ADB:Müller, Friedrich (Sprachwissenschaftler)

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Artikel „Müller, Friedrich“ von Maximilian Bittner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 500–503, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCller,_Friedrich_(Sprachwissenschaftler)&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 17:18 Uhr UTC)
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Müller: Friedrich M., österreichischer Sprachforscher und Ethnograph, seinem Studiengange nach zuerst classischer Philolog, dann Sanskritist, vergleichender Grammatiker und Orientalist überhaupt, der Begründer und Hauptvertreter der sogenannten linguistischen Ethnographie, wurde am 6. März 1834 in Böhmen in einem kleinen im Bunzlauer Kreise gelegenen Orte, namens Jemnik, geboren. Dort war sein Vater, ein armer Pharmaceut deutscher Zunge, damals in einer Schwefelsäurefabrik als Chemiker beschäftigt. Seine Kindheit jedoch verlebte Friedrich M. zu der Zeit wenigstens, da er die Volksschule besuchte, in Rötz in Niederösterreich. Im J. 1845 übersiedelten seine Eltern nach Wien, und hier begann er seine Gymnasialstudien und hier vollendete er sie auch, nachdem er die mittleren Classen in Znaim hatte fortsetzen müssen. Im J. 1858 maturirte er in Wien am k. k. Theresianum. Noch im Herbste desselben Jahres bezog er die Wiener Universität. Von besonderer Vorliebe für fremde Sprachen beseelt, wählte er, da es sich bei ihm um ein Brotstudium handelte, die classische Philologie als Hauptfach, um sich dem Gymnasiallehramte zu widmen. Die Vorträge über Sanskrit, die er bei Professor Boller hörte, entfachten jedoch in dem außerordentlich begabten Studenten ein unüberwindliches Interesse für den Orient. Einer ungewissen Zukunft entgegensehend, vertiefte er sich in das Studium morgenländischer Sprachen. Bei einer täglichen Arbeitszeit von zwölf bis vierzehn Stunden hatte er sich auf diesem schwierigen Gebiete durch eisernen Fleiß und noch dazu meistentheils als Autodidakt in kurzer Zeit selten vielseitige polyglotte Kenntnisse angeeignet. Verschiedene alte und neue Idiome Indiens und Irans, Armenisch und sämmtliche semitische Sprachen waren ihm bald wohlbekannt. Kaum vierundzwanzig Jahre alt, konnte er schon seine von staunenswerther Gründlichkeit und origineller Auffassung zeugende Erstlingsarbeit „Der Verbalausdruck im arisch-semitischen Sprachenkreise“, der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien vorlegen. Auf Grund dieser Schrift erlangte der junge Gelehrte im J. 1859 auf der Universität Tübingen den Doctorgrad. Mittlerweile war es ihm, der bisher sein Brot durch Lesen von orientalischen Textcorrecturen für die k. k. Staatsdruckerei in Wien und durch Stundengeben sich hatte verdienen müssen, geglückt, an der Wiener Universitätsbibliothek eine Anstellung zu erhalten. Der Nahrungssorgen enthoben, konnte F. M. nunmehr doch der Wissenschaft leben, und so habilitirte er sich im J. 1860 an der Wiener Universität als Privatdocent für orientalische Linguistik. Ein Jahr darauf wurde er an die k. k. Hofbibliothek in Wien als Beamter berufen. Da waren es die seiner Fürsorge anvertrauten reichen Schätze dieser altehrwürdigen kaiserlichen Bücherei an orientalischen Handschriften, Inkunabeln [501] und anderen Druckwerken, die dem noch nicht dreißigjährigen Forscher fortgesetzt neue Anregung und Förderung brachten. Schon damals hatte er zu Missionären und Reisenden freundschaftliche Beziehungen angeknüpft, die er sich auch zeitlebens zu erhalten und zu erweitern wußte, um immer von neuem noch ganz unbekanntes fremdsprachliches Material für seine Untersuchungen zur Verfügung zu haben. Ein geradezu phänomenales Talent, fremde Sprachen mit Leichtigkeit in sich aufzunehmen und zu behalten, verstand er es wie selten einer, aus Sprachproben und den oft dürftigen Aufzeichnungen seiner Gewährsmänner über die Struktur eines Idioms sich Klarheit zu verschaffen. Diese wunderbare Gabe ihres Verfassers bekundeten bereits die den bloßen Anfängen seines später unerreicht universellen Wissens zu dankenden Arbeiten, wie „Die Sprache der Bari“, „Ueber die Hararisprache im östlichen Afrika“, „Die Musuksprache im centralen Afrika“, „Der grammatische Bau der Algonkinsprachen, ein Beitrag zur amerikanischen Linguistik“. So wurde es denn auch Friedrich M. ex officio anheimgestellt, die sprachwissenschaftlichen und ethnographischen Ergebnisse der rühmlichst bekannten österreichischen Novara-Expedition zur Ehre seines Vaterlandes durch fachgemäße Bearbeitung zu verewigen. Von Kaiser Franz Josef durch Verleihung der Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet, wurde F. M. im J. 1866 wirklicher Extraordinarius und schon drei Jahre nachher, also 1869, als Nachfolger seines Lehrers Boller ordentlicher Professor des Sanskrit und der vergleichenden Sprachwissenschaft an der Universität Wien, zugleich wirkliches Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ebendaselbst. Durch die Stellung, die Friedrich M. als Sprachforscher der Ethnographie gegenüber einnahm – er hatte den Grundsatz, jeder Rasse komme eine gemeinschaftliche Ursprache zu –, war er dazu berufen, sich in dieser Hinsicht auch auf dem Gebiete der Ethnographie zu bethätigen. Mit seinem Handbuche der „Ethnographie“, das 1873 erschien und heute in manchen Einzelheiten natürlich schon überholt ist, schuf er doch ein Vademecum für alle, die sich mit dieser Disciplin befassen. Seine Eintheilung des Menschengeschlechts nach Sprachstämmen, die mit der von Haeckel eingeführten Classification nach der Beschaffenheit der Haare sich größtentheils in Einklang bringen ließ, ist bisher durch keine zutreffendere ersetzt worden und wird sich auch nicht so leicht durch eine bessere ersetzen lassen: sie bildet das Fundament, auf dem die Ethnographen ruhig weiter bauen können. Das genannte Werk war aber eigentlich nur die naturwissenschaftliche Basis für sein Meisterstück, den „Grundriß der Sprachwissenschaft“, den er in 3 Bänden mit je 2 Abtheilungen und einem Supplement in den Jahren 1876–1888 publicirt hat und der ihm die Bewunderung, man könnte sagen der ganzen Welt eingetragen hat. Der erste Band macht uns in seiner ersten Abtheilung mit dem Wesen der Sprachwissenschaft und ihren Grundbegriffen bekannt und zeigt, wie Sprachen, wenn sie auch keine Naturproducte, sondern Erzeugnisse des menschlichen Geistes sind, doch nach naturwissenschaftlicher Methode analysirt werden können und müssen, um, wie Naturproducte, in ihrer Bauart erkannt, in ihrem geheimnißvollen Werden und Sein verfolgt und nach ihrer verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit gruppirt werden zu können. Wer die über 16 Seiten sich erstreckende Aufzählung der Sprachen des Erdenkreises überblicken kann, dem muß die Riesenarbeit fast übermenschlich erscheinen, die von Fr. M. vorerst hatte bewältigt werden müssen; rund 150 verschiedene Sprachen mußte er sich doch bis zu einem gewissen Grade zu seinem geistigen Eigenthume machen, um sie alle, genau nach demselben System, nach ihrem allgemeinen Charakter in grammatischer, syntaktischer und phonetischer Beziehung und ihren Verwandtschaftsverhältnissen schildern, besondere Eigenthümlichkeiten [502] hervorheben, einen über bloße Skizzen zumeist weit hinausgehenden Ueberblick über die Formenlehre jeder einzelnen Sprache geben und zum Schlusse noch zum Beweise dafür, daß das theoretisch Gelehrte auch in der Praxis sich so verhält, transscribirte Sprachproben mit Interlinearübersetzung und erklärenden Noten beifügen zu können! Dabei wurde der colossale Stoff, der in diesem Buche aufgespeichert ist, von F. M. nur wieder Büchern und schriftlichen Mittheilungen seiner über die ganze Erde zerstreuten linguistischen Freunde entnommen. Sicherlich hat er in das chaotische Sprachengewirre der Welt Ordnung gebracht und schon in methodischer Beziehung allein einen zuverlässigen Führer allen jenen in die Hand gegeben, die noch unbekannte Sprachen erforschen und bestimmen wollen. Seine Arbeit lohnte internationaler Beifall: Deutsche, Ungarn, Russen, Franzosen, Holländer, Italiener, Engländer und Amerikaner stritten sich um die Ehre, ihn zu den Mitgliedern ihrer gelehrten Gesellschaften zählen zu dürfen. Neben dem „Grundriß der Sprachwissenschaft“ verschwinden seine vielen kleineren Abhandlungen und zahllosen etymologischen Erklärungen aus dem Bereiche der iranischen Sprachen und des Armenischen nur dem Umfange nach. Jede einzelne Monographie Friedr. Müller’s ist eine Fundgrube und regt an. So enthalten diese zum größten Theile in den Sitzungsberichten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und in der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes veröffentlichten Schriften und Notizen beispielsweise eigentlich sämmtliche Vorarbeiten für eine vergleichende Grammatik der iranischen Sprachen und insbesondere die Grundsteine für ein vertieftes philologisches Studium des Armenischen, das F. M. meisterhaft verstanden hat und das sonst, wiewol es sich nach Form und Inhalt dem Lateinischen und Griechischen zur Seite stellen darf, philologischerseits unverdientermaßen vernachlässigt wird. Die armen unterdrückten Armenier halten sein Andenken zum Danke für die ihrer Muttersprache geleisteten Dienste hoch in Ehren.

Wie F. M. als Gelehrter und Sprachforscher das Muster gediegener Gründlichkeit in dem Meisten von dem Vielen war, das er wußte, kann er auch als Lehrer das Vorbild treuer Pflichterfüllung genannt werden. Das anstrengende Lesen der verschiedenartigsten fremden Schriften hatte seine Augen schon frühzeitig arg geschwächt, und als er noch im rüstigsten Mannesalter stand, mußte er sich oft mit dem Stocke tastend auf seinen Wegen zurecht zu finden suchen. Und doch erschien er auch beim schlechtesten Winterwetter immer pünktlich im Hörsaale. Bei der Seltsamkeit des von ihm Vorgetragenen war sein Auditorium nicht immer besonders zahlreich, ja mitunter machte seine Hörerzahl nicht einmal ein richtiges Collegium aus. Stets wußte er seine Schüler durch die eigene Sicherheit, mit der er den von Semester zu Semester variirten Stoff beherrschte, über die Schwierigkeit des Gegenstandes hinwegzutäuschen. Ob er Sanskrit-Grammatik lehrte, armenische Historiker las, altpersische Keilinschriften entzifferte oder vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen tradirte, ob er seinen „Grundriß der Sprachwissenschaft“ in großen Zügen oder in einzelnen Partien erklärte und dabei auch die Entstehung der Schrift und ihre wichtigsten Vertreterinnen in Wort und Bild darstellte, seiner Zuhörer bemächtigte sich die Ueberzeugung, daß bei ihrem Lehrer trotz seiner Vielseitigkeit das Sprichwort „non multa, sed multum“ in jedem einzelnen Falle galt. F. M. war eben ein Sprachengenie und ist mit Recht ein zweiter Mezzofanti genannt worden. In den meisten Sprachen, die er als Polyglott konnte, war er auch philologisch geschult. Lateinische und griechische Classiker waren bis zu seinem Lebensabende seine liebste Lectüre. In ihm waren die drei Kategorien, in die er selber die Sprachbeflissenen und [503] Sprachkundigen eintheilte, vereint: er war Praktiker, Philolog und Sprachforscher. Da es ihm nie vergönnt war, in fremden Landen unter fremden Völkern zu verweilen, bereitete es ihm umso größere Freude, mit jenen Vertretern überseeischer Rassen, welche seiner Zeit bei ethnographischen Schaustellungen in Wien zu sehen waren, wenigstens fern von der Heimath zusammenzukommen, um sie hier in ihrer Muttersprache anreden zu können. Eine Vorbereitung von wenigen Tagen genügte ihm. Mit heiliger Scheu umdrängten die exotischen Gäste, Samojeden, Nubier, Singhalesen und Indianer, den hochgestaltigen „Meister“ mit dem weißen Vollbarte und dem guten Augenpaare und ließen sich von ihm über ihre Herkunft befragen. Friedrich M. war auch ein Mensch seltener Herzensgüte und Weichheit. An das Können Anderer legte er nie den Maaßstab an, mit dem er seine eigenen Leistungen maß. Wurde er von Stümpern, die nur renommiren, oder von Kritikastern, die Jedem nahe treten, angegriffen – von Gelehrten wurde er wenigstens in seiner Eigenart nur anerkannt –, so wußte er zu schweigen oder durch einen mehr erzwungenen Sarkasmus seine Gegner zum Schweigen zu bringen. Der leider zu früh dahingeschiedene Paulitschke, einer seiner Lieblingsschüler, zu denen auch der Unterzeichnete sich zu zählen das Glück hatte, meinte in einem Nachrufe, man solle dem Meister die Dichterworte: „Er sah in jedem Soll ein Muß und Zwang, als höchste Pflicht war ihm die Wahrheit“, auf seinen Grabstein setzen. Pflichtgefühl war auch die Triebfeder seines Lebens und das Leitmotiv seiner so harmonisch gestimmten Seelen- und Geistesgröße. Nach fast vierzigjähriger Thätigkeit, während welcher er kaum eine Vorlesung wegen Unwohlseins abgesagt haben dürfte, brach bei dem damals 64jährigen, aber noch körperlich und geistig rüstigen und regen Manne ein heimtückisches Leiden durch, das ihn nach einigen Tagen, am 25. Mai 1898, dahinraffte.