ADB:Steinthal, Heymann

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Artikel „Steinthal, Heymann“ von Michael Holzman in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 467–474, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Steinthal,_Heymann&oldid=- (Version vom 28. November 2024, 00:29 Uhr UTC)
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Steinthal: Heymann (Heinrich) St. wurde am 16. Mai 1823 in Gröbzig (Anhalt) als Sohn eines Kaufmanns geboren. Seinen Vater, einen angesehenen Mann, verlor er in seinem neunten Lebensjahre. Den vaterlosen Knaben erzog die Mutter, die infolge des hochherzigen Sinnes ihres Gatten in dürftigen Verhältnissen zurückgeblieben war, in dessen Geiste. Außer ihr und einem ältern Bruder übten auf den Knaben der Lehrer der jüdischen Gemeinde, der ihn nicht nur in den Elementarfächern, sondern auch – privatim – im Französischen unterrichtete, sowie der Cantor, der ihn in das Studium des Talmuds einführte, wohlthätigen Einfluß aus. Beider gedachte noch der Greis in Verehrung und Dankbarkeit. Im Alter von dreizehn Jahren kam St. nach Bernburg, um das Gymnasium zu besuchen, das damals unter der Leitung des Directors Herzog stand. Dieser setzte den geistig reifen Knaben, obgleich er weder Griechisch noch Latein konnte, in die Quarta und veranlaßte, daß er in jenen Fächern privatim vorbereitet wurde. Nach einem halben Jahre konnte er als ordentlicher Schüler aufgenommen werden. An den Fortschritten des Gymnasiasten nahm außer den Lehrern freudigen Antheil ein entfernter Verwandter, der ihn in sein Haus aufgenommen hatte und ihm liebevolle Pflege und Aufsicht angedeihen ließ.

Dankbare Erinnerung hat St. dem Unterricht in den classischen Sprachen bewahrt, der vor allem auf Erfassung des Inhalts bedacht war. Neben dem Gymnasialunterricht erhielt er Unterricht im Talmud. Er gedachte Theologie zu studiren.

1842 bestand er die Reifeprüfung. Bei der Entlassungsfeier hielt er eine englische Rede über Shakespeare’s „Romeo und Julia“. Seine akademischen [468] Studien begann er aber erst im folgenden Jahre; sie galten vor allem der Sprachwissenschaft. Ostern 1843 bezog er die Universität Berlin. Hier hörte er u. a. Böckh, Bopp, Lepsius, bei Wilhelm Grimm Freidank, bei Huber Erklärung altspanischer Gedichte, bei Cybulski[WS 1] Altslavisch, bei Schott[WS 2] Persisch, Chinesisch, Türkisch, Mongolisch, Mandschu, Tibetisch und Japanisch, die Interpretation des Schi-King und des Kalewala, bei Schwartze Koptisch, bei Werder Logik und Metaphysik, Psychologie sowie Geschichte der neuern Philosophie, bei Gabler Anthropologie und Psychologie, bei F. Benary über den Ursprung des Pentateuchs, bei Vatke Geschichte der Religion des Alten Testaments, bei C. F. Schultz Botanik. Besondere Förderung verdankte er August Mahn[WS 3], der ihn nicht nur in die romanischen Sprachen, sondern auch in das Baskische und Russische eingeführt hat. Schon in den ersten Semestern ging St. an das Studium von Wilhelm’s v. Humboldt Schrift: „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“. Es ist für ihn bezeichnend, daß die zweite Notiz, die er als Student in sein Tagebuch eingetragen hat, der Schlußsatz des Vorworts ist, das Alexander v. Humboldt jener Einleitung 1836 vorausgeschickt hat: „Es [das vorliegende Werk] muß die Ueberzeugung darbieten, daß eine gewisse Größe in der Behandlung eines Gegenstandes nicht aus intellectuellen Anlagen allein, sondern vorzugsweise aus der Größe des Charakters, aus einem freien, von der Gegenwart nie beschränkten Sinne und den unergründeten Tiefen der Gefühle entspringt.“ Mit Stolz konnte St. sich schon während seiner Studienzeit einen Schüler Wilhelm’s v. Humboldt und August Böckh’s nennen. „Durch Sie“, sagt er in der Widmung seiner „Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern“ an August Böckh, „lernte ich erst, mir aus Humboldt’s Buchstaben seinen Geist erstehen lassen.“ Diese Studien erhoben St. über die äußere Noth, die ihn zwang, sein trocken Brot für die einzelnen Essenszeiten behutsam abzutheilen. 1847 brachte er die Studien äußerlich zum Abschluß. Am 1. November 1847 an der Universität zu Tübingen promovirt, veröffentlichte er noch in demselben Jahre seine erste Schrift: „De pronomine relativo commentatio philosophico-philologica cum excursu de nominativi particula“. Mit Recht hat er sie als eine commentatio philosophico-philologica bezeichnet. Die Durchgeistigung der sprachlichen Thatsachen, die Erörterung über das Wesen der Sprachwissenschaft, die er als einen Zweig der Philologie in Böckh’s Sinne ansieht, die Verherrlichung Wilhelm’s v. Humboldt, mit der die Schrift beginnt, und gelegentliche Widerlegungen einzelner Ansichten Karl Ferdinand Becker’s lassen diese Erstlingsschrift als das Programm eines Theiles von Steinthal’s Lebensarbeit erscheinen.

Die nächsten Jahre waren dem fortgesetzten eindringenden Studium Humboldt’s und der allgemeinen Sprachwissenschaft, dem Studium der afrikanischen Sprachen, des Chinesischen und Herbart’s gewidmet. Allgemeine sprachwissenschaftliche Fragen brachten St. 1848 dem Sprachphilosophen Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Paul Heyse’s Vater, persönlich nahe, dessen Vorlesung über Sprachphilosophie er im Winter 1847/48 gehört hatte. Karl Heyse hing an St. in seinen letzten, durch Krankheit heimgesuchten Lebensjahren – es sind Paul Heyse’s Worte – „wie an einem zweiten Sohne“. Kein Wunder, daß sich Paul Heyse und St. wie Brüder aneinander schlossen. Durch Karl Heyse lernte St. Moritz Lazarus[WS 4] kennen. Wie das Freundschaftsband, das ihn mit diesem verknüpfte, auf ihre wissenschaftliche Arbeit gewirkt hat, schilderte St. 1871 in der Widmung seiner „Einleitung in die Philosophie und Sprachwissenschaft“ an Lazarus: „Wir hoben uns eines Geistes [469] wie ein Turner, welcher, eine Sprosse fassend, sich an der Leiter hinaufzieht, den Körper mit dem einen Arme hebend, während die andre Hand die nächst höhere Sprosse faßt, und dann wieder mit dieser den Körper hochziehend, damit die erstere weiter hinauf greifen könne.“

Am 24. November 1849 habilitirte sich St. an der Berliner Universität. In den ersten Semestern las er über Geschichte der Grammatik, Classification der Sprachen, Sprachgeschichte und Sprachpsychologie sowie über Wilhelm v. Humboldt und behandelte schwierige Stellen aus dessen sprachwissenschaftlichen Abhandlungen, einzelne Troubadours und rabbinische Schriften.

Zu einer Darstellung der Grundsätze der Humboldt’schen Sprachwissenschaft und ihres Verhältnisses zur Philosophie war St. 1848 durch eine Schrift von Max Schasler[WS 5] veranlaßt worden. Dieser hatte die vermeintlichen Mängel von Humboldt’s Sprachwissenschaft darauf zurückgeführt, daß er nicht Hegel’s dialektische Methode angewendet habe. Dies bestimmte St., in seiner Schrift „Die Sprachwissenschaft Wilhelm v. Humboldt’s und die Hegel’sche Philosophie“ Hegel’s und Humboldt’s Princip und Methode gegenüberzustellen. Hier legte er Humboldt’s Gedanken fast durchweg anerkennend dar. Je tiefer er aber in Humboldt’s Schriften eindrang, um so häufiger fand er Widersprüche; deren Quelle glaubte er in dem Gegensatz zwischen Humboldt’s Genie und reflectirendem Verstand zu finden. „Was sein Genie durch unmittelbare Anschauung des allgemeinen Wesens und durch praktische Erforschung der einzelnen Sprachen fand, das wurde sogleich von seinem reflektirenden Verstande wieder zerstört.“ Diese Gedanken hat St. zuerst in seiner Schrift „Die Classification der Sprachen, dargestellt als die Entwickelung der Sprachidee“ (1850) ausgesprochen. Nach einer kritischen Uebersicht über die früheren Classificationen – die Schlegel’sche, Pott’sche und Bopp’sche – sowie nach einer eingehenden Kritik Humboldt’s stellt er hier seine Ansicht vom Wesen der Sprache und der Ursache der Sprachverschiedenheit dar und gibt seine eigene Eintheilung der Sprachen. Die Schrift sollte als Einleitung zu einer Reihe von Werken dienen, die die von ihm „aufgestellten Sprachclassen nach ihrem eigenthümlichen Wesen in die vorzüglichsten Einzelheiten verfolgen werden“. Als seine Kritik Humboldt’s von Pott in einer sonst überaus anerkennenden Besprechung der Schrift (in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 1852) getadelt wurde, erwiderte St. in einem seiner Abhandlung „Die Entwicklung der Schrift“ (1852) vorgedruckten feurigen Sendschreiben, er habe in Humboldt’s Werken eine tragische Begebenheit gesehen; er habe die Fehler aufgedeckt, durch die Humboldt’s Genie im Kampfe mit der Reflexion der Sieg entgangen sei und dann selbst den Kampf aufgenommen, den Kampf für Humboldt wider den Feind in ihm und gesiegt für ihn.

Jenen Standpunkt gegenüber Humboldt nimmt St. auch in der zehn Jahre später erschienenen zweiten Bearbeitung der Classification der Sprachen ein, in seiner classischen „Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues“ (1860). In dieser ist der zweite Abschnitt, der die Darlegung der allgemeinen sprachwissenschaftlichen Principien enthält, um vieles tiefer und eingehender als das entsprechende Stück der Classification der Sprachen. Jetzt sieht St. in allem, „woraus sich das geistige Leben der Menschen zusammensetzt, nichts als Processe in … leibhaftig lebenden Persönlichkeiten und die Ergebnisse dieser Processe“. So ergebe sich die Aufgabe, den Sprachproceß und dessen Ergebniß im allgemeinen und in der Verschiedenheit bei den verschiedenen Völkern zu betrachten. Sein Gedankengang führt ihn auf die beiden Seiten der innern Sprachform, jenes Begriffes, den erfaßt zu haben St. in [470] seinem „Ursprung der Sprache“ (1851) als Humboldt’s größtes Verdienst um die Sprachwissenschaft bezeichnet, den aber erst St. in seiner vollen Bedeutung verstehn gelehrt hat.

Dem Nachweis der Verschiedenheit des grammatischen Baues der Sprachen und zugleich der Ordnung der Sprachen nach ihrem innern Werthe ist der dritte Abschnitt der Charakteristik, der ganz neu hinzugekommen ist, gewidmet. Hier schildert St. geist- und lichtvoll die chinesische Sprache, von den hinterindischen Sprachen das Siamesische und Birmanische, von den polynesischen das Dajakische, von den altaischen das Jakutische, von den amerikanischen das Mexikanische und das Grönländische, das Aegyptische, aus der Reihe der semitischen besonders das Arabische und von den indogermanischen Sprachen das Griechische und das Deutsche. Am Schlusse nimmt er eine Eintheilung der von ihm charakterisirten Sprachen vor und theilt sie in formlose und Formsprachen. Zu diesen zählt er nur die indogermanischen, die semitischen Sprachen, das Aegyptische und das Chinesische. Georg von der Gabelentz bemerkt von diesem Werke (Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft IX,. S. 374): „Die Kunst der Sprachschilderung lehrt es wie meines Wissens kein zweites Werk unserer Litteratur.“

Ganz anders als in der „Classification“ und der „Charakteristik“ steht St. Humboldt’s Forschungen gegenüber in seiner Ausgabe und Erklärung der „sprachphilosophischen Werke Wilhelm’s v. Humboldt“ (1884). Die Königliche Bibliothek zu Berlin war nach Buschmann’s[WS 6] Tode in den Besitz der Humboldt’schen Manuscripte gelangt. Diese gaben St. den Anstoß und die Anleitung, Humboldt’s frühere Arbeiten für das Verständniß seiner letzten zusammenfassenden Schrift, der sogenannten Einleitung, zu verwerthen. Nun fand er, daß diese mehrfach überarbeitet und durch die Vereinigung älterer und neuerer Stücke hergestellt ist. Das Ergebniß seiner eindringenden Interpretation ist, daß uns nun in Humboldt’s Arbeit ein einheitliches Gedankensystem vor Augen steht, „jeder Satz aus dem Mittelpunkte einer ernsten, intellektuell großen, sittlich tiefen Weltanschauung stammend“.

Die Zeit, die St. dieser Arbeit widmete, an die er „mit jugendlicher Lust“ ging, zählte er zu den glücklichsten seines Lebens. Wie er als Vierundzwanzigjähriger auf der ersten Seite seiner Erstlingsschrift erklärt hatte, er sei stets glücklich gewesen, sich mit allem Eifer in Humboldt’s Gedanken zu versenken, so schätzte er sich als Neunundfünfzigjähriger glücklich, daß ihn das Schicksal zur Lösung jener Aufgabe berufen hatte (Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft XIII, S. 204). Seiner Verehrung für Humboldt hat er in zwei Denkreden besondern Ausdruck verliehen, deren eine er an Humboldt’s hundertstem Geburtstage vor Studenten, die er zu dem Festacte eingeladen hatte, im Auditorium maximum der Universität, deren andre er am 28. Mai 1883 bei Gelegenheit der Enthüllung der Denkmäler der Brüder Humboldt im Festsaale des Berliner Rathhauses gehalten hat.

Oben wurde erwähnt, daß Steinthal’s Studien nach der Promotion auch den afrikanischen Sprachen und dem Chinesischen gewidmet waren. Eine Abhandlung über das Soso, Bambara, Mande und Vai (die er 1867 zu dem Werke „Die Mande-Neger-Sprachen, psychologisch und phonetisch betrachtet“ ausgestaltet hat) trug ihm den Volney’schen Preis vom Institut de France ein; dieser setzte ihn in Stand, am Ende des Jahres 1852 zur Erweiterung und Vertiefung seiner Sprachstudien nach Paris und von dort 1853 auf einige Monate nach London zu gehn. Hier erfreute er sich bei seinen afrikanischen Studien der Förderung Josias v. Bunsen’s.

In Paris blieb er bis zum Anfang des Jahres 1856. Er setzte daselbst [471] zuvörderst seine chinesischen Studien besonders unter Stanislas Julien[WS 7] und Bazin fort. Trotz der Theilnahme, die man dem jungen deutschen Sprachforscher, der sehr kärglich lebte, entgegenbrachte, trotz seinem Verkehr mit Ernest Renan, der Steinthal’s Plan, die religiöse Entwicklung der Chinesen zu schildern, billigte, trotz dem freundlichsten Entgegenkommen des Culturhistorikers Baron v. Eckstein behagte es ihm in Paris nicht. Nur langsam lebte er sich ein. In seinen mißlichen Verhältnissen nahm er eine Hauslehrerstelle an; er hatte sie aber nur einige Monate inne. Wohl fühlte er sich nur in seinen Studien. Mit einer Abhandlung über die Wurzeln der verschiedenen chinesischen Dialekte erwarb er sich 1854 wiederum den Volney-Preis, eine „neue Anerkennung in der europäischen Wissenschaft“, wie ihm Adolf Trendelenburg im November 1854 schrieb, die „der deutschen Philologie, auf welche dabei ein günstiges Licht fällt, nur zur Freude und Ehre gereichen“ könne. Aber eine Aussicht auf einen noch so bescheidenen Lebensunterhalt bot sich ihm in der Heimath – außer durch seinen Freund Lazarus – nicht. Und doch zog es ihn dorthin, und er folgte diesem Zuge und lehnte eine Stelle bei der französischen Gesandtschaft in China ab, die ihm auf Veranlassung seiner Lehrer Julien und Bazin unter sehr günstigen Bedingungen angeboten worden war.

Steinthal’s Studien beschränkten sich in Paris nicht auf das Chinesische. Seine Arbeiten über die einzelnen fremden Sprachstämme waren von Anfang an nicht roh empirisch, sondern von seinen allgemeinen Ansichten über den Ursprung der Verschiedenheit der sprachlichen Formen durchzogen. Ja, mit jener Preisschrift über die vier Sudansprachen beabsichtigte er zu beweisen, „daß es in der That Sprachen gibt, welche mit dem Kategorienschema der philosophischen Grammatik keine Berührungspunkte zeigen“. Die Erfahrung nun, daß die falsche Auffassung des Verhältnisses der Sprach- zu den logischen Formen eingewurzelt und weitverbreitet war, bestimmte ihn, dieses Verhältniß zu behandeln.

In dem 1855 erschienenen Werke „Grammatik, Logik und Psychologie, ihre Principien und ihr Verhältniß zueinander“ beginnt St. mit einer Kritik Karl Ferdinand Becker’s, des damals einflußreichsten Vertreters der alten Anschauung, erörtert den Unterschied zwischen Grammatik und Logik, zeigt, daß die Sprache als ein psychisches Organ Gegenstand der Psychologie ist, legt Wesen und Ursprung der Sprache sowie ihre Beziehung zum geistigen Leben dar, leitet aus dem Wesen der Sprache das Princip der Grammatik ab und kommt dann zur Besprechung der Sprachverschiedenheit. Die Erforschung der einzelnen Sprachen führe zur Völkerpsychologie, deren Gegenstand nach Lazarus die geistige Individualität des Volkes sei.

Dieser Wissenschaft sollte die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft dienen, die Lazarus und St. 1860 begründet haben. Sie enthält aus Steinthal’s Feder eine Fülle gründlicher Abhandlungen und schöpferischer Kritiken über Werke aus mannichfachen Gebieten der Geisteswissenschaft. Der letzte Band – der 20. – erschien 1890.

Der Eindruck des Werkes: Grammatik, Logik und Psychologie war nach dem Recensenten der Neuen Jahrbücher für Philologie und Pädagogik (1857) ein bewältigender. Böckh schrieb dem Verfasser, er habe in seinem neuesten Werke wiederum ausgezeichneten Scharfsinn und allseitigen Blick bewährt, und es sei nur zu wünschen, daß er viele aufmerksame Leser finden möge, wiewohl – und dies hat St. nicht bloß an dieser Schrift erfahren – manche gerade durch die Schärfe und Tiefe desselben dürften abgeschreckt werden.

Nach sechzehn Jahren – 1871 – erschien der erste Abschnitt des dritten [472] Theiles von Grammatik, Logik und Psychologie, der das allgemeine Wesen der Sprache und ihre Beziehung zum geistigen Leben behandelt, neu bearbeitet in dem Grundwerke: Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft. Dieses Werk sollte den ersten Theil eines Abrisses der Sprachwissenschaft bilden. An den folgenden Theilen hat St. gearbeitet, sie aber nicht zu Ende geführt. Als zweiter Theil des Abrisses erschien 1893 „Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues von Franz Misteli[WS 8]. Neubearbeitung des Werkes von H. St.“ (1861).

In der „Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft“ will St. nicht das einmalige Ereigniß der Urschöpfung der Sprache, sondern die Gesetze des Seelenlebens darlegen, nach denen Sprache heute wie in der Urzeit wird. So gibt er denn im ersten Theile eine psychische Mechanik, behandelt besonders eingehend die Lehre von der Apperception und entwickelt deren Bedeutung für das ganze Geistesleben. Im zweiten Theile bietet er eine psychische Entwicklungsgeschichte; hier führt er die vorsprachliche Stufe der Seelenentwicklung vor, vergleicht die Menschen- und Thierseele und zeigt, wie Sprache hervorbricht, und was dieses psychische Organ dem Bewußtsein leistet. Was die Wirkung der Schrift auf die Psychologen betrifft, so urtheilte Benno Erdmann: „Ich halte dafür, daß jenes Werk die gehaltvollste Leistung auf rein psychologischem Gebiete ist, die uns in dem letzten Jahrzehnt geboten wurde. Eine Bestätigung dafür bietet die Thatsache, daß St. allein unter allen schulenbildend gewirkt hat; aus mehr als einem Kennzeichen folgt überdies, daß seine Wirksamkeit sich auf weitaus die meisten jüngeren Autoren erstreckt, die psychologische Fragen bei uns discutirt haben. Vor allem seine eingehend entwickelte Theorie der Apperception giebt eine so einschneidende und zutreffende Fortbildung der Herbart’schen Theorie, daß sie für die nächste Zukunft ohne Zweifel die Basis für alle hierhergehörigen Untersuchungen bilden wird“ (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie III, 393). Von Sprachforschern hat sich Friedrich Müller im ersten Bande seines Grundrisses der Sprachwissenschaft völlig auf Steinthal’s Standpunkt gestellt und William Whitney[WS 9] ihn nicht verstanden (vgl. Ztschr. für Völkerpsych. u. Spr. VIII, 216).

Seine Ansicht über den Ursprung der Sprache hat St. in der dritten und sodann in der vierten Auflage seiner Schrift: „Der Ursprung der Sprache im Zusammenhange mit den letzten Fragen alles Wissens“ (1877 und 1888) auch im Hinblick auf die Descendenztheorie auseinandergesetzt. Die erste Auflage (1851) sollte nur „eine Darstellung der Ansicht Wilhelm v. Humboldt’s, verglichen mit denen Herder’s und Hamann’s“ sein. Allmählich erweiterte er die Arbeit zu einem Repertorium der Ansichten über den Ursprung der Sprache, so daß die vierte Auflage einen kritischen Ueberblick über die Ansichten Herder’s, Hamann’s, Humboldt’s, Schelling’s, Heyse’s, Jacob Grimm’s, Renan’s, Lazar Geiger’s, Gustav Jäger’s, Darwin’s, Caspari’s, Noiré’s und Wundt’s enthält.

Wie allbekannte sprachliche Erscheinungen, die die Grammatiker als unorganisch bezeichnet haben, durch die psychologische Betrachtung aufgehellt werden, hat St. in dem durch Feinheit der psychologischen Analyse ausgezeichneten Aufsatz über Assimilation und Attraction (Ztschr. f. Völkerpsych. u. Sprachw. I, abgedr. in den Kleinen Schriften) gezeigt. In diesem „von Seiten der Sprachwissenschaft und der Lautphysiologie bisher noch wenig beachteten“ Aufsatz sah Karl Brugmann[WS 10] (Morphol. Untersuchung a. d. Geb. d. idg. Sprf. I T. IV) die ersten Grundlinien einer Wissenschaft gezogen, „welche über die Wirkungsweise der psychischen Factoren, die bei unzähligen Lautbewegungen [473] und Lautneuerungen sowie bei aller sogenannten Analogiebildung thätig sind, umfassende Beobachtungen anstellt“.

Daß nicht nur das Sprachleben, sondern alles, was wir geschichtliches Leben nennen, ohne psychologische Deutung nicht von Grund aus verstanden werden kann, hat St. in seiner Schrift: „Philologie, Geschichte und Psychologie in ihren gegenseitigen Beziehungen“ (1864) meisterhaft dargelegt.

In demselben Jahre veröffentlichte er in der oben erwähnten Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern mit besondrer Rücksicht auf die Logik (2. Aufl. 1890) ein grundlegendes Werk, das der Geschichte und der Philologie nicht minder als der Philosophie dienen sollte.

Eingehend hat St. außer der Sprache noch zwei Erzeugnisse des Volksgeistes behandelt, den Mythos (vgl. Die Sage von Simson, Die ursprüngliche Form der Sage von Prometheus in der Ztschr. f. Völkerpsych. u. Sprchw. Bd. II, Mythos und Religion in der Virchow-Holtzendorff’schen Sammlung 1870) und das Epos (Ztschr. f. Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. V). Im Hinblick auf diesen Aufsatz bemerkt Ten Brink in seinem Beowulf (S. 7), er sei sich bewußt, dieser „von den Philologen leider viel zu wenig beachteten“ Abhandlung „sehr viel zu verdanken“, und in Paul’s Grundriß der germanischen Philologie (II 1, 515), er habe über die Theorie der Volkspoesie „am meisten aus Steinthal’s Aufsatz über das Volksepos gelernt“.

Gehn wir nun auf die äußern Lebensverhältnisse ein, unter denen St. seit der Veröffentlichung von „Grammatik, Logik und Psychologie“ der Wissenschaft gedient hat. Im Frühjahr 1856 nahm er seine Vorlesungen an der Berliner Universität als Privatdocent wieder auf. Diese behandelten in der ersten Zeit chinesische Texte und chinesische Grammatik, allgemeine Grammatik, Sprachvergleichung und Sprachschilderung unter Berücksichtigung der Völkerpsychologie, die formlosen Sprachen, vergleichende Mythologie und Geschichte der epischen Poesie. Später las er allgemeine und vergleichende Grammatik, allgemeine und vergleichende Mythologie, allgemeine Einleitung in die Litteraturgeschichte, über den Ursprung und Charakter der romanischen Sprachen in Vergleichung mit den alten Sprachen und dem Deutschen, über Form und Charakter der indogermanischen Sprachen mit besonderer Rücksicht auf das Griechische, Lateinische und Deutsche, über Völkerpsychologie, Geschichte der Grammatik, Methodologie und Encyklopädie der Philologie (seit dem Winter 1869/70), über den Ursprung der Sprache und des Menschengeschlechts, über die Bibel in historischer und ästhetischer Hinsicht und interpretirte provençalische Gedichte.

Er hatte nicht viel Hörer. Sein Vortrag war äußerlich nicht anziehend. So blieben ihm nur tiefer angelegte Naturen treu. Wie nachhaltig er aber auf solche gewirkt hat, zeigt besonders Gustav Glogau (s. A. D. B. XL, 394; dazu G. Glogau: Sein Leben und sein Briefwechsel mit H. Steinthal S. 6 u. a.). Aber auch manche Andre haben von dem verehrten Lehrer Anregungen erfahren, die auf ihr Denken und Sein einen segensvollen Einfluß ausübten. Denn seine Vorlesungen lehrten sie nicht nur philosophisch denken sowie das Leben und die Schöpfungen der Völker psychologisch-historisch betrachten; sie wirkten auch dadurch, daß in ihnen – wie in seinen Schriften – die Totalität seines Wesens zum Ausdruck kam: neben der Tiefe und Schärfe des Geistes sowie der Weite des Blickes die ideale Gesinnung und die Zartheit des Gemüths.

Vom Sommer 1872 ab lehrte St. auch an der damals eröffneten Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judenthums. Im December 1862 war er dank Justus Olshausen’s Eintreten für ihn zum außerordentlichen [474] Professor ernannt worden. Das ist er bis an sein Lebensende geblieben. Auch die Pforten der Akademie sind ihm verschlossen geblieben. Diese Zurücksetzung trug St. mit dem heitern Gleichmuth eines Weisen.

Schwereres Leid traf ihn. Zwei ungewöhnlich begabte Kinder, die seiner überaus glücklichen Ehe mit Jeannette Lazarus entsprossen waren, wurden den Eltern im zarten Alter entrissen.

Solche Erlebnisse, ferner die besonders durch Darwin hervorgerufene mächtige Erregung der Geister trieben ihn zu einer erneuten gründlichen Prüfung seiner Weltanschauung. Das Ergebniß dieser Prüfung legte er in seinen Aufsätzen zur Religionsphilosophie (Ztschr. f. Völkerps. u. Sprachw. Bd. VIII u. IX) und, nachdem er (ebd. Bd. XI) die Idee der Vollkommenheit ganz abweichend von Herbart entwickelt hatte, nach zehnjähriger Gedankenarbeit in seiner Ethik (1885) dar. Diese ging von Herbart aus, ist aber „eine Kritik Herbart’s in positiver Darstellung“ geworden.

1882 schrieb St. seinem Freunde Glogau: „Wenn mein Humboldt und meine Ethik da sein werden, dann, so ist mir zu Muthe, habe ich eigentlich genug gethan und betrachte alles folgende, was mir etwa noch vergönnt sein sollte, für besondre Gnade“. In der That hat er nach der Ethik – außer der vierten Auflage des Ursprungs der Sprache – ein größeres Werk nicht mehr geschaffen. Jetzt bildete den Mittelpunkt seiner Studien die Bibel (vgl. Zu Bibel und Religionsphilosophie 1890 und Neue Folge 1895). Neben den biblischen Studien beschäftigten ihn Aufsätze und Vorträge über religionswissenschaftliche, ästhetische und Zeitfragen (vgl. ebd. und Ueber Juden und Judenthum, herausgegeben von G. Karpeles[WS 11]).

Die letzten Lebensjahre waren durch Krankheit getrübt. Nur der aufopferungsvollen Pflege und Hingebung, die ihm seine Frau, deren Schwester und seine Tochter widmeten, war es zu danken, daß öfters eine Besserung seines Zustandes eintrat. Sowie eine solche anhielt, wandte er sich wieder anstrengender Geistesarbeit zu. „So lange es Tag ist“, wollte er „rastlos schaffen“. Am 14. März 1899 erlag er seinem Leiden.

St. hat es zu wiederholten Malen als den Stolz der neuen Sprachwissenschaft bezeichnet, daß sie in dem Zeitalter der Humanität wurzelt, eine Schwester Schiller’scher und Goethe’scher Poesie sowie der höchsten philosophischen Speculation ist. So hat er seine Ausgabe von Humboldt’s sprachphilosophischen Werken „den lebenden und auch den kommenden Anhängern des Humboldt’schen Glaubens an die Ideale der Humanität gewidmet“. Die Idee der Humanität hat auch Steinthal’s Leben und Schaffen beherrscht.

Voss. Ztg. v. 16. Mai 1893 (v. K. Bruchmann?). – D. Selver in Populär-wissenschaftl. Monatsbl. (Frankfurt a. M. 1893). – Th. Achelis, Heymann Steinthal (Heft 296 der Sammlung gemeinverständl. wissenschaftl. Vorträge). – Nekrologe: Derselbe, Münchener Allg. Ztg., Beil., 21. März 1899; Friedrich Paulsen: Voss. Ztg. v. 16. März 1899; Wilhelm Jerusalem: Neue Freie Presse v. 8. April 1899; Karl Weinhold in der Zeitschr. des Vereins f. Volkskunde 1899.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wojciech Cybulski (1808–1867); polnischer Literaturhistoriker und Sprachwissenschaftler
  2. Wilhelm Schott (1802–1889); deutscher Orientalist, Sinologe und Finnougrist
  3. Carl August Friedrich Mahn (1802–1887); deutscher Romanist, Provenzalist und Anglist
  4. Moritz Lazarus (1824–1903), Philosoph, Professor in Bern und Berlin
  5. Henckmann, Wolfhart: Schasler, Max Alexander Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11203-2, S. 586 f. MDZ München
  6. Johann Karl Eduard Buschmann, (1805–1880); Linguist, Mitarbeiter der Brüder v. Humboldt
  7. Aignan Stanislas Julien (1797–1873); französischer Sinologe und vielseitiger Orientalist
  8. Franz Misteli (1841–1903); schweizerischer Klassischer Philologe und Sprachwissenschaftler, Professor in Basel
  9. William Dwight Whitney (1827–1894); amerikanischer Orientalist und Sanskritist
  10. Karl Friedrich Christian Brugman(n) (1849–1919); deutscher Indogermanist und Sprachwissenschaftler
  11. Gustav Karpeles (1848–1909); Literaturhistoriker, Schriftsteller, Kritiker und jüdischer Publizist