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an den Vorteilen jener Tarifbindungen teilnahm. Dieser für Deutschland günstige Zustand mußte aber im Jahre 1892 sein Ende erreichen, denn Frankreich, das Mittelpunkt dieses Vertragssystems war, zeigte gleichfalls ausgesprochene Neigung zu autonomer Handelspolitik und war entschlossen, die am 2. Februar 1892 ablaufenden Verträge nicht zu erneuern. Dieser Tatsache gegenüber war die handelspolitische Situation unmittelbar nach Bismarcks Entlassung äußerst schwierig. Zwei Wege standen offen. Entweder konnte die Bismarcksche Absperrungspolitik fortgeführt, d. h. eine weitere Erhöhung der deutschen Zölle vorgenommen werden, oder aber es konnte der Versuch gemacht werden, auf die Erneuerung des Vertragssystems hinzuwirken und durch eigene Beteiligung auf seine künftige Gestaltung einen maßgebenden Einfluß zu üben. Die Entscheidung fiel in dem letzteren Sinne.

Die Initiative zur Einleitung der neuen Handelspolitik ergriff Kaiser Wilhelm II. in eigener Person. Bei der im Sommer des Jahres 1890 in Schlesien mit dem Kaiser von Österreich veranstalteten Zusammenkunft wurde im Hinblick auf das künftige handelspolitische Zusammenwirken eine grundsätzliche Übereinstimmung erzielt. Die unmittelbar darauf von Caprivi in Wien eingeleiteten Verhandlungen führten nach Überwindung großer Schwierigkeiten im Mai 1891 zum Abschluß eines Handelsvertrages. Deutschland konzedierte die Herabsetzung des Zolls auf Weizen und Roggen von 5 M. auf M. 3,50, Hafer von 4 M. auf 2,80 M. und Gerste von 2,25 M. auf 2 M. Dazu traten deutscherseits Zollermäßigungen auf für die österreichische Ausfuhr wichtige Rohstoffe und Halbfabrikate, sowie das Anerbieten einer Veterinärkonvention. Österreich setzte seine Zölle auf Textilwaren um durchschnittlich 20% herab und willigte außerdem in die Ermäßigung seiner Zölle für Eisenwaren, Maschinen, Instrumente, Glas, Tonwaren usw. ein. Auf gleicher Basis wurden mit der Schweiz, Italien und Belgien Verhandlungen eingeleitet, die ebenfalls zum Abschluß von Verträgen führten. Sämtliche Verträge wurden dem Reichstag am 14. Dezember 1891 vorgelegt und von diesem nach heftiger Opposition der „Agrarier“ am 17. Dezember ohne Kommissionsberatung angenommen. Auch ein erheblicher Teil der Konservativen hatte für sie votiert. In der Folge wurde das so geschaffene Vertragsgebiet erweitert durch Verträge mit Rumänien und Serbien und schließlich (1894) – nachdem zuvor ein Zollkrieg überwunden war – mit Rußland. Auch diese Verträge fanden die Zustimmung des Reichstags; die Mehrheiten wurden jedoch ständig kleiner, und die Opposition nahm Formen an, die auf der rechten Seite des Reichstags bisher nicht üblich gewesen waren. Sämtliche Verträge hatten eine Gültigkeitsdauer bis zum Jahre 1904.

Würdigung der Caprivischen Handelspolitik.

Die Urteile über die Caprivische Handelspolitik gingen und gehen noch heute stark auseinander. Am prägnantesten für sie eingetreten ist Kaiser Wilhelm, der jener handelspolitischen Ära mit dem ganzen Schwergewichte kaiserlicher Macht zum Siege verhalf. „Ich glaube, daß die Tat, die durch Einleitung und Abschluß der Handelsverträge für alle Mit- und Nachwelt als eines der bedeutsamsten geschichtlichen Ereignisse dastehen wird, geradezu eine rettende zu nennen ist.“ Dies Wort des Kaisers

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 685. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/248&oldid=- (Version vom 20.8.2021)