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Artikel „Lieber, Franz“ von Reinhold Pauli in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 566–576, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lieber,_Francis&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 19:05 Uhr UTC)
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Band 18 (1883), S. 566–576 (Quelle).
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Lieber: Franz L., einer der namhaftesten Publicisten und Vertreter des Staats- und Völkerrechts, geb. am 18. März 1800 in Berlin, † am 2. Octbr. 1872 in New-York. Der Vater, Friedrich Wilhelm L., war Kaufmann und [567] bewohnte ein Haus in der Breitenstraße, von wo der sechsjährige Knabe die Franzosen einziehen sah und in ökonomisch harten Jahren die Schule besuchte. Er turnte dann unter Jahn und errichtete noch viele Jahre später in Boston eine Schwimmschule. Lehrer und Schüler rühmten an ihm Fleiß, Auffassungsgabe und unverbrüchliche Liebe zur Wahrheit. Nach der Wiederkunft Napoleons von Elba ließ sich der Secundaner L. als freiwilliger Jäger in das Regiment Colberg einreihen, mit dem er in kurzem auszog und bei Ligny die Feuertaufe erhielt. Nach dem Siege von Bellealliance jedoch in einem Waldgefecht bei Namur am 20. Juni wurde er durch zwei Kugeln auf den Tod verwundet, um nach schrecklicher im Lazareth zu Lüttich verbrachter Zeit, wovon er im Alter, als wäre es gestern, zu erzählen wußte, geheilt entlassen zu werden und als Schüler in das Graue Kloster zurückzukehren. Kaum jedoch hatte er die Berliner Universität bezogen, so wurde er, ein begeisterter Anhänger Jahn’s und der Burschenschaft, wegen verfänglicher Freiheitslieder in Untersuchung gezogen und einige Monate eingesperrt. Er ging darauf nach Jena, wo er 1820 die philosophische Doctorwürde erwarb. Sein Freiheitsideal trieb so wenig der Republik, sondern einzig und allein der Einigung des Vaterlandes unter einem reformirenden Kaiser oder König zu, daß er noch 1868 schrieb: „Ich lese in deutschen Blättern, daß Bismarck im Reichstage genau dasselbe gesagt hat, weswegen wir 1820 und 1821 wie wilde Thiere gehetzt wurden“. Allein, unter polizeiliche Aufsicht gestellt und von jedem Staatsamt ausgeschlossen, war seines Bleibens weder in Halle, noch in Dresden. So zog er denn, einer der ersten Deutschen, hinaus, um den Hellenen in ihrer blutigen Erhebung wider das türkische Joch beizustehen. Fast immer zu Fuß bis Marseille, erreichte er von dort aus über das Meer sein Ziel, um jedoch, arg enttäuscht und in bitterster Noth – wie er selber im „Tagebuch meines Aufenthalts in Griechenland“, Leipzig 1823, dasselbe wie „Der deutsche Anacharsis“, Amsterdam, erzählt – im Frühling 1822 über Rom den Heimweg anzutreten. An letzterem Ort gab er sich in drückender Lage und mit höchst mangelhaftem Paß versehen, dem Gesandten seiner Heimath, dem Geschichtschreiber Roms, Niebuhr, zu erkennen und wurde in seinem Vertrauen nicht getäuscht. Wie aus Niebuhr’s Briefen und aus Lieber’s „Reminiscences of an intercourse with B. G. Niebuhr“, London 1835, deutsch von Hugo, zu ersehen, nahm ihn der treffliche Mann alsbald zu sich, damit er seinen Sohn Marcus unterrichte und selber wieder an die Arbeit komme. „In questa rovina ritrovai la vita“, schrieb L., unter einen Stich des Palazzo Orsini, des alten Teatro di Marcello, wo der Gesandte wohnte. Die philologischen und linguistischen Neigungen, die ihn hinfort durch das Leben begleiteten, verdankte er Niebuhr. Ein Jahr später begleitete er ihn auf der Reise nach Neapel und heimwärts über die Alpen, im Vertrauen auf das Wort Friedrich Wilhelms III. selber, dem er bei seiner Anwesenheit in Rom vorgestellt worden. Trotzdem entging er den Spürhunden des Herrn v. Kamptz nicht und wurde abermals gefangen gesetzt, bis ihn Niebuhr, 1824 in den Staatsrath berufen, in Köpenick ausfindig machte und, ohne daß er je erfahren, worin denn sein Verbrechen bestanden, die Befreiung erwirkte. Ein Bändchen „Wein- und Wonnelieder von Arnold Franz“ war die Frucht dieser Haft. Jedoch am Vaterland verzweifelnd, ja, von ihm ausgestoßen, ging er jetzt nach London, um dort als Sprachlehrer und Correspondent für deutsche Blätter, zwei Jahre, „die schwersten seines Lebens“, und doch reich an Segen zu verbringen. Die geistvolle Frau Austin zog ihn in ihren hervorragenden Kreis und führte ihn mit Männern, wie George Grote, dem Geschichtschreiber des alten Hellas, zusammen, wie er wiederum ihr in der Folge, als sie Ranke’s Päpste meisterhaft übersetzte, mit der Widmung seiner Erinnerungen an Niebuhr dankte. Letzterer ließ es in unwandelbarer Treue an warmen Empfehlungen [568] und Rathschlägen nicht fehlen, als sich L. um einen Lehrstuhl für deutsche und scandinavische Litteratur an der im Entstehen begriffenen Londoner Universität bewarb. Auf seine historischen Anschauungen vollends wirkte diese Freundschaft bestimmend ein. Vor allen aber zog sich hinfort die Hochachtung vor den geschichtlich gewordenen Institutionen Englands wie ein rother Faden durch seine ganze politische Doctrin. Mittlerweile entschied er sich rasch entschlossen für Amerika und traf am 20. Juni 1827 in New-York ein. Niebuhr, der den Schritt durchaus billigte, verwandte sich abermals angelegentlichst. In einer allgemeinen Einführung sagt er von L.: „Die Natur hat ihn mit hervorragenden Talenten und einer eminenten Fähigkeit ausgerüstet, Alles, worauf seine Aufmerksamkeit sich richtet, zu ergründen und zu durchdringen“. Ein schöner Brief vom 13. September aber schließt mit dem Rathe: „Bleiben Sie ein Deutscher und, ohne Tag und Stunde zu zählen, sagen Sie sich immerdar, daß Stunde und Tag der Heimkehr kommen werden“. Die Zeit und sein Schicksal wollten es anders. Gleich vielen seiner Landsleute wurde er Bürger der Vereinigten Staaten und als alter Streiter für die Freiheit ein entschlossener Gegner der Sklaverei, ohne jedoch in der fremdsprachigen Umhüllung, die er sich in kurzem anzulegen gewußt, jemals den innersten Kern seines Deutschthums zu ertödten. Trotz schweren Prüfungen war er frei von Verbitterung gegen das Vaterland, frei von gerechtem Urtheil und wahrer Freude über alles Gute und Schöne geblieben, das er daheim gelassen. Die ersten fünf Jahre wurden in Boston zugebracht, in der Atmosphäre der nahen Universität Cambridge, in freundschaftlichem Verkehr mit hervorragenden Männern des Staats und der Wissenschaft, wie Story, Channing, Ticknor, Prescott, Longfellow, in eifriger Thätigkeit als Lehrer und Schriftsteller. Hier entstand seine „Encyclopaedia Americana“, ein Staatswörterbuch in 13 Bänden, wobei ihn Story, der berühmte Oberrichter, unterstützte. Er selber lieferte werthvolle Beiträge über Machiavelli, C. L. v. Haller, Constitution im Allgemeinen, Common law, die Wurzel alles englischen Staatsrechts, und nahm bei diesen Arbeiten Stellung zu den politischen Grundfragen seiner neuen Heimath. Sein treues deutsches Weib, mit dem er sich am 21. Septbr. 1829 verbunden, half ein Werk über die Revolution aus dem Französischen, Feuerbach’s Schrift über Caspar Hauser aus dem Deutschen übersetzen. Im J. 1832 siedelten sie nach New-York über, wo die auch ins Deutsche übertragene Bearbeitung von Beaumont’s und de Tocqueville’s Bericht über das Pönitentiarsystem vollendet wurde. Wie L. Zeitlebens für die Freiheit gekämpft, als alter Soldat von Waterloo stets für Vermenschlichung des Kriegs eintrat, so erhob er auch aus eigenster Erfahrung zuerst und immer lauter seine Stimme für die Einzelhaft. Ein Jahr später ging es weiter nach Philadelphia, wo die ganze innerlich reiche und auch durch eine stattliche Erscheinung, durch einen gedankenvollen Kopf hervorragende Persönlichkeit Lieber’s rasch neue Freunde gewann. Hier löste er die ehrenvolle Aufgabe, für Girard College, ein großartiges Waisenhaus, den Intentionen des menschenfreundlichen Stifters gemäß einen umfassenden Unterrichts- und Erziehungsplan auszuarbeiten. Bereits 1834 erschien „Constitution and plan of education for Girard College of Orphans“, eine Arbeit von großer pädagogischer Bedeutung. Ueber allen Unterschied und Streit der Confessionen hinweg galt es der wahren Sittlichkeit und echter Wissenschaft eine Stätte zu bereiten, neben den exacten Disciplinen den Werth der alten Sprachen und der Geschichte, neben Französisch und Spanisch das Deutsche nachdrücklich zu betonen. Vortheil und Nachtheil, daß England und Amerika dieselbe Sprache reden, werden sehr eigenthümlich hervorgehoben. Die Deutschen dagegen bilden eine Nation. Ihre besten Patrioten, wie die Italiens, drängen auf Beseitigung der politischen Zersplitterung. Ein namhafter Freund pries [569] drei goldene Zeilen in Lieber’s Bericht als besonders glücklich gefaßt: „Es gibt einen Glauben unter aller Mannigfaltigkeit der Secten, einen Patriotismus unter aller Mannigfaltigkeit der Parteien, eine Liebe zur Wissenschaft und eine wahre Wissenschaft unter aller Mannigfaltigkeit der Theorien“. Bald hernach wurde L. selber akademischer Lehrer, indem er 1835 die Professur für Geschichte und Staatswissenschaft an der Hochschule von Süd-Carolina zu Columbia annahm, allerdings im Süden des Potomac, fern von den Neu-England-Staaten, in einem Sklavenstaat und in ländlicher Abgeschiedenheit, aber darum nicht an seinem Dasein verzagend. Hier erst recht gewannen seine Gedanken, die weit mehr auf Forschen, Lehren, Gestalten, als auf den Markt des politischen Lebens gerichtet waren, ihren vollen Spielraum. Hier schuf er in mehr als 20jähriger Thätigkeit die Werke, die ihm einen hochangesehenen Namen bereitet haben. Zwei derselben entstanden gleich zu Anfang neben einander. Artikel, welche 1837 und 1838 im American Jurist erschienen, wuchsen 1839 zu einem stattlichen, James Kent, dem Kanzler des Staats New-York, gewidmeten Buche zusammen: „Legal and Political Hermeneutics, or Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics“, Boston 1839, das nach mehr als 40 Jahren, von ihm selbst noch durchgesehen und von W. G. Hammond, Professor des Rechts in der Iowa-Universität, eingeleitet, in St. Louis 1880 wieder aufgelegt worden ist, der beste Beweis, wie sehr durch ihn inzwischen die amerikanische Rechtsentwicklung beeinflußt worden. Obschon nicht Jurist von Beruf, hatte er sich doch mit entschieden juristischen Anlagen und der ausgesprochenen Vorliebe für das feste Gefüge englischer Institutionen so sehr in die gemischte Welt von Recht und Verfassung hineingelebt und eine so unmittelbare Form des Ausdrucks und der Darstellung gewonnen, daß der Zweck des Buchs, die Gesetze der Auslegung von Rechtssätzen, Statuten, Urtheilen, Testamenten etc. zur Anschauung zu bringen, geradezu fesselnd für den Leser jeden Standes wirkt, denn der Buchstabe tödtet und nur der Geist macht lebendig. Ein Freund der Codification, weist er die Amerikaner unter vielen anderen Gesetzbüchern sogar auf die wissenschaftlichen Vorzüge des preußischen Landrechts und, obwol nicht zustimmend, auf Savigny’s Schrift, Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, hin. Treffende Urtheile und Beispiele streifen hinaus zu den Fragen über Hörensagen und Spionsberichte, über geistiges Eigenthum und Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses, ungeschriebene Verfassungen, die Macht des Präcedens. Der gewohnheitsmäßig engen Auslegung der Gesetze ist nach seiner Meinung vorzugsweise die niemals abgerissene Bewahrung der bürgerlichen Freiheit in England zuzuschreiben. Das zweite Werk, „Manual of Political Ethics“ erschien 1838 und 39 in 2 Bänden, sehr bezeichnend zugleich an Joseph Story in Amerika und Henry Hallam in England gewidmet, wurde 1847 vom Verfasser wieder aufgelegt und 1875 von Professor Woolsey von Yale College, dem Autor eines trefflichen Werkes über Politik, zum dritten Mal herausgegeben. Story selber hat einige Hauptpartien im Druck durchgesehen und Charles Sumner, der Staatsmann, beim Erscheinen dieses eigenartigen Handbuchs für Staatsmänner gewissermaßen Gevatter gestanden. Es geht aus von der Definition des Staats als einer rechtlich socialen Institution, vom Recht des Individuums und der Gesellschaft, die sich in allen staatsbürgerlichen Beziehungen mit dem Moralgesetz auseinander zu setzen haben. Der Staat bedeutet L. weder eine Versicherungsgesellschaft für die Einzelnen, noch eine Summe von Menschenrechten, sondern die höchste ethische Wechselwirkung von Freiheit und Pflicht. Eben deshalb aber ist er auch Macht, von Gott eingesetzt, einerlei ob in der Form der Republik oder der Monarchie. Licht und Schatten aller Arten und Abarten kommen in Betracht. Sehr schön erscheint [570] im neunten Kapitel eine kurz gefaßte Geschichte des Staatsrechts von Machiavelli und Luther bis herab zu der Epoche der Julirevolution, aus dem Schatze umfassender Belesenheit ausgestattet, voll treffender Bemerkungen, z. B. über den relativen Werth geschriebener und ungeschriebener Verfassungen. Dann werden, ein Spiegel für Amerikaner und Nicht-Amerikaner, die Einwirkungen des Sittengesetzes auf das sociale und politische Dasein, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Ehrlichkeit, Freundschaft, Dankbarkeit, Enthaltsamkeit, Loyalität, Vaterlandsliebe, in kräftigen Strichen und lebensvollen Bildern erörtert. Mit dem Lieblingsspruch vor Augen: „Patria cara, carior libertas, veritas carissima“ ruft er aus: „Wenn wir in unserem Geburtslande keine Freiheit haben und nicht mitwirken können, sie daselbst aufzurichten, wenn wir bedrückt werden, so sind wir wahrlich nicht zu bleiben verpflichtet, wie schmerzlich auch die Trennung sein, mit wie viel Heimweh auch das Herz zurückverlangen mag“. Den bizarren Erscheinungen der Zeit gegenüber will L. weder Politik treibende Frauen, noch den Socialismus von oben oder von unten. Der Staatsmann hat die Presse mit der Buchdruckerkunst zu acceptiren. Durch ihre Freiheit, wie durch das Dasein der großen Städte hält L. die Gesellschaft nur dann gefährdet, wenn sie nicht Zucht und Sitte aus sich selber schöpft und nicht beständig selber an erster Stelle Censur übt. Wahlen, Abstimmung, Parteitreiben, das gesammte Repräsentativsystem erhalten ihre Kritik vorzüglich im Angesicht der amerikanischen Zustände. Ebensowenig fehlt eine hohe politische Würdigung des Strafrechts, dem L. stets ein ernstes Nachdenken widmete. Trotz einem strengen Urtheil über die Unsittlichkeit des Kriegs heißt es im Rückblick auf die deutsche Befreiungszeit: „Der öffentliche Geist, wenn völlig selbstlos, wird durch wenige nationale Erlebnisse so hoch emporgehoben, wie durch einen gerechten Krieg“. Dagegen räth er im Geiste Washington’s den Amerikanern von internationalen Schiedsgerichten ab. Bei aller Frische jedoch, mit welcher L. aus seinem vollen Gemüth, bewunderungswürdigem Wissen, praktischer Beobachtung und idealen Anschauung zu schöpfen, zu gestalten und den Leser zu fesseln weiß, trotz trefflicher philosophischer und historischer Unterlage erscheint diese Sittenlehre der Politik doch diffus und encyklopädisch. Weil es an Methode gebricht, kommt kein System zu Stande. Nichsdestoweniger bietet sie auch heute noch, zumal auf dem Mittelgebiet zwischen Staatslehre und Volkswirthschaftslehre eine großartige Fundgrube von Gedanken. Die Aufnahme von Seiten der amerikanischen Autoritäten, wie Story und William Kent, war überaus günstig. In England selber ist L. mit Montesquieu verglichen worden. Der ihm befreundete Geschichtschreiber Prescott rühmte vorzüglich die reiche Beleuchtung des Gegenstands aus allen möglichen Quellen und urtheilte schon 1838 über Lieber’s Stil, daß ihm trotz einzelnen Abweichungen vom gewöhnlichen Idiom mit Ausnahme etwa des Franzosen Molteux, der den Don Quixote ins Englische übersetzte, niemals ein Fremder mit einer solchen Meisterschaft über die Sprache begegnet sei. Die Uebung wurde denn auch beständig in Flugschriften, Essays, Artikeln theils als Vorstudien für größere Werke, theils über brennende sociale, wirthschaftliche, litterarische, politische Tagesfragen wach gehalten, wie er denn als Publicist namentlich über Strafrecht, Verbrecherstatistik, Gefängnißwesen unter den Amerikanern zu einer Autorität ersten Ranges wurde. Eine gedankenvolle Abhandlung über Eigenthum und Arbeit machte 1842 auf Greenleaf einen solchen Eindruck, daß er meinte, alle bisherigen Theorien über das ursprüngliche Anrecht auf persönliches Eigenthum erschienen als schattenhaft und unsicher. Während aber L. sich so allseitig mit den Problemen der Neuzeit befaßte und, in amerikanischer Geschichte, Politik, Litteratur bald bewandert, wie nur die besten unter den Eingeborenen, ganz Amerikaner geworden zu sein schien, war ihm doch die deutsche [571] Heimath mit ihren geistigen und politischen Agonien keinen Augenblick aus dem Gesicht entschwunden. Immer gespannter folgte er der dortigen Entwickelung vom Staatsstreiche in Hannover und dem preußischen Kirchenconflict zum epochemachenden Thronwechsel in Berlin. Endlich im J. 1844, als die freilich jüngst in Preußen hochgespannten Erwartungen bereits stark auf die Neige gingen, entschloß er sich, das Vaterland und die Freunde seiner Jugend wieder aufzusuchen. Selbst Friedrich Wilhelm IV., der durch den Hamburger N. H. Julius mit seinen Leistungen über Gefängnißreform bekannt geworden, hatte eine freundliche Begegnung mit ihm, wollte für ihn an der Berliner Universität einen Lehrstuhl für Pönologie errichten und ihn zum Oberleiter aller preußischen Strafanstalten machen. Alexander v. Humboldt und Bunsen, Freunde von Rom her, haben ihn zur Annahme bewegen wollen. Er kehrte jedoch über den Ocean zurück, weil er die Unfreiheit der Zustände noch ungebrochen fand, so daß er sich als Bürger der Vereinigten Staaten nicht wieder zurecht gefunden hätte. Nicht von ungefähr indeß veröffentlichte er in diesen Jahren auch wieder Allerlei in deutscher Sprache über strafrechtliche Dinge, 1847 über die Nationalität der Deutschen in Nordamerika und endlich, als das Sturmjahr 1848 heraufzog, ein Sendschreiben nach Heidelberg: „Ueber die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit des Rechts in England und den Vereinigten Staaten“, worin er der Trennung der Justiz von der Verwaltung das Wort redete, den Geschworenen im Civilproceß weit mehr Bedeutung als im Strafrecht zuschrieb, vor allem aber im Gegensatz zu den Auswüchsen des fremden römischen Rechts immer wieder dem über die Erde verzweigten gemeinen Recht Englands und seiner Normalentscheidung hohes Lob sang. Auch hat er sich alsbald die Dinge in Frankfurt selber angesehen im Verkehr mit patriotischen Freunden, wie Mittermaier, der Lieber’s Schrift „Ueber Anglikanische und Gallikanische Freiheit“ ins Deutsche übertrug. Ueber den Mißerfolg der deutschen Erhebung, der auch ihn tief ergriff, hat er sich in einer besonderen Publication nicht ausgesprochen. Im J. 1851 kam er als einer der amerikanischen Preisrichter für die erste Weltausstellung nach England, wo er in der preußischen Gesandtschaft Bunsen’s Gast war. Wol wurde es ihm nicht leicht, in deutscher Umgebung und Sprache die fremde, fast melancholische Hülle abzustreifen, die er in der Ferne angelegt hatte, doch kam allmählich die Wärme des deutschen Herzens und der Fluß der Rede zu voller Geltung. Unter Engländern bewahrte er, Frau Austin ausgenommen, wenig Freundschaft. Thomas Arnold war bereits todt; Hallam hatte sich spröde zu ihm verhalten. Hatte L. schon von einem Ausfluge nach Paris wenig erfreuliche Eindrücke mitgebracht, so fand der Staatsstreich Louis Napoleons, von Reaction auf dem europäischen Festlande begleitet, bald nach seiner Rückkehr nach Amerika in ihm den entschiedensten Gegner. Freimüthig deckte er den Schwindel auf, der in Frankreich in den Plebisciten mit dem allgemeinen Wahlrecht getrieben wurde, als den nichtswürdigsten Mißbrauch einer freiheitlichen Institution. Er prophezeite sofort das Kaiserreich als Resultat des „hermaphroditischen Zustands“ daselbst und ging in tief sittlichem Abscheu vor dem frevelhaften Spiel mit Verfassungen und dem Bruch der heiligsten Eide an sein letztes großes, bedeutendstes Werk: „On Civil Liberty and Selfgovernment“, Philadelphia 1853, 2 Bde., erweitert London 1859 und dritte Ausgabe in 1 Bande, Philadelphia 1874, besorgt nach seinem Tode von T. D. Woolsey. Entstanden unter der mächtigen Einwirkung der Ereignisse seit 1848 ist dies Buch gewissermaßen die Fortsetzung des von der Freiheit handelnden Abschnitts der politischen Ethik, eine weitere Ausführung des diametralen Unterschieds zwischen anglikanischer und gallikanischer Freiheit, eine große Abhandlung über institutional liberty, wie seine glückliche Bezeichnung lautet. Indem er zu einer [572] Zeit, als Socialismus und Despotismus, „die Negationen der Freiheit“, in vollem Schwange waren, dies Buch seinen alten Schülern in der südstaatlichen Universität widmet, durch die sein Leben und sein Name am engsten mit der Republik verkettet worden, indem er den von Alters her nur in England unverkürzt gebliebenen germanischen Institutionen einen herrlichen Hymnus singt, zeigt er sich in seinen politischen Urtheilen, wie der amerikanische Herausgeber erklärt, durchaus als Engländer, nicht mehr als Deutscher und, wenn irgend etwas, als Republikaner. Kühn, wahrhaftig, mit den reichsten Belegen aus der Geschichte aller Zeiten, handelt er von nationaler Unabhängigkeit und persönlicher Freiheit, von Strafproceß und Hochverrath, von Freizügigkeit und Auswanderung, Freiheit des Gewissens, des Eigenthums, Oberhoheit des Gesetzes, womit ein mächtiges stehendes Heer unvereinbar, mag es noch so sehr auf allgemeiner Wehrpflicht beruhen, Oeffentlichkeit in Gericht und Parlament, Verantwortlichkeit der Machthaber, Zweikammersystem, unbehinderte Mitwirkung der Bürger wie im Gericht durch die Jury, so in der eigentlichen Bürgschaft ihrer Freiheit, dem Selfgovernment. Wie immer fehlte auch diesem modernen, aber in der ganzen Welt rasch adoptirten Ausdruck der philologische Nachweis nicht. Indem sich L. aus innerster Ueberzeugung für die Form der amerikanischen Freiheit als Weiterentwickelung der anglikanischen, für den repräsentativen Republikanismus und den Bundesstaat ausspricht, wird er zwar mit Recht von den Amerikanern der Begründer der politischen Wissenschaft in ihrem Lande genannt, bleibt aber trotz alledem der eingewanderte Deutsche, dessen republikanischer Patriotismus etwas Gekünsteltes und Gewaltsames an sich trägt, da er sich mit echt historischem Gefühl an das altgermanische Mittelglied in England klammert und die royal republic des Inselreichs als das Muster der Vereinigten Staaten auffaßt. Daher denn auch der schneidende Widerspruch gegen Trugsätze wie das ganz unrepublikanische Anrufen der Vox populi vox Dei und das Gleichheitsprincip, wie sie aus dem Zerrbilde des französischen Constitutionalismus stets nur zu freiheitsfeindlicher Centralisation und dictatorischem Machtgebot zurücklenken. Charakteristisch sind dem Werke drei Abhandlungen, Forschungen über Wahlstatistik, über den Mißbrauch des Begnadigungsrechts, über Inquisition und Beweisverfahren im Strafproceß, sowie die englischen und amerikanischen Freiheitsurkunden nebst den französischen Charten und Constitutionen von 1793–1852 in Form eines Urkundenbuchs beigegeben. Es ist nicht zu verwundern, daß diese Darstellung der Staatsidee, mit furchtlosem Herzen und gesundem Menschenverstand aus reichem Wissen geschöpft und in energischer Sprache vorgetragen, in kurzem zu beiden Seiten des Oceans das berühmteste seiner Werke geworden ist. George Bancroft meinte, er sei dadurch des Titels eines Defensor libertatis werth. Der Engländer Creasy hob hervor, daß durch ihn erst das Princip englischer und amerikanischer Freiheit, in allen anderen Ländern völlig unbekannt, daß jeder Beamte das, was er thut, auch persönlich zu verantworten hat, scharf hingestellt worden sei. R. v. Mohl hat nur „Lob ohne Beimischung von Tadel zu spenden“. Der Italiener Garelli und andere namhafte europäische Publicisten pflichteten bei. L. selber vor allen hatte sich als Lehrer und Schriftsteller durch sein Wissen und Können, durch sein wundervolles Gedächtniß, männliche Wahrhaftigkeit und Kraft des Ausdrucks in der Fremde eine Anerkennung errungen, wie bis dahin kein Eingewanderter. Dabei gingen doch die Grundbedingungen eigentlicher Popularität seinem ganzen, viel eher in sich gekehrten, als auf die persönliche Betheiligung am öffentlichen Leben gerichteten Wesen ab. Durch die Wucht der Gedanken und des Stils wurden wol starke, leitende Geister, aber nur schwer die Menge angezogen. Selber aus Sturm und Drang, aus dem Kampf um das Dasein hervorgegangen, haben ihn [573] Schicksal und Entschluß zu seinem Glück vor der praktischen Politik der neuen Heimath behütet. Neben der Professur hat er kaum jemals ein anderes Amt als das eines Schulinspectors in New-York innegehabt. Bald indeß mußte er zu der ungeheueren Erschütterung Stellung nehmen, in welcher es sich definitiv noch einmal um Sicherung der individuellen Freiheit, um das Verhältniß der Einzelstaaten zu der Union handelte. Als 1851 über die Constituirung Californiens als freier Staat und über den Streit, ob Kansas von Freien oder Sklaven besiedelt werden sollte, Süd-Carolina mit Austritt aus der Union drohte, und sogar langjährige Entfremdung von seinem vertrauten Correspondenten Charles Sumner eintrat, hatte er sich im Augenblick der Abreise nach Europa in einem Sendschreiben an seine engeren Landsleute, wie einer, welcher disunion von klein auf kennen gelernt, gegen Secession ernstlich warnend vernehmen lassen. Im vertrauten Umgang verschwieg er die Abneigung vor dem Leben in einem Sklavenstaat, selbst vor den persönlichen Dienstleistungen des Negers keineswegs. Seine europäischen Freunde insbesondere vernahmen daher mit großer Befriedigung, daß, als die Gegensätze bereits unleidlich geworden, L. im December 1856 die Professur an der südlichen Hochschule niedergelegt hatte und bald darauf zu einem ähnlichen Lehrstuhl am Columbia-College in New-York erwählt worden sei. Ununterbrochen, unbehelligt konnte er von hier aus in Wort und Schrift weiter wirken. Beim Ausbruch des Bürgerkriegs bekämpfte er muthig, bei jeder Gelegenheit zur Feder greifend, den Frevel der bundesbrüchigen Conföderation. Zwei schöne Vorlesungen über die amerikanische Verfassung vom Winter 1860–61 können als Vorläufer eines in sich reifen Werkes über Entstehung und Geschichte der Constitution gelten, das er nebst bemerkenswerthen Amendements bei seinem Tode leider unvollendet hinterlassen hat. Ein entschiedener Jünger Alexander Hamilton’s und Madison’s, bestritt er die Theorie, daß der Bundesstaat lediglich auf Contract beruhte, der zur Secession berechtige, bewies, daß er vielmehr zum nationalen Staat, zu einer viel engeren Verbindung herangewachsen sei, die sich ebenso wenig wie die Ehe in freie Liebe wieder in Staatensubstanzen auflösen könne. „Unser Zeitalter verlangt Länder als patria sowol für die Freiheit, wie für die Civilisation“. Die eben angebahnte Einigung Italiens, die heiße Sehnsucht der Deutschen nach einem geeinten Vaterlande wurden als Beweise herangezogen. Zur Geschichte der Union hielt er sich an Lord Chatham und an Washington. Er nannte die Anfangsworte der Constitution: We the People of the United States begeistert die erhebendsten in der Geschichte aller Zeiten. Nur gegen die Union, nicht gegen das Staatenrecht wisse die Verfassung von Hochverrath. Wie die eine Hälfte der Mitbürger unter furchtbaren Opfern an Gut und Blut, hat auch er nach Kräften die Heimath vor dem Rückfall in die Föderation und feindliche Staatenbünde erretten helfen. Ein Fragment über Nationalismus, die Gedanken über Nationalismus und Internationalismus, wonach die gebildeten Nationen eine Völkergemeinde ausmachen unter Schutz und Schirm des vigore divino entscheidenden Völkerrechts, obwol erst 1866 aufgezeichnet, gehören in die lange Reihe kleinerer Arbeiten, die durch den ungeheueren Kampf gezeitigt wurden. Während des Kriegs, in lebhafter Correspondenz mit dem Staatssecretär Seward und dem Oberbefehlshaber General Halleck hatte er wiederholt in der Bundeshauptstadt über bestrittene Fragen Auskunft zu geben, darunter ein Urtheil über Freischaaren vom Kriegsrecht aus betrachtet, bis Präsident Lincoln ihn ersuchte, die „Instructionen für die Feldarmee der Vereinigten Staaten“ auszuarbeiten, die, in das öffentliche Recht des Landes übergegangen, von Laboulaye als ein unerreichtes Meisterstück bezeichnet worden sind, und Bluntschli zur Herausgabe seines „Droit international codifié“ angespornt haben. In der langen Liste [574] seiner Schriften begegnen uns aus jener Zeit nicht nur eine Abhandlung über Kriegsgefangene, ein Brief über internationales Schiedsgericht 1865, sondern auch ein Gedicht auf „Unser Land und unsere Flotte“, 1864. Ein Essay aus dem J. 1854 „War Napoleon ein Dictator?“ erschien 1864 umgearbeitet unter dem Titel: „Napoleon und Washington“. Wie er sich hernach gelegentlich dem Localen zuwandte und 1867 sich sogar mit Reform der Verfassung von New-York befaßte, so erhielt die gewaltige Zeit doch sein stets reges Interesse für Völkerrecht vollends lebendig. An der Errichtung des Institut de Droit international durch Rolin Jaequemyns, Bluntschli und deren Freunde hat er sich von vorn herein eifrig betheiligt. Für die Revue desselben lieferte er 1871 und 1872 eine Reihe von Beiträgen: „De la valeur des plébiscites dans le droit international“, „De l’unité des mesures et étalons dans les rapports avec le droit des gens“, „Note sur le projet de M. Mounier relatif à l’établissement d’une institution judiciaire internationale“. Inzwischen aber hatte sich trotz seiner von vielen Seiten bewunderten Amerikanisirung gezeigt, wie wenig er innerlich denaturalisirt worden, wie stark die Bande des Bluts geblieben waren. Luther, Goethe und seine Deutschen waren ihm an das Herz gewachsen, wie den nach Osten oder Westen geschlagenen Hellenen der Homer. Am 22. Juli 1870 schrieb der Siebenzigjährige, indem er ahnte, daß die Träume seiner Jugend in Erfüllung gingen: „Ich schreibe in den Tag hinein, denn meine Seele ist voll von einem Wort, einem Gedanken und einem Gefühl – Deutschland“. Kurz, aber breit und tief werde der Blutstrom sein. Und wieder am 18. August, nachdem er Briefe über die Erhebung des Vaterlandes empfangen: „Die Väter halten ihre Söhne an der Hand und wollen nicht, daß sie bei der Ausloosung zurückbehalten werden, bis der König telegraphirt: Nehmt sie! Richter und hohe Beamten treten in das Heer. Und ich sitze hier und schreibe wie ein Dummkopf“. Aber auch diesen Kampf um die nationale Freiheit, wie den amerikanischen Bürgerkrieg begleitete er mit litterarischen Aeußerungen, die er zugleich in der Revue und in englischer Sprache erscheinen ließ: „Ueber einige Punkte des Völkerrechts, a) das Plebiscit, eine deutsch-amerikanische Ansicht von der neuen deutschen Nationalität“, worin er sich sehr entschieden gegen die auch von deutschen Radikalen geforderte Abstimmung der Elsässer und Lothringer über Lostrennung von Frcmkreich aussprach, b) die unwissenschaftliche und durchaus irreführende Bezeichnung: „Lateinische Race“, c) „Ueber Waffenverkauf der Neutralen an kriegführende Mächte“, worin er anknüpfend an den Alabamafall zwar zu beweisen sucht, daß amerikanische Waffen keineswegs direct von der Unionsregierung an die Franzosen gelangt sind, aber doch eine Reihe von Sätzen aufstellt, die sich behufs Verbesserung des Völkerrechts zu internationalen Verträgen eignen. In Sachen des litterarischen Eigenthumsrechts, besonders schwierig für das englisch redende Amerika, hatte er sich mit Rückblick auf deutsche Verhältnisse schon 1840 zu Gunsten internationaler Verträge vernehmen lassen, wie er 1865 den Vorschlag machte in ernsten völkerrechtlichen Schwierigkeiten, was ja innerhalb einzelner Reiche Europa’s in anderen Dingen zu geschehen pflegte, nicht nur Souveräne, sondern große Hochschulen zu einem entscheidenden Spruche anzurufen. Den großen wirthschaftlichen Problemen der Gegenwart hat sich L. ebensowenig entzogen. Nachdem er, ein erklärter Freihändler und abgesagter Feind complicirter und unergiebiger Tarife, eine englische Uebersetzung von Bastiat’s Sophismen der Schutzzollpolitik eingeleitet und in zahlreichen Artikeln das Thema behandelt hatte, ließ er die höchst bedeutenden, 1869 von ihm selber festgestellten „Bemerkungen über die Trugschlüsse amerikanischer Schutzzöllner“ erscheinen, worin unter dem Motto: Kein Recht ohne seine Pflichten, keine Pflicht ohne ihre Rechte, 22 landläufige Begründungen des Tarifs widerlegt [575] werden, positiv aber auf die gefährlich nahe Verwandtschaft der Protection mit dem Despotismus des Einzelnen oder der Menge hingewiesen wird. Eine andere Gruppe der kleinen Schriften hing eng mit der Lehrthätigkeit und der persönlichen Beziehung zu seinen Schülern zusammen, wovon die kurze biographische Skizze Thayer’s ein höchst anziehendes Bild entwirft. Von akademischen Ansprachen kommen in Betracht: die Inauguralrede beim Antritt der Professur in Süd-Carolina 1835; „Ueber Geschichte und Nationalökonomie als nothwendige Zweige des höheren Unterrichts in freien Staaten“, vor derselben Zuhörerschaft, 1845; „Ueber Ursprung und Entwickelung der ersten Momente der Civilisation, wesentlich in linguistischer Beziehung“. Aus einer Ansprache bei der Jahreseröffnung der Miami-Universität in Ohio 1846 entsprang die vortreffliche, in mehreren Ausgaben wiederholte und erweiterte Abhandlung „Ueber den Charakter des Gentleman“. Die Rede „Ueber fortgesetzte Selbsterziehung“ wurde am 1. October 1851 an seine Schüler gerichtet. Am 15. März 1856 sprach er vor dem Columbia-Athenäum „Ueber die Geschichte und den Vortheil derartiger der Förderung litterarischer Zwecke dienenden Vereinigungen“. Die Inauguralrede bei Antritt seiner Professur in New-York am 17. Febr. 1858 handelte noch einmal eingehend von der Nothwendigkeit historischer und staatswirthschaftlicher Studien in freien Ländern. Mit einem Vortrage über antike und moderne Lehrer wurden im Herbst 1859 seine Vorlesungen über Politik eingeleitet. Ueber Alexander v. Humboldt, mit dem ihn Leben und Beschäftigung wiederholt zusammenführten, hat er zweimal, 1859 in der amerikanischen geographischen Gesellschaft und 1869 bei Enthüllung von Humboldt’s Büste im Centralpark von New-York gesprochen. In dieselbe Kategorie gehören die schon im Frühjahr 1837 entstandene Denkschrift über das Studium fremder, vor allen der classischen Sprachen, der höchst merkwürdige Aufsatz vom December 1850 „Ueber die Töne der Laura Bridgman, verglichen mit den Elementen phonetischer Sprache“ – einer intellectuellen, liebenswürdigen Taubstummen, deren Zuneigung L. zu ernst wissenschaftlichen Untersuchungen antrieb – und endlich ein kurzer Aufsatz zu Gunsten des Religionsunterrichts in höheren Schulen, weil ein unerläßliches Element einer liberalen Erziehung, wahrscheinlich aus dem J. 1850 und in ausgesprochenem Gegensatz zu den testamentarischen Bestimmungen des M. Girard. L. machte kein Hehl aus dem schlicht positiven Glauben, mit dem er in tief bewegter Zeit aufgewachsen war. Gleich fern indeß von unduldsamem Bekenntnißeifer, wie von pietistischem Separatismus, liebte er es nicht, in dem Lande völliger Entstaatlichung der Kirche die großen Fragen von Kirche und Staat herausfordernd anzurühren. Zur vollen Freiheit des Gewissens und des Glaubens hat er sich immerdar freudig bekannt. Sein tief sittlicher Ernst bäumte sich auf gegen Erscheinungen, wie Louis Napoleon, gegen alle Despoten der Neuzeit, wie der Vergangenheit, mochten sie noch so sehr zu den Heroen des Menschengeschlechts gezählt werden. Sein letzter Beitrag in der New-York Evening Post vom 24. Septbr. 1872 betraf Religion und Gesetz. Den gewaltigen Erfolgen der Naturwissenschaften stand er kühl gegenüber. Mit dem Kraftwort „die Bestien-Menschheit Darwin’s“ hielt er sich die Folgerungen der Lehre von der Zuchtwahl vom Leibe. Ein Freund der Kunst und der Natur, mit Kindern leicht auf vertrautem Fuß, wies er Alles von sich, was Geschmack und guter Sitte widerstrebt, vorzüglich auch die im alltäglichen Leben Englands und Amerika’s so verbreiteten Vulgarismen der Rede. Eine gewaltige Correspondenz mit deutschen Freunden, Niebuhr, Bunsen, Humboldt, Mittermaier, Bluntschli, Heffter, Holtzendorff, mit den Franzosen de Tocqueville und Laboulaye, mit den Genossen des Vereins für das Völkerrecht, mit geistvollen Frauen ist sorgfältig aufbewahrt. Mit der Sammlung seiner eigenen, meist englisch [576] geschriebenen, aber das Wesen des ganzen Mannes athmenden Briefe ist die Wittwe beschäftigt, um diesen unendlich reichen Gedankenaustausch dem Publicum zuzuführen. Von Natur heiter und lebendig, wenn nicht ein ungewöhnlicher Druck wie etwa in den dunkelsten Tagen des Bürgerkriegs oder die plötzliche Versetzung in eine fremd gewordene Welt auf seiner Seele lag, übte L. einen hinreißenden Zauber auf seine Umgebung. Die treue Anhänglichkeit zu den Angehörigen und Freunden wurde ihm in reichstem Maße entgolten. Nur nach kurzem Unwohlsein ereilte ihn im 73. Jahre der Tod an einer Herzkrankheit in seinem Hause zu New-York. Am 2. October 1872 las ihm die Frau in gewohnter Weise vor, als er sie mit einem Schmerzensruf unterbrach und gleich darauf verschied. L. hat dem Zeitalter einen Stempel aufgedrückt, ähnlich wie Montesquieu und der von ihm hochverehrte Hugo Grotius. In der Erneuerung und Verbreitung seiner Schriften lebt er fort, nachdem sein starker Geist, mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten vom heimathlichen auf einen fremden Boden verpflanzt, daselbst tiefe Wurzeln geschlagen. Nicht als Redner oder Inhaber eines leitenden Tageblatts, nicht als Militär, Parlamentarier, Staatsmann, sondern als Gelehrter, Denker und eindrucksvoller Schriftsteller ist er unter die ersten amerikanischen Bürger emporgestiegen und hat mehr als irgend einer seiner Zeitgenossen in den Vereinigten Staaten das politische Nachdenken gefördert. Die Amerikaner, die ihn bewundern, übersehen fast, wie sehr die Triebkraft, welche zu seinen Erfolgen führte, echt deutsch war, und daß es gerade ihm wohl anstand, der ungehinderten Aufnahme fremder Elemente in die volle Bürgerschaft ihres freien Staatswesens das Wort zu reden. Die lebendige Ader der Forschung, die er mitbrachte, vertrug sich vortrefflich mit dem Talent, ihren Gewinn anzuwenden, das er ebenmäßig ausbildete. Weder Philosoph noch Historiker in ausschließlichem Sinn, gelang es ihm vielmehr, sich als politischer Schriftsteller unbefangen und erhaben über den Streit der philosophischen und historischen Schule in die Mitte zu stellen. Sein ganzes Wesen war streng ethisch. Die Erkenntniß, daß moralische, nicht juristische Verpflichtung jedem Recht entspricht und die bürgerliche Gesellschaft bedingt, liegt seiner ganzen Politik zu Grunde. Er hat wol bedauert, daß die gewaltige Republik, der er freudig angehörte, keinen anderen Namen trägt, als die Vereinigten Staaten Amerika’s, weil nicht auch ein amerikanischer Admiral, wie Nelson, seine Leute anreden könne: England erwartet, daß jeder seine Pflicht thue.

Lieber’s Miscellaneous Writings, 2 Vol., Philadelphia 1881, herausgegeben vom Präsidenten D. C. Gilman: Vol. 1: Reminiscences, Adresses and Essays, mit einem schönen Nachruf vom Gerichtspräsidenten M. R. Thayer, gesprochen vor der historischen Gesellschaft von Pennsilvanien am 13. Januar 1873, Vol. 2: Contributions to Political Science mit Bluntschli’s Erinnerung an Lieber aus der Revue de l’Institut de Droit International und einem chronologischen Verzeichniß der Schriften, S. 531. Gilman, Francis Lieber in der International Review, New-York 1881, X. S. 333. Weserzeitung, Mai, 4. 6. 7, 1873. R. Pauli in den Preuß. Jahrbüchern, XXXII. S. 429, 1873. Die Herausgabe der Briefe durch Frau Lieber, eine Biographie von dem nahe befreundeten D. Allibone stehen in Aussicht.