ADB:Holtzendorff, Franz von (Jurist)

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Artikel „Holtzendorff, Franz von“ von Albert Teichmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 785–801, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Holtzendorff,_Franz_von_(Jurist)&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 09:23 Uhr UTC)
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Holtzendorff *): Franz von H., hervorragender Gelehrter auf den Gebieten des Straf-, Staats- und Völkerrechts, des Strafvollzugs und des Gefängißwesens, Vorkämpfer für eine bessere Rechtsstellung der Frauen im Erwerbs- und öffentlichen Leben, Förderer der mannichfachsten Wohlthätigkeitseinrichtungen und Vertreter tieferer Volksbildung namentlich im Dienste der Rechtspflege des modernen Staates.

Franz v. H. wurde am 14. October 1829 auf dem damals der altadeligen Familie der Holtzendorffs der Mark Brandenburg gehörenden Gute Vietmannsdorf in der Ukermark geboren. In der s. Z. dem Vater (A. D. B. XIII, 13 ff.) gewidmeten Skizze konnte der Verfasser nachfolgender Zeilen darauf hinweisen, daß der Sohn seinem während 42 Jahren ihm zur Seite gestandenen theuren Vater den gebührenden Dank in schönster Weise gezollt hat. Vorgebildet auf dem Grauen Kloster in Berlin, dann an der altberühmten Fürstenschule Schulpforta, bezog Franz v. H., sehr vertraut mit den Schätzen classischer und moderner Litteratur, auch für rasche Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen besonders beanlagt, Ostern 1848 die Universität Berlin behufs des Rechtsstudiums, zu dem er anfänglich nicht gerade besonders hinneigte, an dem er jedoch bald größeres Gefallen und wirkliche Befriedigung fand. Nachdem er noch die Universitäten Heidelberg, Bonn und wieder Berlin besucht hatte, doctorirte er 1852 mit der einer schwierigen civilrechtlichen Frage gewidmeten Arbeit „De rebus quarum commercium non est“, Berol. 1852, und machte dann den in Preußen vorgeschriebenenen gerichtlichen Vorbereitungsdienst für Juristen durch. Auf Reisen [786] nach England (1850 und 1853) und Italien (1851 bis Salerno) hatte er tiefere Kenntnisse vom Straf-, Staats- und Verfassungsrecht, auch von der Volkswirthschaft dieser Länder gesammelt. Er übertrug ins Deutsche – in Rücksicht auf die beabsichtigte Aenderung der preußischen Ehegesetzgebung – John Milton’s werthvolle Abhandlung „The doctrine and discipline of divorce“[WS 1] (Ueber Lehre und Wesen der Ehescheidung, Berlin 1855), ferner Macaulay’s Essay über Samuel Johnson (biographische Skizze, Berlin 1857). Dann habilitirte er sich am 30. April 1857 für öffentlich-rechtliche Fächer an der Universität Berlin mit der Arbeit „De causis poenae mitigandae“, die gleichsam das Motto für sein ganzes lebenslanges Wirken auf dem Gebiete des Strafvollzugswesens darstellt. Kurz vorher hatte er mit der Tochter des weiland präsidirenden Bürgermeisters von Hamburg Dr. Binder[WS 2] den Ehebund geschlossen, der ihm und den Seinen zu großem Glück und Segen in guten wie schlimmen Tagen wurde. Wer je zu diesen Ehegatten an friedlicher Stätte häuslichen Glückes in nähere Beziehungen getreten ist, muß sich wohl sagen, daß das Haupt der Familie, gelegentlich der Bekämpfung des Priestercölibats (Deutsche Zeit- und Streitfragen Heft 63, 1875) in ergreifender Schilderung der Heiligkeit des Familienlebens, trotz sonstiger Anerkennung des echten rechten Kerns der Frauenbewegung jener Tage, sein eigenes Haus geschildert hat, wenn er dort als höchste Vorbilder menschlicher Tüchtigkeit anführt: den sorgenden Hausvater, der in der Zukunft seiner Kinder gleichzeitig die bessere Zukunft der ganzen Menschheit pflegt; der aus dem Frieden der Heimstätte die Kraft gewinnt, um stets aufs neue einzutreten in den Ringkampf um die höchsten Güter seines Volkes, und neben ihm die züchtige Hausfrau, deren tägliche seelenvolle Aufgabe die Spendung des höchsten aller menschlichen Sacramente – der selbstvergessenden Mutterliebe ist. Als treue Reisebegleiterin, namentlich in den späteren Lebensjahren Holtzendorff’s, hat sich die Gattin auch im Auslande Verehrung und Sympathie erworben.

Ausgerüstet mit schönen Charaktereigenschaften trat er in seine Laufbahn ein. Wie einer seiner treuesten und langjährigsten Freunde, Rudolf Virchow, es richtig ausgedrückt, hatte er von den Vorurtheilen seiner Standesgenossen keins ererbt. Nur die vornehme Weise seines Benehmens, der vollendete Anstand, der Freimuth seiner Sprache, die Beständigkeit seiner Ueberzeugungen zeugten von dem angeborenen Adel seines Wesens. Im übrigen war er ein Sohn seiner Zeit, jeder edlen Regung erschlossen, ein selbstgemachter Mann voll Freiheitsgefühl und idealen Strebens – der ganz mit Recht von sich sagen durfte „nulli me mancipavi, nullius nomen fero“ –, ganz im antiken Sinn ein homo liberalis und ein Liberaler (immerhin ganz eigener Art) im modernen Parteisinn! Ein Meister des Stils im Deutschen, ebenso auch im Französischen, Englischen und Italienischen, dazu gewandter Redner und poetischer Begeisterung leicht zugänglich – was freilich sein um wenige Jahre jüngerer Freund, Alphonse Rivier, bei einem Juristen eine etwas gefährliche Gabe genannt hat –, hatte er sicher die besten Aussichten auf eine glänzende Laufbahn als ein dem Leben und dem Wirken nach außen hin zugewandter Gelehrter, der allerdings in die Schablone des trockenen Buchgelehrten nicht paßte. Solche sprachen dann natürlich bei so ganz andersartigem Auftreten des jungen Docenten von Streberthum, Haschen nach Volksgunst, von Verwässerung der Wissenschaft, Profanation des ernsten, heiligen Lehrstuhls und riefen ein „caveant consules“ dem gegenüber aus. Gewiß mußten sich die Privatcollegia den Bedürfnissen wie den Wünschen der Zuhörer anschließen, deren viele ja noch Decennien lang die ihnen begehrenswerthen Wissensschätze getreulich im Heft fixirt nach Hause tragen wollten und höchsten insofern entschuldigt waren, [787] als für viele Zweige des Universitätsunterrichts in jenen Zeiten noch keine recht anziehenden Werke zum akademischen Gebrauche bestanden, bis endlich solche auftauchten, darunter z. B. das von H. während eines Winteraufenthaltes im fernen Süden ins Deutsche übertragene „Lehrbuch der römischen Rechtsgeschichte“ seines jungen, frühzeitig verstorbenen Verehrers Guido Padelletti (1843–78), Berlin 1880. Aber in öffentlichen Vorlesungen mit wesentlich anderen Zwecken konnte H. einer schon zeitig gewonnenen Grundauffassung vom Rechtsleben der Gegenwart Rechnung tragen, die ihn zeitlebens beherrscht hat und deren Erkenntniß überhaupt allein den Schlüssel zum Verständniß seiner Lebensarbeit gibt, die er, in Ermangelung anderer Vertreter, nach innerster Ueberzeugung auf sich zu nehmen sich verpflichtet hielt. Er ging aus von der leider damals völlig zutreffenden ungebührlichen, ja verhängnißvollen Zurücksetzung der Staatswissenschaften hinter die privatrechtrechtlichen Disciplinen, die seiner Meinung nach, angesichts der überall im Rechtsleben des Staates fingirten Rechtskenntniß seiner Angehörigen, die große zwischen der Gesetzes- und Rechtsanwendung und der in dieser Richtung obwaltenden Volksrechtsüberzeugung vorhandene Kluft immer fühlbarer werden ließ. War nun allerdings nicht ohne jene große Fiction in der Rechtspflege auszukommen, so war es Pflicht der Wissenschaftsvertreter, für möglichste Verbreitung der den Gesetzen zu Grunde liegenden Ideen der Zeit und der nach Ausgestaltung ringenden Principien Sorge zu tragen. Je allgemeiner – sagte sich H. da – die Wahrnehmung gemacht wird, daß die Unabhängigkeit des politischen Urtheils nicht in dem Maße gewachsen ist, wie die Gelegenheit, dieselbe zu betätigen, desto mehr ist die Annäherung der Staatswissenschaften an die Bildung der gegenwärtigen Epoche zu erstreben.

So lenkte er denn, sehr begreiflich mit der Strafrechtspflege und dem Strafvollzuge jener traurigen Zeit beginnend, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf ein damals dabei vielfach verwendetes Strafmittel. Dies that er in seiner Monographie von größerem Umfange „Die Deportation als Strafmittel in alter und neuer Zeit und die Verbrechercolonien der Engländer und Franzosen in ihrer geschichtlichen Entwicklung und criminalpolitischen Bedeutung dargestellt“, Leipzig 1859 („Die Deportation im römischen Alterthum“ daraus als Separatabdruck). Er ahnte nicht, daß einstmals auch in seinem Vaterlande die Deportation schwerer Verbrecher eine Rolle spielen würde. Einen zweiten Beitrag dazu lieferte die Schrift: „Französische Rechtszustände, insbesondere die Resultate der Strafrechtspflege in Frankreich und die Zwangscolonisation von Cayenne“, Leipzig 1859. Dann behandelte er in dem zwischen Anhängern strenger Einzelhaft und andererseits der Gemeinschaftshaft entbrannten heißen Kampfe ein ihm durch seine Beziehungen zu englischen Praktikern bekannt gewordenes, empfehlenswerth erscheinendes Institut, den sog. irischen Strafvollziehungsmodus von Sir Walter Crofton. Diese Schrift, „Das irische Gefängnißsystem, insbesondere die Zwischenanstalten vor der Entlassung der Sträflinge“, Leipzig 1859 (auch englisch), stieß auf heftige Opposition, die insofern begründet war, als H., nicht genügend bekannt mit ähnlichen in Deutschland angestellten, von den Gefängnißdirectoren mehr oder minder geheim gehaltenene Methoden, verschiedene theils vermeidliche, theils ihm nicht zur Schuld anzurechnende Versehen begangen hatte; dazu kam, daß jenes nur auf die Persönlichkeit des leitenden Mannes zugeschnittene System schon 1862, aber namentlich nach dessen Ausscheiden aus dem Amte 1864 sofort wesentlichen Modificationen unterzogen wurde, was man als Mißerfolg ausgab. Unbeirrt durch diese Gegnerschaft vertrat H. weiter in der dem Vicekönig von Irland, Grafen Carlisle gewidmeten Schrift „Die Kürzungsfähigkeit der [788] Freiheitsstrafen und die bedingte Freilassung der Sträflinge in ihrem Verhältniß zum Strafmaß und zu den Strafzwecken“, Leipzig 1861, die Ansicht, daß nachträgliche Kürzungsfähigkeit der Strafen mit unbedingter Entlassung ein von der sog. provisorischen Freilassung verschiedenes, aber mit der Gerechtigkeit gleichfalls vereinbares Institut sei – eine Idee, welche damals freilich noch größerer Opposition begegnete und nur im Königreich Sachsen zu sofortiger Einführung der bedingten Entlassung führte. 1862 gab er darauf in seiner Strafrechtszeitung einen neuen Bericht über den Stand der irischen Gefängnißeinrichtungen, die er aus Anlaß seines persönlichen Besuches des socialwissenschaftlichen Congresses in Dublin 1861 aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte, und glaubte sich dann der ihm anvertrauten Herausgabe des hinterlassenen Manuscripts des holländischen Justizministers Van der Brugghen „Études sur le système pénitentiaire irlandais“, Berlin 1864, nicht weigern zu sollen. Dadurch nahm der Kampf sehr unliebsame Formen an. Als Abschluß seiner Studien veröffentlichte er endlich „Kritische Untersuchungen über die Grundsätze und Ergebnisse des irischen Strafvollzugs“, Berlin 1865. Heut können wir über alles dies kurz sein! Die Hauptideen eines progressiven Strafvollzuges sind durch die Mitwirkung vieler bedeutender Männer zur Herrschaft gelangt und heutzutage Gemeingut im Gefängnißwesen aller civilisirten Staaten geworden. So war also der von H. in dieser Richtung entwickelte Eifer schließlich doch von Erfolg gekrönt. Besonders werthvoll war es für ihn gewesen, daß er schon 1850 in nähere Beziehungen zu Richard Cobden treten konnte. Ihm hat er dann 1866 sofort nach dessen Tode in der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftl. Vorträge (Heft 17) eine interessante, beifällig aufgenommene Studie (3. Aufl. 1874) gewidmet. Ebenso hatte er Crofton, Organ, Graf Carlisle, Lord Brougham und M. D. Hill persönlich kennen gelernt.

Ein neues Zerwürfniß trat ein, als er, mit den Hamburger und Moabiter Verhältnissen sehr vertraut, gegen die Verwaltungsmaximen des Dr. Wichern vom Rauhen Hause seinen Angriff richtete, der seit Januar 1857 mit dem Ressort des preußischen Gefängnißwesens betraut worden war, freilich schon am 1. October 1857 seine Stütze (Friedrich Wilhelm IV.) verloren hatte. Nach dem Inhalt einer dem Landtage vorgelegten amtlichen Denkschrift Wichern’s von 1861 (jetzt abgedruckt in Bd. IV der Gesammelten Schriften Wichern’s, Hamburg 1905) erachtete H. es für seine staatsbürgerliche Pflicht, Maximen bei Verwendung des von Dr. Wichern herangezogenen Aufseherpersonals, der sog. Brüder-Aufseher, entgegenzutreten, die er für bedenklich, ja verderblich hielt. So entstanden die Streitschriften „Gesetz oder Verwaltungsmaxime? Rechtliche Bedenken gegen die preußische Denkschrift über die Einzelhaft“, 1861; „Die Brüderschaft des Rauhen Hauses, ein protestantischer Orden im Staatsdienst“, 1.-4. Aufl., Berlin 1861; „Der Brüder-Orden des Rauhen Hauses und sein Wirken in den Strafanstalten“, 1. und 2. Aufl., Berlin 1862. Von der Gegenseite maßlos mit Ehrentiteln, vom „Satan“ anfangend, bedacht, erzielte H. schließlich doch, daß das Abgeordnetenhaus durch Beschluß vom 2. October 1862 die Regierung aufforderte, die Verträge mit dem Curatorium nicht zu erneuern. Ob und inwieweit H. damals mit diesen Angriffen Recht hatte und ob jener Beschluß wirklich zu begrüßen war oder nicht, läßt sich heute nach Verfluß mehrerer Decennien, viel kühler als in jenen Tagen der großen Aufregung aller Gemüther wegen der dabei mit hineinspielenden religiösen Momente, aus den jetzt vorliegenden Schriften des jedenfalls sehr edel gesinnten Mannes mit seinen großen, unleugbaren Verdiensten ersehen. Da kommt denn ein Dr. Wichern wesentlich günstig gesinnter [789] Fachmann (Dr. G. v. Rohden in der Zeitschrift von v. Liszt[WS 3] Bd. 26 [1906] S. 189 ff.) nach einigem gegen H. ausgesprochenen Tadel zu dem Schluß (S. 214), daß er sagt: „Dennoch muß man zugestehen, daß die gegnerischen Bedenken gegen die ganze Neuordnung doch nicht schlechthin gegenstandslos waren. Wichern’s Doppelstellung als Vorsteher einer kirchlichen, dabei völlig freien Organisation und großen preußischen Anstalt und als preußischer Beamter, sowohl Kirchenbeamter als Mitglied des evangelischen Oberkirchenraths wie Staatsbeamter, hatte etwas Künstliches, nur auf die Person Zugeschnittenes. Daß er zugleich der höchste amtliche Vorgesetzte der Rauhäusler Aufseher war, wie auch ihr geistlicher Berather und väterlicher Freund, als ihr ‚Oberconvictmeister‘, hätte bei einem weniger großen und freien Geist allerdings zu Mißverständnissen und Schwierigkeiten führen müssen.“ Ebenso gesteht Sander (s. A. D. B. XLII, 775) zu, „daß der Geist der Brüderschaft von Einseitigkeit und Selbstzufriedenheit nicht immer ganz frei war.“ Es liegen also wohl auch in diesem Falle viele Gründe vor, die für den Angreifenden sprechen.

Noch besser steht es um seine weiteren Angriffe hinsichtlich der Stellung der Staatsanwaltschaft im modernen Strafprocesse. Zufolge Anregung der Frage auf dem ersten deutschen Juristentage erörterte man in den verschiedensten Kreisen – und man hatte wahrhaftig damals leider Anlaß dazu! –, welche Veränderungen in der Stellung der Staatsanwaltschaft wünschbar wären. Hier meinte nun H., daß eine administrativ abhängige Staatsanwaltschaft das gefährliche Complement zu dem Grundsatze der politischen Ausnahmegerichte bilde und nichts schlimmer sei, als in der Stille ergehende Instructionen, welche der Staatsanwaltschaft „das öffentliche Interesse“ ans Herz legten. Er forderte Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Anklagebehörde und schloß seine erste Schrift „Die Reform der Staatsanwaltschaft in Deutschland“, Berlin 1864 (Deutsche Jahrbücher für Politik und Literatur XII), mit den schönen Worten: „Liberalismus ist in unsern Augen kein Ziel des Rechtslebens, wohl aber die Gleichheit aller politischen Parteien vor dem Strafgesetz. Die Wege des Rechtes seien fest, gleich jenen Alpenstraßen, die in die Felsen gehauen und mit Galerien bedeckt sind, unter denen der Wanderer seines Weges zieht, obwohl Gießbäche über ihn hinwegstürzen und Lawinen an seiner Seite dahinrollen. Denjenigen, welche die Institutionen des Staates lediglich nach dem Nutzen beurtheilen, den sie selbst daraus ziehen können, rufen wir die Worte eines hervorragenden französischen Advocaten zu: ‚Ihr, die ihr die Macht in Händen habt, wer ihr immer sein möget, achtet das Recht als den Schutz Aller, das Recht, welches euch selbst vielleicht ein Rettungsanker werden könne. Das Schicksal der Machthaber ist veränderlich wie die Wogen des Meeres‘.“ Wenige Wochen nach dem Erscheinen dieser Schrift trat der fünfte deutsche Juristentag im wesentlichen den Forderungen Holtzendorff’s bei, während ein bald darauf ausgegebener preußischer Strafproceßordnungsentwurf ganz anderen Principien huldigte. Dies veranlaßte ihn zu der Schrift „Die Umgestaltung der Staatsanwaltschaft vom Standpunkt unabhängiger Strafjustiz und der Entwurf einer St.P.O. für den preußischen Staat“, Berlin 1865, worin er speciell auf eine der Staatsanwaltschaft zugewiesene Parteistellung Gewicht legte und eine wechselnde Ausübung durch Richter als Ideal erklärte. Hiermit war eine Controverse angeregt, die jetzt, nach 45 Jahren, wenigstens bei uns in Deutschland, noch der Erledigung harrt! Ob diese Frage in der Richtung seiner Vorschläge – wenigstens heute – zu lösen sei, kann nach neueren Arbeiten, z. B. von Dr. Wolfgang Mittermaier (Stuttgart 1897)[WS 4], zweifelhaft sein. Natürlich hatte sich H. mit so freimüthigem [790] Eintreten für schützenswerthe Freiheitsrechte des Staatsbürgers großen Anhang bei liberal Gesinnten errungen und trat auch in die nächste Verbindung zu den bedeutenderen Persönlichkeiten der Fortschrittspartei, aus der sich im J. 1866 die nationalliberale Partei ausschied; in anderen Kreisen wurde er dagegen einer der bestgehaßten Volksrechtsvertreter.

Noch ehe alle diese Vorgänge sich entwickelt hatten, war H. – eigentlich schnell – am 29. December 1860 zum außerordentlichen Professor ernannt worden. Freilich hatte er zu Anfang dieses Jahres dadurch sich unzweifelhaft verdient gemacht, daß er zur Gründung eines deutschen Juristentags anregte. Er stellte nämlich am 4. März 1860 in der Berliner Juristischen Gesellschaft den Antrag, es solle der Vorstand mit der Einladung von Rechtsverständigen Deutschlands wie Oesterreichs zur Anbahnung fachmännischer Beeinflussung bei Gesetzgebungsarbeiten, namentlich aber zum Zwecke allmählich zu erringender deutscher Rechtseinheit betraut werden. Am 10. März wurde diesem Antrage bereitwilligst zugestimmt, und so konnte schon am 20. August 1860 der erste deutsche Juristentag unter dem Vorsitze von Karl Georg v. Wächter zusammentreten. Welche großen Verdienste dieser Juristentag sich um Deutschlands Rechtseinheit wie überhaupt die Gesetzgebung erworben hat, darüber zu reden ist überflüssig. Worin diesmal Deutschland vorangegangen, fand Nachahmung im Auslande, so in der Schweiz schon 1861, in Ungarn 1869, in Skandinavien und in den Niederlanden 1870–72, in Italien 1872, Polen 1887, Portugal 1888. Für die Erweckung des Interesses und Verständnisses für strafrechtliche Fragen hatte H. ferner, die weitesten nicht fachmännisch gebildeten Kreise ins Auge fassend, eine eigene, schon im Format diesen Zweck bekundende und inhaltlich dazu besonders eingerichtete „Allgemeine Deutsche Strafrechtszeitung“ gegründet, die er in Leipzig 1861–73 (zuletzt unter Aenderung des Formats) herausgab. Als sie ihren Zweck erfüllt hatte, verschmolz er sie mit dem „Gerichtssaal“, den damals der ihm befreundete Generalstaatsanwalt Oskar v. Schwarze[WS 5] in Dresden leitete. Nach dessen Tode übernahm H. 1886 diese Leitung und wurde 1889 durch Reichsgerichtsrath Dr. M. Stenglein[WS 6] ersetzt, dieser seinerseits 1904 durch die Professoren F. Oetker und A. Finger. Ein gut gearbeitetes Verzeichniß der wissenschaftlichen Aufsätze in den ersten 63 Bänden des „Gerichtsaals“ von Dr. jur. Georg Maas, Bibliothekar am Reichsmilitärgericht, leistet für Auffindung der Aufsätze der Mitarbeiter gute Dienste. Weiter förderte H. die Rechtspopularisirung durch seine vielen öffentlichen Vorlesungen, in denen er die interessanteren Grund- wie Tagesfragen des Rechtslebens erörterte. Während er in den Privatvorlesungen, besonders in seiner Sturm- und Drangperiode, nicht immer alle seine Zuhörer befriedigte, wußte er in jenen Vorträgen große, begeisterte Zuhörerschaften jüngerer wie älterer Männer dauernd an sich zu fesseln. Er las da über das Strafmittel der Deportation oder Transportation, die Todesstrafe, den Vollzug der Freiheitsstrafe, Zweikampf und Beleidigung, Staatsanwaltschaft und Privatklage, Criminalpsychologie, Eherecht, Staat und Kirche, Geschichte des Völkerrechts u. a. Aus diesen immer mehr vervollkommneten Besprechungen entstanden allmählich einige werthvolle Schriften mit wesentlich neuen Gesichtspunkten; daneben wurde auch ein nicht unbedeutender Beitrag zur Errichtung des Beccaria-Denkmals[WS 7] in Mailand erzielt.

Zu jenen Schriften gehört das dem theuren Vater in letzter schwerer Lebenszeit gewidmete Hauptwerk „Die Principien der Politik“ mit dem prächtigen Dedicationsvorwort, Berlin 1869, nach dem Tode des Vaters († am Ostersonntg des Jahres 1872) in 2., erweiterter Auflage dessen Andenken gewidmet, Berlin 1879 (im Titel mit dem Zusatze „Einleitung in die staatswissenschaftliche Betrachtung [791] der Gegenwart“), ins Französische von Ernest Lehr[WS 8] übertragen 1887, auch ins Spanische (Madrid 1888), Neugriechische und Portugiesische. Es behandelt in eigenartiger Auffassung ein auch heute noch von den wissenschaftlichen Bearbeitern sehr verschieden aufgefaßtes Gebiet mit reifer staatsmännischer Kenntniß. Er sucht und findet die maßgebenden Principien in der Rechtsidee, in der Sittlichkeit und in den Staatszwecken und schließt (S. 323 bzw. 333) mit den bezeichnenden Worten: „Der Mißbrauch der Macht durch die Regierungen, die Ausschreitungen der Parteileidenschaft und die Ausschreitungen des sich dem Staate entfremdenden Individualismus haben eine gemeinsame Schranke an den aus den Staatszwecken herzuleitenden Pflichten, deren im Volksgeiste lebendiges Bewußtsein die stärkste Garantie der Verfassungen ist.“ Als wesentliche Ergänzung können die den sehr gebildeten Schwestern (in Langenorla, Berlin und Groß-Kochberg) gewidmeten „Zeitglossen des gesunden Menschenverstandes“, München 1884, betrachtet werden. Aus den von emsiger Gedankenarbeit zeugenden, öfters eines guten Humors nicht entbehrenden, kurzen wie längeren Sentenzen kann sich der aufmerksame Leser die geistige Individualität des Verfassers am besten und leichtesten reconstruiren. In irgend einer fremden Sprache, etwa der den „Esprit“ liebenden Franzosen veröffentlicht, hätten sie dort jedenfalls viele Auflagen erlebt, was dem Schatzkästlein des getreuen deutschen Eckart natürlich nicht beschieden war!

Zur weiteren Abrundung des Bildes seiner geistigen Persönlichkeit nehme man noch hinzu seine interessanten Reiseberichte aus früherer wie späterer Lebenszeit: einmal das kleine (der Kronprinzessin Viktoria gewidmete) Büchlein „Ein englischer Landsquire“, Stuttgart 1877 (auch englisch 1879), nach einem Besuche bei Thomas Berwick Lloyd Baker, dem Begründer der Reformatory School in Hardwicke Court, Gloucester im J. 1861, sodann die „Schottischen Reiseskizzen“, Breslau 1882, die beide speciell für den Criminalisten wichtige Aufschlüsse über schottische und englische Verhältnisse enthalten. Zur besseren Kenntniß des englischen Rechts hat er vielerlei beigetragen, so die interessante Arbeit über „Englands Presse“ (Heft 95 der Vorträge), auch „Britische Colonien“ (Heft 119) und „Howard und die Pestsperre gegen Ende des 18. Jahrhunderts“ (Heft 317), dann seine Uebersetzung des Werkes von Bagehot „Englische Verfassungszustände“, Berlin 1868, und Bevorwortung des von einem seiner Verwandten übersetzten anderen Werkes desselben Verfassers „Lombardstreet“, Leipzig 1874, sowie Morier’s Selbstregierung durch Dr. Beta, Leipzig 1876 – alles Schriften, die, vereint mit vorangegangenen, wie „Die Staatseinrichtungen Englands“ von Homersham Cox (deutsch von H. A. Kühne), Berlin 1867, und den „Gedanken über Regierung und Gesetzgebung“ von Lord Wrottesley (deutsch von G. F. Stedefeld), Berlin 1869, und den Schriften von Rudolf Gneist das bekannte Werk von Fischel in erwünschtester Weise ergänzten. Mit vielen Beiträgen war er betheiligt am Staatswörterbuche von Bluntschli und Brater (1857–1870), und brachte seinem Freunde Bluntschli, dem er ja auch auf religiösem Gebiete bei Schaffung des Deutschen Protestantenvereins begegnete, einen meisterhaft stilisirten Festgruß in der Schrift „Wesen und Werth der öffentlichen Meinung“, München 1879 (2. Aufl. 1880) dar – leider nur eine Skizze, deren Fortführung durch andere große Arbeiten gehindert wurde. Er hat dann in der Schrift „J. C. Bluntschli und seine Verdienste um die Staatswissenschaften“, Berlin 1882 (Deutsche Zeit- u. Streitfragen 161), diesem ein Ehrendenkmal gesetzt und zur Gründung einer Bluntschli-Stiftung angeregt, deren Nachbild in der ihm selbst von Verehrern 1891 gewidmeten „v. Holtzendorff-Stiftung“ geschaffen wurde, welche beide Stiftungen schon viel Gutes gezeitigt [792] haben. Selbst aber hat er in Erinnerung an seinen Vater ein erstes Bismarckstipendium an der neuen Hochschule zu Straßburg als „v. Holtzendorff-Vietmannsdorf-Stipendium“ 1872 gestiftet. Welchen hohen Begriff er von den Aufgaben eines Staatsrechtslehrers hatte, geht aus einer Ausführung in obiger Schrift über die öffentliche Meinung hervor, wo er sagt: „Fern von dem Kampfe der Parteien, frei von dem Wahne der Unfehlbarkeit, mißtrauisch gegen die Selbstzuversicht, die dem Gegner das Wort abschneidet oder wegen vermeintlich unumstößlicher Lehrsätze den Schlußruf gegen das Bedürfniß weiterer Aufklärung erhebt, – bereit, jede Wahrheit von neuem zu prüfen oder zu beweisen, jeden Irrthum einzugestehen, unberührt von der Parteidisciplin, die ein Festhalten an der Rechtskraft einmal gefaßter Beschlüsse fordert, haben die Vertreter der Wissenschaft den Beruf, Bildner der öffentlichen Meinung nach dem Maße ihrer Kräfte und ihrer besten Einsicht zu werden.“ Wer sich da – und es ist geschehen – in lange Untersuchungen einläßt, warum er nie nach Theilnahme am parlamentarischen Leben getrachtet habe, muß diese seine Worte sowie ähnliche in den „Zeitglossen“ ganz vergessen oder nicht gelesen haben – ganz abgesehen davon, daß ihm die sich allmählich einstellende Schwerhörigkeit eine solche Theilnahme kaum gestattet hätte, die ja auch seinem ganzen Naturell im höchsten Maße widersprochen hätte. Nein, wir danken es ihm, daß er, wo es etwa noch möglich gewesen wäre, sich zur Aufgabe gemacht hat, in anderer Weise und wohl besser seiner Zeit zu dienen!

Dafür widmete er sich rastlos bis zur Ermattung unablässig der Förderung der Volkswohlfahrt in den verschiedensten Richtungen und für die verschiedensten Classen der Gesellschaft. So begründete er, mit Rudolf Virchow in die Redaction sich theilend, nach eigenem Plane die Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge (seit 1866). Sie waren bestimmt für die der Volksbildung dienenden Vereine; sie sollten bei der ihm überall begegnenden Verflachung der populären Litteratur den zwar lesekundigen, aber bisher in ihrem Lesebedürfniß unbeachtet und unversorgt gebliebenen Volksschichten gute Lectüre, unter Ausschluß rein religiöser und politischer Parteifragen der Gegenwart zuführen. „Es war doch wohl höchst verdienstlich in jener Zeit der größten politischen Conflicte, wenn er damit ein Organ schuf, das die Aufmerksamkeit des Volkes auf jenes große neutrale Gebiet der Erkenntniß lenkte, das Allen gemeinsam ist und das nicht bloß den Geist bildet und stärkt, sondern auch Mittel und Wege des Erwerbs eröffnet“ – so Virchow in seinem Nachruf! Dann, nach der Gründung des Deutschen Reiches, schuf er 1872 unter seiner Leitung mit Oncken eine Reihe von Abhandlungen zur Bildung eines gesünderen politischen Urtheils, die „Deutschen Zeit- und Streitfragen“, die für so viele spätere Unternehmungen vorbildlich geworden sind. Was haben doch diese, erst nach seinem Tode zum Abschluß gelangten, im Preise möglichst billig gestellten Heftchen (dort 840, hier 330) Gutes gewirkt! Das zu schildern ist Sache derer, die eine Geschichte der Volksbildung jener Zeit schreiben wollen. Und er diente der Sache der Aufklärung noch unmittelbarer, indem er die alle Kreise mehr und mehr erregende Frage der Todesstrafe, wo immer sich Gelegenheit bot, zu gründlicher Erörterung im Sinne der Wünschbarkeit ihrer Abschaffung zog. So entstand (auch aus Vorlesungen) sein Werk: „Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe. Criminalpolitische und psychologische Untersuchungen“, Berlin 1874 (ins Italienische von Baron Garofalo[WS 9] übersetzt 1877), und die kleinere populäre Schrift: „Die Psychologie des Mordes“, 1875 (Heft 232 der Vorträge). Er gewann hier der tausenfach behandelten Frage neue Gesichtspunkte ab. Jenes erstere Werk [793] widmete er den parlamentarischen Vorkämpfern gegen die Todesstrafe Eduard Lasker in Berlin und P. St. Mancini[WS 10] in Rom. In tief gründlicher psychologischer Prüfung der Motive, die zu Tödtungen Anlaß geben, bekämpfte er die bisherige Formulirung des Unterschiedes von Mord und Todtschlag. Die Wissenschaft ist ihm in neuester Zeit im wesentlichen zustimmend gefolgt, nicht minder z. B. der gerade jetzt mir zugehende Schlußentwurf (1908) zum Schweizerischen Strafgesetzbuch (Juli 1909) in seinem Artikel 64 (vgl. dazu Stoerk[WS 11] S. 13 und v. Liszt in Bd. V der Vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts). M. E. ist jene größere Arbeit, wie keine zweite, geeignet, selbst den bisher eifrigsten Verfechter der Todesstrafe zu anderer Ansicht zu bekehren.

Weiter ist zu erwähnen die Gründung und Leitung der Berliner Volksküchen (dazu „Glossen“ S. 182–184 über Kochkunst und Küche), sein Vicepräsidium und nach Lette’s Tode Präsidium des Lette-Vereins zur Förderung der Erwerbsthätigkeit und höheren Bildung des weiblichen Geschlechts, die Gründung des Victoria-Lyceums unter hohem Protectorate, thatkräftige Unterstützung des Berliner Handwerkervereins, auch des Vereins für Verbreitung von Volksbildung, Mitbegründung des Protestantenvereins und Herausgabe (mit P. W. Schmidt[WS 12]) der sogen. „Protestantenbibel Neuen Testaments“ mit Verbesserungen des Luthertextes in den Anmerkungen, in drei starken Auflagen 1872 ff. Den Herausgebern erschien die volle Erkenntniß der biblischen Urkunden, zunächst des Neuen Testaments, und die vertrauensvolle Annäherung der gelehrten Theologie an die Bedürfnisse religiöser und sittlicher Bildung im Volke als Lebensfrage des deutschen Protestantismus. „Nur als ewig fortschreitende Entwicklung christlicher Wahrheit – sagte H. im Vorworte –, nur in dem stets erneuten Bruch mit allen Anmaßungen menschlicher Autoritäten in Glaubenssachen und nur in der entschiedensten Verleugnung des in dem Bekenntnißzwange wurzelnden kirchlichen Unfehlbarkeitsdünkels kann der Protestantismus wahrhaft Bestand gewinnen als eine das deutsche Volk lenkende Macht“. (Vgl. hierzu Protestant. Kirchenzeitung f. das evangel. Deutschland, 36. Jahrg., Berlin 1889, S. 160 und namentlich über Holtzendorff’s religiöse Richtung den geistvollen Artikel von P. W. Schmidt ebd. S. 246–251.)

Was sodann seine in den maßvollsten Grenzen gehaltene Propaganda in der Frauenfrage betrifft, so hatte er diese schon 1867 mit der Abhandlung „Die Verbesserungen der gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Stellung der Frauen“ (schwedisch 1868, 2. Aufl. 1877) in Heft 40 der Vorträge begonnen und erfreute sich vielfacher Unterstützung von Vertreterinnen dieser Ansichten wie Fanny Lewald, Jenny Hirsch[WS 13], Lina Morgenstern u. A., aber auch akademischer Gelehrter im Auslande, wie C. F. Gabba in Pisa (condizione giuridica delle donne, 2. Aufl., Turin 1880). Ebenso darf seiner treuen Förderung der jungen Studenten und aller, die als Jünger der Wissenschaft seinen Rath wie seine Unterstützung nie vergebens suchten, rühmend gedacht werden, wie dies auch Dr. Rettich (in Nr. 52 und 53 der Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1889) und der damals erfolgreich in Oxford lehrende Dr. Erwin Grueber in der Schrift „Das römische Recht als Theil des Rechtsunterrichtes an den englischen Universitäten“, Hamburg 1889 (Zeit- und Streitfragen N. F., Heft 48) gethan haben. Nicht minder hat der Schreiber dieser Zeilen dankbarst anzuerkennen, daß er, ohne je sein Schüler gewesen zu sein, sofort als junger U. J. D. 1867 für die Besprechung der ausländischen Litteratur (zuerst der Schriften von Francesco Carrara und anderer Italiener wie auch der Holländer) zur Mitarbeit an der Strafrechtszeitung freudigst angenommen und der akademischen Laufbahn zugeführt wurde.

[794] Mit dem Jahre 1870 setzte übrigens die großartige, von Vielen – damals! – so kleinlich verkannte Thätigkeit ein, die für die Bedürfnisse weitester Kreise juristisch werthvolle Uebersichtswerke zu schaffen unternahm mit dem Zwecke, dem Studirenden wie dem beschäftigten Praktiker bei der rastlos fortschreitenden Umgestaltung aller Rechtsdisciplinen eine unentbehrliche Aushülfe bei Bewältigung des durch die Reichsgesetzgebung allmählich geschaffenenen, sehr verwickelten Rechtszustandes zu gewähren. Dies war nur möglich in der Form der Collectivarbeit von Fachmännern unter Leitung eines mit seltenem organisatorischen Geschick begabten Mannes, wie es eben damals unter deutschen wie österreichischen Juristen in erster Linie nur H. war! Schon des fehlenden Raumes wegen, und weil es nicht besser gesagt werden kann, sei hier auf die Ausführungen von Stoerk S. 26 ff., Rivier S. 56 ff., Kleinfeller S. 523 ff. verwiesen. Es handelt sich dabei: 1. um die „Encyclopädie der Rechtswissenschaft“, erschienen in 1. Auflage Leipzig 1870/71, zerfallend in einen systematischen und einen alphabetischen Theil („Rechtslexikon“). In bescheidenem Umfange gehalten, erlebte dieses Werk, an dem sich viele befreundete Gelehrte mit werthvollen Beiträgen betheiligten, weitere Auflagen, in denen es nach den verschiedensten Richtungen ergänzt und vervollkommnet wurde (1. Theil 4. Aufl. 1882, 2. Theil in 3 Bänden 3. Aufl. 1880, 1881). Die ausländische Litteratur hat kein ähnliches, gleich praktisch angelegtes Werk aufzuweisen. Im 1. Theile hatte er sich das deutsche Verfassungs- und das Völkerrecht erwählt, letztere Arbeit von Prof. Francis Hagerup in Christiania 1885 ins Norwegische übertragen, französisch von G. Chr. Zographos, Paris 1891. Die von ihm anfangs noch geleitete 5. Auflage des 1. Theils wurde von Stoerk (1889) beendet; eine 6. Aufl. gab Joseph Kohler in Neubearbeitung Leipzig 1902 in 2 Bänden heraus; Nachahmung fand sie durch Birkmeyer, Berlin 1901. – 2. erschien ein größeres Werk als „Handbuch des deutschen Strafrechts in Einzelbeiträgen“ in 3 Bänden, Berlin 1871–74, dazu 4. Band 1877 mit Nachträgen, verfaßt von einer größeren Zahl von Fachvertretern. Es enthält, was sehr verdienstlich, auch Arbeiten über Geisteskrankheiten, Fragen der gerichtlichen Medicin, die Nachdrucksgesetzgebung, das Preßrecht und das Sonderstrafrecht von Elsaß-Lothringen. H. hat hierin die historische Einleitung und die Uebersicht über die Gesetzgebung des In- und Auslandes in Bd. I geliefert, sowie die Erörterung der ihn psychologisch am meisten interessirenden Tödtungsdelikte in Bd. III. Eine weitere Fortführung, oder Neuausgabe wäre sehr erwünscht, es fehlt leider nur der Organisator! – 3. Es folgte in ziemlich gleicher Weise behandelt das „Handbuch des deutschen Strafproceßrechts in Einzelbeiträgen“ in 2 Bänden, Berlin 1877–79, in dem H. neben den Sicherungsmaßregeln, Vorführung und Vernehmung des Beschuldigten besonders die Lehre von der Vertheidigung bearbeitete, zu letzterem allerdings ganz besonders qualificirt. Hier hatte er sich der Mitarbeit des Oesterreichers Glaser, des Schöpfers der hervorragenden österreichischen St.P.O. und Justizministers zu erfreuen. Beide strafrechtliche Werke nehmen auch heute noch einen Ehrenplatz in der Litteratur dieses Gebietes ein und sind noch nicht übertroffen, wenigstens für den Praktiker, während allerdings für akademische Zwecke treffliche neuere und neueste Arbeiten vorliegen. – Es reihen sich weiter an 4. das „Handbuch des Völkerrechts“, auf Grundlage europäischer Staatspraxis verfaßt, in 4 Bänden, Berlin und Hamburg 1885–89, nebst Registerbändchen, kurz vor seinem Tode zum Abschluß gelangt. Die außerordentlich großen Schwierigkeiten bei diesem endlich Deutschland in der Weltlitteratur dieser Disciplin ebenbürtig neben das Ausland stellenden Werke, von der Planentwerfung an bis zu den größten Kleinigkeiten, hat Stoerk als besonders [795] competenter Urtheiler dargelegt (S. 15–21). In ihm übernahm H. – neben dem für die Litteratur des Gebietes allein in Frage kommenden Freunde Rivier – einige der schwierigsten Partien, im 1. Band Grundbegriffe, Wesen und Verhältnißbestimmungen des Völkerrechts, Quellen, geschichtliche Entwicklung, im 2. Band die das Staatsrecht am nächsten berührenden Materien (Staat als völkerrechtliche Persönlichkeit, Grundrechte und Grundpflichten der Staaten, Staatsverfassungen und Verwaltung in internationaler Hinsicht, endlich das Landgebiet der Staaten). Eine Separat-Ausgabe erschien aus Band I als: „Introduction au droit des gens: Recherches philosophiques, historiques et bibliographiques“, 1888 (Arbeiten von H. und Rivier). – Endlich erschien 5. (mit Dr. Eugen v. Jagemann[WS 14] herausgegeben) das „Handbuch des Gefängnißwesens in Einzelbeiträgen“, Hamburg 1886, in 2 Bänden. Mit diesem waren ebenso zahlreiche Schwierigkeiten im Vorbereitungsstadium zu überwinden, wie sie das Vorwort des Werkes schildert, überwunden einzig wegen der Stellung, die H. auf diesem Gebiete sich durch Lebensarbeit errungen. Er hatte wesentlich mit Freunden in Europa und jenseits des Oceans die segensreiche Einrichtung periodisch zusammentretender, von den Regierungen beschickter internationaler Gefängnißcongresse angeregt, deren erster in London 1872, deren dritter 1885 in Rom tagte, welchen Versammlungen H. beiwohnte, während er auf dem zweiten zu Stockholm 1878 zu erscheinen verhindert war. Leider hat er das Erscheinen des zweiten Bandes nicht mehr erlebt, war dagegen noch in den letzten Tagen eifrig mit den Vorbereitungen zum vierten St. Petersburger Congreß (1890) im Verein mit dem Präsidenten der internationalen Gefängnißcommission Galkine-Wraskoy beschäftigt. Für dieses, dem Großherzog Friedrich von Baden gewidmete Lieblingswerk hat er Wesen, Verhältnißbestimmungen und allgemeine Litteratur der Gefängnißkunde sowie die rechtlichen Principien des Strafvollzugs (Bd. I) bearbeitet. Keine fremde Litteratur besitzt ein entsprechendes Werk. Hiermit ist sein Beitrag zum „Gerichtssaal“[WS 15] Bd. 39, S. 1–35: „Die Richtungen des Strafvollzugs und der gegenwärtige Stand der sachverständigen Meinungen“ auf Grundlage des „Souvenir du IIIme congrès pénitentiaire international“ (Rome, Forzani et C., imprimeurs du sénat 1885, aus den Actes du congrès vol. III, 1) zu verbinden, wozu er als sein Motto beitrug: „Un trionfo dell’ incivilimento si manifesta nel fatto che il sentimento naturale ed originale, il quale spingeva la società a distruggere il delinquente mediante la vendetta legittima, viene lentamente superato dal concetto razionale della tutela della società mediante la restituzzione del delinquente all’ ordine morale“ (p. 15), von Kleinfeller citirt S. 521. – Die Förderung des Interesses für Staats- und Verfassungsrecht im neuen Reich hatte er sich zum Ziele gesetzt bei Herausgabe des „Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reichs“, das er (Leipzig 1871–76) leitete und dann zur Fortführung an Schmoller übertrug, unter dessen Redaction es bekanntlich zur leitenden Zeitschrift dieses und des nationalökonomischen Faches geworden ist. Betheiligt an der Herausgabe der „Gesetzgebung des Deutschen Reiches mit Erläuterungen“ (zuerst von Dr. E. Bezold, später von Meves redigirt), veranlaßte H. jenen ihm befreundeten Mann zur Herausgabe der „Materialien der deutschen Reichsverfassung“, 3 Bde., Berlin 1873, nach seinem dafür entworfenen Plane. Ein anderes, gleichfalls auf seine Idee zurückzuführendes Unternehmen, das mir unter Leitung Bamberger’s zur Zusammenstellung übertragen wurde, das „Repertorium des deutschen Reichstags“, Berlin 1872, fand bei dem Publicum damals nicht genügenden Anklang, so daß der Verleger es schnell entmuthigt fallen ließ.

[796] Natürlich war H. von der Gründung eines Institut du droit international in Gent durch Rolin-Jaequemyns, Moynier u. A. (darunter Bluntschli) im J. 1873 hoch erfreut und wurde unter dessen erste Mitglieder, trotz Abwesenheit bei der Gründungssitzung, aufgenommen. Die erste Idee war von dem zu Berlin am 18. März 1800 geborenen, am 2. October 1872 zu New-York verstorbenen Franz Lieber ausgegangen. Nachdem H. die für Deutschland erste Sitzung dieses Instituts auf deutschem Boden als Präsident (für 1883 bis 85) geleitet hatte, gab er in Uebersetzung die Schrift von Perry „Francis Lieber. Aus den Denkwürdigkeiten eines Deutsch-Amerikaners“, Stuttgart 1885, heraus. An den Arbeiten des Instituts nahm H. regen Antheil, wurde auch 1884 in den Ausschuß zur Ausarbeitung eines organischen Reglements für die Schiffahrt auf den internationalen Strömen gewählt. Aus Anlaß der seit der Oxforder Sitzung des Instituts (1880) geprüften und überprüften Fragen des Auslieferungswesens unterzog er diese Frage einer eingehenden Untersuchung in der Abhandlung „Die Auslieferung der Verbrecher und das Asylrecht“ (Heft 366/67 der Vorträge) 1881, worin er sich nur unter schwerwiegenden Bedingungen für die Realisirbarkeit der dem Gedanken der Weltstrafrechtspflege entsprechenden Auslieferung auch eigener Staatsangehöriger aussprach, wie er andererseits auch „Die Idee des ewigen Völkerfriedens“ (ebd. Heft 403/4) 1882 behandelte. Trotz sehr naher Beziehungen zu den Vertretern des im internationalen Privatrecht in Aufschwung gekommenen Nationalitätsprincips hielt er für Deutschland eine Annäherung an die englisch-amerikanische Doctrin für näher liegend, weshalb er sich der schwierigen Uebersetzung des (in England in mehreren Auflagen verbreiteten) Werkes von J. Westlake unterzog („Lehrbuch des internationalen Privatrechts mit besonderer Berücksichtigung der englischen Gerichtspraxis“, Berlin 1884). Eine ebenso freimüthige Stellung bekundete er, der auf dem Schlachtfelde von Sedan als Mitbegründer des Berliner Hülfsvereins für die deutschen Armeen im Felde der Pflege Verwundeter obgelegen hatte, „in jenen noch zweifelnden Tagen“ – wie Stoerk sich sehr bezeichnend ausdrückt – als er in „Eroberungen und Eroberungsrecht“ (Heft 144 der Vorträge) es aussprach, daß die neuere Geschichte keine Eroberung kennt, die in ihrem Ursprunge so gerecht, in ihrer Vollendung so viel verheißend, in ihrer Begrenzung so maßvoll erscheint, wie die vom deutschen Volke 1870/71 vollbrachte. „Weil die Sicherstellung eines dauernden Friedens durch Vorschiebung bergender Höhenzüge und rauschender Ströme gegen die Rachsucht; weil die Erbauung lebendiger Festungen in dem Herzen eines uns wieder zu gewinnenden und zu versöhnenden Volksstammes das durch einen großen Krieg geschaffene Ziel eines friedliebenden und von falscher Ruhmsucht freien Volkes werden mußte, deswegen war die Eroberung der ehemals deutschen Grenzlande ein Rechtsact der neueren Geschichte!“ Ebenso hatte er schon früher in der kleinen Abhandlung „Britische Colonien“ (Heft 119 der Vorträge) auf die colonisatorische Ueberlegenheit der germanischen Stämme gegenüber den romanischen mit ihrer unnatürlichen Centralisation hingewiesen; ohne jene Eigenschaft hätte jedenfalls die später in Angriff genommene Colonialpolitiik Deutschlands der nöthigen Stütze entbehrt.

Zeitlich zurückgreifend, müssen wir erwähnen, daß H. trotz aller ihm in Berlin begegnenden Anfechtungen der Ansícht gewesen war, es sei, ungeachtet der immer noch ausbleibenden Beförderung im akademischen Kreise, für ihn Ehrensache, in der Heimath, in der deutschen Reichshauptstadt zu verbleiben. Dagegen sprach freilich die immer drückender für ihn werdende Geschäftslast, die er sich allerdings durch sein emsiges Wirken nach den verschiedensten Richtungen in edelster Absicht selbst zugezogen hatte, ebenso aber auch die bei [797] seiner Arbeit häufig eintretende Störung durch an sich sehr erfreuliche Besuche so vieler Berlin berührender in- und ausländischer Gelehrter, von denen nur wenige ihn nicht aufsuchten, auch Besuche hochstehender Persönlichkeiten des Auslandes bis zu den japanischen und siamesischen u. s. w. Abgesandten, die bei ihm aus- und eingingen. So viel er konnte, entledigte er sich mancher Stellungen, die er Anderen überlassen konnte, nachdem die betreffende Angelegenheit in gute Geleise geleitet war. Eines letzten Restes allerdings, der ihm sonst aus Anstandsrücksichten doch verblieben wäre, schien er nur durch Weggang sich entledigen zu können, was ihm durch wiederholte Ersuchen und Anerbietungen, z. B. nach München in ihm befreundete Kreise zu kommen, möglich wurde. So waren denn, so zu sagen, die Koffer nach dem schließlich erwählten München gepackt, als die Ernennung zum ordentlichen Professor in Berlin im Februar 1873 eintraf. Daher mußte die Abreise wenigstens um ein Semester verschoben werden. Er ging also im Herbst nach München und war daselbst erst etwa ein Jahr, als der Proceß gegen Graf Harry v. Arnim[WS 16] ihn als einen der drei Vertheidiger des Grafen nach Berlin zurückrief, um im December vor dem Stadtgericht daselbst aufzutreten. Der Entschluß mag ihm nicht ganz leicht geworden sein; er erregte auch selbst im Freundeskreise sehr getheilte Empfindungen. Wie er die Sache ansah, zeigt seine Vertheidigungsrede „Für den Grafen Harry von Arnim“, Berlin 1875, worin er sagt, „ich kenne keine Interessen, wie sie selbst meine Freunde als gefährdet erachteten, denn ich diene nicht auf Avancement. Wären aber solche wirklich vorhanden, so würde ich sie meiner Ueberzeugung getrost zum Opfer bringen. Wenn es sich darum handelt, eine falsche Anwendung des Strafgesetzes abzuwehren, und außerdem, wenn meine Vertheidigung ein geringes dazu beigetragen hat, den zweifelhaften Sinn des Strafgesetzbuches klarer zu stellen, so würde ich glauben, daß der Dienst, den ich dem Grafen Arnim geleistet habe, geringer wäre, als derjenige, den ich Deutschland erwiesen!“ Hiernach hatten also selbst seine Freunde seinen Freimuth unterschätzt. Auch war nicht zu leugnen, daß durch die von ihm, Wahlberg, Merkel und Rolin-Jaequemyns dann veröffentlichten „Rechtsgutachten zum Processe des Grafen Harry von Arnim“, München 1875, einschließlich der Vertretung des Standpunktes im Processe selbst, ein wichtiger Beitrag zur tieferen Erfassung des Urkundenbegriffes geschaffen wurde, der seine Anerkennung durch die weitere wissenschaftliche Erörterung dieser Fragen sich errungen hat. Freilich hat man von einem tragischen Geschicke Holtzendorff’s gesprochen (Stoerk S. 31/32), das er sich durch Auftreten gegen Fürst Bismarck zugezogen habe, indem er in einen freilich nur äußerlichen und vielfach nur scheinbaren Gegensatz zu dem Träger leitender, auf die Geschicke des deutschen Staates tief einwirkender Ideen trat, deren Kerngehalte er persönlich jedenfalls beträchtlich näher gestanden sei, als dem Parteikanon derer, die ihn lediglich wegen jenes Gegensatzes gegenüber dem Gegner seines Klienten bedingungslos als einen der Ihrigen ausgeben zu dürfen glaubten. Ob dem wirklich so war, möge dahin gestellt bleiben; jedenfalls gibt seine Bemerkung in den Zeitglossen S. 74 („über die Partei Bismarck“) vieles zu denken und verdient sicher größere Beachtung, als ihr bisher zu Theil geworden ist. Allerdings läßt sich der Zeitpunkt, in dem sie geschrieben wurde, nicht leicht feststellen! – Noch in einer andern über die Maßen berühmt gewordenen und von zahlreichen Rechtsverständigen behandelten Proceßsache hielt er mit seiner Ansicht nicht zurück in der Schrift: „Der Rechtsfall der Fürstin Bibesco“, München 1876. Ein näheres Eingehen auf die zahllosen intrikaten Fragen dieses sog. Bauffremont-Processes ist nicht dieses Ortes. Mein Auftreten in Erörterung dieser höchst interessanten Rechtsfragen hatte [798] leider – zu meinem großen Erstaunen wegen der vollen Sachlichkeit meiner Ausführungen – eine (bald wieder in Minne beigelegte) Differenz zwischen uns zur Folge. Daß er mit seiner Ansicht durchgedrungen sei, läßt sich kaum behaupten. Was man 1876 kaum hoffen konnte, ist dann plötzlich nach kaum einem Decennium in Frankreich, wie es von mir wie Andern als einziges Abhülfmittel auch erhofft worden war, 1884 Rechtens geworden, indem die Wiedereinführung der in Belgien geltend gebliebenen Ehescheidung (divorce) erfolgte. Vielleicht – ein Urtheil steht mir hier nicht zu – lag die Sache ähnlich bei seinem Eintreten in rumänischem Interesse auf Ansuchen der rumänischen Regierung, dem Rechtsgutachten „Rumäniens Uferrechte an der Donau“, Leipzig 1883, französisch 1884. Hier drückte er sich dahin aus: „Selbst das nahezu vollendete oder unabwendbare Unrecht festzustellen, ist nicht ohne Bedeutung für die Entwicklung der Nationen. In solchem Falle wäre Schweigen, wo man von dem in seinem Rechte bedrohten Theile zum Sprechen aufgefordert wird, eine Mitschuld, von der die wissenschaftlichen Vertreter des Völkerrechts sich unter allen Umständen frei halten müssen.“ Den in diesen Worten bekundeten edlen Gesinnungen wird jedermann beipflichten können. In durchaus versöhnlichem Sinne hat er sich endlich in den Grenz- und Paßfragen Elsaß-Lothringens geäußert – Revue de droit international 1888, S. 217–228 (aus der „Deutschen Revue“), 617/618 – während speciell in letzterer Beziehung Rolin-Jaequemyns mit abweichender Beurtheilung dieser Maßregel der deutschen Regierung das Richtige getroffen haben dürfte. Die hinterlassenen Papiere enthalten übrigens mancherlei Spuren noch weiterer in völkerrechtlichen Fragen verfaßter Gutachten, z. B. über die Beschlagnahme einer Kanonensendung für die türkische Regierung im Hafen von Antwerpen.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß die Thätigkeit Holtzendorff’s in München 1873–88 keine geringere war, als die in Berlin bis 1873. Auch hier hat er seinen Principien nachgelebt, die Bestrebungen des Münchener Volksbildungsvereins unterstützt, die Reform der höheren Bildungsanstalten mit Eifer vertreten, sich auch um die Bildung einer Juristenvereinigung im Kreise von Collegen und Freunden verdient gemacht. Mit Specialfragen des namentlich staatswissenschaftlichen Universitätsstudiums hatte er sich schon früher eingehender beschäftigt; in dieser Hinsicht sei genannt seine Arbeit in Faucher und Michaelis’ Vierteljahrsschrift Bd. III des Jahrg. IV und in der „Alma Mater“ 1877. Auch sei hier gelegentlich erwähnt, daß H. jahrelang einer der geschätztesten auswärtigen Correspondenten des „Economist“ gewesen war. Als Delegirter der Universität München wohnte er der achten Jahrhundertfeier der Universität Bologna im Juni 1888 bei. Bei diesem Anlasse sah ich ihn, mit zwei Collegen als Vertretern der Universität Basel behufs Ueberreichung meiner Festschrift „Amerbachiorum epistolae mutuae Bononia et Basilea datae“ dort zugegen, das letzte Mal; auch dies Mal fand er begeisterte Aufnahme in dem ihm so lieben Südlande, das er aus sanitären Gründen für sich und ihm zunächst Stehende öfters für längere Zeit aufgesucht. Hatte er am 22. November 1885 anläßlich des internationalen Gefängnißcongresses in Rom auf dem Campidoglio die höchste Genugthuung und Freude seines Lebens erfahren (Rivista di discipline carcerarie, 1885, p. 604) und im Anschluß an den Congreß auch noch Sardinien (Cagliari und Castiadas) besucht, so feirte er in Bologna in seinem Festlied „Nord und Süd“ die Verbindung Italiens und Deutschlands in den Worten:

Durch Fels und Meer hat sich gefunden,
  Was ehemals verfeindet schien.
[799] Wir kennen uns, wir sind verbunden,
  Der Rheinstrom grüßt den Apennin.
In brüderlichem Hochgefühl
  Sehn wir gemeinsam uns beschieden
Das gleiche Recht, das gleiche Ziel:
  Die heil’ge Freiheit und den Frieden.

(Aus: Alexander Tille, Aus den Ehrentagen der Universität Bologna,
Leipzig 1888, S. 51.)

Traurig hatte auch für ihn das Kaisertrauerjahr 1888 begonnen. Am 15. Januar starb Francesco Carrara, der von ihm so hoch verehrte große italienische Criminalist, und es folgte ihm im Tode am 26. December Pasquale Stanislao Mancini, der zeitlebens für Italiens Ehrenstellung in wissenschaftlicher wie politischer Beziehung thätige, ihm eng befreundete Staatsmann. H. widmete ihm – wohl in einer der letzten Arbeiten – einen Nachruf (Gerichtssal XLI S. 324 f.) unter völlig gerechter Hervorhebung der Licht- und Schattenseiten der amtlichen Wirksamkeit des einst von den Bourbonen verfolgten und deshalb nach Piemont geflohenen Neapolitaners. Leider kamen aber auch ihm bald qualvolle Tage. Sein Herzleiden steigerte sich mehr und mehr; schon war nochmalige Reise an die Mittelmeergestade in Angriff genommen, als ihm am 4. Februar 1889 Erlösung von schwerem Leiden zu Theil wurde. Mit diesem herben Geschick konnte die Seinen wie die Freunde nur der Gedanke etwas aussöhnen, daß er – noch nicht sechzigjährig – in dreißigjähriger Arbeit geleistet, was kein Anderer in doppelter Frist, und daß eigentlich alles vollendet war, nach dem er getrachtet. Voll der Hoffnung auf Zustandekommen eines deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches, gleiches für Civil- wie Strafrecht in der Schweiz erwartend (wie ich solche Rechtsvereinheitlichung in meiner akademischen Antrittsrede im März 1873 bei Betreten eines neuen Vaterlandes als wünschbar, ja nothwendig hingestellt hatte), entgegensehend einem Zeitalter schiedsgerichtlicher Beilegung bedrohlicher Streitfälle, sowie der Schaffung eines Weltrechts für viele Zweige des Verkehrslebens, freudig die Gründung der Internationalen Criminalistischen Vereinigung begrüßend, und noch in den letzten Tagen die Annahme des italienischen Strafgesetzbuches ohne Todesstrafe im Parlamente erlebend, vertrauend auf freundliche Gestaltung der Dinge im Kreise der Seinen, konnte er, der gewirkt, so lange es Tag war, nun die Sonne des Lebens – allzufrüh – ihm zu Rüste ging, die Arbeit niederlegen und die Beurtheilung seines wissenschaftlichen Strebens ruhig der Zukunft überlassen – und wir können jetzt nach zwanzig Jahren sagen, er hat sich nicht getäuscht. Anhänger wie Gegner müssen ihm Adel der Gesinnung, Selbstlosigkeit, ideales und reales Wirken für die Wohlfahrt seines Volkes, für die Interessen seiner Mitmenschen zugestehen. Und wer mehr kritisch sein Lebenswerk werthen will, kann es mit dem oder jenem derer halten, die ihn am besten kannten, weil sie ihm am nächsten gestanden. Er kann dem treuen Freunde und Verehrer August v. Bulmerincq zustimmen, der kurze Zeit vor dem auch ihn treffenden Schlag (13. August 1890) das Große in dem Wesen Holtzendorff’s darin gesehen hatte, daß dieser schon zeitig die Eigenart seiner Veranlagung richtig erkannt habe, vermöge deren er schon kraft seines Sprach- und Sprechtalentes zum Wirken nach außen hin in die Ferne, in das Ausland hinein zur Ehre des Vaterlandes bestimmt gewesen – er kann andererseits mit dem in noch minderem Alter uns entrissenen Stoerk (18. Januar 1908) neben großem Lobe doch auch einigen Tadel nicht zurückhalten, weil manchmal die schön klingende Form den Mangel an tieferem Inhalt nur auf kurze Frist dem Zuhörer verdecken konnte – oder endlich mit dem gleichfalls früh dahingeschiedenen [800] Rivier (21. Juli 1898) diese Schwierigkeit umgehen mit Berufung auf das Wort des Evangeliums „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“ – gleichviel! Und wollen wir die Lebenden hören, so verweise ich auf die schönen Nachrufsworte von Arthur v. Kirchenheim[WS 17] und besonders auf das ganz gelegentlich gefällte Urtheil von Franz v. Liszt, der von H. sagte: „Ein überaus beliebter und anregender Lehrer, mit den hervorragendsten Criminalisten aller Länder in engster Fühlung stehend, hat er mehr als irgend einer seiner Zeitgenossen durch die Macht seiner Persönlichkeit gewirkt, nach allen Richtungen hin reichlichste Anregungen ausströmend, ein Vermittler zwischen den Völkern, ein Apostel des Rechts, einer der glänzendsten Vertreter des deutschen Geistes. Die strengen Dogmatiker haben ihn niemals für voll genommen; an der Stiftung, die seinen Namen trägt, haben sich nur wenige von ihnen betheiligt. Und sie hatten Recht in ihrem Sinne; nur das Eine, freilich gerade das Wesentliche, haben sie übersehen, daß in der Pflege und Ueberlieferung der Dogmatik sich die Aufgabe des Rechtslehrers nicht erschöpft. Sein Name wird leben, wenn gar mancher unserer heutigen Dogmatiker vergessen sein wird.“ – In der That können wir sagen, daß manches von ihm gestreute Samenkorn sich prächtig entfaltet hat, daß andere noch des Ausreifens zur Frucht harren, und werden mehr und mehr dessen inne, daß die uns hinterlassene Erbschaft noch nicht erschöpt ist, vielmehr unser die Pflicht ist, sie in vollem Maße auszunützen. Durch Kampf und Nacht zu Sieg und Licht zu dringen, war ihm höchstes Bedürfniß – Recht und Gerechtigkeit sein Losungswort – Friede auf Erden die höchste ihn begeisternde Idee.

Nun ruht er aus von den Kämpfen des Lebens im Herzen Deutschlands, in thüringischer Erde, in Groß-Kochberg, zur Seite der Mutter, die in langem Leben sich eines solchen Sohnes zu freuen wahrlich Anlaß hatte! Und es wird die strenge Richterin alles Menschenwerkes, die Geschichte, den Namen „Franz von Holtzendorff“ auch einer kommenden Generation in die helleren Tage eines von Haß und Aberglauben mehr, als jetzt der Fall, befreiten Menschenthums als leuchtendes Vorbild bewahren.

Dr. Felix Stoerk, Franz von Holtzendorff. Ein Nachruf. Mit Bildniß. Hamburg 1889 (Sammlung d. Vorträge, N. F. III. Serie, Heft 71, dazu Nachruf von Rudolf Virchow). – Alphonse Rivier im Annuaire de l’Institut de droit international, vol XI, Paris 1892, S. 53–64. – Dr. Georg Kleinfeller, Nachruf. In der Zeitschrift f. d. ges. St.R.Wiss. IX, Berlin 1889, S. 519–527 (mit genauen amtlichen Angaben über Orden und Auszeichnungen S. 526). – Dr. H. Rettich, Nachruf in der Beilage der Allg. Ztg. 1889 Nr. 52/53. – August v. Bulmerincq in: „Unsere Zeit“. Deutsche Revue der Gegenwart. Jahrg. 1889, Bd. I, S 564–568. – A. Teichmann im Gerichtssaal XLI, 257–272; in der Zeitschr. f. Schweizer Strafrecht (von Carl Stooß) II, 117–124. – Dr. Jürgen Bona Meyer in seinem Nachruf für die „Zeit- und Streifragen“. – Emilio Brusa in „Il Filangieri“ XIV, Milano 1889. – Dr. Erwin Grueber in Law Quarterly Review 1889, p. 190 ss. – v. Kirchenheim in s. Centralblatt f. Rechtswissenschaft VIII, 221/22. – Wahlberg, Erinnerung an F. v. Holtzendorff, in den Jurist. Blättern XVIII. – W. Lexis, Die deutschen Universitäten, Bd. I, Berlin 1893, S. 358 (v. Liszt), 373 (v. Martitz). – Revue pénitentiaire 1889, p. 417 ss. (Guillaume). – „Nachrichten über die Familie v. Holtzendorff“, 3. Jahrg. Nr. 6, vom October 1909. – Bulletin de la comm. pénit. internat. 1888, p. VII–XII; p. 311–377: Un gentilhomme campagnard anglais (T. B. Lt. Baker).Rivista penale XXIX, 303. [801]Rendiconti della R. Accad. dei Lincei 1889 (serie IV, vol. 5, p. 303). – Bulletin de l’Acad. de Belgique III. série 17, p. 209. – Weekblad van het Recht, No. 5666. Rechtsgeleerd Magazijn VIII, 1889, bl. 341, 479. – Dr. Francis Hagerup in der Tidsskrift for Retsvidenskab II (1889), 518–520. Nordisk Tidskrift for fængselsvæsen XII, 28. – Cav. Aristide Bernabò Silarati in der Rivista di discipline carcerarie XVI (1886), p. 547–551; comm. Martino Beltrani-Scalia XIX (1889), p. 79, 80.

[785] *) Zu Bd. L, S. 454.


Anmerkungen Personen (Wikisource)

  1. John Milton (1608–1674); war ein englischer Dichter, politischer Denker und Staatsbediensteter unter Oliver Cromwell. Die erwähnte Dissertation erschien 1643.
  2. Nicolaus Binder (1785–1865); war ein deutscher Jurist und Erster Bürgermeister von Hamburg.
  3. Franz Ritter von Liszt (1851–1919); war ein deutscher Rechtswissenschaftler.
  4. Kreuzer, Arthur: Mittermaier, Wolfgang. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 17, Duncker & Humblot, Berlin 1994, ISBN 3-428-00198-2, S. 585 f. MDZ München (1867–1956); 1903–1933 Prof. der Rechtswissenschaft in Giessen.
  5. Friedrich Oskar von Schwarze (1816–1886), war ein deutscher Jurist und Politiker. Er war der erste Generalstaatsanwalt im Königreich Sachsen und Abgeordneter des Sächsischen Landtags und des Reichstags.
  6. Melchior Ignaz Hermann Heinrich Christoph Stenglein (1825–1903); war ein deutscher Jurist.
  7. Cesare Beccaria (1738–1794); war ein bedeutender italienischer Rechtsphilosoph und Strafrechtsreformer im Zeitalter der Aufklärung.
  8. Ernest Lehr, elsässischer Historiker und Jurist
  9. Raffaele Garofalo (1851–1934); war ein italienischer Jurist und Strafrechtslehrer.
  10. Pasquale Stanislao Mancini (1817–1888); selten auch Pascal Mancini, war ein italienischer Jurist, Journalist und Politiker, der dem in Neapel ansässigen Zweig der italienischen Adelsfamilie Mancini entstammte.
  11. Felix Stoerk (1851–1908); war ein österreichischer Jurist, der insbesondere im Bereich des Staats- und Völkerrechts tätig war. Ab 1882 wirkte er als Professor an der Universität Greifswald.
  12. Paul Wilhelm Schmidt (1845–1917); war ein deutscher, größtenteils in Basel lehrender Theologe und gilt bis heute als einer der wichtigsten Schweizer Repräsentanten der liberalprotestantischen Richtung in Theologie und Kirche zum Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts.
  13. Jenny Hirsch (1829–1902); war eine deutsche Übersetzerin, Schriftstellerin, Redakteurin und Frauenrechtlerin.
  14. Krebs, Albert: Jagemann, Eugen von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 10, Duncker & Humblot, Berlin 1974, ISBN 3-428-00191-5, S. 293 f. MDZ München
  15. Vorlage: öffnende Anführungsstriche fehlen
  16. Harry Karl Kurt Eduard Graf von Arnim-Suckow (1824–1881); war ein preußischer Diplomat.
  17. Heinrich Adolf Paul Arthur von Kirchenheim, Geburtsname von Koscielski (1855–1924); war ein deutscher Jurist.