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Identitätsnachweis eingeführt worden, das heißt, es konnte ausländisches Getreide zollfrei nach Deutschland eingeführt werden, wenn nachgewiesen wurde, daß ein gleiches Quantum ausländischen Getreides von demselben Importeur und aus demselben Transitlager zur Ausfuhr gelangte. Es geschah dies im Interesse der Durchfuhrmöglichkeit fremden Getreides. Nachdem dieser Identitätsnachweis im Jahre 1882 zugunsten des Müllereigewerbes durchbrochen war, wurde er durch Gesetz vom 1. Mai 1894 allgemein aufgehoben: „Bei der Ausfuhr von Weizen, Roggen, Hafer, Hülsenfrüchten, Gerste, Raps und Rübsaat aus dem freien Verkehr des Zollinlandes werden, wenn die ausgeführte Menge wenigstens 500 kg beträgt, auf Antrag des Warenführers Bescheinigungen (Einfuhrscheine) erteilt, welche den Inhaber berechtigen, innerhalb einer vom Bundesrat auf längstens sechs Monate zu bemessenden Frist eine dem Zollwert der Einfuhrscheine entsprechende Menge der nämlichen Warengattung ohne Zollentrichtung einzuführen.“ Der Bundesrat wurde außerdem ermächtigt, die Anrechnung der Scheine zum Nennwert auch bei Begleichung der Zölle für andere Waren als Getreide zuzulassen. Hiervon machte der Bundesrat alsbald Gebrauch, indem er vom vierten Monat nach dem Datum der Einfuhrscheine ab die Anrechnung auf Kaffee, Petroleum, Reis usw. genehmigte. Im Anschluß an den Tarif von 1902 ist diese Angelegenheit nun so geregelt worden, daß die bei der Ausfuhr von Getreide erteilten Einfuhrscheine zur zollfreien Einfuhr jeder beliebigen Getreidegattung verwendet werden können, und sie ferner zur Verzollung von Kaffee und Petroleum schlechtweg angerechnet werden. Außerdem ist Buchweizen neu aufgenommen worden. Durch eine neue Verfügung des Bundesrats ist die Anrechnung für Kaffee und Petroleum bis auf weiteres inhibiert.

Für die Industrie bedeutet der neue Zolltarif gleichfalls eine Erhöhung der Zölle auf der ganzen Linie, und zwar vom primitivsten Halbfabrikat bis zum Fertigprodukt, nicht selten sogar einschließlich wichtiger Rohstoffe. Außerdem zeigen die neuen Industriezölle eine viel tiefergehende Differenzierung als diejenigen des früheren Tarifs.

Die Erneuerung der Verträge.

Die Gegner des neuen Tarifs hatten ihre Stellungnahme u. a. damit motiviert, daß auf seiner Basis die Erneuerung der Caprivischen Verträge nicht möglich sein werde. Dies Ziel aber hatte die Reichsregierung mit den Vertragsfreunden, deren Zahl inzwischen erheblich zugenommen hatte, als unbedingt erstrebenswert bezeichnet. Sie hat sich in der Erwartung, daß der neue Zolltarif ein geeignetes Instrument zur Verwirklichung solcher Pläne sei, auch nicht getäuscht. Trotz großer Schwierigkeiten gelang es, sämtliche Verträge zu erneuern. Es geschah dies in der Form von Zusatzverträgen, unter Beibehaltung von Form und Inhalt der bisherigen Verträge mit Ausnahme der Tarifsätze. Neu ist u. a. die Aufnahme einer Vereinbarung in den Verträgen mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien, der Schweiz und Serbien, daß zur Entscheidung strittiger Tariffragen eine schiedsgerichtliche Entscheidung vorgesehen wurde. Dies Schiedsgericht wird für jeden Streitfall besonders gebildet, und zwar durch drei Schiedsrichter,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/257&oldid=- (Version vom 20.8.2021)