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Artikel „Gabelentz, Hans Georg Conon von der“ von Wilhelm Grube in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 548–555, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gabelentz,_Georg_von_der&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 13:02 Uhr UTC)
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Gabelentz *): Hans Georg Conon von der G., Sprachforscher und Sinolog, wurde am 16. März 1840 als zweiter Sohn des nachmaligen herzoglich sächsischen Wirkl. Geheimen Raths Hans Conon v. d. G. zu Poschwitz im Herzogthum Sachsen-Altenburg geboren. Bis zu seinem 16. Lebensjahre im elterlichen Hause erzogen, besuchte er von 1855 bis 1859 das herzogliche Gymnasium zu Altenburg, nach dessen Absolvirung er von 1859 bis 1863 zuerst in Jena, darauf in Leipzig vornehmlich rechts- und staatswissenschaftlichen Studien oblag. Im J. 1864 trat er in den königlich sächsischen Staatsdienst, in welchem er bis zum Jahre 1878 nacheinander als Accessist, Hülfsreferendar, Referendar, Auditor und Assessor in Dresden, Leisnig, Leipzig, Chemnitz und wieder in Dresden thätig gewesen ist. Dazwischen ist er von 1871–1872 commissarisch in der reichsländischen Verwaltung zu Straßburg und Mülhausen i. E. verwendet worden.

So sehr ihn jedoch sowol das juristische Studium wie auch später der dienstliche Wirkungskreis nach seinen eigenen Worten interessirte: seine innersten Neigungen gehörten dennoch einem anderen Gebiete an. Schon frühzeitig begann in ihm als väterliches Erbtheil eine ungewöhnliche Begabung und leidenschaftliche Begeisterung für das Sprachstudium hervorzutreten, und was er als Knabe versprach, hat er als Mann gehalten. Gern und nicht ohne berechtigten Stolz pflegte er zu erzählen, daß eine kleine Arbeit über die Verwandtschaft des Chinesischen und Siamesischen, die er als Gymnasiast verfaßt hatte, von August Schleicher in dessen Colleg über vergleichende Sprachforschung in anerkennender Weise erwähnt worden sei. So unterließ er es denn nicht, sich neben seinen juristischen Fachstudien auch eifrig unter Herm. Brockhaus’ Leitung mit dem Sanskrit zu beschäftigen. Den mächtigsten und nachhaltigsten Einfluß auf seine linguistische Ausbildung hat jedoch unstreitig sein Vater ausgeübt. Wie viel er dessen Anregung und methodischer Leitung verdankte, hat er selbst dankbar bekannt in seinem pietätvollen Aufsatze: „Hans Conon von der Gabelentz als Sprachforscher“ (Ber. d. philol.-hist. Classe der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., Sitzung am 11. Dec. 1886). Er erzählt darin, wie er als achtjähriger Knabe Englisch zu lernen begann und dabei die Wahrnehmung machte, daß im Englischen immer th für deutsches d zu stehen schien. Diese für einen Knaben von acht Jahren erstaunliche Beobachtung, die bereits an der Klaue den Löwen erkennen ließ, gab dem Vater Veranlassung, ihn in einer für das kindliche Verständniß geeigneten Form in die Geheimnisse der Lautverschiebung einzuführen. „Zwölf oder dreizehn Jahre alt mochte ich sein“, fährt er dann fort, „als er mir erlaubte Eichhoff’s Vergleichung der Sprachen von Europa und Indien [WS 1] zu lesen, ein Buch, das ich halbwegs verstehen und namentlich recht genießen konnte. Etwa ein Jahr später gab er mir Bopp’s vergleichende Grammatik in die Hand, und ich habe wol den größten Theil davon mit Wonne gelesen. Eine eigentliche Anleitung zum Verständnisse gab er mir nicht, eher dann und wann auf Befragen einzelne Erläuterungen. Ueberhaupt ließ er mir immer die Initiative, ging nur mehr oder weniger auf meine Wünsche und Interessen ein und gab ihnen höchstens die Richtung, die ihm dienlich schien. So mochte er es gern, wenn wir Geschwister einander und ihm selbst spielweise Dechiffriraufgaben stellten, und als ich eine Sprache nach seiner Methode aus Texten zu erlernen wünschte, gab er mir die Genesis in Grebo und einige Anleitung zur Anlage von Collectaneen, – das Weitere überließ er mir. Später, etwa in meinem sechszehnten Jahre, ließ er mich zur Uebung und Unterhaltung einige Seiten neuseeländische Texte mit Uebersetzung [549] lesen und danach einen Abriß der Grammatik verfassen. Da ich Chinesisch zu lernen wünschte, schenkte er mir zu meinem sechszehnten Geburtstage Rémusat’s Élémens. [WS 2] Als ich diese durchgearbeitet hatte, gab er mir St. Julien’s Ausgabe und Uebersetzung des Meng-tsï zur Lectüre, fast gleichzeitig aber auch dessen Exercices pratiques.“ [WS 3]

Ich habe diesen Passus wörtlich angeführt, weil er für den Sohn nicht minder charakteristisch ist als für den Vater. Erst wenn man die Entstehung und den Entwicklungsgang seiner linguistischen Studien kennt, wird man Georg v. d. G. in seiner Eigenart als Forscher wie als wissenschaftliche Persönlichkeit richtig beurtheilen können: sowohl seine Vorzüge wie auch seine Mängel finden hier ihre Erklärung.

Obwol er also gewissermaßen in der Schule seines Vaters aufwuchs, hat ihn dennoch dieser selbst, indem er ihm „immer die Initiative ließ“, vor der Gefahr geistiger Abhängigkeit zu schützen gewußt. So wird es begreiflich, wie Beide trotz der Gleichartigkeit von Talent und Neigung nichtsdestoweniger in der Art wie jeder von ihnen seine Aufgabe erfaßt und durchführt, die auffallendste Verschiedenheit zeigen. Beide sind in gleicher Weise bestrebt, einen möglichst allumfassenden Einblick in die verschiedensten Typen des Sprachbaues zu gewinnen, wobei sie in der Regel den mühsamen, aber sicheren Weg eigener Beobachtung einschlagen und den zu erforschenden Sprachen lieber durch das unmittelbare Studium von Texten als durch die Vermittlung von Grammatiken, sofern solche vorhanden waren, zu Leibe gehen. Aber wenn der Vater sich zufrieden gab, sobald es ihm gelungen war, die auf inductivem Wege gefundenen Sprachformen in die Rubriken der landläufigen grammatischen Kategorien einzuordnen, ist der Sohn vor allem darauf bedacht, sich nach Möglichkeit von jedem vorgefaßten Schema frei zu halten, um der Fülle der Erscheinungen gerecht zu werden und sie aus sich heraus zu erklären. Dabei kam ihm freilich neben einer geradezu erstaunlichen Combinationsgabe ein Sprachgefühl von seltener Feinheit zu Hülfe, vermöge dessen er oft im Stande war, gleichsam intuitiv zu errathen, was dann erst durch nachträgliche Analyse als richtig bewiesen werden konnte. Während ferner Hans Conon bei seiner Abneigung gegen philosophische Betrachtungsweise Verallgemeinerungen mit ängstlicher Scheu aus dem Wege ging, fühlt sich Georg gerade zu den Fragen der allgemeinen Grammatik und der Sprachphilosophie unwiderstehlich hingezogen. Gründliche philosophische Bildung, Verbunden mit dialektischer Gewandtheit und logischer Prägnanz des Ausdrucks sind Vorzüge, durch welche sich die meisten seiner Arbeiten auszeichnen, – Vorzüge, die er nach seinem eigenen Geständniß in erster Linie der Einwirkung Kuno Fischer’s zu verdanken glaubte, wie denn auch dessen Logik und Geschichte der neueren Philosophie zu seinen Lieblingsbüchern gehörten, in die er sich gern immer wieder vertiefte. – Endlich tritt die individuelle Verschiedenheit Beider mit besonderer Schärfe in ihrer Schreibweise hervor. Hans Conon schreibt sachlich und klar, ohne sich im übrigen um die äußere Form der Darstellung zu kümmern, und so ganz unrecht hatte er wol nicht, wenn er klagte, „daß er die trockene Pedanterie des amtlichen Geschäftsstiles nimmer überwinden könne“; der Sohn hingegen ist jederzeit bemüht, auch den sprödesten Stoff in eine künstlerische Form zu gießen, wobei freilich sein Stil, namentlich in seinen früheren Arbeiten, nicht immer ganz frei von Manierirtheit erscheint.

Georg v. d. G. pflegte im Hinblick auf die „Lautschieber“, wie er scherzweise diejenigen unter den Indogermanisten bezeichnete, die sich ausschließlich mit dem Lautwesen der Sprache befaßten, daß ihre Forschung gerade dort aufhörte, wo die Sprache als Ausdruck des Gedankens überhaupt erst interessant [550] zu werden anfinge, und er fügte dann auch wol die boshafte Bemerkung hinzu, daß diese geflissentliche Nichtbeachtung der Syntax sich oft genug an der Schreibweise jener Sprachforscher bitter rächte. So ist es denn gewiß bezeichnend für sein mehr der inneren als der äußeren Form der Sprache zugewandtes Interesse, daß eine seiner frühesten Schriften (er hatte bis dahin nur eine kurze Anzeige einiger Mandschu-Drucke im XIV. Bde. der Zeitschr. d. Deutschen morgenl. Gesellsch., 1860, und eine Notiz über die Conjugation im Dayak, ebendas. Bd. XVI, 1862, veröffentlicht) den Titel: „Ideen zu einer vergleichenden Syntax“ trägt (Zeitschr. f. Völkerpsychologie u. Sprachwissensch., hrsg. von Lazarus [WS 4] u. Steinthal, Bd. VI, 1869). Er sucht darin die Lehre von dem psychologischen Subject und Prädicat zu begründen und zugleich den für die Wortstellungsgesetze wichtigen Nachweis zu führen, daß das psychologische Subject als der eigentliche Gegenstand des Gedankens stets die erste, das psychologische Prädicat hingegen, als dasjenige, was der Angeredete über jenen Gegenstand zu denken veranlaßt werden soll, stets die zweite Stelle im Satze einnehme. In einem sechs Jahre später erschienenen Aufsatze: „Weiteres zur vergleichenden Syntax“ (ebendas. Bd. VIII, 1875) behandelt er dann noch einmal dasselbe Thema, indem er es jedoch auf Grund eines ungleich umfassenderen Sprachenmaterials zugleich erweitert und vertieft. Dieser zuerst von ihm ausgesprochene Gedanke, ursprünglich aus seinen japanischen Studien hervorgegangen, hat sich in der Folge als überaus fruchtbar erwiesen, und er selbst ist später des öfteren auf jene beiden psychologisch-grammatischen Kategorien zurückgekommen, – so besonders in der großen „Chinesischen Grammatik“ und in der „Sprachwissenschaft“.

Es liegt auf der Hand, daß die einmal eingeschlagene Richtung ihn geradeswegs auf das Chinesische hinleiten mußte als auf diejenige Sprache, deren Grammatik ausschließlich auf der Wortstellung beruht, also, mit anderen Worten, reine Syntax ist. Im J. 1876 erschien denn auch als erster Versuch auf sinologischem Gebiete seine Promotionsschrift, für die ihm die Leipziger philosophische Facultät die Doctorwürde verlieh; sie trägt den Titel: „Thai-kih-thu,[WS 5] des Tscheu-tsï[WS 6] Tafel des Urprinzipes, mit Tschu-hi’s Commentare nach dem Hoh-pih-sing-li, Chinesisch mit mandschuischer und deutscher Uebersetzung, Einleitung und Anmerkungen“ (Dresden). Werthvoll als ein Beitrag zur Kenntniß der damals noch sehr wenig bekannten chinesischen Naturphilosophie aus deren Blüthezeit, ist die Arbeit zugleich lehrreich durch die sorgfältige grammatische Analyse des Textes.

Im J. 1878 wurde G. als Extraordinarius an die Universität Leipzig berufen. Damit war sein Lieblingswunsch erfüllt, und er konnte fortan ganz und mit ungetheilter Kraft seiner Wissenschaft leben. Von nun an wendet er sich mit voller Energie dem Studium des Chinesischen und auch der mit diesem verwandten Sprachen zu. Im Herbste desselben Jahres, kurz vor Antritt seiner Professur, hält er auf dem Orientalistencongreß zu Florenz einen Vortrag über die Verwandtschaft der indochinesischen Sprachen („Sur la possibilité de prouver l’existence d’une affinité généalogique entre les langues dites indochinoises“, Atti del IV. Congr. Intern. degli Orientalisti, vol. II, p. 283–295, Firenze 1881), in welchem er bereits auf gewisse lautgeschichtliche Erscheinungen in diesen Sprachen hinweist, die er später in der Einleitung zu seiner chinesischen Grammatik mit größerer Ausführlichkeit behandelt. Schon Stan. Julien hatte auf die Vorliebe der Chinesen für Satzperioden, die sich in Theile von gleicher Gliederzahl zerlegen lassen, und auf die Bedeutung dieser Eigenthümlichkeit für die grammatische Analyse hingewiesen; dasselbe Thema behandelt G. in dem kleinen Aufsatze: „Ein Probestück [551] vom chinesischen Parallelismus“ (Zeitschr. f. Völkerpsychologie u. Sprachwissensch., Bd. X, 1878).

Ungleich bedeutsamer ist jedoch sein „Beitrag zur Geschichte der chinesischen Grammatiken und zur Lehre von der grammatischen Behandlung der chinesischen Sprache“ (Zeitschr. d. deutschen morgenl. Gesellsch., Bd. XXXII, 1878) als der erste methodologische Versuch dieser Art. Nach einer gedrängten kritischen Uebersicht der bis dahin erschienenen chinesischen Grammatiken kommt G. im zweiten Theile des Aufsatzes auf die Aufgaben der grammatischen Behandlung des Chinesischen zu sprechen und begründet darin die Forderung, daß die grammatische Darstellung die Sprache als eine Gesammtheit von Erscheinungen aufzufassen, diese jedoch nach zwei getrennten Gesichtspunkten zu betrachten habe: einmal im Hinblick auf die Mittel, welche die Sprache als Factoren des Gedankenausdrucks besitzt, und dann in Rücksicht auf das Verhältniß dieser Mittel zu den verschiedenen Möglichkeiten der Gedankenverknüpfungen. Der erste Gesichtspunkt leitet uns beim Uebersetzen aus einer fremden Sprache in die eigene, der zweite, wenn wir uns einer fremden Sprache bedienen wollen (vgl. auch den kurzen Vortrag: „On a new Chinese Grammar“ in den Verhandlungen des V. Internat. Orientalisten-Congresses II, II, Berlin 1882). Das hier aufgestellte Programm hat G. bald darauf in seiner „Chinesischen Grammatik mit Ausschluß des niederen Stiles und der heutigen Umgangssprache“ (Leipzig 1881) durchgeführt.

Um die wissenschaftliche Bedeutung dieses Werkes nach Verdienst zu würdigen, muß man sich gegenwärtig halten, was bisher auf diesem Gebiete geleistet worden war. An chinesischen Grammatiken war zwar nachgerade kein Mangel, aber keine von ihnen, mit alleiniger Ausnahme von Schott’s [WS 7] bahnbrechender „Chinesischer Sprachlehre“ (1857), bot mehr als eine mehr oder weniger brauchbare Anleitung zum Uebersetzen aus dem Chinesischen. Aber auch Schott’s Buch war doch im Grunde eher eine Abhandlung über chinesische Grammatik als eine solche selbst. Das Lob, welches G. ihm spendet, daß er der chinesischen Grammatik eine Form gegeben habe, welche keine andere Voraussetzung kennt als den Bau der Sprache selbst, gebührt ihm selber in ungleich höherem Maße. Schon durch die Gliederung in ein analytisches und ein synthetisches System, wie sie in diesem Buche, entsprechend der in der soeben erwähnten Abhandlung geforderten Zweitheilung, durchgeführt ist, erscheint hier die Sprache in einer völlig neuen Darstellung. Besonders aber ist es die Lehre von den Partikeln, die Alles, was bis dahin in der Behandlung dieses für die chinesische Grammatik so wichtigen Capitels versucht worden war, weit hinter sich zurückläßt. Hier gerade zeigt sich so recht die vollendete Meisterschaft in der psychologischen Analyse, wenn man damit die unbeholfen tastenden Versuche eines St. Julien, des größten Sinologen seiner Zeit, vergleicht, der sich in seiner „Syntaxe nouvelle“ damit begnügt, untereinander verwandte Einzelfälle einfach zu registriren, statt ihren inneren Zusammenhang aufzudecken. Und welcher Reichthum an neuen Gesichtspunkten für die Beurtheilung nicht nur der Lautgeschichte des Chinesischen, sondern auch seiner Stellung im Kreise verwandter Sprachen in dem einleitenden Abschnitt: „Lautgeschichtliche und etymologische Probleme“! Doppelt erstaunlich erscheint jedoch das Buch als wissenschaftliche Leistung, wenn man in Betracht zieht, daß Gabelentz’ Belesenheit in der chinesischen Litteratur sich in verhältnißmäßig recht engen Grenzen bewegte. Gewiß verlangen manche Einzelheiten eine Berichtigung oder Ergänzung, aber als Ganzes genommen liegt hier eine grammatische Darstellung vor, die so leicht nicht überboten werden dürfte, und mit vollem Recht sagt daher Conrady[WS 8] in seinem schönen Nachruf (Beil. zur Allg. [552] Zeitung, 1893, Nr. 303): „In der That ist die ‚Chinesische Grammatik‘ nicht nur grundlegend für die Sinologie: sie reicht auch über den Rahmen der Einzelsprache weit hinaus in das Gebiet der allgemeinen Sprachwissenschaft“.

Da indeß die „Chinesische Grammatik“ schon allein durch ihren Umfang, als Einführung in das Studium der Sprache wenig geeignet erschien, ließ G. ihr bald die „Anfangsgründe der chinesischen Grammatik mit Uebungsstücken“ (Leipzig 1883) folgen, die in gedrängter Form eine übersichtliche Zusammenstellung alles dessen enthalten, was für die Lectüre leichterer Texte unerläßlich ist. Das Buch ist jedoch nicht etwa ein bloßer Auszug aus dem größeren Werke, vielmehr bietet es eine von diesem durchaus abweichende, selbständige Behandlung des Gegenstandes. Galt es dort der Sprache als einer Gesammtheit von Erscheinungen zugleich in allen ihren Theilen durch eine erschöpfende wissenschaftliche Darstellung gerecht zu werden, so hatten hier in erster Linie didaktische Erwägungen den Ausschlag zu geben. Zum Unterschied von der großen Grammatik wird in den „Anfangsgründen“ überdies auch die neuere Sprache und der niedere Stil berücksichtigt. Leider hatte sich aber G. damit an ein Gebiet herangewagt, welches er nur sehr ungenügend beherrschte, so daß gerade dieser Abschnitt äußerst dürftig ausgefallen ist und dem Buche eher zum Mangel als zum Vortheil gereicht.

Außer den „Anfangsgründen“ schließen sich noch eine Anzahl kleinerer einschlägiger Arbeiten mehr oder weniger unmittelbar an das Hauptwerk an. Theils sind es Ergänzungen und Berichtigungen der großen chinesischen Grammatik, wie der kleine Aufsatz; „Some Additions to my Chinese Grammar“ (Journ. of th China Branch of the R. As. Soc., New Series, XX, Shanghai 1886) und die sehr reichhaltige Monographie: „Beiträge zur Chinesischen Grammatik. Die Sprache des Čuang-tsï“ (Abh. d. philol.-hist. Cl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch., Bd. X, Nr. VIII, Leipzig 1888), theils behandeln sie methodologische Fragen, wie die Entgegnung auf F. Misteli’s[WS 9] „Studien über die chinesische Sprache“: „Zur chinesischen Sprache und zur allgemeinen Grammatik“ (Intern. Zeitschr. f. allgem. Sprachwissenschaft, hrsg. von F. Techmer [WS 10], Bd. III, Leipzig 1887). Und hierher gehört auch die kleine Studie: „Zur grammatischen Beurtheilung des Chinesischen“ (ebenda Bd. I, 1884), eine äußerst feine und scharfsinnige kritische Untersuchung über die grammatischen Kategorien des Chinesischen, die meines Erachtens das Beste ist, was je über den grammatischen Bau dieser Sprache geschrieben wurde und zugleich ein Muster formvollendeter wissenschaftlicher Darstellung. Mit der chinesischen Philosophie befassen sich die Abhandlungen: „Ueber das taoistische Werk Wen-tsï“ (Berichte d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch., philol.-hist. Cl., 1887), „Ueber den chinesischen Philosophen Mek Tik“ (ebenda 1888) und „Der Räuber Tschik, ein satirischer Abschnitt aus Tschuang-trï“ (ebenda 1889), eine mustergültige Uebersetzungsprobe aus einem der schwierigsten Schriftsteller der chinesischen Litteratur. Hin und wieder wendet sich G. auch an einen größeren Leserkreis, wie z. B. in seiner Leipziger Antrittsrede: „Die ostasiatischen Studien und die Sprachwissenschaft“ (Unsere Zeit 1881) sowie in den beiden Essays: „Ueber Sprache und Schriftthum der Chinesen“ (ebenda 1884) und „Confucius und seine Lehre“ (Leipzig 1888).

Aber so sehr auch das Chinesische für G. den Mittelpunkt seiner Interessen bildet, so werden doch anderweitige linguistische Studien darüber keineswegs vernachlässigt. Seit jeher hatte er sich begreiflicherweise mit besonderer Vorliebe den Sprachen der Südseevölker zugewandt: mußte ihm doch die Pflege speciell dieses Sprachgebietes geradezu als ein väterliches Vermächtniß [553] scheinen. Mit Unterbrechungen kehrte er daher immer wieder zu den längst begonnenen Vorarbeiten zurück, und als die Frucht eines langjährigen Sammelfleißes erschienen endlich die mit A. B. Meyer gemeinsam herausgegebenen „Beiträge zur Kenntniß der melanesischen, mikronesischen und papuanischen Sprachen, ein erster Nachtrag zu Hans Conon’s von der Gabelentz Werke die melanesischen Sprachen“ (Abh. d. philol.-hist. Cl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch., Bd. VIII, Nr. IV, Leipzig 1882). Es wird darin auf Grund einer lexikalischen Vergleichung von 78 Idiomen der Nachweis geliefert, daß die melanesischen Sprachen als aus der Vermischung einer Negritorace mit malaio-polynesischen Elementen hervorgegangen zu betrachten seien. Im darauffolgenden Jahre veröffentlichte er, gleichfalls im Verein mit A. B. Meyer: „Einiges über das Verhältniß des Mafoor zum Malayischen“ (Bijdragen tot de taal-, land- en volkenkunde van Neerl. Indië, 1883) und kommt auch in dieser sprachvergleichenden Untersuchung zu dem Ergebnis;, daß die Uebereinstimmungen zwischen dem Mafoor und den malayischen Sprachen so weitgehend seien, als daß an eine Entlehnung im gewöhnlichen Sinne des Wortes kaum zu denken sein dürfte. In der Abhandlung: „Einiges über die Sprachen der Nicobaren-Insulaner“ (Ber. d. Kgl. Sachs. Ges. d. Wissensch., 1885) führte er dann noch den Nachweis, daß diese Idiome der indonesischen Sprachensippe beizuzählen seien.

Neben all diesen einzelsprachlichen und sprachvergleichenden Arbeiten hat G. die Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaft nie aus dem Auge verloren. Die Frucht seiner Studien auf diesem Gebiete war sein letztes größeres Werk: „Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse“ (Leipzig 1891), von dem inzwischen (1901) eine vom Grafen A. von der Schulenburg [WS 11] herausgegebene zweite, verbesserte und vermehrte Auflage erschienen ist. Einen Abschnitt daraus: „Stoff und Form in der Sprache“ hatte G. bereits in den Ber. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissensch. 1889 veröffentlicht. Das Buch ist, wie er selbst in der Vorrede betont, in einer längeren Reihe von Jahren mit großen Unterbrechungen entstanden, und seine Theile sind keineswegs in der Reihenfolge verfaßt, in der sie vorliegen. Was ihn eben beschäftigte, wurde, sobald es ihm reif schien, als Aufsatz niedergeschrieben, und mit der Zeit entstand der Plan des Ganzen. Er selbst sah ein, daß die Spuren einer solchen Entstehung sich kaum verwischen ließen, und in der That kann nicht geleugnet werden, daß die einzelnen Abschnitte des Ruches nicht nur verschiedenartig in der Darstellung, sondern auch verschiedenartig in der Ausführung gerathen sind. Mit Recht werden ihm die Indogermanisten vorhalten, daß er der vergleichenden Sprachforschung im engeren Sinne doch allzu sehr als unbetheiligter Zuschauer gegenübergestanden habe und daher hin und wieder die Vorzüge einer streng methodischen Schulung vermissen lasse; und mit gleichem Rechte wird man ihm den Vorwurf nicht ersparen können, daß er die Ergebnisse der neueren Psychologie nicht gebührend berücksichtigt habe. Aber dennoch bleibt gerade dieses Buch trotz all’ seinen Mängeln ein κτἤμα ἑς ἁεί[WS 12]: einmal durch die reiche Fülle von Anregungen und schöpferischen Gedanken, die es enthält, – dann aber auch dank dem Umstande, daß sein Verfasser mit der unendlichen Mannichfaltigkeit der verschiedensten Gebilde menschlichen Sprachbaues vertrauter war als irgend ein anderer seiner Zeitgenossen. Und diese Vertrautheit schöpfte er nicht etwa aus grammatischen Lehrsystemen, sondern, wo immer er dazu in der Lage war, aus dem selbständigen Studium von Texten. „Wer das Schwimmen lernen will, muß selbst ins Wasser gehen“, pflegte Georg v. d. G. zu sagen, und Niemand hat diesen Grundsatz treulicher befolgt als er. Daraus erklärt sich [554] auch der Charakter des unmittelbar Erlebten, der diesem Buche nicht nur einen so unvergänglichen Reiz verleiht, sondern ihm auch einen bleibenden Platz in der Geschichte der Sprachwissenschaft sichert.

Im Herbste des Jahres 1889 wurde er als ordentlicher Professor an die Berliner Universität berufen und als Schott’s Nachfolger zum Mitgliede der dortigen Akademie der Wissenschaften gewählt. Aber die Hoffnungen und Erwartungen, die sich an diese Berufung geknüpft hatten, sollten sich leider nicht erfüllen. Gleichzeitig mit der Uebersiedlung nach Berlin traf ihn ein schweres häusliches Ungemach: nach einer siebzehnjährigen, anscheinend glücklichen Ehe sah er sich plötzlich zur Scheidung genöthigt. Dieser herbe Schlag, der ihn thatsächlich völlig unvorbereitet traf, warf ihn zunächst völlig nieder, und zum Ueberfluß stellten sich schon damals die Vorboten eines tückischen körperlichen Leidens ein, das zwar durch ärztliche Kunst eine Zeitlang hingehalten, aber nicht mehr beseitigt werden konnte. So kam es, daß mit dem Abschluß der fruchtbaren Leipziger Periode auch die Zeit productiver wissenschaftlicher Arbeit ihr Ende fand. Seine Schaffenskraft war gebrochen. Zwar fällt das Erscheinen der „Sprachwissenschaft“ in die Berliner Zeit, doch war das Buch, wie erwähnt, zum größten Theile in früheren Jahren entstanden, und unter den wenigen Abhandlungen, die er in seinen letzten Lebensjahren geschrieben und in den Sitzungsberichten der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften veröffentlicht hat („Vorbereitendes zur Kritik des Kuan-tsï“ 1892, „Zur Beurtheilung des koreanischen Schrift- und Lautwesens“ 1892, „Die Lehre vom vergleichenden Adverbialis im Altchinesischen“ 1893 und „Baskisch und Berberisch“ 1893), ist keine, die einen Vergleich mit seinen früheren Leistungen aushielte. Nach seinem Tode erschien dann noch als opus postumum das Buch: „Die Verwandtschaft des Baskischen mit den Berbersprachen Nord-Africas, herausgegeben nach dem hinterlassenen Manuscripte durch Dr. A. C. Graf von der Schulenburg“ (Braunschweig 1894). Leider muß gesagt werden, daß diese Veröffentlichung einer noch keineswegs druckreifen Arbeit nur als ein Schritt irregeleiteter Pietät erklärt und entschuldigt werden kann.

G. hat sich in Berlin wol nie so recht heimisch gefühlt und schien sein dortiges Domicil, schon infolge der größeren Entfernung von seinem Gute Poschwitz und den dort befindlichen reichen Schätzen der väterlichen Bibliothek, immer als eine Art Exil zu empfinden, aus dem er sich, so oft er irgend konnte, in sein geliebtes Tusculum flüchtete. Noch einmal durfte er sich eines ungetrübten Eheglücks erfreuen, aber dies Glück war leider nur von kurzer Dauer: nur zu bald warf ihn sein altes Uebel aufs Krankenlager, von dem er sich nicht wieder erheben sollte. Am 11. December 1893 erlöste ihn ein sanfter Tod von seinen qualvollen Leiden.

Bei seiner Aufnahme in ;die Akademie der Wissenschaften schloß G. seine Antrittsrede (Sitzungsberichte 1890, XXXIV) mit den Worten: „Neigung und Schicksal haben mich bisher dahin geführt, an sehr verschiedenen Punkten des Globus linguarum Umschau zu halten. Oft nur sehr flüchtige Umschau, aber – das hat die Landstreicherei für sich –, überall anregende. In wieweit ich fernerhin der einen oder anderen dieser Anregungen folgen werde, das hängt nur zum kleinsten Theile von meinem Willen ab“. Wenn es sich auch gewiß nicht leugnen läßt, daß eine so große Vielseitigkeit wie er sie anstrebte, unvermeidliche Gefahren in sich birgt, so muß doch zugegeben werden, daß er auf dem Wege, den er einschlug, eine Weite des Blickes und eine Unvoreingenommenheit des Urtheils erlangt hat, welche die einseitige Beschränkung auf ein engbegrenztes Specialgebiet nimmermehr gewähren kann. Sicherlich hat es Sinologen genug gegeben, die ihm an philologischer Gründlichkeit und [555] positivem Fachwissen weit überlegen waren, aber man vergesse dabei nicht, daß keiner von ihnen im Stande gewesen wäre, eine chinesische Grammatik zu schreiben, wie sie die Wissenschaft ihm verdankt. Er war ein Anreger und Pfadfinder, als Forscher wie als Lehrer. Frei von gelehrtem Dünkel besaß er den Muth des Irrthums und zugleich eine Naivetät des Gemüthes und Geistes, wie sie nur wahrhaft selbständigen Naturen eigen ist.

Der Vollständigkeit wegen seien zum Schlusse noch folgende kleinere Arbeiten erwähnt, die im Vorstehenden keine Berücksichtigung finden konnten: „Kin Ping Mei, les aventures galantes d’un épicier, Roman réaliste, trad. du Mandschou“ (Revue orient. et américaine, publ. par L. de Rosny[WS 13], Paris 1879); „Zur chinesischen Philosophie“ (Wiss. Beil. d. Allg. Ztg. 1880, Nr. 92); „A. F. Pott“ (Allg. deutsche Biographie) und die Artikel in Ersch u. Gruber’s Encyklopädie: Kung-fu-tse, Kuki (Volk und Sprache), Kolarische Sprachen, Kunama-Sprache, Lao-tse. Einige populäre Aufsätze zur Länder- und Völkerkunde sind in den älteren Jahrgängen des „Globus“, die meisten seiner Recensionen im „Literarischen Centralblatt“ erschienen.


[548] *) Zu Bd. XLIX, S. 236.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Leipzig 1840, Verfasser: Frédéric-Gustave Eichhoff, frz. Bibliothekar und Sprachforscher.
  2. Jean-Pierre Abel-Rémusat (1788–1832); französischer Sinologe und Bibliothekar; Les Élémens de la grammaire chinoise (Paris 1822)
  3. Stanislas Julien (1797–1873); französischer Sinologe und vielseitiger Orientalist; Exercices pratiques d’analyse, de syntaxe et de lexicographie chinoise (Paris 1842)
  4. Moritz Lazarus (1824–1903), Philosoph, Professor in Bern und Berlin
  5. chin. 太極圖 Tàijítú Das Taiji
  6. chin. 周子 Zhōuzi, d.i. 周敦毅 Zhōu Dūnyí (1017-1073); chinesischer Philosoph aus der Schule des Neokonfuzianismus
  7. Wilhelm Schott (1802–1889); deutscher Orientalist, Sinologe und Finnougrist
  8. August Conrady (1864–1925); deutscher Sinologe und Professor für Ostasiatische Sprachen an der Universität Leipzig
  9. Franz Misteli (1841–1903); Alt-Philologe, Professor für vergleichende Sprachwissenschaft in Basel
  10. Friedrich Heinrich Hermann Techmer (1843–nach 1891); Privatdozent für allgem. Sprachwissenschaft in Leipzig
  11. Albrecht Conon Graf von der Schulenburg (1865–1902), Sprachforscher.
  12. „ktema hes haei“ = ein einmaliger, dauerhafter Schatz ?
  13. Léon Louis Lucien Prunol de Rosny (1837–1914), frz. Ethnologe und Linguist