Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/255

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

oder aber durch eine feststehende gleitende Skala, die sich automatisch dem Schutzbedürfnis anpaßte. Ersteres ist heute mit Rücksicht auf das Ausland, dem damit beständig Anlaß zu Repressivmaßnahmen gegeben würde, gänzlich ausgeschlossen. Ob die gleitende Skala dem System der Tarifverträge, an welchem unter allen Umständen festzuhalten sein wird, einzugliedern ist oder ob tiefgreifende Änderungen der Getreidepreise auch künftig zu riskieren sind, wird Gegenstand eingehendster Erörterung bei künftiger Regelung der deutschen Handelspolitik sein müssen.

In diesem Zusammenhang darf auch darauf hingewiesen werden, daß unter Caprivi eine ganze Anzahl von anderen die Landwirtschaft fördernden Maßnahmen zur Durchführung gekommen oder doch begonnen worden sind. Um nur die wichtigsten anzudeuten: die Aufhebung des Identitätsnachweises, aus der sich das heutige Einfuhrscheinwesen entwickelte, die Abänderung des Unterstützungswohnsitzgesetzes, das Weingesetz von 1892, das Reichsviehseuchengesetz von 1894, die Schaffung von Landwirtschaftskammern in Preußen (1894), die Rentengutsgesetzgebung 1891, die Staatszuschüsse zur Förderung des Meliorationswesens und der Kleinbahnen, der Beginn der großen Reform der direkten Besteuerung durch Miquel, die auf die Verschuldung des Grundbesitzes weitestgehende Rücksicht nahm und eine Steuerentlastung des platten Landes um 28½ Mill. Mark mit sich brachte.

Welcher Art aber die parteipolitische Stellungnahme gegenüber der Ära Caprivi auch immer sein möge: solange es in Deutschland objektive Historiker gibt, wird in der Geschichtsschreibung des neudeutschen Wirtschafts- und Soziallebens der Name Caprivi einen ehrenvollen Klang behalten, wird man nicht vergessen, daß Kaiser und Kanzler in jener Zeit mit weitausschauendem Verständnis gegen eine Welt von Widerständen den ökonomischen und sozialen Triebkräften des neuen Deutschlands freie Bahn schufen.

Hohenlohe.

Im März des Jahres 1894 schied Caprivi aus dem Amt. Sein Nachfolger wurde Fürst Hohenlohe, der mit seinem Amt wieder die seit 1892 losgelöste preußische Ministerpräsidentschaft vereinigte. Hohenlohe hat sich niemals in direkten Gegensatz zu der Handelspolitik seines Vorgängers gestellt, immerhin betonte er von vornherein sehr scharf, daß er „die Fürsorge für die Landwirtschaft für die dringendste Aufgabe der inneren Politik in den kommenden Jahren“ halte, „nachdem die Maßnahmen der letztvergangenen Zeit ausschließlich Handel und Industrie zugute gekommen“ seien. Dementsprechend begann er in seiner wirtschaftspolitischen Gesetzgebung mit einer Reihe von landwirtschaftsfreundlichen Maßnahmen: die Erneuerung der Ausfuhrprämien für Zucker, die Erhöhung der Zollsätze auf solche Artikel, die in den Vertragstarifen nicht gebunden waren, die Verstärkung der in Zollkriegen zur Verfügung stehenden Kampfmittel, die Einberufung einer internationalen Münzkonferenz zur Regelung der Währungsfrage (Doppelwährung), Verbot des Getreideterminhandels, das Margarinegesetz, das Zuckersteuergesetz von 1896, die Abänderungen der Branntweinbesteuerung, die Beschränkung der Zollkredite für Getreideimporteure, die Beseitigung zahlreicher Getreidetransitlager an der Ostgrenze (1896) usw. Hingegen lehnte Hohenlohe und mit ihm die überwältigende Mehrheit des Reichstages den sog. „Antrag Kanitz“ ab.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/255&oldid=- (Version vom 20.8.2021)