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den neuen Besitzern von landwirtschaftlichen Gütern eine den gestiegenen Getreidepreisen entsprechende Rentabilität vorenthielt.

Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Getreidepreise nicht der allein ausschlaggebende Faktor für die Landwirtschaft sind. Die kleineren und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe sind an den Getreidepreisen unmittelbar weniger interessiert, mittelbar sogar vielfach derart, daß ihnen an niedrigen Preisen gelegen sein muß, da das Schwergewicht ihrer Produktion auf den Gebieten der Viehzucht, der Milchwirtschaft, des Gemüsebaues, der Geflügelzucht usw. liegt. Mit Rücksicht hierauf hat die Caprivische Politik aber zweifellos eine günstige Wirkung gehabt, denn die zunehmende Industrialisierung des deutschen Volks hat die Konsumenten der bäuerlichen Wirtschaft nicht nur vermehrt, sondern auch kaufkräftiger gemacht. Der gutbezahlte Industriearbeiter mit seinem starken Konsum an animalischen Produkten darf geradezu als eine Stütze des bäuerlichen Betriebes angesprochen werden. Die Erhaltung und Kräftigung des landwirtschaftlichen Klein- und Mittelbetriebes hat sich in Deutschland in engster Wechselwirkung mit der industriellen Entwicklung vollzogen und wäre ohne diese niemals möglich gewesen. Bei einer Gesamtwürdigung der Ära Caprivi darf solcher Zusammenhang nicht aus dem Auge gelassen werden. Das Verständnis für jene vielumstrittene handelspolitische Epoche ist erst dann gegeben, wenn dieser Zusammenhang zwischen Industrie und Landwirtschaft richtig gewürdigt wird. Sobald dies geschieht, wird man Schmoller zustimmen, wenn er sagt: „Mögen die Handelsverträge von 1891–1894 nicht in jeder Beziehung vollkommen gewesen sein, hätte man vielleicht besser den Tarif vorher revidiert, hätte man für die Verhandlungen besser vorbereitet sein können, im ganzen waren sie doch eine rettende Tat.“

Zusammenfassung.

Alles in allem wird das Urteil dahin zusammenfaßt werden dürfen, daß die Caprivischen Handelsverträge in erster Linie für Industrie und Handel von fruchtbringender Bedeutung geworden sind, indem sie gewissermaßen die Grundlage schufen, auf der die innerlich notwendig gewordene Entwicklung Deutschlands zum überwiegenden Industriestaat sich beharrlich und folgerichtig vollziehen konnte. Daneben aber haben sie mittelbar die bäuerliche Wirtschaft gekräftigt, d. h. deren Absatzgebiet und Produktionssphäre erweitert. Für die körnerbauende Landwirtschaft hingegen bedeuteten sie zunächst eine Verschärfung des durch internationale Marktverhältnisse bedingten Preissturzes. Diese Wirkung war jedoch nur vorübergehend, da das Anziehen der Weltmarktpreise von Mitte der 90er Jahre ab eine ausgesprochene Besserung der Lage herbeiführte. Ob freilich die später erzielten Preise im Einklang standen mit den erhöhten Boden- und sonstigen Produktionskosten, darf bezweifelt werden. Wenn es im übrigen als erwünscht erachtet wird, daß im Gegensatz zu den Industrieerzeugnissen die Preisbewegung des Getreides möglichst gleichmäßig verläuft, – ein Problem, das hier nicht zu erörtern ist – so wird dies Ziel durch einen langfristigen Tarifvertrag mit festen Sätzen überhaupt nicht zu erreichen sein. Es könnte dies nur geschehen entweder durch einen autonomen Tarif, der den Schwankungen der Preise entsprechend ständig geändert würde,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/254&oldid=- (Version vom 20.8.2021)