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erreicht ist. War es der Industrie bisher möglich, die ihr im Interesse der Landwirtschaft und damit der gesamten Volkwirtschaft auferlegten Opfer zu tragen, so ist dringend davor zu warnen, daß der Bogen überspannt wird – nicht zuletzt im Interesse der Landwirtschaft selbst, deren Schutzzölle sonst leicht in Zeichen wirtschaftlichen Niederganges schweren Angriffen ausgesetzt sein könnten.

Es wäre ein nicht wieder gut zu machender Fehler, wenn im Vertrauen auf die sprichwörtliche Anpassungsmöglichkeit der deutschen Industrie und geblendet durch den Glanz der letzten Konjunkturjahre, die Auffassung sich festsetzte, daß die deutsche Industrie „nicht tot zu kriegen“ sei. Eine Handelspolitik, die solcher Auffassung Stütze gäbe, würde sich mit den treibenden Kräften des neudeutschen Wirtschaftslebens in ausgesprochenen Widerspruch setzen. Denn so sehr die Bedeutung der Landwirtschaft für das deutsche Wirtschaftsleben anzuerkennen ist und das an dieser Stelle darüber Gesagte Wort für Wort bestehen bleibt, so energisch muß immer wieder betont werden, daß der Schwerpunkt der deutschen Volkswirtschaft heute – man mag das bedauern oder begrüßen – in der Industrie liegt. Sie gibt uns die Möglichkeit, innerhalb unserer Grenzen ein 80 Millionenvolk zu werden, sie in erster Linie setzt uns in den Stand, die finanziellen Mittel für unsere politische Machtstellung aufzubringen und ihr ist vor allem jene materielle Aufwärtsentwicklung des deutschen Volks in den letzten Jahrzehnten zu danken, durch die zu gutem Teile auch die Bedingungen einer fortschreitenden geistigen Kultur geschaffen wurden, an der das ganze Volk in allen seinen Schichten teilnimmt. Daß freilich diese geistige Kultur heute schon einen Zustand darstellte, der zu kritiklosen Jubelhymnen auf den „Industrialismus“ Anlaß böte, wird niemand behaupten wollen. Aber: hat je eine Zeit mit agrarischem Wirtschaftsleben auch nur annähernd so ausgeprägte kulturelle Massenwirkungen gesehen, wie das moderne Deutschland sie aufweist?

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 713. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/276&oldid=- (Version vom 20.8.2021)