicht mehr vorstellen. Unübersehbar wären die Zustände, die sich ergeben müßten, wenn der vorcaprivische Stand der Dinge, die autonome Handelspolitik mit ihrer unerläßlichen Begleiterscheinung des Kampfes aller gegen alle, wiederhergestellt würde und damit in die weitverzweigten internationalen Beziehungen [697] der europäischen Staaten eine Unsicherheit getragen würde, die zu den schwersten Erschütterungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts führen müßte.

Ist somit die neueste deutsche handelspolitische Ära in ihrer bedeutsamsten Ausdrucksform nichts anderes als die unmittelbare und erfolgreiche Fortführung der bewährten Caprivischen Politik, so ergibt sich im Hinblick auf die den Verträgen zugrunde liegenden Zollsätze allerdings ein tiefgreifender Unterschied. Das ganze Zollniveau des Verkehrs unter den Vertragsstaaten und damit zwischen Deutschland und fast allen andern Staaten der Erde (mit Ausnahme des aktiven Verkehrs mit England und den wenigen andern Freihandelsländern) hat sich erhöht. Daß daraus an sich schon zahlreiche Schwierigkeiten für den internationalen Verkehr entstehen, liegt auf der Hand. Immerhin kommt dies erst in zweiter Linie in Frage. Wichtiger ist, welches im einzelnen die Rückwirkung jener Zollerhöhungen auf das deutsche Wirtschaftsleben gewesen ist und noch ist. Zweckmäßig geschieht die Beantwortung dieser Frage im Rahmen einer systematischen Darstellung des deutschen Wirtschaftslebens, soweit es zum Außenhandel überhaupt Beziehungen hat.

II.

Bevölkerungsvermehrung.

Ausgangspunkt der Betrachtung sei die Bevölkerungsvermehrung. Auf dem heutigen Gebiet des Deutschen Reiches betrug die Bevölkerung im Jahre:

1816   24,8 Millionen
1830 29,4 Millionen
1870 40,8 Millionen
1890 49,4 Millionen
1910 64,9 Millionen

Für das Jahr 1913 wird die Bevölkerung des Deutschen Reiches auf 67 Mill. geschätzt, seit 1871 mithin eine Vermehrung um 63%. Seit geraumer Zeit beläuft die Bevölkerungszunahme sich auf 800 000/900 000 Menschen. Es darf trotz rückläufiger Tendenzen in der Geburtenfrequenz damit gerechnet werden, daß wir in etwa 20 Jahren 75–80 Mill. Menschen innerhalb unserer Reichsgrenzen haben werden. Diese starke Bevölkerungsvermehrung findet bekanntlich verschiedene Beurteilung. Es wird aber daran festzuhalten sein, daß Deutschland, inmitten des europäischen Kontinents fast überall auf Landgrenzen stoßend, im Interesse der Behauptung seiner nationalen Machtstellung auf eine starke Bevölkerung angewiesen ist. Man vergegenwärtige sich nur, welche Rolle Deutschland heute spielen würde, wenn seine Bevölkerungsbewegung dieselbe Entwicklung genommen hätte wie diejenige Frankreichs!

Ernährungsfrage.

Wichtig ist nun freilich nicht nur die quantitative, sondern auch die qualitative Beschaffenheit der Bevölkerung. Es entsteht deshalb die Frage, ob die deutsche Volkswirtschaft imstande ist, den im Interesse unserer politischen Stellung erwünschten Bevölkerungszuwachs mit Arbeit und Nahrung zu versorgen. Die Antwort geht dahin, daß dies nur durch eine starke Entwicklung [698] der Industrie möglich ist. Die Statistik zeigt nämlich, daß diese in steigendem Maße den Bevölkerungszuwachs aufgenommen hat. Aus der nachstehenden Übersicht geht dies deutlich hervor:

Berufsabteilungen.
a) = absolute Zahl
b) = Prozentziffer
Berufsbevölkerung überhaupt Erwerbstätige im Hauptberuf
1907 1895 1882 1907 1895 1882
A. Landwirtschaft
Gärtnerei u. Tierzucht
a) 17 681 176 18 501 307 19 225 455 9 883 257 8 292 692 8 236 496
b) 28,65 35,74 42,52 32,69 36,19 43,38
B. Bergbau, Industrie
Bauwesen
a) 26 386 537 20 253 241 16 058 080 11 256 254 8 281 220 6 396 465
b) 42,75 39,12 35,51 37,21 36,14 33,69
C. Handel und
Verkehr
a) 8 278 239 5 966 846 4 531 080 3 477 626 2 338 511 1 570 318
b) 13,42 11,52 10,02 11,50 10,21 8,27
D. Häusliche Dienste
Lohnarbeit
a) 792 748 886 807 938 294 471 695 432 491 397 582
b) 1,28 1,71 2,07 1,56 1,89 2,10
E. Militär-, Staats-, Gemeinde-
usw. Dienst
a) 3 407 126 2 835 014 2 222 982 1 738 530 1 425 961 1 031 147
b) 5,53 5,48 4,92 5,75 6,22 5,43
F. Ohne Beruf und
Berufsangabe
a) 5 174 703 3 327 069 2 246 222 3 404 983 2 142 808 1 354 486
b) 8,38 6,43 4,97 11,26 9,35 7,13
Zusammen: 61 720 529 51 770 284 45 222 113 30 232 345 22 913 683 18 986 494

Von 1882–1907 (der letzten Berufszählung) haben demnach die hauptberuflich Erwerbtätigen um 11,2 Mill. zugenommen. Davon fielen auf die Landwirtschaft 1,6, auf Industrie und Handel hingegen 6,7 Mill. Noch ungünstiger wird das Verhältnis, wenn die Berufsbevölkerung überhaupt zugrunde gelegt wird. Der Anteil der Landwirtschaft ist sogar absolut zurückgegangen, von 19,2 auf 17,6 Mill. Menschen, d. i. von 42 auf 28%. Industrie und Handel hingegen haben ihre Beteiligung von 20,5 auf 34,5 Mill. steigern können, d. h. von 45 auf 55% der Gesamtbevölkerung.

Die Bedeutung der Landwirtschaft.

Unterliegt es somit keinem Zweifel, daß es in erster Linie die Industrie gewesen ist, die den zuwachsenden Bevölkerungsteilen Unterkunft verschafft hat, so würde es doch auf eine vollständige Verkennung der Wesensbedingungen des deutschen Sozial- und Wirtschaftslebens hinauslaufen, wenn daraus etwa gefolgert würde, daß die Landwirtschaft für Deutschland von minderem Werte sei. Das Gegenteil ist richtig. Für die Beschaffung von Nahrungsmitteln in Deutschland ist dessen eigene Landwirtschaft immer noch der ausschlaggebende Faktor, wie weiter unten darzulegen sein wird. Aber nicht hierum allein handelt es sich. Wichtig ist auch, daß die landwirtschaftliche Bevölkerung die fortdauernde Regeneration der Gesamtbevölkerung zum mindesten in physischer (und wohl auch in moralischer) Beziehung sichert. Hierzu kommt, daß die deutsche Industrie, wenn sie, wie die englische, der inneren, durch die Landwirtschaft bedingten Kaufkraft entbehrte, weniger gut fundiert und den Folgewirkungen internationaler Krisen viel stärker ausgesetzt wäre, als es zurzeit der Fall ist. Sehr erheblich ist endlich, daß die Entwicklungstendenzen in der landwirtschaftlichen Betriebsform (im Gegensatz zur Industrie) zum Mittel- und Kleinbetrieb drängen, der sich gegenüber dem Großbetrieb als durchaus lebensfähig erweist, [699] diesem auf manchen Gebieten agrarischer Produktion sogar überlegen ist. Die Marxistische Konzentrationstheorie trifft, wie heute allgemein feststeht, für die Landwirtschaft überwiegend nicht zu. Die soziale Differenzierung in der Industrie (zunehmende Abhängigkeit) erhält demnach durch diejenige in der Landwirtschaft ein starkes und sehr erwünschtes Gegengewicht, indem sie uns einen wirtschaftlich selbständigen produktiven Mittelstand sichert.

Doppelaufgabe der Handelspolitik.

Bei aller Schätzung der Industrie und der Anerkennung ihrer überragenden Stellung im neudeutschen Wirtschaftsleben kann deshalb keine Rede davon sein, daß die Landwirtschaft zu ihren Gunsten vernachlässigt werden dürfte. Beide, Industrie und Landwirtschaft, sind integrierende Bestandteile der deutschen Volkswirtschaft, die durch eben diesen Dualismus ihren entscheidenden Charakter erhält. Und jede, wie immer geartete Handelspolitik hat dem Rechnung zu tragen. Es ist ausgeschlossen, daß etwa die deutsche Handelspolitik dauernd im Sinne der Förderung des einen oder des andern Wirtschaftszweiges geleitet würde. Ihre wesentlichste Aufgabe wird sie immer darin sehen müssen, eine gleichmäßige Pflege von Industrie und Landwirtschaft durchzuführen. Es liegt auf der Hand, daß hierdurch die Situation bei dem Abschluß von Handelsverträgen nicht erleichtert wird, denn es fehlt an den bei ausschließlicher Pflege eines Wirtschaftszweiges zur Verfügung stehenden Kompensationsobjekten.

Untersuchen wir nunmehr, inwieweit die neueste Ära der deutschen Handels-Politik solcher Doppelaufgabe gerecht geworden ist. Dabei möge die früher für die Darstellung der Caprivischen Zeit gewählte Anordnung Platz greifen, d. h. die Untersuchung getrennt für Landwirtschaft und Industrie durchgeführt werden.

Körnerbau.

Beginnen wir mit der am Körnerbau interessierten Landwirtschaft. Die Einfuhr und Ausfuhr von Getreide in das deutsche Zollgebiet hat sich in den letzten Jahren wie folgt entwickelt:

  1890 1900 1912
Einfuhr Ausfuhr Einfuhr Ausfuhr Einfuhr Ausfuhr
in
Tonnen
in Mill.
Mk.
in
Tonnen
in Mill.
Mk.
in
Tonnen
in Mill.
Mk.
in
Tonnen
in Mill.
Mk.
in
Tonnen
in Mill.
Mk.
in
Tonnen
in Mill.
Mk.
Weizen 672 587 104,1 206 0,04 1 293 864 172,8 295 080 39,3 2 297 422 395,8 322 589 63,4
Roggen 879 903 98,1 119 0,02 893 333 100,2 76 092 8,6 315 723 43,8 797 316 125,4
Hafer 187 717 21,8 461 0,08 462 851 48,4 105 998 12,4 665 935 91,6 385 208 61,9
Malzgerste
Futtergerste
735 292 98,0 6425 1,3 781 458 92,8 30 368 4,5 2 969 413 39,5
404,6
1 156 0,2

Auf dieser Tabelle fällt zunächst in die Augen, daß trotz stark zunehmender Getreideeinfuhr auch die Ausfuhr im letzten Jahrzehnt eine ansehnliche Steigerung erfahren hat, die zum erheblichen Teile auf die Institution der Einfuhrscheine zurückzuführen ist. Der reine Einfuhr- bezw. Ausfuhrüberschuß –stellte sich in den angegebenen Jahren wie folgt: [700]

1890 1900 1912
in Tonnen in Mill. Mk. in Tonnen in Mill. Mk. in Tonnen in Mill. Mk.
Weizen 672 887 104,1 998 784 133,5 1 974 833 332,4
Roggen 879 784 98,1 817 241 91,6 −481 583 −81,6
Hafer 187 256 21,8 356 853 36,0 280 727 29,7
Gerste 728 867 96,7 751 458 88,3 2 969 413 404,4
Zusammen Einfuhrüberschuß: 2 468 794 320,7 2 924 336 349,4 4 742 390 684,9

Aus diesen Zahlen geht eines mit Deutlichkeit hervor: Der Einfuhrüberschuß hat sich im letzten Jahrzehnt stark gesteigert: von 349,4 auf 684,9 Mill. M. An der Spitze steht Gerste, dem Weizen in nur geringem Abstand folgt, während Hafer bloß einen Einfuhrüberschuß von 29,7 Mill. M. hat. Eine eigenartige Entwicklung hat der Roggenhandel genommen, der früher stets passiv war, jetzt aber schon mit 81,6 Mill. M. aktiv ist. Die Verschiebung in den letzten Jahren ist geradezu staunenswert. An solche Folgewirkungen des Einfuhrscheinwesens hat bei seiner Einführung kaum jemand gedacht. Man rechnete damals mit einer Zollanrechnung von zirka 1 600 000 M., stellte sich also die zu erwartende Ausfuhr sehr gering vor. Statt dessen hat der Ertrag der in Anrechnung genommenen Einfuhrscheine die folgende Entwicklung genommen (in Mill. M.):

1894   7
1895 9
1896 8
1897 14
1898 14
1899 20
1900 22
1901 15
1902 15
1903 21
1904 31
1905 33
1906 57
1907 54
1908 99
1909 98
1910 122
1911 105
1912 126

Um die Getreideeinfuhr in ihrer Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft richtig einschätzen zu können, muß sie der inländischen Produktion gegenübergestellt werden. Dies ist auf der folgenden Tabelle geschehen.

  Weizen
in Mill. Tonnen
Roggen
in Mill. Tonnen
Hafer
in Mill. Tonnen
Gerste
in Mill. Tonnen
1890 1900 1912 1890 1900 1912 1890 1900 1912 1890 1900 1912
Produktion in Deutschland 2,83 3,84 4,36 5,87 8,55 11,60 4,91 7,09 8,52 2,28 3,00 3,48
Nettoeinfuhr bzw. Ausfuhr (–) 0,67 0,99 1,99 0,88 0,82 −0,48 0,18 0,35 0,28 0,73 0,75 2,97
Gesamtbedarf: 3,50 4,83 6,35 6,75 9,37 11,12 5,09 7,44 8,80 3,01 3,75 6,45
Prozentsatz der Einfuhr bzw. Ausfuhr (−) 19,1 20,5 31,2 13,0 8,7 −4,3 3,5 4,7 3,6 24,2 20,0 46,0

An dieser Aufstellung ist zunächst zu bemerken, daß sie auf unbedingte Zuverlässigkeit keinen Anspruch machen kann. Die Fehlerquelle liegt in der Produktionsstatistik. Bis zum Jahre 1898 erfolgte die Feststellung der Ernte durch die Gemeinde- und Gutsvorsteher. Seitdem werden die Schätzungen von etwa 7000 Sachverständigen vorgenommen, die jeder über einen Bezirk von 50–100 qkm zu berichten haben. Sofort nachdem diese neue Erhebungsart zur Durchführung gekommen war, ergab sich eine Erhöhung der Produktionsziffer von 12–19%. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Sachverständigen [701] von ihrer eigenen überdurchschnittlichen Wirtschaft auf den minder guten Gesamtdurchschnitt schließen. Vielleicht spielt auch das psychologische Moment, die Ernte mit Vorliebe hoch einzuschätzen, eine Rolle. So viel steht jedenfalls fest, daß die Ernte geringer ist, als es nach der deutschen Erntestatistik den Anschein hat. Demgemäß vergrößert sich auch der Anteil der Mehreinfuhr, was zu beachten ist. Immerhin gibt die obige Statistik gewisse Annäherungswerte, die, unter ausdrücklichem Vorbehalt, den nachfolgenden Erörterungen zugrunde gelegt werden sollen. Betrachten wir zunächst das Brotgetreide: Weizen und Roggen. Beider Produktion hat seit dem Jahre 1890 beträchtlich gesteigert werden können. Die Roggenproduktion hat sich sogar mehr als verdoppelt. Beim Weizen hat aber trotzdem eine erhebliche Einfuhrsteigerung stattgefunden; nahezu ⅓ unseres Bedarfs stammt aus dem Ausland. Die Einfuhr von 13% beim Roggen hingegen hat sich in eine Ausfuhr von 4,3% des Gesamtbedarfs umgewandelt. Bei der Würdigung dieser Zahlen muß aber noch der Ausfuhrüberschuß an Mehl in Betracht gezogen werden. Für die letzten 25 Jahre ergibt sich dann insgesamt die folgende Entwicklung:

Jahr Mehreinfuhr bezw. Ausfuhr (–)
in Mill. Tonnen
Weizen Roggen Mehl Brotgetreide
nach Abzug der
Mehlausfuhr
1888 0,34 0,65 −0,14 0,85
1889 0,52 1,06 −0,13 0,14
1890 0,67 0,88 −0,10 1,45
1891 0,91 0,84 −0,09 1,66
1892 1,30 0,55 −0,08 1,77
1893 0,70 0,22 −0,12 0,81
1894 1,07 0,60 −0,18 1,50
1895 1,27 0,93 −0,15 2,05
1896 1,58 0,99 −0,12 2,45
1897 1,01 0,75 −0,15 1,61
1898 1,34 0,78 −0,04 2,09
1899 1,17 0,44 −0,14 1,48
1900 0,99 0,82 −0,12 1,70
1901 2,04 0,77 −0,07 2,81
1902 1,99 0,87 −0,09 2,77
1903 1,75 0,61 −0,12 2,24
1904 1,86 0,12 −0,16 1,81
1905 2,12 0,25 −0,18 2,19
1906 1,81 0,41 −0,11 2,10
1907 2,36 0,38 −0,12 2,61
1908 1,83 −0,25 −0,20 1,38
1909 2,22 −0,38 −0,26 1,59
1910 2,07 −0,44 −0,34 1,33
1911 2,18 −0,15 −0,40 1,62
1912 1,99 −0,47 −0,37 1,14

Danach ergibt sich die überraschende Tatsache, daß trotz der enormen Bedarfssteigerung die Mehreinfuhr von Brotgetreide in den letzten Jahren abgenommen hat. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dies mit der Preisentwicklung im Zusammenhang steht. Diese hat in der gleichen Zeit in Berlin den folgenden Gang genommen (per Tonne in Mark):

Jahr   Weizen   Roggen
1906 179,6 160,6
1907 206,3 193,2
1908 211,2 186,5
1909 233,9 176,5
1910 211,5 152,3
1911 204,0 168,3
1912 217,0 185,8

[702] Vergleichen wir hiermit die Preistabelle auf S. 242 so springt der Unterschied in die Augen, selbst wenn von dem Ausnahmejahr 1909 abgesehen wird. Es fragt sich nun, welchen Einfluß die neuen Zölle auf diese Preisentwicklung gehabt haben. Die Antwort ist einfach genug. Wie unter den Caprivischen Zöllen der Preissturz nur zu einem Bruchteil auf die Herabminderung der Zölle zurückzuführen war, so ist – wenn auch nicht annähernd in dem Maße – auch die seit 1906 eingetretene Erhöhung der Preise nur zum Teil durch die Hinaufsetzung der Zölle bedingt. Dies zeigt der folgende Vergleich:

Jahr Weizen Roggen
Tat-
säch-
licher
Preis
Der nach Abzug
der Zollerhöhung
von 20 M. ver-
bleibende Preis
Differenz des
tatsächlichen
Preises gegen
1905
Differenz der
Preises ohne
Zollerhöhung
gegen 1905
Tat-
säch-
licher
Preis
Der nach Abzug
der Zollerhöhung
von 15 M. ver-
bleibende Preis
Differenz des
tatsächlichen
Preises gegen
1905
Differenz der
Preises ohne
Zollerhöhung
gegen 1905
1905 175 152
1906 179 159 4 −16 160 145 8 −7
1907 206 186 31 11 193 178 41 26
1908 211 191 36 16 186 171 34 19
1909 234 214 59 39 176 161 24 9
1910 211 191 36 16 152 137 −15
1911 204 184 29 9 168 153 16 1
1912 217 197 42 22 185 170 33 18

Die Zahlen ergeben zunächst, daß auch in den letzten Jahren die Schwankungen der Preise sehr groß gewesen sind, so daß ein stark variabler Zoll erforderlich gewesen wäre, wenn sie hätten vermieden werden sollen. Im übrigen hätten sich auch ohne die Erhöhung des Zolles beim Weizen Preissteigerungen von 9 bis 39, beim Roggen von 1–26 M. pro Tonne ergeben. Freilich würde der Weizen im Jahre 1906 um 16 M. hinter dem Preis von 1905 zurückgeblieben sein, der Roggen im gleichen Jahr um 7 M., im Jahre 1910 um 15 M. Hierbei wird vorausgesetzt, daß der Zoll jeweils voll zum Ausdruck gekommen ist. Seit der Reform des Einfuhrscheinsystems ist dies im großen und ganzen annähernd geschehen, wie aus der folgenden Tabelle hervorgeht:

Jahr Preis des Weizens
per Tonne in
Deutscher
Zoll
M.
Preis-
differenz
M.
London Berlin
1901 132 164 35 32
1902 141 163 35 22
1903 135 161 35 26
1904 144 174 35 30
1905 149 175 35 26
1906 143 179 bis 1. März
35 M., seitdem
55 M.
36
1907 155 206 55 51
1908 160 211 55 51
1909 186 234 55 48
1910 157 211 55 52
1911 155 204 55 49
1912 172 217 55 45

[703] Im Durchschnitt der Jahre 1907–1912 (neue Regelung der Einfuhrscheine) ergibt sich eine Preisdifferenz von 49,3 M., also etwa in der Höhe des Börsenwertes der Einfuhrscheine per 1000 kg.

Getreidepreise und Produktionskosten.

Wenn man nun der Meinung ist, daß angesichts der gestiegenen Produktionskosten und Bodenpreise der Weizen durchschnittlich einen Preis von etwa 195 M., der Roggen von 175 M. haben muß, um eine hinreichende Rentabilität des Getreidebaues in Deutschland zu sichern, so läßt sich nicht verkennen, daß ohne die Zollerhöhung dieser Preisstand beim Roggen überhaupt nicht, beim Weizen mit Ausnahme des Jahres 1909 nicht erreicht worden wäre. Insonderheit würden die Roggenpreise in den letzten Jahren eine Entwicklung genommen haben, die mit den heutigen Produktionskosten nicht im Einklang zu bringen gewesen wäre. Es rechtfertigt sich deshalb die Auffassung, daß die Erhöhung der Zölle für den Getreidebau eine im ganzen erwünschte Maßnahme war, die in etlichen der Vergleichsjahre zwar völlig überflüssig gewesen wäre, durchschnittlich jedoch jene Preisentwicklung sicherte, die – wie die Dinge nun mal liegen – in Deutschland notwendig ist. Dabei ist im Auge zu behalten, daß ein Getreidezoll, der für 12 Jahre festgelegt werden soll, nicht nach den möglichen höchsten Preisen normiert werden darf, sondern den starken Preisschwankungen gerecht werden muß. Solange deshalb an dem festen Zoll festgehalten wird, sind ungewöhnlich hohe Preise bei steigenden Weltmarktpreisen nicht zu umgehen, wenn auch bei niedrigen Weltmarktpreisen ein dem deutschen Getreidebau die Rentabilität sicherndes Preisniveau erhalten werden soll. Es läßt sich nicht verkennen, daß damit der übrigen Bevölkerung, insonderheit der Industrie, schwere Opfer auferlegt werden, die im Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt ihre Wirkung tun. Soll aber der Getreidebau in Deutschland auf der Basis der jetzigen Bodenpreise erhalten bleiben, so läßt sich dies nicht vermeiden. Doch auch von hier aus drängt sich die Frage auf, ob diese Opfer nicht dadurch der Minimalgrenze näher gerückt werden könnten, daß, innerhalb des Systems der Handelsverträge, eine gleitende Skala für Getreidezölle normiert würde, die zwar auskömmliche Preise sicherte, ungewöhnlich hohe Preise aber verhinderte. Im übrigen wird uns das „Industrieproblem“ weiter unten beschäftigen.

Wenden wir uns jetzt noch kurz den andern Getreidearten, Hafer und Gerste, zu. Die Mehreinfuhr von Hafer spielt keine nennenswerte Rolle (3–4% des Bedarfs), während Gerste heute bereits zu 46% aus dem Ausland bezogen wird. Von den in Deutschland im Jahre 1912 netto bezogenen 29,7 Mill. Doppelzentnern waren nur 2,1 Mill. Doppelzentner Malzgerste, die mit 4 M. verzollt wird, während der Rest auf „andere Gerste“, Futtergerste, (1,30 M.) fällt. Der deutschen Viehzucht ist dadurch im letzten Jahre eine Erhöhung der Produktionskosten um 35,8 Mill. M. auferlegt worden, sofern davon ausgegangen wird, daß auch dieser Zoll vom Inland getragen wird, was aber nur teilweise der Fall ist. Die Preisentwicklung für Gerste und Hafer hat seit 1902 die folgende Entwicklung genommen: [704]

Jahr Gerste per Tonne in Mark
(Breslau)
Hafer
(Berlin)
Braugerste Futtergerste Differenz
1902 127,5 150,3
1903 128,3 136,6
1904 130,5 133,7
1905 140,8 142,7
1906 154,1 134,1 20,0 160,3
1907 166,7 143,8 22,9 181,4
1908 167,4 148,6 18,8 163,7
1909 167,6 143,8 23,8 170,0
1910 144,4 131,1 13,3 153,1
1911 165,9 138,3 27,2 168,3
1912 179,8 164,4 15,4 189,7

Es wird je länger desto mehr die Forderung laut, daß der Zoll auf Futtergerste im Interesse der Viehzucht völlig aufgehoben werde. Hiervon wird noch zu reden sein. Von nicht unbedenklichen Folgen ist auch die Erhöhung des Haferzolles gewesen (von 2,80 auf 5 M.), da hierdurch die fast dauernde Überflügelung der Haferpreise über den Roggenpreis herbeigeführt wurde. Dies hat einmal zu einer Vergrößerung der Anbaufläche geführt (allerdings haben die günstigen Ausfuhrbedingungen für Roggen diese Entwicklung verlangsamt) und zum andern ist dadurch gleichfalls ein wichtiges Vieh- und spezifisches Pferdefutter verteuert worden.

Überblicken wir zum Schluß dieser Darlegungen die Abhängigkeit Deutschlands vom Auslande in bezug auf seinen gesamten Getreidebedarf, so ergibt sich unter Berücksichtigung der Ausfuhr von Roggen und Mehl zirka 13% des Bedarfs als Auslandsbezug. Es sei aber nochmals darauf hingewiesen, daß diese Untersuchung auf den recht unsicheren Ergebnissen der deutschen Erntestatistik aufgebaut ist, die ganz zweifellos die Inlandsproduktion zu hoch angibt und demgemäß den Auslandsbezug prozentual herunterdrückt. Wie groß diese Fehlerquelle ist, läßt sich nicht feststellen. Es sprechen aber gute Gründe dafür, daß Deutschland mindestens mit 20% seines Bedarfs auf das Ausland angewiesen ist; gelegentliche Schätzungen gehen sogar erheblich höher. Dies ist bei der Stellungnahme gegenüber mehr oder weniger utopischen „Feststellungen“, daß Deutschland seinen Getreidebedarf zu normalen Preisen und unter gleichzeitiger Steigerung der übrigen agrarischen Produktion „mit Leichtigkeit“ selbst decken könnte, im Auge zu behalten.

Viehproduktion und Einfuhr.

Die Zollerhöhungen des Tarifs von 1902 beschränken sich, wie bemerkt, nicht auf das Getreide, sondern umfassen auch andere agrarische Produkte. Diese hier sämtlich zu erörtern, fehlt der Raum. Wir beschränken uns deshalb auf die wichtigsten unter ihnen. Zunächst einige tatsächliche Mitteilungen über die erfolgten Zollerhöhungen. Für Pferde wurde im früheren Tarif 20 M. für das Stück erhoben. Der neue Tarif hat die Differenzierung nach dem Wert eingeführt:

Bis 1000 M. Wert   90 M. Zoll
von 1000−2500 M. Wert 180 M. Zoll
über 2500 M. Wert 360 M. Zoll

[705] Für Pferde im Werte bis zu 300 M. und mit weniger als 1,40 Meter Stockmaß wird 30 M. Zoll bezahlt. Alles in allem ein sehr kräftiges Anziehen der Zollsätze. Für Rindvieh galt früher gleichfalls die Stückverzollung. Bullen (Stiere) und Kühe 9 M., Jungvieh 6 M. Der neue Tarif legt das Lebendgewicht zugrunde, und zwar mit 18 M. pro Doppelzentner. Derselbe Satz gilt jetzt für Schweine. Für Gänse wird 24 M., für Hühner 6 M. pro Doppelzentner bezahlt. Der erhöhte Zoll für frisches oder gefrorenes Fleisch beträgt 45 M., für einfach zubereitetes Fleisch 60 M., für Fleisch zum Tafelgenuß 120 M., für Speck 26 M., für Schweineschmalz 12,50 M., für Talg 2,50 M., für Butter und Käse 30 M. pro Doppelzentner. Ein Zoll auf Milch wird nicht erhoben; ein Antrag, ihn einzuführen, wurde abgelehnt.

Infolge der durch die industrielle Entwicklung in Deutschland stark gestiegenen Kaufkraft der breiten Massen ist die Nachfrage nach tierischen Produkten erheblich gewachsen. Deren Bereitstellung erfolgt überwiegend durch die heimische Landwirtschaft, doch hat auch der Bezug aus dem Ausland ständig zugenommen und heute eine Höhe erreicht, die ein sehr erhebliches Maß von Abhängigkeit darstellt. Dies sei zunächst für eine längere Zeitperiode illustriert, und zwar unter Berechnung des Ein- oder Ausfuhrüberschusses pro Kopf der Bevölkerung für die Jahre 1872–1910:

1872
Einfuhr- oder Ausfuhr- (–) Überschuß
in M. pro Kopf
1910
Einfuhr- oder Ausfuhr- (–) Überschuß
in M. pro Kopf
Vieh 0,83 1,55
Butter –0,03 1,40
Schmalz und schmalzartige Fette 0,54 1,46
Fleisch 0,03 0,40
Hülsenfrüchte –0,15 0,45
Käse 0,04 0,40
Eier, Eigelb 0,04 2,55
Milch, Rahm[3] 0,05 0,50

Minus und Plus gegeneinander aufgerechnet, ergibt für diese Produkte eine Mehreinfuhr von 8,71 M. pro Kopf der Bevölkerung, gegen 132 M. im Jahre 1872, mithin eine 6½ fache Vermehrung der Abhängigkeit vom Auslande. Der Nettobetrag, der für die hier genannten Erzeugnisse ins Ausland ging, betrug im Jahre 1910 469,1 Mill. M., gegen 53,5 Mill. M. im Jahre 1872.

Hierzu kommen noch pro Kopf 1,6 M. für Kleie, die zwar nur zum Teil als Futtermittel verwendet wird, aber hier ihren Platz finden möge, 0,25 M. für Erdnüsse, 1,26 M. für Kopra, 1,36 M. für Palmkerne, 0,53 M. für frisches Gemüse usw. Diesen Posten lassen sich die Beträge für 1872 nicht exakt gegenüberstellen, sie spielen indessen damals eine kaum nennenswerte Rolle. Im Jahre 1910 mußte diese Einfuhr mit insgesamt 322,7 Mill. Mark bezahlt werden.

Endlich noch einige landwirtschaftliche Erzeugnisse, die teils Nahrungs- und Futter-, teils gewerblichen Zwecken dienen.

[706] Die Netto-Einfuhr betrug:

1872 1910
Pferde 19,6 Mill. M. 144,0 Mill. M.
Federvieh (geschlachtet) ? Mill. M. 11,9 Mill. M.
Gänse ? Mill. M. 30,5 Mill. M.
Haushühner ? Mill. M. 15,9 Mill. M.
Sonstiges Federvieh ? Mill. M. 3,9 Mill. M.
Reisabfälle (Viehfutter) ? Mill. M. 11,8 Mill. M.
Schlampe ? Mill. M. 5,6 Mill. M.
Raps, Rübsen 1,5 Mill. M. 37,6 Mill. M.
Sesam 0,5 Mill. M. 41,6 Mill. M.
Talg ? Mill. M. 15,0 Mill. M.

Diese Posten stellen abermals eine Einfuhr (1910) von 287,9 Mill. M. dar. Seit dem Jahre 1910 ist die Einfuhr dieser Produkte weiter gestiegen.

Leider ist es nicht möglich, diesen Zahlen die Inlandsproduktion exakt gegenüberzustellen, da hierfür die Unterlagen fehlen. Die Schätzungen über den Anteil der Vieheinfuhr am Gesamtbedarf schwanken zwischen 5–10%. Die Abhängigkeit ist hier demnach wesentlich geringer als beim Getreide. An bereiteten Futtermitteln bezieht Deutschland freilich nahezu 60% seines Bedarfs aus dem Ausland.

Welche Wirkung hat nun der verstärkte Schutzzoll (in Verbindung mit sanitären Präventivmaßnahmen) auf dem Gebiete der Vieheinfuhr gehabt? Stellen wir, um mangels anderen Materials wenigstens eine einigermaßen befriedigende Methode anzuwenden, die Einfuhrzahlen von 1905 und 1912 einander gegenüber:

Netto-Einfuhr
in Stück
1905 1912
Pferde 123 835 124 963
Ochsen 71 821 39 358
Kühe M. 126 100 84 360
Jungvieh (bis zu 2½ Jahren) 104 902 67 699
Schweine (außer Spannferkeln) 67 389 127 159
Stiere 9 479 6 741
Fleisch und Zubereitungen von Fleisch 523 340 Dz. 718 432 Dz.

Daraus ergibt sich, daß der Einfuhrüberschuß von Pferden stabil geblieben ist, von Ochsen sich um beinahe die Hälfte, von Kühen um etwa ein Drittel, von Jungvieh um ein Drittel verringert hat. Verdoppelt hat sich die Mehreinfuhr von Schweinen, während die Fleischeinfuhr um etwa 50% gestiegen ist. Alles in allem sind das für die deutsche Viehzucht sehr günstige Zahlen, denn der Inlandskonsum ist in der Vergleichszeit erheblich schneller gewachsen, als die Einfuhr. Es ergibt sich hieraus ohne Weiteres, daß der Viehbestand in Deutschland stark zugenommen hat. Zahlenmäßig läßt sich dies zurzeit nicht ausdrücken, da die Ergebnisse der Viehzählung von 1912 noch nicht vorliegen. Aber nach den bis jetzt bekannt gewordenen Teilergebnissen ist an der Tatsache der relativen Steigerung der Viehproduktion nicht zu zweifeln. Diese hat übrigens, wie bereits angedeutet, unter der Caprivischen Handelspolitik schon eingesetzt, was aus den folgenden Zahlen hervorgeht:

Bestand in Millionen Stück
Pferde Rinder Schweine
1892   3,48 17,55 12,17
1904 4,26 19,33 18,92
1907 4,35 20,63 22,15

[707] Der Schutzzoll auf Vieh hat die mit ihm beabsichtigte Wirkung erzielt: die deutsche Viehzucht hat eine erfreuliche Aufwärtsentwicklung genommen, die Abhängigkeit vom Ausland ist direkt geringer geworden. Indirekt ist sie jedoch durch den enorm vermehrten Bezug von Futtermitteln ungewöhnlich gestiegen.

Es fragt sich nun freilich, welche Preissteigerung hiermit verbunden gewesen ist. In Berlin kostete pro Doppelzentner

1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912
Rindvieh, Schlachtgew. 121,4 129,0 131,5 137,5 147,7 146,6 139,0 131,6 145,0 153,7 166,2
Schweine, Schlachtgew. 122,8 103,7 102,0 132,0 137,0 114,0 120,1 138,0 131,9[4] 114,2 147,4
Kälber, Schlachtgew. 134,8 144,1 144,3 153,9 168,5 168,2 162,5 163,3 187,9 183,3 198,5
Hammel, Schlachtgew. 120,8 132,9 127,2 139,1 151,7 149,3 140,7 141,5 148,2 151,0 166,1

Diese Tabelle ist lehrreich genug; sie zeigt nämlich, daß die Fleischpreise wesentlich schneller gestiegen sind als die Getreidepreise. Der Schutz der deutschen Viehzucht hat der Gesamtbevölkerung erhebliche Opfer auferlegt, wobei freilich zu beachten ist, daß die Preise auch in andern Ländern gestiegen sind. Im übrigen darf freilich die Hoffnung bestehen, daß es der Landwirtschaft gelingen wird, ihren Schlachtvieh-Bestand zu steigern. Hierfür wird aber der Preis von Futtermitteln von Bedeutung sein, weshalb, wie schon bemerkt, die Forderung erhoben wird, daß bei der nächsten Revision des Zolltarifs die Futtermittelzölle aufgehoben oder doch erheblich reduziert werden. In Betracht kommen hier u. a.: Haferzoll (5 M.), Gerstezoll (1,30 M.), Mais (4 M.), Futterbohnen (2,50 M.). Die Zölle auf Brotgetreide wurden durch solche Maßnahmen zur Förderung der Viehzucht nicht berührt.

Viehzucht und bäuerliche Bevölkerung.

Eine durch Vieh- und Fleischzölle einerseits und durch freie Einfuhr von Futtermitteln anderseits begünstigte Viehzucht hat für das Problem, von dem wir ausgingen, große Bedeutung, denn die eigentliche Viehzucht (mit Ausnahme von Pferden) ist, wie schon bemerkt, in erster Linie Domäne des bäuerlichen Betriebes:

Größenklasse des landwirtschaftlichen Betriebes Viehhaltung 1907
ha Kühe Schweine
Tausende
0–2 1025 4383
2–5 2030 3107
5–20 3989 6334
20–100 2285 3655
über 100 1008 1386

Aus diesen Zahlen, die sich auf das deutsche Reich beziehen, geht deutlich hervor, daß der Schwerpunkt der Aufzucht von Kühen und Schweinen in den Betrieben bis zu 20 ha liegt, während der gesamte Großgrundbesitz (über 100 ha) eine irgendwie bedeutsame Rolle überhaupt nicht spielt. Auszunehmen sind die Pferde, an deren Aufzucht der Großbetrieb stark beteiligt ist. Über die Viehhaltung in Bayern haben wir nähere Angaben, die folgendes Bild zeigen: [708]

Viehart unter 2 ha 2–5 ha 5–20 ha 20–100 ha mehr als
100 ha
landwirtschaftlich benutzter Fläche
Pferde 5 627 17 877 164 038 146 062 6 009
Rinder 153 051 570 291 1 933 908 860 827 41 659
Davon Kühe 120 466 380 306 925 853 362 375 21 769
Schafe 36 013 51 595 304 955 350 504 27 299
Schweine 191 634 306 907 831 025 352 934 19 589
Ziegen 206 371 59 767 90 447 19 149 243
Hühner 1 247 572 1 854 143 4 559 299 1 648 641 53 049
Gänse 221 618 317 507 760 713 207 137 3 293
Enten 41 277 44 521 155 503 88 310 7 202

Auch hier dasselbe Bild: der eigentliche Großbetrieb tritt für die Viehzucht vollständig zurück. Die Rindviehhaltung z. B. ist am größten in den kleinbäuerlichen Betrieben (2–5 ha). Auf 100 ha landwirtschaftlich benutzter Fläche zählte man in Bayern in diesen Betrieben (–2 ha) 91,5, in den mittelbäuerlichen Betrieben (5–20 ha) 87,5, in den großbäuerlichen Betrieben 70,5 und in den Großbetrieben (über 100 ha) nur 44,7 Rinder. Ausdehnung der Viehzucht bedeutet demnach Vermehrung der landwirtschaftlichen Bevölkerung. Da dies aber das eigentliche Ziel des auf die Landwirtschaft gerichteten Teiles der Handelspolitik ist, so liegen die Konsequenzen auf der Hand: Vorläufige Beibehaltung der Vieh- und Fleischzölle, Verbilligung der Futtermittel. Damit brauchen keineswegs dauernd hohe Fleischpreise verbunden zu sein, denn das mit Sicherheit zu erwartende erhöhte Angebot wird den Preisen eine sinkende Tendenz geben. Auf ihr früheres Niveau werden sie freilich kaum jemals wieder heruntergehen, so lange das allgemeine Preisniveau die heutige Höhe behält oder gar weiter steigt. Auf die Höhe des von den Konsumenten zu zahlenden Fleischpreises wirkt übrigens die Absatzorganisation erheblich ein, die zurzeit mit ihren zahlreichen Zwischenstationen stark verteuernd wirkt. Man kann die Beobachtung machen, daß zwar steigende Viehpreise sich den Fleischkonsumenten sofort fühlbar machen, sinkende Viehpreise aber viel langsamer und fast niemals ganz im Detailverlauf zur Wirkung kommen. Hier liegt für die innere Wirtschaftspolitik ein sehr wichtiges Problem.

III.

Wirkung auf die Industrie.

Betrachten wir nunmehr die Kehrseite der Medaille: die Wirkung der neuesten Handelspolitik auf die Industrie. Wir können uns hier, nachdem wir die grundsätzliche Seite schon bei der Erörterung der Caprivischen Handelspolitik beachtet haben, wesentlich kürzer fassen. Die Gegner der schutzzöllnerischen Schwenkung nach Ablauf der Caprivischen Handelsverträge begründeten ihre Stellung damit, daß einmal das Ausland zu Gegenmaßregeln greifen werde und zum andern, daß durch die Verteuerung der Lebenshaltung mit ihren lohnsteigenden Wirkungen die Stellung der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt erschwert und vielfach sogar unhaltbar werden werde. Ein Teil der ursprünglichen Gegner der landwirtschaftlichen Zölle gab diese Gegnerschaft allerdings auf, als auch die Industriezölle auf der ganzen Linie erhöht wurden. Insonderheit war die Schwerindustrie [709] durch Steigerung der Zölle auf Rohprodukte und Halbfabrikate zufriedengestellt worden und konstatierte durch den Mund ihrer berufenen Vertreter den billigerweise erfolgten Ausgleich zwischen den Interessen von Industrie und Landwirtschaft. Untersuchen wir nun, ob die damals ausgesprochenen Befürchtungen gerechtfertigt worden sind.

Wir beginnen mit einer Übersicht über die Entwicklung des Außenhandels (Spezialhandel einschl. Edelmetall):

Einfuhr
in Mill. M.
Ausfuhr
in Mill. M.
1906 8 438,6 6 478,6
1907 9 000,6 7 094,9
1908 8 077,1 6 481,5
1909 8 860,4 6 858,7
1910 9 310,0 7 644,2
1911 10 007,3 8 224,4
1912 11 017,1 9 099,5

Die Aufstellung zeigt gegenüber dem Stand von 1905 (siehe S. 240) in den Jahren 1906 und 1907 ein starkes Ansteigen sowohl der Einfuhr wie Ausfuhr. Das Krisenjahr 1908 bringt einen erheblichen Rückschlag, der auch im Jahre 1909 noch nicht ausgeglichen ist. Vom Jahre 1910 ab beginnt wieder eine kräftige Aufwärtsentwicklung, die im Jahre 1912 ihren Höhepunkt erreicht. Die durchschnittliche Zunahme in den zum Vergleich stehenden 7 Jahren beläuft sich bei der Einfuhr auf 425,7, bei der Ausfuhr auf 374,4 Millionen Mark. Wir sehen demnach gegenüber der Caprivischen Ära eine neue Steigerung. Wollen wir die Struktur dieses Außenhandels und deren im letzten Menschenalter eingetretene Veränderung richtig erfassen, so erfordert dies ein Rückgehen auf ältere Zahlen, wobei freilich zu beachten ist, daß das zur Verfügung stehende Material einen absolut exakten Vergleich nicht zuläßt. Immerhin ist die Tendenz der Entwicklung durchaus eindeutig. Um zunächst den Außenhandel in seiner größten Differenzierung darzulegen, sei das folgende Bild gegeben:

Jahr Einfuhr Ausfuhr
Wert in Mill.
Mark
In Prozenten
des
Gesamtwertes
Wert in Mill.
Mark
In Prozenten
des
Gesamtwertes
I. Nahrungs- und Genußmittel, Vieh.
1872 871,6 26,8 504,0 21,8
1891 1 513,1 36,4 438,8 13,9
1897 1 614,7 34,5 515,6 14,2
1910 2 482,9 27,8 761,0 10,1
1912 3 200,6 30,0 798,0 8,9
II. Rohstoffe für Industriezwecke einschließlich Halbfabrikate.
1872 1 675,6 51,3 786,6 33,9
1891 1 733,5 41,8 687,4 21,6
1897 2 100,1 44,7 814,8 22,4
1910 5 083,3 56,9 1 918,2 25,7
1912 5 882,6 55,0 2 370,6 26,5
III. Fabrikate.
1872 709,6 21,8 1 027,1 44,3
1891 904,2 21,8 2 049,3 64,5
1897 965,9 20,6 2 304,5 63,4
1910 1 367,9 15,3 4 795,5 64,2
1912 1 608,2 15,0 5 787,5 64,6

[710] Stellen wir, um das Zunahmeverhältnis der einzelnen Positionen zu ermitteln, die Zahlen von 1872 und 1891 dem Stand von 1912 gegenüber, so ergibt sich das folgende:

  Zunahme der
Einfuhr Ausfuhr
gegen 1872 gegen 1891 gegen 1872 gegen 1891
absolut % absolut % absolut % absolut %
Nahrungs- u. Genußmittel 2 329,0 267,2 1 687,5 111,4 294,0 58,3 359,2 81,9
Rohstoffe für Industriezwecke usw. 4 207,0 251,1 4 149,8 239,4 1 584,0 201,4 1 683,2 244,8
Fabrikate 898,6 126,7 704,0 73,7 4 760,4 463,5 3 738,2 182,4

Die Position Nahrungs- und Genußmittel steht in bezug auf die Steigerung der Einfuhr an der Spitze, soweit es sich um die Periode 1872–1912 handelt, während im Hinblick auf die Periode 1891–1912 die Rohstoffe den ersten Platz einnehmen. Die Einfuhr an Fabrikaten hat sich demgegenüber nur recht gering vermehrt. In der Ausfuhr spielt die Steigerung der Nahrungs- und Genußmittel mit die bescheidenste Rolle. Daß sie in der zweiten Periode etwas stärker ist, beruht auf dem zunehmenden Export von Zucker, Bier, Wein, Schokolade usw. Die eigentlichen Nahrungsmittel treten mit Ausnahme des Roggens ganz zurück. Die Viehausfuhr ist völlig ohne Bedeutung. Im übrigen kann hier auf die früheren Ausführungen verwiesen werden. Ganz besonders fällt bei der Ausfuhr die Vermehrung der Fabrikate auf: 463,5% seit 1872! Auch die Halbfabrikate treten mit einer starken Ausfuhrsteigerung in die Erscheinung.

Von Interesse ist es weiter, zu untersuchen, welche Vermehrung des Außenhandels von 1872–1897 einerseits und 1897–1912 anderseits zu verzeichnen ist. Das Resultat sieht so aus:

  Zunahme der
Einfuhr Ausfuhr
1872−1897
%
1897−1912
%
1872−1897
%
1897−1912
%
Nahrungs- u. Genußmittel 85,1 98,2 2,3 54,8
Rohstoffe für Industriezwecke usw. 25,3 180,1 3,6 190,9
Fabrikate 36,1 66,5 124,4 151,1

Hier zeigt sich deutlich, daß die Ausfuhr von Halb- und Ganzfabrikaten seit 1897 (16 Jahre) gegenüber der ersten Periode (23 Jahre) sehr erhebliche Fortschritte gemacht hat.

Aus der industriellen Außenhandelsbewegung sei im übrigen das folgende hervorgehoben. Die Einfuhr von Eisenerzen hat erheblich zugenommen, anderseits ist aber die Ausfuhr von Roheisen gewaltig gestiegen. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den meisten andern Erzen: Kupfer, Blei, Zink, Nickel, deren Bezug seit 1872 zum Teil verzehnfacht ist. Eine zweite Kategorie von Rohstoffen – Flachs, Hanf, Jute, Baumwolle und Schafwolle – zeigt gleichfalls enorme Einfuhrzunahmen. Im Jahre 1872 schickte Deutschland für diese letztgenannten Produkte ca. 297,2 Millionen Mark ins Ausland, gegenwärtig aber für mehr als eine Milliarde Mark. Dieselben Entwicklungstendenzen zeigt die Einfuhr [711] von Kautschuk und Guttapercha, Mineralöl usw. Deutschland hat in bezug auf seine wichtigsten Rohstoffe heute einen Grad der Abhängigkeit vom Auslande erreicht, der für seine gewerbliche Produktion von ausschlaggebender Bedeutung ist.

Die so übernommenen Auslandsverpflichtungen müssen bezahlt werden. Es geschieht dies durch die Mehrausfuhr von Fabrikaten und Halbfabrikaten, die sich im letzten Menschenalter, wie schon bemerkt, einer erstaunlichen Zunahme erfreuten. An der Spitze der deutschen Ausfuhr von Fabrikaten und Halbfabrikaten stehen Metallwaren, Maschinen und Fahrzeuge, Gewebe und Chemikalien. Der Ausfuhrüberschuß an Metallwaren betrug im Jahre 1872 41, im letzten Jahre aber weit über eine Milliarde Mark. Der Ausfuhrüberschuß an Maschinen usw. ist von 33 auf ca. 700 Millionen Mark gestiegen. Im Hinblick auf Chemikalien hat der Einfuhrüberschuß von 1872 in einen Ausfuhrüberschuß von etwa 300 Millionen Mark umgewandelt werden können. Nicht ganz so günstig steht die Textilindustrie da, die ihren Ausfuhrüberschuß nur verdoppelt hat. Garne zeigen sogar noch eine Mehreinfuhr. Immerhin liefern wir dem Auslande heute für eine Milliarde Mark Textilprodukte, der nur eine Einfuhr von 500 Millionen Mark gegenübersteht. Besonders günstig hat sich die Ausfuhr von Papier und Papierwaren, Leder, Lederwaren, Filz- und Rauchwaren entwickelt. Es würde jedoch zu weit führen, darauf im einzelnen einzugehen.

Wohl aber sei den Herkunfts- und Bestimmungsländern des deutschen Außenhandels ein Blick zugewendet. Die Vergleichsbasis ist hier freilich erst seit dem Jahre 1889 gegeben. Der Außenhandel verteilte sich in den Jahren 1889 und 1912 wie folgt.:

  1889 1912
Einfuhr Ausfuhr Einfuhr Ausfuhr
Total in
Mill. Mark
in Prozent
der Gesamt-
einfuhr
Total in
Mill. Mark
in Prozent
der Gesamt-
ausfuhr
Total in
Mill. Mark
in Prozent
der Gesamt-
einfuhr
Total in
Mill. Mark
in Prozent
der Gesamt-
ausfuhr
1. Europa 3 239,9 79,5 2 509,7 77,1 6 008,0 56,2 6 743,6 75,4
2. Afrika 39,6 0,9 22,1 0,7 478,6 4,5 185,3 2,1
3. Asien 128,2 3,1 84,3 2,6 1 006,3 9,4 420,2 4,8
4. Amerika 635,4 15,6 613,6 18,9 2 885,4 27,0 1 496,4 16,7
5. Australasien und Polynesien 35,1 0,9 23,5 0,7 304,2 2,9 99,9 1,0
2−5 zusammen 838,3 20,5 743,5 22,9 4 674,5 43,8 2 201,8 24,6

Die Zahlen sind in mancherlei Beziehung bedeutsam. An der Spitze steht in beiden Jahren Europa. Das Verhältnis zwischen ihm und den andern Erdteilen hat sich aber doch sehr verschoben. Der Anteil Europas am deutschen Außenhandel betrug in der Einfuhr 1889 79,5 %, im Jahre 1912 aber nur 56,2%! An der Ausfuhr war Europa 1889 mit 77,1% beteiligt, im Jahre 1912 mit 75,4%. In diesen Zahlen prägt sich der vermehrte Bezug von Nahrungs- und Genußmitteln und Rohstoffen deutlich aus. Man muß sich vergegenwärtigen, was es für die Erweiterung der weltwirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands heißt, daß in dem kurzen Zeitraum von 23 Jahren sein Bezug aus dem nichteuropäischen Ausland von 20 auf 43% der gesamten Einfuhr gestiegen ist! Der europäische Absatz Deutschlands beruht je länger desto mehr auf außereuropäischer Einfuhr. [712] Diese Zahlen zeigen aber auch, welche Bedeutung die europäischen Handelsverträge für die deutsche Ausfuhr haben. Unter diesem Gesichtswinkel tritt die seit Caprivi befolgte Handelspolitik erst in die richtige Beleuchtung. Der Schwerpunkt unserer aktiven Handelsbeziehungen liegt durchaus in Europa, woraus sich von selbst ergibt, daß die deutsche Handelspolitik dem vor allem Rechnung zu tragen hat.

Die Frage ist nun, ob dies durch die neueste Wendung unserer Handelspolitik genügend geschehen ist! Die Antwort fällt, gemessen an der Handelsbewegung der letzten 6 Jahre, im ganzen bejahend aus (vgl. Tabelle, S. 261). Der Tarif von 1902 (in Kraft seit 1906) hat die Weiterentwicklung der deutschen Ausfuhr nicht aufgehalten. Es zeigt sich auch hier wieder, daß die langjährige Bindung der Tarife, wie sie durch die Vertragspolitik bedingt wird, bedeutungsvoller für den Außenhandel ist als es die Tarife selbst sind. Es ist allerdings zu bedenken, daß in die Vergleichsjahre zwei ungewöhnlich günstige Weltmarktkonjunkturen fallen. Im Krisenjahre 1908 haben die erhöhten Auslandszölle sofort ihre Wirkung getan; es ist auch anzunehmen, daß bei künftigem Nachlassen der gegenwärtigen günstigen Konjunktur ein Gleiches in die Erscheinung tritt. Im ganzen aber wird hierdurch das günstige Urteil über die Wirkungen des Tarifs von 1902 nicht beeinflußt. Im einzelnen hat der Tarif freilich empfindliche Hemmungen der Ausfuhr mit sich gebracht. Es würde aber zu weit führen, die hiervon betroffenen Industriezweige an dieser Stelle zu schildern. Wir müssen uns hier mit der Darstellung des Gesamtbildes begnügen, und dieses tritt bisher recht günstig in die Erscheinung. Allerdings darf nicht verkannt werden, daß es innerhalb der deutschen Industrie ganz enormer Anstrengungen bedurft hat, um sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Die Rationalisierung der Betriebe hat sozusagen bis zum „Präzisionsapparat“ fortgeführt werden müssen. Ganz zweifellos ist hier vorläufig eine Grenze erreicht worden, die nicht mehr weit überschritten werden kann.

Es ist deshalb zu verstehen, wenn die am Export interessierte Industrie der künftigen Entwicklung der Dinge mit Sorge entgegensieht. Hat sie schon unter selten günstigen internationalen Konjunkturverhältnissen alle Nerven anspannen müssen, so ist nicht von der Hand zu weisen, daß der geringste Rückschlag auf dem Weltmarkt ihre Position schwer erschüttern kann. Dazu kommt, daß Bestrebungen im Gange sind, vor allem den agrarischen Tarif das nächstemal „lückenlos“ zu gestalten, d. h. nicht nur die Futtermittelzölle in jetziger Höhe beizuhalten, sondern daneben die bisher zollfreien Positionen zu beseitigen. Auch die gelegentliche Agitation auf Erhöhung der Brotgetreidezölle ist geeignet, die Industrie zu beunruhigen. Sollten diese Bestrebungen sich auch nur zum Teil verwirklichen, so würde dies aufs neue zu einer Steigerung der Kosten des Lebensunterhalts in Deutschland führen, die in der Tat zu ernsten Bedenken Anlaß gäbe. Die Arbeiter würden mit neuen Lohnforderungen kommen, die im Preise der Industrieprodukte ihren Ausdruck fänden und die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt schwächten. Die Vertragsstaaten würden zudem mit weiteren Zollerhöhungen folgen, die in ihren Wirkungen garnicht abzusehen wären. Es gibt für die Belastung einer Industrie, die auf den Weltmarkt angewiesen ist, unter allen Umständen Grenzen. Zahlreiche Anzeichen sprechen dafür, daß diese Grenze in Deutschland [713] erreicht ist. War es der Industrie bisher möglich, die ihr im Interesse der Landwirtschaft und damit der gesamten Volkwirtschaft auferlegten Opfer zu tragen, so ist dringend davor zu warnen, daß der Bogen überspannt wird – nicht zuletzt im Interesse der Landwirtschaft selbst, deren Schutzzölle sonst leicht in Zeichen wirtschaftlichen Niederganges schweren Angriffen ausgesetzt sein könnten.

Es wäre ein nicht wieder gut zu machender Fehler, wenn im Vertrauen auf die sprichwörtliche Anpassungsmöglichkeit der deutschen Industrie und geblendet durch den Glanz der letzten Konjunkturjahre, die Auffassung sich festsetzte, daß die deutsche Industrie „nicht tot zu kriegen“ sei. Eine Handelspolitik, die solcher Auffassung Stütze gäbe, würde sich mit den treibenden Kräften des neudeutschen Wirtschaftslebens in ausgesprochenen Widerspruch setzen. Denn so sehr die Bedeutung der Landwirtschaft für das deutsche Wirtschaftsleben anzuerkennen ist und das an dieser Stelle darüber Gesagte Wort für Wort bestehen bleibt, so energisch muß immer wieder betont werden, daß der Schwerpunkt der deutschen Volkswirtschaft heute – man mag das bedauern oder begrüßen – in der Industrie liegt. Sie gibt uns die Möglichkeit, innerhalb unserer Grenzen ein 80 Millionenvolk zu werden, sie in erster Linie setzt uns in den Stand, die finanziellen Mittel für unsere politische Machtstellung aufzubringen und ihr ist vor allem jene materielle Aufwärtsentwicklung des deutschen Volks in den letzten Jahrzehnten zu danken, durch die zu gutem Teile auch die Bedingungen einer fortschreitenden geistigen Kultur geschaffen wurden, an der das ganze Volk in allen seinen Schichten teilnimmt. Daß freilich diese geistige Kultur heute schon einen Zustand darstellte, der zu kritiklosen Jubelhymnen auf den „Industrialismus“ Anlaß böte, wird niemand behaupten wollen. Aber: hat je eine Zeit mit agrarischem Wirtschaftsleben auch nur annähernd so ausgeprägte kulturelle Massenwirkungen gesehen, wie das moderne Deutschland sie aufweist?


  1. Bei der Würdigung dieser Zahlen ist zu beachten, daß sie auf absolute Zuverlässigkeit keinen Anspruch machen können, denn fast gleichzeitig mit der Einführung des Zolltarifgesetzes von 1879 wurde eine tiefeinschneidende Änderung der deutschen Handelsstatistik vorgenommen. Das „Gesetz vom 20. Juni 1879 betreffend die Statistik des Warenverkehrs des deutschen Zollgebietes mit dem Ausland“ führte vor allem zu einer schärferen Erfassung der Ausfuhr, die bis 1879 nicht annähernd vollständig nachgewiesen war. Ein erheblicher Teil der in jener zweiten Periode ermittelten Steigerung der Ausfuhrziffern ist hierauf zurückzuführen, so daß die verringerte Ausfuhrintensität stärker ist, als es nach den obigen Zahlen den Anschein hat.
  2. Aus dem Munde Bismarcks mutete solcher Vorwurf der Vermengung von „hoher“ Politik und Handelspolitik übrigens eigenartig an, denn er selbst hatte hierfür, gerade Österreich gegenüber, das Beispiel gegeben, als er (die Politik des Ministeriums Manteuffel fortsetzend) im Kampf um die Vormachtstellung im deutschen Bunde die freihändlerische Richtung im Zollverein stärkte, um den Eintritt Österreichs in den Zollverein unmöglich zu machen.
  3. Für das Jahr 1880, da vorher nennenswerter Außenhandel nicht vorhanden.
  4. Veränderte Anschreibung, in Wirklichkeit höher